Christopher Roch

Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons

Von Rainer Deimel

Foto: Rainer Deimel
Foto: Rainer Deimel

„Wenn wir von Glück oder Unglück sprechen, so täuschen wir uns stets, weil wir nach den Verhältnissen und nicht nach den Personen urteilen. Eine Lage ist nie unglücklich, wenn man Gefallen an ihr findet. Und wenn wir von einem Menschen sagen, er sei unglücklich in seiner Lage, so meint dies nichts anderes, als dass wir unglücklich wären, wenn wir bei unserer organischen Beschaffenheit an seiner Stelle wären.“

In dieser Weise skizzierte der französische Schriftsteller und Staatsphilosoph Charles-Louis de Secondat Montesquieu (1689 – 1755) das hoffnungslose Unterfangen zu glauben, mit der Verabsolutierung einer bestimmten Sichtweise wäre man der Wahrheit näher gekommen. Beim Klatsch in einer Kaffeerunde dürften derartige Verlautbarungen – individuellen Sichtweisen entstammend – nicht weiter problematisch sein. Dramatisch wird es, wenn solche Sichtweisen zu Urteilen formalisiert werden, wenn sie möglicherweise über Wohl und Wehe eines Individuums mit weitreichenden Konsequenzen entscheiden.

Beschäftigen wir uns also zunächst mit den Urteilen. Wir kennen den Begriff einerseits aus dem Recht, andererseits aus der Logik. Das Fällen eines Urteils in der Rechtsprechung unterliegt einigen Formvorschriften, etwa dem Urteilseingang (Rubrum = an die Spitze eines Schriftstücks gestellte Bezeichnung der Sache (1), der Urteilsformel (Tenor = der entscheidende Teil des Urteils (2), dem Tatbestand und den Entscheidungsgründen. Es gibt auch Verfahren, denen eine Rechtsmittelbelehrung hinzugefügt wird. In der Regel sind gegen Urteile der Rechtsprechung Rechtsmittel – wie Beschwerde, Berufung oder Revision – zulässig. Das Urteil wird erst dann rechtskräftig, wenn die Rechtsmittelfristen abgelaufen sind. Derart formale Kontexte sind in unserem Alltagserleben eher selten, wenngleich man ihnen nahezu tagtäglich begegnen kann. Formalisierte Urteile gibt es ferner in Prüfungszusammenhängen (Führerschein, Ausbildung, Hochschule usw.), insbesondere erleben wir sie beständig in der unterrichtlichen Praxis der Schule. Während das formalisierte Urteil etwa beim Erwerb des Führerscheins nur „bestanden“ oder „nicht bestanden“ lautet (ähnliche Verfahrensweisen sind auch aus Hochschulen bekannt), ein Urteil vor Gericht mithilfe der beschriebenen Rechtsmittel zu weiteren Verhandlungen und damit zu neuen Abwägungen und deshalb zu einem neuen, geänderten Urteil führen kann, scheint das Urteil einer Schule so etwas wie ein unabwendbares Schicksal zu bedeuten.

Die traditionelle Logik begreift unter einem Urteil einen Satz, der das Bestehen oder das Nichtbestehen eines Sachverhaltes behauptet. Auf dieser Ebene haben wir es mit bejahenden (affirmativen) oder verneinenden (negativen) Urteilen zu tun. Denkbar ist auch, zu einem Urteil zu gelangen, indem man eine Synthese bildet. Laut Kant findet dabei eine Verknüpfung der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe zu einer Erkenntnis statt (Synthesis). Allgemein gesprochen ist ein Urteil somit eine Entscheidung über einen bestimmten Sachverhalt oder Erkenntnisgegenstand. (3)

Urteile in der Schule werden Noten oder Zensuren genannt. „Note“ ist abgeleitet vom lateinischen Begriff „nota“ (Merkmal). Der Begriff „Zensur“ (lateinisch „censura“) findet seinen Ursprung im „censor“, einem römischen Beamten, dessen Aufgabe das Schätzen (censere = schätzen) von Vermögen war. Zensuren oder Noten werden in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. In Deutschland haben wir es in der Regel (4) mit einem Ziffernsystem zu tun. Eine 1 bedeutet „sehr gut“, eine 2 „gut“, eine 3 „befriedigend“, eine 4 „ausreichend“, eine 5 „mangelhaft“ und eine 6 „ungenügend“. Nicht zufällig wird Zensur auch als Synonym für staatliche Überwachung und Unterdrückung – zumeist im Zusammenhang von Veröffentlichungen – benutzt.

Die Sinnverwandtschaft respektive Bedeutungsähnlichkeit der Begriffe „Urteil“, „Note“ und „Zensur“ dürfte also auf der Hand liegen. Interessant hierbei, dass dem Urteil in der Regel ein Vorurteil immanent ist. Dass jemand in der Lage sei, seine Umwelt vorurteilsfrei zu beobachten, kann inzwischen getrost als Ammenmärchen angesehen werden. Vorurteile entstehen bisweilen durch schnelle Schlüsse, regelmäßig durch unhinterfragte Annahmen, religiöse, moralische und kulturelle Vorstellungen. Vorurteile sind nicht nur überaus menschlich, sondern durchaus auch hilfreich, etwa in Situationen, in denen man Unangenehmes erlebt. Sie dienen dem Abbau von Unsicherheit in sozialen Handlungsfeldern und führen zur Entlastung des Urteilenden in Angstsituationen mangels Orientierung. (5) Vorurteile haben eine ähnliche Funktion wie eine Haftpflichtversicherung: sie sichern menschlichen Individuen das Recht auf Unbedachtsein, ein Recht, das niemandem abgesprochen werden darf. Der Mensch mutierte dann zur Maschine. Gewiss bergen Vorurteile auch immense Gefahren, vor allem wenn sie kollektive Ausmaße annehmen. Deutlich wird dies etwa bei Erscheinungen wie Rassismus, Antisemitismus und anderen Ismen. Allerdings: Sich als vorurteilsfrei bei der Beurteilung eines Umstandes zu begreifen, dürfte eine schwere Fehleinschätzung sein, hieße dies doch, sich als objektiv im traditionellen Sinne zu verorten.

Urteile der Schule implizieren in der Regel, sie entstünden unter einem objektiven Aspekt; objektiv steht hier im Gegensatz zu subjektiv. Mit derartigen Phänomenen hat sich unter anderem Niklas Luhmann befasst. Für ihn waren Objektivität und Subjektivität keine Gegensätze, sondern vergleichbare Begriffe in verschiedenartigen Systemen. Demnach ist objektiv, „was sich im Kommunikationssystem (= Gesellschaft) bewährt, subjektiv ist, was sich im einzelnen Bewusstseinssystem (grob gesprochen: im Kopf eines Menschen) bewährt. Bewusstseinssysteme können dann ‚subjektiv das für objektiv halten, was sich in der Kommunikation bewährt, während die Kommunikation ihrerseits Nicht-Zustimmungsfähiges als subjektiv marginalisiert’.“ (6)

Die chilenischen Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela führen aus: „Dies ist wie eine Gratwanderung. Auf der einen Seite droht die Gefahr, dass wir kognitive Phänomene unmöglich verstehen können, wenn wir eine Welt von Objekten annehmen, die uns informieren, da es in der Tat keinen Mechanismus gibt, der solch eine ‚Information’ möglich macht. Zur anderen Seite eine andere Gefahr: das Chaos und die Willkür der Nicht-Objektivität, in der alles möglich erscheint. Wir müssen lernen, auf der Mittellinie zu bleiben, auf dem Grat selbst zu wandern (7) … und vermeiden, in eines der Extreme – das repräsentationistische (Objektivismus) oder das solipsistische (Idealismus) – zu verfallen.“ (8) Maturana spricht einerseits von einer „Objektivität ohne Klammern“; hierbei werde eine beobachterunabhängige Existenz der Objekte vorausgesetzt, die erkannt werden könne. Er versteht hierin eine „fraglose, auf Unterwerfung zielende Gültigkeit“. (9) Dies führe zu einer Negierung all derjenigen, die den „objektiven“ Feststellungen nicht zustimmten. Alternativ dazu beschreibt er eine „Objektivität in Klammern“: „Das Sein konstituiert sich durch das Tun des Beobachters.“ (10) Folge man diesem Erklärungswege, werde einem bewusst, dass man sich nicht im Besitz der Wahrheit befände. Vielmehr erkenne man, dass es zahlreiche mögliche Realitäten gebe. Jede dieser Realität sei legitim und gültig, wenn auch nicht in gleichem Maße wünschenswert. Im Gegensatz zur „Objektivität ohne Klammern“ verzichte man bei der „Objektivität in Klammern“ auf die Unterwerfung anderer, man höre zu, wünsche die Zusammenarbeit, suche das Gespräch und wolle herausfinden, „unter welchen Umständen das, was der andere sagt, Gültigkeit besitzt. Als wahr erscheint eine Aussage dann, wenn sie den Validitätskriterien des jeweiligen Realitätsbereichs genügt.“ (11) Objektivität schafft eine Realität, (Objektivität) in Klammern erzeugt viele Realitäten. Des Weiteren erläutert Maturana, warum er sich für diese Definition entschieden hat, ergo den Begriff „Subjektivität“ in diesem Zusammenhang vermieden hat, da jener geeignet sei, eine berechtigte Annahme abzuwerten. Dahinter stecke die Idee, andere mögliche Sichtweisen anzubieten. Paul Watzlawick ergänzt, dass weiterhin mit „tierischem Ernst und wissenschaftlicher ‚Objektivität’“ Menschen getestet würden. Damit setze man sich gegen die Bedrohungen eines überkommenen Weltbildes zur Wehr. (12)

Gewiss kann man die gegenwärtige Schule nicht mehr mit jener vor den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts existierenden vergleichen. Gerade besagte siebziger Jahre galten als Reformära; vieles wurde verändert. Aber die größten Hindernisse, die diese Versager-Produktionsmaschinerie ausmachen, wurden nicht beseitigt. Somit konnten sich im Grunde auch jene Strukturen erhalten, die bis heute formelles „Versagen“ herstellen. Dazu gehören die unterschiedlichen Formen von Sanktionen, Sitzenbleiben und Urteile – eben das Beurteilen von Kindern und Jugendlichen. Der Begriff „Schüler“ soll nach Möglichkeit vermieden werden, da er die jungen Menschen zu dem macht, was sie in aller Regel dort auch sind: Objekte, die man vergeblich zu formen trachtet. Es vermag einem schon dem Atem verschlagen, festzustellen, die Lehrmetapher vom „Nürnberg Trichter“ aus dem 17. Jahrhundert nach wie vor lebendig, weil angewandt, zu erleben. Diese Methode ging schlicht davon aus, Lernen geschähe durch passive Informationsaufnahme.

Heinz von Foerster (Kybernetiker, Physiker sowie Kognitions- und Perzeptionsforscher) führt eine andere Metapher ein, wenn er von der „Trivialen Maschine“ spricht. Bei dieser imaginären Maschine stellt er eine unbedingte und unveränderliche Relation zwischen Input und Output fest. „Sie ist ausgesprochen zuverlässig, ihre inneren Zustände bleiben stets dieselben, sie ist vergangenheitsunabhängig, synthetisch und analytisch bestimmbar.“ (13) Von Foerster hat – vor allem in der westlichen Welt – die Vorliebe der Menschen beobachtet, alles möge sich so verhalten. Nachvollziehbar: Man möchte, dass sein Staubsauger den kompletten Dreck in seiner Wohnung beseitigt, ist aber gleichzeitig darauf bedacht, dass er nicht die Polster zerreißt. Also gibt es unterschiedliche, bedienbare Komponenten. Die Maschine verhält sich immer auf eine vorauszusehende Art und Weise; das Resultat stellt zufrieden. Wenn nicht, weil es vielleicht einen Defekt hat, „bringen wir es zu einem Trivialisateur“ (14), der das Gerät „wieder trivialisiert“. (15) Mit anderen Worten: Drückt man auf den roten Knopf, wird zu Recht erwartet, dass die rote Lampe leuchtet, drückt man auf den gelben Knopf, leuchtet die gelbe Lampe usw.

In der Schule werden – abhängige – Menschen wie „Triviale Maschinen“ benutzt. Eine Geschichte, die Heinz von Foerster erzählt, soll hier nicht vorenthalten werden: „Ich war einmal bei einer befreundeten Familie zum Mittagessen eingeladen – und der kleine Bub, der von der Schule hätte kommen sollen, kommt und kommt nicht nach Hause. Schließlich erscheint er doch, er weint und sagt: ‚Ich musste nachsitzen! Die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen!’ Wir wollten natürlich von ihm wissen, was denn passiert sei. Er erzählte, dass die Lehrerin ihm gesagt habe, er sei frech gewesen, er habe freche Antworten gegeben. Der kleine Bub: ‚Sie hat mich gefragt, wie viel ist 2 x 3?’ Und ich habe ihr gesagt: ‚Das ist 3 x 2! Alles hat gelacht – und die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen.’ Ich habe diesen kleinen Bub gefragt: ‚Deine Antwort ist völlig richtig, aber kannst du sie beweisen?’ Da nimmt er Papier und Bleistift, zeichnet zwei Punkte und – darüber – drei Punkte. Er sagt: ‚Das ist 3 x 2!’ Und dann dreht er das Papier um 90 Grad und meint: ‚Siehst du, Heinz, das ist 2 x 3!“ Dieser kleine Bub, der sieben Jahre alt war, hat auf die ihm eigene Weise das kommutative Gesetz der Multiplikation bewiesen: A x B ist B x A. Dass die Lehrerin diese Einsicht nicht als großartig erkannte, ist traurig. Sie hatte von ihm erwartet, dass er auf ihre Frage, was ist 2 x 3 ‚sechs’ sagt. Da er dies nicht tat, schien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Das nenne ich Trivialisierung junger Menschen.“ (16) Heinz von Foerster wird gefragt, ob Lehrer mit der „prinzipiellen Nichttrivialität“ ihrer Schüler zu rechnen hätten. Er entgegnet: „Selbstverständlich. Und wenn die Trivialisierung schon erfolgt ist, dann heißt die Aufgabe für die Pädagogik: Enttrivialisierung, auf andere Antworten aufmerksam machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anregen. Man könnte diesem kleinen Bub zum Beispiel zeigen, dass sich eine Zahl auf äußerst vielfältige Weise beschreiben lässt. Wenn die Lehrerin die gewünschte Antwort „sechs“ erhalten hätte, könnte sie weiterfragen: ‚Was ist sechs?’ Mögliche Antworten sind: Sechs ist die Wurzel aus 36, sechs ist 5 + 1 und 8 – 2, 6 ist 2 x 3 und 3 x 2.“ (17) Irgendwie erinnert diese Geschichte an die Empörung von Lehrern über Kinder, die niemals eine Kuh gesehen haben, aber glauben, die Kuh sei lila.

Kinder wie „Triviale Maschinen“ zu behandeln kann dem Auftrag der Bildung und Förderung lebendiger Organismen in keiner Weise gerecht werden, wie wir sehen konnten. Aus einem solchen Fehlverhalten obendrein noch die Kompetenz ableiten zu wollen, die Resultate zu beurteilen, kann im Grunde nur zu dem Desaster führen, das wir vorfinden. Dies kann beispielsweise durch die Zahl von 250.000 Kindern und Jugendlichen dokumentiert werden, die bundesweit jährlich eine Klasse wiederholen. Die Kommission „Jugendarbeit und Schule“ der AGOT-NRW (18) stellt fest, dass allein für Nordrhein-Westfalen bei durchschnittlichen Kosten von 4.800 Euro pro Kind oder Jugendlichem in der Schule eine Reduzierung von 10.000 Nichtversetzten ein finanzielles Förderpotenzial von 48 Millionen Euro oder 1.200 Lehrerstellen ergebe. (19) Die Kommission zitiert Klaus-Jürgen Tillmann: „Addiert man die Zahl für Zurückstellungen, Sitzenbleiben, Schulformwechseln und Sonderschulüberweisungen, so ergibt sich eine erschreckende Schätzung: Mehr als 40 Prozent aller Schüler/innen machen zwischen der ersten und der zehnten Klasse mindestens einmal die Erfahrung, von ihrer Lerngruppe aufgrund angeblich mangelnder Fähigkeiten ausgeschlossen zu werden.“ (20) SPIEGEL ONLINE fragt, ob Sitzenbleiben nicht „verplemperte Zeit“ und die 1,2 Milliarden Euro, die es bundesweit jährlich nach Angaben der GEW verschlingt, nicht sinnlos „verpulvertes Geld“ seien. Laut Angaben des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm, der ausgeht von einer Größe von 850 Millionen Euro, die Sitzenbleiben bundesweit kostet, in diesem Zusammenhang 16.500 Lehrerstellen durch die Wiederholer gebunden sind. (21) In dem Bericht heißt es ferner, Sitzenbleiben stempele Jugendliche zu Versagern. Der volkswirtschaftliche Schaden ist, wenn man den angeführten Fakten folgt, immens; das individuelle Leid und die biografischen Folgeschäden unübersehbar.

Die AGOT-Kommission Jugendarbeit und Schule stellt fest: „Es gibt eine dramatische Anzahl von Klassenwiederholungen, Zurückstellungen, Überweisungen und Abschulungen. Das selektive Schulsystem mit seinen angeblich homogenen Gruppen produziert … zu viele Kinder und Jugendliche, die in der Schule scheitern und als Opfer des Systems nachhaltig die Leidtragenden sind. Zudem bringen Klassenwiederholungen, auch belegt nach PISA, nichts.“ (22) Als weiteren „Fakt zur Bildungswirklichkeit“ führt die AGOT-NRW Jugendliche ohne Schulabschluss an. Für Nordrhein-Westfalen bedeutet dies, dass nach Beendigung des Schuljahres 2004/2005 14.691 (= 5,2 Prozent) junge Leute keinen Hauptschulabschluss erreichten. Weitere 13.566 (= 4,8 Prozent) schafften lediglich den Hauptschulabschluss der neunten Klasse. Überproportional betroffen sind hier vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund. Zum Aspekt der Schulabschlüsse stellt die AGOT fest: „Es gibt eine große Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss. Diesen Jugendlichen … wird die Zukunft verstellt und das Grundrecht auf freie Berufswahl vorenthalten.“ (23) Vor genannten Hintergründen scheinen auch die seit Jahren zu beobachtenden „Phänomene“ Schulmüdigkeit und Schulverweigerung erklärbar. Hierin sieht die AGOT-NRW ein Armutszeugnis für das System. Sie konstatiert: „Der große Bedarf an Maßnahmen für Schulmüde zeigt, dass Schule es nicht schafft, junge Menschen angemessen zu fördern. Viele dieser jungen Menschen, die in dieser Förderung unterstützt werden müssen, haben vorher Akzeptanz und Teilnahme an ihrem Leben als Schülerinnen und Schüler nicht erfahren.“ (24)

Dem Sitzenbleiben, dem verpassten Schulabschluss, der Schulmüdigkeit und der Schulverweigerung voraus geht eine entsprechende Beurteilung durch „Lehrkräfte“. Verwiesen sei hier noch einmal auf das bereits erwähnte Ziffernnotensystem. Aber: Ein Urteil, eine abschließende Bewertung scheint mir in diesem Zusammenhang einfach nicht möglich zu sein. Und: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (25) Wie kommen denn mit den üblichen Methoden Bewertungen zustande? Es werden Klausuren geschrieben, Hausaufgaben gestellt und beurteilt. Ebenso fließt in die Beurteilung ein, wie sich das einzelne Kind oder die/der einzelne Jugendliche in den Unterricht einbringt. Eine Zensur kann somit immer nur Abbild einer Momentaufnahme sein; völlig unmöglich, sämtliche Faktoren, die den Augenblick bestimmen, auch nur annähernd zu bewerten, etwa das persönliche, gesundheitliche und psychische Befinden des Individuums, seine familiäre Situation, Einflüsse, die im sozialen Umfeld aktuell wirken und vieles andere mehr. Es sollen hier keine Zweifel darüber gestreut werden, dass Menschen sich bezüglich ihrer jeweiligen Kompetenzen unterscheiden. Mir ist allerdings selten jemand begegnet, dessen Kompetenzen nicht förderungsfähig erschienen.

Heinz von Foerster äußert ganz klar, wie beschrieben ginge es nicht: „Das funktioniert nicht. Meine Auffassung ist, dass man niemals wissen kann, was der Schüler weiß. Da dieser Schüler ein nichttriviales System ist, muss er als analytisch unzugänglich gelten. (26) Ich behaupte, dass diese Prüfung sich selbst prüft. Mein diesbezügliches Theorem lautet: ‚Tests test tests.’“ Um seine Überlegungen verständlich zu machen, wartet von Foerster mit einem Beispiel auf; dieses stammt von Alan Turing, seiner Meinung nach einer der genialsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Turing ging der Frage nach, ob Maschinen denken könnten, ob es künstliche Intelligenz gebe. Um dies herauszufinden, entwickelte er den Turing-Test. Von Foerster hält diesen für das Urparadigma eines Tests. Wie dies funktioniert, beschreibt er folgendermaßen: „Man stelle sich vor: Da ist ein kleines Theater mit einem roten Samtvorhang. Und hinter dem Vorhang befindet sich eine nicht näher bekannte Entität. Vor dem Vorhang sitzen mehrere Gelehrte mit Zwickern, Brillen und langen Bärten. Diese Gelehrten dürfen jetzt dem Etwas, dieser Entität Fragen stellen. Nach einiger Zeit werden sie sagen, dass sich hinter dem Vorhang eine Maschine oder ein Mensch befindet oder dass diese Frage unentscheidbar ist.“ (27) Von Foerster macht deutlich, hier werde nicht die eventuelle Intelligenz getestet; vielmehr prüften sich die Gelehrten selbst. „Sie testen sich selbst, ob sie in der Lage sind, einen Menschen von einer Maschine zu unterscheiden. Und wenn ihnen dies nicht gelingt, dann sind sie eben durchgefallen. Meine Behauptung, die ich hier vertrete, lautet, dass im Grunde genommen die Prüfer geprüft werden – und nicht die Entität, die hinter dem Vorhang sitzt und brav auf die Fragen Antworten gibt. Also nochmals: ‚Tests test tests’.“ (28)

Demzufolge sei ein gutes Schulzeugnis ein Beleg für eine geglückte Trivialisierung: „Wenn man wirklich immer – klick, klick, klick – die gewünschten Antworten gibt, dann kriegt man gute und hervorragende Noten, das ist alles. Einer meiner Studenten, ein Computerwissenschaftler, hat einmal ein sehr lustiges Programm erfunden, das man zur Abfassung von Diplom- und Doktorarbeiten verwenden kann. Dieses Programm konstruiert aus den Lieblings- und Schlüsselwörtern des jeweiligen Professors, die man sich in den Vorlesungen notieren muss, zahllose wohlgeformte Sätze. Natürlich muss man, wenn man dieses Schreibprogramm verwendet, hervorragende Noten bekommen. Das ist der ganze Trick.“ (29) (30) Üblicherweise habe man von einem Lehrer die Vorstellung, dieser wüsste alles, die Kinder hingegen nichts. In diesem Sinne wäre Lernen als die schrittweise Beseitigung von Unwissen zu begreifen. Hierbei werde Unwissen als schlechter Zustand verstanden. Gleich einem Alchimisten verwandele der Lehrer Eisen zu Gold. „Die Schüler erscheinen, wenn man von dieser sehr alten lerntheoretischen Metapher einer schrittweisen alchimistischen Transformation ausgeht, als billiges Material, das über verschiedene Stufen in ein besseres, edleres und wertvolleres verwandelt werden muss.“ (31) Folglich – so der allgemeine Glaube – sei das Zaubermittel, das diese Schülertransformation einleite, das Wissen. Von Foerster grenzt sich gegenüber der Idee von Wissensvermittlung ab. Seiner Meinung nach lässt sich Wissen nicht vermitteln, vielmehr müsse Wissen von den Menschen selbst generiert werden. Da komme es im Wesentlichen darauf an – eine potenzielle Aufgabe für die Schule! –, Umstände zu organisieren, in denen Prozesse der Generierung und Kreation ermöglich werden. „Das Bild des Lernenden wird auf diese Weise ein anderes. Er ist nicht mehr passiv, er ist keine leere Kiste, kein Container, in den eine staatlich legitimierte Autorität (ein Lehrer oder ein großer, weiser Professor) Fakten und Daten und seine enorme Weisheit hineinfüllt … Der Lernende erscheint aus einer solchen kognitions- und perzeptionstheoretischen Perspektive als aktiver Konstrukteur; er ist es, der sich das Wissen erarbeitet.“ (32)

Dementsprechend ist es sinnvoll, weil Erfolg versprechender, junge Leute ganz deutlich als Lernende (von Foerster: Perzipierende, Kognitoren) und nicht länger als zu Belehrende zu begreifen und ernst zu nehmen. Der Frankfurter Professor Gerold Scholz ergänzt: „Im Sinne von Verstehen, also dass Kinder etwas verstehen sollen, sind sie nicht belehrbar. Sie können nur selber lernen. Das heißt, ich kann Situationen herstellen, in denen Kinder etwas lernen können. Das ist auch meine Aufgabe. Und ich habe auch die Aufgabe, innerhalb dieser Situation zu agieren. Ich gucke nicht nur einfach zu. Aber jeder Versuch, sie zu belehren, ohne dass sie ihre eigenen Vorstellungen mit dem, was an neuen Konzepten angeboten wird, in Verbindung zu bringen, ohne sich damit auseinandersetzen zu können, bedeutet, dass sie es schlicht nicht begriffen haben.“ (33)

Wie Scholz ebenfalls anführt, vertritt auch von Foerster nicht die Position, sich herauszuhalten und einfach nur zuzusehen. Für Lehrerinnen und Lehrer allerdings sei es hilfreich, ihre vermeintlich überlegene Position aufzugeben. Vielmehr sollten sie die Haltung einer „sokratischen Ignoranz“ einnehmen nach dem Motto: Ich weiß, dass ich nichts weiß! Dieses allerdings sei etwas anderes als eine Haltung der fundamentalen Ignoranz, deren Devise lautet: Man weiß noch nicht, dass man nichts weiß. Ein sokratischer Nichtwisser, der wüsste, dass er nichts weiß, zöge eine vernünftige Konsequenz, er begänne nämlich zu forschen. Lehrerinnen und Lehrer würden in diesem Sinne zu Forschern, die Kinder und Jugendlichen ebenso. Die Ebene wäre dann: Junge Leute und Erwachsene würden zu kooperierenden Mitarbeitern, „die gemeinsam – ausgehend von einer sie faszinierenden Frage – Wissen erarbeiten. Es entsteht … eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens und Forschens. Man weckt die Neugierde und die Empathie, regt zu eigenen Gedanken an, serviert nicht irgendwelche fertigen Resultate, sondern Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit und des wechselseitigen Entzückens werden. Jeder stützt sich auf die Kompetenzen des anderen; das Zittern vor der Allwissenheit einer einzigen Person hat ein Ende.“ (34) Wie viel Befreiendes dürfte eine solche Haltung für Kolleginnen und Kollegen, die sich in der überkommenen unterrichtlichen Praxis nicht selten erfolglos abstrampeln, haben!

Bernhard Pörksen weist darauf hin, Lehrerinnen und Lehrer könnten eine solchermaßen neu definierte Rolle möglicherweise nicht besonders attraktiv finden. Er bezieht sich dabei unter anderem auf eine Untersuchung aus Deutschland zur Interpretation von literarischen Texten. In dieser Untersuchung wurde deutlich, dass „das Dogma von der einen, der einzigen und wahren Bedeutung eines Textes aus einer empirischen Perspektive einfach unhaltbar ist“. (35) Gleichwohl könne festgestellt werden, dass trotz dieser Erkenntnis Schulen und Lehrer/innen an einer Veränderung des Unterrichts normalerweise überhaupt kein Interesse hätten – vermuteter Anlass: Die Interpretationshoheit zur Disposition zu stellen, könne zu einem Verlust an „Deutungsautorität“ und „Macht“ führen. (36) In diesem Zusammenhang führt von Foerster an, die meiste Zeit im Unterricht werde darauf verwandt, „illegitime Fragen“ zu stellen und Antworten „einzufordern“. Er definiert eine Frage dann als illegitim, wenn die Antwort darauf bereits bekannt ist. „Wenn ein Lehrer diesen Typ von Frage stellt, dann ist das doch eine Schweinerei und Gemeinheit, denn er kennt die Antwort ja schon. Legitime Fragen sind dagegen echte Fragen: Für sie existiert noch keine fertige Antwort.“

Wenn bereits beantwortete Fragen illegitim sind, müssen es auch die bürokratisch vorbereiteten und politisch abgesegneten Lehrpläne sein, illegitim, weil eine Bürokratenclique ihre ureigene Weltsicht festlegt, von einer fachlich offenbar ahnungslosen bzw. ignoranten Politik durchgewinkt.

Lehrpläne zwingen Lehrerinnen und Lehrer in ein Korsett, das ihnen die Luft eng werden lässt. Spätestens wenn diese im „Apparat“ angekommen sind, zwängen sie sich in jenen hinein; wenn nicht – so hört man –, werden sie oftmals „kollegial“ dazu gezwungen. Dieser Normierungszwang könnte im Übrigen der Grund sein, weshalb nach wie vor die meisten Lehrer Beamte sind. Ich vermag deren hoheitliche Aufgaben nicht zu erkennen. Sollte eine Schule eine siegelführende Instanz sein, bei der ich mir meine Fotokopien aus irgendwelchen Zwecken beglaubigen lassen kann, würde es meines Erachtens ausreichen, den Rektor oder den Hausmeister zum befristet ernannten Beamten zu machen, damit er mir meine Kopien amtlich anerkennen kann. Das Handeln in der Schule im Sinne von Bildungsförderung wie Pädagogik überhaupt schließt in diesem Sinne hoheitliche Aufgaben geradezu aus; schon allein deshalb, da sich illegitime Fragen verbieten. Pädagogik unterliegt immer wieder auftauchender Irrtümer; obendrein ist sie massiv an ihrer Verbreitung beteiligt. Sollte Bildung vor allem unter Einbeziehung von „Fehlerfreundlichkeit“ gefördert werden, so müsste ein verbeamteter Lehrer in der Rolle eines Geburtshelfers zugleich die des Totengräbers spielen.

Unterstützt wird der Autor auch durch den Psychologen Peter Lauster; dies in Form seiner „Entlarvung von Lebenslügen“, die er erstmalig bereits 1976 veröffentlicht hat. (37) Entschieden widerspricht er der Auffassung, Intelligenz sei wichtiger als Gefühl. Genau dieser Auffassung sei die Schule aber immer mehr untergeordnet worden. Selbst die Eltern seien inzwischen auf diesen Kurs eingeschwenkt. Sie seien kaum noch davon zu überzeugen, dass Kinder durch Spielen, eine ihnen im Grunde ureigene Tätigkeit, gefördert werden müssten als vielmehr durch das Vermitteln von Fakten – deren auswendig gelerntes Abfragen dann zur Bewertung führe. „Überschätzung der Intelligenz“ nennt Lauster dies. Er dokumentiert ein Gespräch, das er mit einem Vater führte, der darauf insistierte, dass die Tochter nach erfolgreichem Studium die elterliche Apotheke übernehme. Jene Tochter hatte bereits vor dem Abitur und dem anschließend kaum erreichbaren Numerus Clausus „Lernstörungen“ – familiäre Ziele waren bedroht. Lauster zufolge waren die „Lernstörungen“, die sich in diesem System in Noten reflektieren, kein Manko der Tochter, sondern vielmehr eines des „konventionellen Schulsystems“. (38) Dies bestritt der Vater gegenüber dem Psychologen heftig. Grundsätzlich sprach er seiner Tochter den Wunsch nach Freiheit und Zwanglosigkeit ab. Niemand könne im Berufsleben erfolgreich sein, wenn er nicht Disziplin, Ordnung, Ausdauer und Fleiß eingebimst bekäme. Interessant die Reaktion des Psychologen darauf, vertrat er doch die Meinung, gerade die Härte der Fremdbestimmung sei es, die Tochter mit Lernstörungen rebellieren zu lassen, sie also aus gesundheitlicher Sicht völlig normal reagiere. „Die Intelligenzentfaltung ist zu einem Faktor des Lebenserfolgs degeneriert, der nur um seiner selber willen zählt. Die psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität werden dafür aufs Spiel gesetzt. So weit geht die Tyrannei der äußeren Verhältnisse über die Psyche.“ (39) Und weiter referiert Lauster: „Vor allem Kinder aus der Unterschicht (40) haben mit diesem Problem zu kämpfen, denn sie bringen nicht die erforderliche psychische Ausgeglichenheit mit und fallen deshalb in ihren Intelligenzleistungen ab. Ihre störenden psychischen und emotionalen Probleme sind schichtspezifisch bedingt. Nicht die Emotionen sollten deshalb abgeschafft werden, sondern die sozialen Verhältnisse, die emotionalen Konflikte und psychische Schwierigkeiten erzeugen. Der Umgang mit Emotionen wie Angst, Wut, Schuldgefühlen, Freude und Lust wird in unserer modernen Industriegesellschaft nicht gelernt. Die Intelligenz wird einseitig gefördert, die Emotionalität wird dagegen sich selbst überlassen.“ (41) Neben seiner Forderung, die Schule damit zu beauftragen, erst einmal das Zulassen von Emotionalität zu üben, kritisiert er, das Schulsystem sei vielmehr damit beschäftigt, entwicklungsförderliche Methoden zu verdrängen oder bewusst nicht zuzulassen.

Steht die Kultusbürokratie unter dem Kuratel des kapitalistischen Systems? Angesichts ihrer Ignoranz kann man ernsthaft zu keinem anderen Schluss kommen. Neue Experimente – auch der Verzicht auf Zensuren (Urteile) – geraten in den Ruch der Gefühlsduselei, und Sentimentalität. Genau dies führt laut Peter Lauster zu einem Abwehrmechanismus bei Kindern und Jugendlichen, der sie mit vermeintlichem Versagen reagieren lässt; vermeintlich, weil vom System selbst konstruiert.

Lauster konstatiert, die freie Lernentfaltung werde abgeblockt. Lernende müssten sich an den Lernapparat anpassen, nicht der Lernapparat an die Lernenden. Schulmodelle, wie die Glockseeschule in Hannover – und wir fügen hier noch den völlig unverständlichen „Dauer-Versuch“, die Laborschule in Bielefeld (42) ein –, die ohne Angst, Schuldgefühle und Fremdbestimmung nach eigener Selbstentfaltung lernen könnten, würden als „Utopien“ verunglimpft und nicht ernst genommen, „weil hier das Lernen spielerischer und freier geschieht als auf den traditionellen Unterdrückungs- und Ausleseschulen.“ (43) Für Lauster ist Schule ein teuer erkaufter Nachhilfeunterricht und „gnadenloser Lernkampf um den eigenen Vorteil gegen die Mitschüler in einem gnadenlosen pädagogischen Auslesesystem. Aus der pädagogischen Aufgabe der Förderung ist ein darwinistischer Wettkampf um Noten … geworden.“ (44) Das Konkurrenzstreben, zu dem dies führe, erzeuge ein Verhalten, das „eiskalt, knallhart, distanziert unterkühlt“ (45) Er forderte bereits 1976 psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität ein. Und wie präsentiert sich die Schule heute? Als nach wie vor hoheitlicher Apparat, den man wegen bestehender Schulpflicht besuchen muss, selbst wenn es bessere Alternativen gäbe, die fördern und nicht be(ver)urteilen. Schule ist Exekutive, hoheitliche.

Hoheitliches – und hier ist durchaus die exekutive Gewalt des Staates gemeint – behindert in der Regel die meisten Formen von Kreativität. Wie wir gesehen haben, können aber nur Kreativität, Phantasie, Eigenverantwortung und Kooperation als Eigenschaften und Haltungen den pädagogischen Bemühungen zum Erfolg verhelfen. Der Lehrplan gibt vor, was ein/e Jugendliche/r zu wissen hat und können muss. Er gibt dies in einer beängstigend atemberaubenden Weise vor. In einer dem Menschen artfremden Homogenität muss jedes Kind zu einem vorgeschriebenen einheitlichen und verbindlichen Zeitpunkt all jene Kompetenzen erworben haben, die die Exekutive in Form der Kultusminister und ihrer Bürokraten für sinnvoll befindet. Junge Leute verlassen dann diese „Versager-Produktionsmaschinerie“ Schule mit den entsprechenden Noten. Sollte ein Nicht-Versager das Zertifikat namens Abschlusszeugnis in Händen halten, will möglicherweise die nächste Hürde in Form eines so genannten Numerus Clausus genommen sein. Auch hier verhindern illegitime Maßnahmen oftmals solche Ziele, die sich junge Menschen vorzunehmen gedachten. Lehrpläne in den bestehenden Formen sind illegitim, da sie kindlichen und jugendlichen Forscherdrang nicht unterstützen, sondern boykottieren und in der Folge bekämpfen. Die „einzig richtigen Antworten“ haben die Bürokraten ja bereits gegeben.

Zum mehrgliedrigen Schulsystem mit all seiner Disfunktionalität ist vermutlich alles gesagt und dokumentiert worden. Die politisch Verantwortlichen halten gleichwohl daran fest. Deshalb wird es hier lediglich exemplarisch kurz erwähnt; dies am Beispiel der „Sonderschule“. Im Zuge der bereits erwähnten Schulreformen in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man „plötzlich“ Sonderschulen und nicht mehr die bis dahin existierenden Hilfsschulen. Nach wie vor beeindrucken die Qualifikation und die Reflexion mancher Lehrerinnen und Lehrer, die an diesen „Instituten für Chancenlose“ arbeiten. Jetzt gibt es sie wieder, die „gute alte Hilfsschule“. Politische Korrektheit hat allerdings dazu geführt, Hilfsschulen nunmehr Förderschulen zu nennen. In jenem positiven Sinne, wie es beabsichtigt war, bedeutet Förderung nämlich Hilfe. (46) Ebenfalls kein Zweifel soll gestreut werden an dem Engagement der „Sonder“-Pädagogen“, die sich dort in löblicher Weise um die Kindern und Jugendlichen bemühen.

Nur: Welche Chancen hat man denn, wenn man ein Zeugnis – eine Beurteilung – einer Förderschule abgibt, etwa bei der Bewerbung um eine Lehrstelle? Das Zeugnis mag noch so gut sein, perspektivische Aussichten und Möglichkeiten werden mit dem Abschluss an einer solchen Schule „automatisch“ verbaut. Und das Fatale: (Lern- oder sonst wie) behindert sind die Absolventen dieses Schultyps vermutlich überhaupt nicht! Sie sind wahrscheinlich schlicht unter die Räder einer förderungsunfähigen (Regel-)Schule geraten. Bestätigt wird diese Einschätzung aktuell durch die Dissertation von Brigitte Schumann, die im Besuch einer Förderschule ein stilles Drama programmierten Scheiterns sieht. (47) „Die beste Image-Kampagne ändert nichts daran, dass Jugendliche aus der Sonderschule mit ihrem Abschluss am Arbeitsmarkt Null Chancen haben“, so Brigitte Schumann. (48) Sie dokumentiert, gerade 2.650 der rund 10.000 Schulabgänger hätten 2004 den Hauptschulabschluss Klasse 9 geschafft, 551 (5,4 Prozent) den der Klasse 10 und 81 (0,8 Prozent) die Fachoberschulreife. 7.002 junge Männer und Frauen (68 Prozent) verließen die Förderschule ohne Abschluss. (49) Brigitte Schumann gelangt zu der Erkenntnis, der Schonraum, in dem die jungen Leute ihre individuellen Potenziale entwickeln sollen, überhaupt nicht funktioniere. Vielmehr führe er sie in die soziale Isolation. So genannte Lernbehinderte stammten ferner zu 90 Prozent aus sozial schwachen Familien, zwei Drittel seien überdies Jungen und Migrantenkinder besuchten doppelt so häufig die Förderschule wie deutsche. Gerade mal acht Prozent als Lernbehinderte Klassifizierte besuchten in Nordrhein-Westfalen eine Regelschule. Je länger dem ungeachtet Kinder in einer Sonderschule sind, desto ungünstiger entwickelt sich ihre Intelligenz und ihr Lernverhalten. Brigitte Schumann stellt unter dem Strich bei den „Sonderschüler/innen“ und deren Eltern ein extremes Leiden an diesem Status und in der Folge eine große Scham hierüber fest: „Wer sich aber klein und erbärmlich fühlt, kann gar nicht richtig lernen. Das muss aufhören, ganz schnell.“ (50) Man könnte geneigt sein, zum Trost sarkastisch hinzuzufügen, dass eine Eins der Hauptschule ist inzwischen ebenso fast wertlos ist.

Vielleicht gelingt es, zu der Einsicht beitragen zu können, dass Zensuren illegitime Beurteilungen sind, da sie in der Regel auf illegitimen Fragen fußen. Bewertet wird beispielsweise mit „gut“, „mittelmäßig“ oder „schlecht“ das geäußerte Wissen auf Fragen, wann beispielsweise Karl der Große zum letzten Mal an Diarrhö litt. Wer erinnert sich nicht an die Kolonnen von hunderten von Geschichtszahlen, die auswendig gelernt werden mussten, um sie anschließend herunterzubeten. (51) Die Basis von Lehrerurteilen fußt in aller Regel auf informellen Leistungsproben und beiläufigen Beobachtungen. Dies zumindest stellt eine wissenschaftliche Expertise der Universität Siegen fest. (52) Vorsichtig äußern die Experten, darauf basierende Bewertungen hätte lediglich eine eingeschränkte Validität. Sie merken an, verschiedene Lehrer/innen bewerteten nach unterschiedlichen Kriterien; ebenso orientierten sie sich an diversen Schwellenwerten. Sie vertreten die Einschätzung, Ziffernnoten seien ebenso problematisch wie verbale Beurteilungen, auf die wir an späterer Stelle noch zu sprechen kommen. Die Siegener Expert/innen berichten, dass bereits 1949 ein Deutschaufsatz völlig unterschiedlich bewertet wurde, vor allem, dass für ein und dieselbe Arbeit sämtliche Ziffern von 1 bis 6 vergeben wurden. Dieses „Phänomen“ wurde in Siegen weiter untersucht, die Ergebnisse waren vergleichbar. Man trennte sich in der Untersuchung ferner vom Deutschaufsatz, da man diesen „als besonders anfällig für subjektive Einschätzungen“ befand und gelangte bei Leistungen in anderen Fächern gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen. Jede/r beurteilt, wie es gerade kommt.

Eine Bestätigung über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen, erhalten wir auch von Jean Piaget. Er zweifelt nicht an der Existenz eines Objekts – hier ein Kind oder Jugendlicher; (53) man entdecke seine Eigenschaften allerdings nur durch sukzessive Annäherung, denn: erreichen würde man das Objekt nie, „weil man dazu wohl eine Unendlichkeit von Eigenschaften entdecken müsste, von denen eine große Anzahl verborgen bleibt.“ (54)

Es geht somit nicht um schlechte Bewertungen; es geht um Bewertungen generell. Horst Bartnitzky hält den Glauben an die gerechte Note ebenfalls für einen Irrglauben; Gerechtigkeit und Objektivität stellen sich für ihn als Mythos dar. Er verweist darauf, dass dies seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesen sei. Interessant auch sein Hinweis darauf, dass Mädchen wohlwollender beurteilt werden als Jungen, „aggressive“ Jungen schlechter als stille, selbst wenn ihre Leistungsergebnisse gleichgesetzt werden können. (55)

„Schlechte“ Noten führen Kinder überdies in einen geradezu krankmachenden Circulus vitiosus; sie entmutigen und verhindern weitere Bemühungen. Solcherart Stigmatisierte gelten als unfähig, zunächst der Gruppe gegenüber; später glauben sie das auch von sich selbst. Jegliche Motivation ist dahin. „Die Angst vor Misserfolg erzeugt die nächsten Misserfolge.“ (56) „Sehr gute“ und „gute“ Beurteilungen können leicht zur Saturiertheit führen. In einer solchen Selbstzufriedenheit steckt beispielsweise die Gefahr, sich nicht weiter zu engagieren. Und was bedeutet „befriedigend“? Horst Bartnitzky zieht eine Parallele: Man solle sich vorstellen, man ginge zur Vorsorgeuntersuchung zum Arzt. Dieser würde als Ergebnis „befriedigend“ feststellen. Wäre man zufrieden? Höchstwahrscheinlich nicht!

Ein Vergleich von Kindern untereinander wirft noch ein weiteres Problem auf. Bereits Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) hat darauf hingewiesen. An den von ihm gegründeten Schulen gab es zu Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst keine vergleichenden Leistungsbewertungen, wohingegen andere Schulen zeitgleich damit begannen. Pestalozzi wollte nicht, dass Kinder miteinander verglichen würden; die Leistungen eines Kindes sollten allein an seinen eigenen Kräften und Anlagen gemessen werden. (57) Heutzutage ist eine „gute“ Note um so „mehr wert, je weniger Kinder sie haben. Es geht nicht nur um die Note, sondern auch um die Verteilung der Noten in der Klasse. Viele Eltern möchten deshalb gern den Klassenspiegel sehen. Dieser Vergleich der Kinder miteinander macht auf Dauer die Klasse zum Kampfplatz. Statt Team-Geist zu entwickeln, entsteht im Klassenraum eine Ellenbogen-Gesellschaft.“ (58) Man stelle sich den Druck vor, den ein Kind verspüren muss, wenn es beispielsweise als „zweit- oder drittbestes“ „gehandelt“ wird. Nicht der Beste zu sein, mag möglicherweise als Motivationshemmnis wirken; vom Sport her kennt man den so genannten „Verweis auf die Plätze“. Was aber geschieht mit einem Kind, das vielleicht das „beste“ war, und, aus welchen Gründen auch immer, „absackt“? Solche Phänomene sind nicht selten bei Pubertierenden zu beobachten. So kann der Status als ehemaliger „Klassenbester“ zu einer wahren Crux werden. Was ist mit dem „Zweitschlechtesten“? Zumindest hat er gute Gründe, den Schlechtesten für einen großen Versager zu halten. Bartnitzky zufolge verschiebt sich durch die Bewertung junger Menschen unter dem Strich das Ziel der Schule „vom Lernen der Sachen hin zum Lernen wegen der Noten.“ (59)

Nicht selten sieht man sich beim Infragestellen von Zensuren der Reaktion ausgesetzt, stattdessen es müsse stattdessen andere Bewertungen geben, etwa schriftliche Berichte. Darin spürt die Berliner Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. berechtigterweise einen weiteren Mythos auf. Für sie ist nicht die Frage, wie, sondern warum überhaupt bewertet werden soll. K.R.Ä.T.Z.Ä. bestätigt einmal mehr die von Horst Bartnitzky vertretene Position „zum Lernen wegen der Noten“; man stelle eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf: „Wieviel muss ich wissen/tun, um eine gute Zensur zu bekommen?“ Bewertung wird von K.R.Ä.T.Z.Ä. als Bestechung und Erpressung klassifiziert, die Aufmerksamkeit werde vom Lerninhalt weg auf eine mögliche Belohnung gelenkt. „Zensuren, Lob, Bienchen usw. sollen motivieren, heißt es. Dabei wird aber völlig übersehen‚ dass es einen entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen innerer und äußerer Motivation gibt – zwischen einem Interesse an dem, was man lernt um dieser Sache willen, und einer Vorstellung, in der Lernen als ein Mittel zum Zweck gesehen wird, wobei der Zweck darin besteht, Bestrafung zu vermeiden bzw. eine Belohnung zu erhalten. Nicht nur, dass diese beiden Orientierungen verschieden sind, sie wirken oft sogar in entgegengesetzte Richtungen“, (60) zitiert K.R.Ä.T.Z.Ä. den amerikanischen Schriftsteller Alfie Kohn, der sich intensiv mit den destruktiven Wirkungen von Konkurrenz und Wettbewerb auseinandergesetzt hat.

Plausibel resümiert K.R.Ä.T.Z.Ä.: „Bewertung setzt Kontrolle voraus, die in jedem Fall ein Eingriff in die Privatsphäre des Schülers ist. Ob, wann und in welcher Form bewertet werden soll, soll deshalb nur jeder Schüler selbst entscheiden. Zeugnisse und Bewertungsdokumente jeder Art ignorieren, dass Menschen sich auch nach Erhalt ihres letzten Zeugnisses ändern. Dies trägt dazu bei, dass andere sich Vor- bzw. Fehlurteile anhand des vor Jahren festgeschriebenen Erscheinungsbildes in der Schule bilden, welches wiederum keineswegs objektiv ist. Dieser Umstand kann zu einer lebenslangen Brandmarkung als beispielsweise „leistungsunfähig“ führen. Schon aus Gründen des Datenschutzes, der informationellen Selbstbestimmung, sind wir gegen Zeugnisse. Normalerweise merkt man doch, ob man eine Sache schon gut kann, man sich darin sicher fühlt. In den Fällen, in denen man überhaupt nicht das Gefühl hat, sich selbst einschätzen zu können, kann man ja andere fragen, was sie z.B. von den eigenen Singkünsten oder von der Qualität eines selbstverfassten Textes halten. Wichtig ist, dass sich dabei jeder bewusst ist, dass diese Einschätzung zwangsläufig subjektiv ist, aber man selbst die Ansprüche der anderen Person nicht teilen muss. Die Äußerung des anderen ist nicht mehr als eine Meinung! So läuft das im alltäglichen Leben, und so sollte es auch in der Schule sein. Wenn ein Schüler ein Feedback haben will, kann er einen Lehrer oder Mitschüler fragen. Wenn er keines will, sollte er in Ruhe gelassen werden. Da dieses Feedback eine persönliche Information des Lehrers (oder auch eines Schülers) an den Schüler ist, wird sie auch nirgendwo dokumentiert. Für Zeugnisse gibt es keine Rechtfertigung mehr. Auch die Eltern können keinen Anspruch auf Zeugnisse über ihre Kinder haben. Womit sich ein Schüler in der Schule beschäftigt, muss allein seine Sache sein. Nichtsdestotrotz werden sich viele junge Menschen freiwillig mit ihren Eltern darüber unterhalten, was sie in der Schule machen und wie es ihnen dort geht. Welche privaten Dinge sie anderen mitteilen, bleibt jedoch – nicht nur im Bereich Schule – in jedem Fall ihre eigene Entscheidung.“ (61)

Demokratische Schulen arbeiten in diesem Sinne. Sie bemühen sich intensiv darum, den Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen. Sie verzichten auf einen verbindlichen Lehrplan und selbstverständlich auch auf Zensuren und Prüfungen. An den Schulen werden die Belange des schulischen Zusammenlebens basisdemokratisch geregelt: Jeder Mensch hat eine Stimme. Die Regeln des schulischen Miteinanders werden so gemeinsam festgelegt. Es entsteht ein verbindliches Regelwerk. Nicht regelbar ist das, was etwa durch Gesetze bereits geregelt ist. Insofern kann etwa auch nicht über Menschenrechte neu bestimmt werden; ebenso nicht über andere geltende Gesetze. An demokratischen Schulen gilt ferner der „Kategorische Imperativ“ nach Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (62) Mit anderen, leichteren Worten: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Oder, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden!“ Eine der bekanntesten demokratischen Schulen ist beispielsweise die Sudbury Valley School in Framingham bei Boston/Massachusetts. (63)

Diskutiert werden soll an dieser Stelle nicht mehr die Unmündigkeit bzw. die Unfähigkeit junger Menschen. Das Bewusstsein, dass es sich bei solchen Einwänden um einen Mythos handelt bzw. dass Unmündigkeit und Unfähigkeit nicht selten Folgen eines hausgemachten Problems sind, darf bei mündigen Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden.

Deshalb sei – diesen Zusammenhang abschließend – noch ein Blick auf die „formale Erfolgsquote“ demokratischer Schulen erlaubt. Wie wir gesehen haben, gibt es auf demokratischen Schulen weder Zeugnisse oder anderweitige Rückmeldungen, noch Prüfungen, die die Zugänge für ein Studium bzw. eine Berufsausbildung vorsortieren. Absolventen demokratischer Schulen müssen sich, wenn sie eine formale Zugangsvoraussetzung etwa für eine Hochschule benötigen, extern, beispielsweise an einer staatlichen Schule, prüfen lassen. Von der 13. IDEC, der Internationalen Konferenz für Demokratische Bildung, die im Sommer 2005 in Berlin stattfand, nahm ich folgende Information mit: Eine Untersuchung, die der Frage nachging, wie hoch die Quote der Abiturientinnen und Abiturienten ausfiel, stellte fest, dass dies bei 95 Prozent der ehemaligen Besucher demokratischer Schulen der Fall war. (64) Welche Schule mit Zeugnissen und Zensuren kann auch nur annähernd eine vergleichsweise so hohe Anzahl vorweisen?

Die Frage sei erlaubt, ob es denn – im Gegensatz zu den demokratischen – auch undemokratische Schulen gibt. Eigentlich sollten die hier dargestellten Fakten und Argumente die Kenntnis längst zutage gefördert haben, dass diese Frage mit einem ganz eindeutigen „Ja!“ zu beantworten ist. Bei der so genannten Regelschule haben wir es in weiten Teilen mit demokratiefreien Zonen zu tun, allem offiziellen Partizipationsgefasel zum Trotz. Eindrucksvoll belegen dies, neben der kritisierten Praxis der Belehrungsanstalten, die deutschen Bundesländer selbst durch ihre Schulgesetzgebung. Zumindest an den Beispielen Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat der Autor dies überprüft. In den Schulgesetzen jener Länder ist jeweils ein Paragraph mit dem Titel „Einschränkung von Grundrechten“ zu finden. So heißt es im Artikel 120 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) aus dem Jahre 2000 kurz und eindrucksvoll: „Auf Grund dieses Gesetzes können im Vollzug der Bestimmungen über die Schulpflicht die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.“ Das Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) aus dem Jahre 1983 fasst sich noch knapper: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes) wird nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.“ Berlin (2004), Hessen (2002) und Nordrhein-Westfalen (2005) bemühen sich mit allerlei, dem Laien kaum nachvollziehbaren Querverweisen, Licht ins Dunkel zu bringen: Legitimieren will man hiermit gegebenenfalls die Verpflichtung, an der „Schulgesundheitspflege“ teilzunehmen; ferner will man mit einem solchen Passus natürlich auch die Schulpflicht auf sichere Füße stellen.

Aus aktuellem Anlass soll die betreffende Passage unserer Verfassung, dem Grundgesetz, hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Unter dem Titel „Persönliche Freiheitsrechte“ wird ausgeführt:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Demnach haben Kinder und Jugendliche, deren Status als Schüler festgezurrt wird, nicht mehr das uneingeschränkte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ihre Freiheit ist nicht unverletzlich. Die eingeräumte Möglichkeit, in diese Rechte per Gesetz auf diese Weise einzugreifen, haben sich ausgerechnet die Schulbürokraten zueigen gemacht. Ihre Intention, die sie somit „völlig legal“ ausbreiten, dokumentiert eindrucksvoll, dass tatsächlich beabsichtigt war und ist, Schulen expressis verbis zu demokratiefreien Zonen zu formen. In eine solche Zone passen Zensuren selbstverständlich wie maßgeschneidert.

Als neue Errungenschaft leistet sich Nordrhein-Westfalen die Wiedereinführung so genannter Kopfnoten. Ab dem Schuljahr 2007/2008 werden Ziffernnoten vergeben für Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit/Sorgfalt, Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit. Hier wird erneut ein illegitimes Vorgehen offiziell legalisiert. Junge Menschen werden mit einer solchen Kategorisierung keineswegs gefördert, sondern abgestempelt und gleichsam stigmatisiert. Insgesamt ein wahrlich gelungener Streich zur verschärften Verbreitung einer grassierenden Ellenbogen-Gesellschaft. Was bedeutet diese neue Praxis für Lehrerinnen und Lehrer? Einfache Rechnung: „30 Schüler pro Klasse mal sechs Kopfnoten pro Nase und Zeugnis ergeben 360 Noten im Schuljahr. Mit dieser Neuerung stehe Nordrhein-Westfalen national wie international weit vorn, sagte Klaus-Jürgen Tillmann, Pädagogikprofessor in Bielefeld, in der Landtagsanhörung zur neuen Ausbildungsordnung für die Sekundarstufe I.“ (65) In derselben Anhörung gab Dr. Siegfried Uhl vom hessischen Institut für Qualitätsentwicklung zu Protokoll: „Sechs (Kopfnoten) überfordern bei weitem die diagnostischen Fähigkeiten von Menschen – selbst von ausgebildeten Lehrkräften.“ (66)

Über das Thema „Diagnose“ kommen wir zum Begriff des „Paradoxons“, mit dem diese Auseinandersetzung unter anderem übertitelt ist. Eng damit verbunden ist zwangsläufig der Blick auf die menschliche Kommunikation. Begrifflich leitet sich Diagnose aus dem Griechischen ab und meint die Durchforschung im Sinne von Unterscheidung. Das dürfte uns bis hierher gefallen. Unterscheidungen finden wir gut, aber individuelle, nicht kategorische! Ebenfalls drückt es eine Erkenntnis aus, die zu einem Urteil führt. Letztlich ist ein Diagnoseversuch die Bemühung, die Heilung eines Menschen anhand vermuteter Symptome und deren Verbesserungschancen zu bewirken. Aus rechtlichen Gründen müssen Mediziner ihre Diagnosen gegenwärtig schriftlich dokumentieren. Im weiteren Sinne handelt es sich bei Diagnosen um Zuordnungen von Phänomenen zu einer Kategorie. In diesem Kontext sollte interessieren, dass das Diagnostizieren bislang Menschen in Heilberufen vorbehalten war; berechtigterweise – und auch hier immer wieder zweifelhaft, da Irrtümer niemals ausgeschlossen sind. Diagnostizieren in einem pädagogischen Kontext ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Der vorgegebene Versuch, junge Menschen zu fördern, wird hierdurch förmlich konterkariert. Während es Mediziner immer schwerer haben, Diagnosen zu erstellen, wird das Diagnostizieren Pädagogen immer leichter gemacht. Lehrerinnen und Lehrer mit derart unlösbaren Aufgaben zu überfrachten, zeugt von großer Verantwortungslosigkeit der Kultusbürokratie. Und wie wir am Beispiel der Kopfnoten sehen können, wird von dem, was nicht funktioniert, noch mehr determiniert: Im Handumdrehen pro Klasse im Jahr 360 Noten mehr – dies streng diagnostisch. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass sich Diagnosen in aller Regel mit Kranken befassen; gleichwohl wirft dies ein bezeichnendes Licht auf das formal organisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis: Hier der allwissende Magister, der „in Wirklichkeit“ nur ein exekutives Organ ist, dort das offenbar kranke (siehe Diagnose) und pflegebedürftige Kind, das man problemlos kategorisieren kann. (67)

Dieses Verhältnis kann nur als paradox klassifiziert werden. Als Paradoxon verstehen wir hier im Sinn der Logik eine sich selbst widerlegende Aussage, frei nach dem Motto: Nichts ist absolut! Paradoxie ist eine Aussage, die einen Widerspruch im Sinne der formalen Logik enthält, in sich widersprüchlich und der allgemeinen Erfahrung zuwiderlaufend und die unter Umständen eine andere, höhere oder spezifische Wahrheit spiegelt; im Zusammenhang mit „schlechten“ Zensuren beispielsweise eine – konstruierte – Unzulänglichkeit. Schulversagen als von der Schule selbst erzeugtes Konstrukt! Aber: Paradoxien erwecken Widerstände. Dies machen sich beispielsweise manche Arbeitsweisen der Psychotherapie zunutze. Im pädagogischen Kontext ist dies im Rahmen regulärer Verläufe alles andere als förderlich, da Widerstand zunächst (Abwehr-)Kampf erzeugt und somit Kooperation verhindert. Bei längerfristiger Anwendung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Erwachsenen „am längeren Hebel“ sitzen, endet der Widerstand schließlich in Resignation. Wie aus diesem Dilemma herauskommen?

Diagnosen, Beurteilungen, Urteile und Zensuren sind in einem pädagogischen Kontext widersinnig und völlig kontraproduktiv im Sinne der Förderung junger Menschen. Wie wird ein Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ein förderliches? Fördern funktioniert über Kooperation, Kommunikation „auf Augenhöhe“ und gemeinsames Forschen – wie beschrieben. Der verstorbene Direktor des „Brief Family Therapy Centers“ in Milwaukee (Wisconsin), Steve de Shazer, vertrat die Auffassung, Menschen könnten im Grunde nicht miteinander kommunizieren. Jede Kommunikation sei eine Verkettung gegenseitiger Fehlinterpretationen. Da Menschen allerdings zwingend auf Kommunikation angewiesen seien, sei eine einigermaßen geglückte Verständigung dann erreicht, wenn man sich bei seinen Fehlinterpretationen soweit angenähert habe, das weitgehend nachvollziehen zu können, was den Konversationspartner umtreibe. Der Erkenntnistheoretiker Ernst von Glasersfeld vergleicht Kommunikation mit einem Balztanz: Man nähert sich an, entfernt sich wieder voneinander, nähert sich wieder an, bis man Möglichkeiten der Viabilität, des gemeinsamen Weges, auf den man sich verständigen kann, entdeckt. Max Frisch brachte dies auf die einfache und dennoch überzeugende Formel: „Jeder Versuch, sich mitzuteilen, kann nur mit dem Wohlwollen des Anderen gelingen.“ (68)

Eine förderliche Haltung besteht dementsprechend in einer auf Wohlwollen basierenden Sichtweise und eines entsprechenden Habitus. Dabei geht es nicht, wie fälschlicherweise häufig angenommen, um Toleranz, vielmehr um Respekt und Akzeptanz. Dass Toleranz allenfalls eine vorübergehende Haltung sein könne, hat bereits Goethe konstatiert; er sah sie allenfalls als Vorstufe der Akzeptanz. (69) Akzeptanz holt die Kinder dort ab, wo sie stehen. Es wird dabei nicht übersehen, dass jedes Kind seine spezifischen Kompetenzen hat, die sich in einem entsprechenden Umfeld weiterentwickeln. So wird die Motivation und Kooperationsbereitschaft günstig stimuliert; dies um so stärker, je mehr sich die Eigenverantwortung junger Menschen entfalten kann. Auch ausreichender Raum für Eigeninteressen sollte vorhanden sein, das nämlich ist ein absolut günstiger Boden für das Gedeihen effektiven Lernens und dazu bedarf es keiner Beurteilungen; die Bestätigung, ein kompetenter Mensch zu sein, reicht völlig aus. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage gestattet, wie und mit welchen Mitteln man seine Kompetenzen erweitern kann und will.

Bei diesem Versuch einer Analyse, gepaart mit (fach-)politischen Forderungen, soll eingeräumt werden, dass der Autor möglicherweise völlig „daneben“ liegt. Allerdings spricht die Anzahl der vielen Menschen, deren natürlicher Zugang zu einer ihnen angemessenen Gesellschaft exekutiv verhindert werden konnte, eine deutliche Sprache. Brauchen wir unsere – vom System produzierten – Versager zwecks schimärenhafter Stabilisierung einer Gesellschaft, die längst nicht mehr stabil ist?

Lehrer, da Akademiker, werden nicht selten mit Wissenschaftlern, mit Forschern verwechselt (70), ein klarer Vorteil für ein künstlich und exekutiv aufgebautes Beurteilungswesen. Festzustellen bleibt, dass ihre Messergebnisse nichts belegen, geschweige denn beweisen können. Von seriösen Forschern erwartet man zu Recht eine nachprüfbare Annahme. Lehrer sind – als Administratoren ihrer jeweiligen Regierung – berechtigt, Wunschannahmen in solche Urteile zu verwandeln, die Lebensläufe exorbitant manipulieren und sogar in Richtung Demontage einleiten können; dies von den Beurteilten – wenn jene nicht durch Konkurrenz, Elterndruck und andere Zusammenhänge bereits manipuliert wurden – ungefragt und selten hinterfragt.

Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ihrer Rolle als förderliche Pädagoginnen und Pädagogen bewusst werden und entsprechende Haltungen entwickeln. Dazu gehört auch, sich aktiv gegen ihren Missbrauch als exekutive (Ver-)Urteiler zu wehren.

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Fußnoten

(1) Duden Band 5 – Das Fremdwörterbuch
(2) Ebenda
(3) www.wikidepia.de
(4) In der gymnasialen Oberstufe gibt es eine Punktwertung.
(5) vgl. Das Lexikon in 20 Bänden, Zeitverlag Gerd Bucerius, Hamburg 2005, Band 15, Seite 577
(6) www.wikipedia.de – Zitat: Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt 2002. Seite 19
(7) Humberto R. Maturana/Francisco J. Varel: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens, Scherz Verlag, Bern und München 1987 – zitiert aus der genehmigten Taschenbuchausgabe, Goldmann Verlag, o.J., Seite 146
(8) ebenda, Seite 259
(9) Humberto R. Marturana/Bernhard Pörksen: Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2002, Seite 39
(10) ebenda, Seite 40
(11) ebenda
(12) Paul Watzlawick: Selbsterfüllende Prophezeiungen, in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper Verlag, München, 8. Auflage 1994, Seite 100
(13) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 1998, Seite 55
(14) ebenda
(15) ebenda
(16) ebenda, S. 66
(17) ebenda, S. 67
(18) www.agot-nrw.de
(19) AGOT-NRW: „Auf dem Weg zur gelingenden Schule“. Eine bildungspolitische Streitschrift aus Sicht der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Düsseldorf 2006, Seite 5
(20) ebenda, Zitat aus Tillmann, Klaus Jürgen: Die homogene Lerngruppe oder System jagt Fiktion, in: Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden 2004, Seite 38
(21) SPIEGEL ONLINE vom 8. Juli 2005: Sitzenbleiben: Nichts als verplemperte Zeit?
(22) AGOT-NRW, a.a.O., S. 5
(23) ebenda, S. 6
(24) ebenda
(25) Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998. Zitiert ist mit diesem Satz übrigens das komplette abschließende 7. Kapitel des Tractatus.
(26) Unterstreichung von Rainer Deimel
(27) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 68
(28) ebenda
(29) ebenda, S. 68 f.
(30) Dass von Foerster hiermit meine bereits seit Jahren vorgetragene These bestätigt, Beurteilungen sagten immer mehr über die Persönlichkeit, Befindlichkeit usw. der Urteilenden aus als über die vermeintlich Beurteilten, kommt mir an dieser Stelle besonders entgegen.
(31) ebenda, S. 69
(32) ebenda, S. 70
(33) Gerold Scholz: Wortbeitrag aus der ersten Sequenz (Kinder sind unbelehrbar) des Films von Otto Schweitzer und Donata Elschenbroich: „Das Rad erfinden – Kinder auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Deutsches Jugendinstitut 1999
(34) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 71
(35) ebenda, S. 72
(36) vgl. ebenda, S. 73
(37) Benutzt wurde hier die Neuauflage aus dem Jahr 1989. Neuauflagen gab es reichlich von Peter Lauster: Lassen Sie sich nichts gefallen! Die Kunst, sich durchzusetzen – Mut zum Ich. Düsseldorf 1989, ECON Taschenbuchverlag.
(38) ebenda, S. 202
(39) ebenda
(40) Die Unterschicht wird inzwischen „Prekariat“ genannt. Die Schule mit ihrer illegitimen Beurteilung war an seiner Erzeugung in erheblichem Maße beteiligt – vermutlich direkt an zweiter Stelle nach dem Fehlverhalten der Politik. Angesprochen sind hier sowohl Unkenntnis als auch der bewusste Wille, ein Prekariat existieren zu lassen. Nur: Das Prekariat zeugt noch, während die eigenen „Nachwuchskräfte“ aussterben!
(41) Lauster, a.a.O., S. 204
(42) Unverständlich insofern, da die Laborschule seit Jahrzehnten erfolgreich arbeitet, bei den PISA-Studien mit besten Ergebnissen aufwartet, die Kultusbürokratie gleichwohl nichts dazu beiträgt, eine solche Schulform endlich zur Regel zu machen.
(43) ebenda, S. 201
(44) ebenda
(45) ebenda, S. 202
(46) Der Duden bietet selbstredend unter anderem für „fördern“ „helfen“ und für „Förderung“ „Hilfe“ an. Duden, Band 8, Synonymwörterbuch, 4. Auflage, Mannheim 2007, Seite 388
(47) Brigitte Schumann: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“, Bad Heilbrunn 2007
(48) WAZ vom 20. März 2007
(49) vgl. ebenda – Die Zahlen beziehen sich laut mündlicher Auskunft von Brigitte Schumann auf Nordrhein-Westfalen (Statistik Schuljahr 2004/2005).
(50) ebenda
(51) Zumindest kann der Autor aufgrund seiner gymnasialen Erfahrungen davon ein „Lied singen“. Einen Zugang zur Geschichte hat er sich verschafft, nachdem er mit Schule nichts mehr zu tun hatte. Das eigene Forschen diesbezüglich findet er bis heute spannend. Ferner erinnert er sich an einen Spaß, den er sich auf der Obertertia erlaubte: Selbst in einem eigentlich so wunderbar kreativen „Fach“ wie Kunst wurden Zensuren erteilt. Der Autor legte im Abstand von sechs Wochen ein und dasselbe Bild, das er gemalt hatte, dem Lehrer fünf Mal vor; dies im Wissen, dass er sich ohnehin nicht mehr daran erinnern würde. Beim ersten Mal gab es für das Bild eine „Zwei“, beim zweiten Mal eine „Drei“. Verbunden war dies mit dem Hinweis, ein „gelber Klecks“ auf dem Bild sei nicht kräftig genug ausgefallen. Und ehe man sich versah, fuhr der Lehrer mit seinem eigenen Pinsel und weiterer gelber Farbe auf das Bild, um den Klecks kräftiger darzustellen. Bei der nächsten Sichtung des Bildes kritisierte er gerade diesen Klecks, den er eine Woche zuvor angebracht hatte, als völlig übertrieben, und er gab eine „Vier“. Selbstverständlich durfte nicht darüber gesprochen werden, dass er das Bild schon öfter gesehen hatte; ein ziemliches Dilemma. Nach einiger Zeit wurde das Bild auch noch mit einer „Eins“ bewertet. An dem Fakt, derart unterschiedlich zu bewerten, hat sich nichts geändert. Auch aktuell werden Vergleichsarbeiten aller möglichen Disziplinen quer durch die Republik von unterschiedlichen Lehrern mit allen (sic!) verfügbaren Zensuren bewertet.
(52) Hans Brügelmann, Axel Backhaus et al. (Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität:Siegen): Sind Zensuren nützlich – und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Arbeitspapier im Auftrag des Grundschulverbandes, Siegen 2006, Seite 22
(53) Politisch völlig unkorrekt, wenn man das Gesabbel berücksichtigt, bei allem und jedem handele es sich um ein Subjekt.
(54) Jean-Claude Bringuier: Jean Piaget. Ein Selbstportrait in Gesprächen. Beltz Verlag, Weinheim 2004, Seite 104
(55) Bartnitzky, Horst: Müssen Noten sein? Vom Problem gerechter Leistungsbeurteilung, in: Naegele, Ingrid M. und Haarmann, Dieter (Hg.): Schulanfang heute. Ein Handbuch für Elternhaus, Kindergarten und Schule, Beltz Verlag, Weinheim 1999, Seite 215
(56) ebenda, S. 213
(57) vgl. www.heinrich-pestalozzi.de
(58) Bartnitzky, a.a.O., S. 214
(59) ebenda
(60) http://kraetzae.de/schule/schulkritik
(61) ebenda
(62) Diverse Quellen geben den Kategorischen Imperativ in unterschiedlich formulierten Varianten wieder. Das hier benutzte Zitat entstammt aus: Das Lexikon in 20 Bänden, a.a.O., Band 7, S. 504
(63) vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Schule
(64) Beitrag eines Referates auf der IDEC 2005 in Berlin
(65) WAZ vom 11. Januar 2007
(66) ebenda
(67) Vielleicht kann die Schule – anders als in den Ausführungen zur Diagnostik berichtet – doch von der Medizin lernen. Dem Vernehmen nach musste im alten China ein Arzt nur dann bezahlt werden, wenn die Therapie erfolgreich war – eine „Feststellung“, die sich leider inzwischen womöglich Gerücht herausgestellt hat.
(68) Die Quellen – de Shazer, von Glasersfeld und Frisch betreffend – sind dem Autor gegenwärtig nicht greifbar. Die Zusammenhänge sind beim früheren Lesen der entsprechenden Texte im Kopf „hängengeblieben“.
(69) Siehe hier auch: Jürgen Amendt: Ohne Respekt ist Toleranz wertlos – Verstoß gegen Würde und Selbstbestimmung im pädagogischen Alltag, in: Erziehung und Wissenschaft – Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 2/2006.
(70) Dass Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit den Kindern ganz hervorragende Forscherteams bilden können, wurde bereits zuvor beschrieben.

Vorstehender Beitrag wurde Ende 2007 als Beitrag für ein Fachbuch zum Thema „Zensuren“ verfasst. Wir wollen ihn den Nutzer(inne)n des ABA-Netzes nicht länger vorenthalten und stellen ihn hier zur Verfügung; dies kurz vor Schuljahresabschluss 2010. Möglicherweise hilft er beim Argumentieren, vielleicht auch als Trost für zahlreiche junge Menschen, deren Kompetenzen wieder einmal aufs Fragwürdigste in Abrede gestellt werden. Denjenigen, die mit ihren Zensuren zum Prahlen verführt werden, mag er eine Abschreckung sein. Wie stellte Johann Nestroy fest? „Die Zensur ist die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition.“

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NAGEL-Redaktion – Bildung

„Wer fliegen lernen will, muss zuerst mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.“
Friedrich Nietzsche (1844-1900)

 

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Abbildung: Bündnis Recht auf Spiel/DKH

Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons

Zum Thema „Zensuren in der Schule“ hat Rainer Deimel einen umfassenden Beitrag verfasst. Wir wünschen hilfreiche Erkenntnisse!

 

DAGO! Kinderlobby, Hamburg

Wie Lernen funktioniert und Schule sein sollte

Über Facebook haben wir „DAGO! Kinderlobby“ kennengelernt, dazu gelernt und hilfreiche Informationen und Positionen ausgetauscht. Empfehlen möchten wir uneingeschränkt hier das Papier „Wie Lernen funktioniert und Schule sein sollte“. Mit freundlicher Zustimmung des Vereins DAGO! Kinderlobby haben wir es hier zum Herunterladen eingestellt und freuen uns über einen lebhaften Gebrauch.

dagoDAGO Kinderlobby“ engagiert sich für die Förderung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere durch Vertretung ihrer Interessen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Sie setzt sich dafür ein, dass Politik und Wirtschaft sich wieder an den Bedürfnissen der Menschen (und damit zum Wohl von Kindern ) orientieren und nicht umgekehrt.

Mehr erfahren über DAGO Kinderlobby? Logo anklicken!

 

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ)

Bildung braucht Freiräume. Dimensionen einer Lernkultur der Kinder- und Jugendhilfe

Positionspapier der AGJ – Beschlossen vom Vorstand 24./25. November 2011

„Die AGJ hebt hervor, dass eine Lernkultur mit den Dimensionen des Wohlbefindens, der Autonomieerfahrungen und Zeitsouveränität eine wesentliche Bedingung ist, um ein inklusives Bildungskonzept wirksam umsetzen zu können. Um Bildungsorte und -angebote so zu gestalten, dass sie tatsächlich für alle jungen Menschen zugänglich und nutzbar sind, ist eine zielgerichtete Einbeziehung und strukturelle Absicherung informeller Lernprozesse und non-formaler Lernmodalitäten unerlässlich.

Ein inklusives Bildungskonzept, das bewusst individuell unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen zulässt und auch soziale Ungleichheit als Ausgangsbedingung akzeptiert, hält für alle Kinder und Jugendlichen eigenständige Wahrnehmungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten offen.

Die Bildungsdebatte in Deutschland braucht deshalb eine Öffnung zu einer Lernkultur, die stärker als bisher auf Freiräumen und Wertschätzung gründet. Nur so wird sie die notwendige gesellschaftliche Kraft entfalten, um unser Gemeinwesen zu mehr Nachhaltigkeit und Alltagsdemokratie weiterzuentwickeln.“

AGJ (Arbeitgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe): Bildung braucht Freiräume (2011)

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Anhörung im nordrhein-westfälischen Landtag: Ganztagsangebot bedarfsgerecht weiter ausbauen – Flexibilisierung an weiterführenden Schulen ermöglichen

Am 6. April 2011 fand im nordrhein-westfälischen Landtag (Ausschuss für Schule und Weiterbildung) eine Expertenanhörung statt. Erstmalig wurde auch die Offene Arbeit zu einem solchen Thema eingeladen. Hintergrund war ein Antrag der FDP-Fraktion vom 21. September 2011, der zur weiteren Beratung an den Ausschuss weitergeleitet wurde.

Für die Offene Kinder- und Jugendarbeit war Rainer Deimel vom ABA Fachverband als Experte eingeladen. Zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik haben wir die Ausführungen auf eine eigene Seite gestellt.

 

Bochumer Memorandum von DGB und GEW 2011RTEmagicC_Titel_BO-Memo_01.jpg

Bochumer Memorandum 2011: Bildung als Schlüssel für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit

Zum zweiten Mal hat die GEW NRW gemeinsam mit dem DGB NRW ein sogenanntes Bochumer Memorandum veröffentlicht. Vorgestellt wurde es auf einem gemeinsamen Bildungskongress 17. und 18. Februar 2011 an der Ruhr Universität Bochum.

 

 

 

Bildung – ein Menschenrecht RTEmagicC_Titel_Bildung-Menschenrecht.jpgAlternativbericht zum fünften Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an denAusschuss für wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte derVereinten Nationen

Am 22. November 2010 hat die Bildungsgewerkschaft GEW in Genf den Mitgliedern des für die Überwachung des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte UN-Ausschusses ihren Alternativbericht vorgelegt. Interessierte können den Bericht hier laden.

 

Bildung ist mehr als Schule!

Abschlusserklärung der Fachtagung „Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften aus Sicht der Kinder- und Jugendarbeit“ der AGOT-NRW am 27. November 2009 in Bochum

 

Bildung in Deutschland: Bildungsbericht 2010

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Wichtige Ergebnisse des Bildungsberichts 2010 im Überblick (Zusammenfassung)

 

Ko-Konstruktion: Lernen durch Zusammenarbeit

Diesen Beitrag von Prof. Dr. Dr. Wassilios Fthenakis stellte uns freundlicherweise die Redaktion der „didacta Kinderzeit“zur Verfügung. Diese veröffentlichte ihn in ihrer Ausgabe 3/2009. Beim ko-konstruktiven Lernen kommt es mehr auf die Erforschung von Beudeutng an als auf den Erwerb von Wissen. Der Schlüssel dieses pädagogisch-didaktischen Ansatzes ist die soziale Interaktion.
 

Lerngesundheit durch Ressourcenorientierung

Autor: Eckhard Schiffer

Diese sehr empfehlenswerten Ausführungen konnten wir mit freundlicher Unterstützung von Dr. Eckhard Schiffer (Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes und Autor zahlreicher Bücher) auf eine spezielle Seite „Lerngesundheit“ stellen. Bedanken möchten wir uns bei ihm und bei Alexander Mavroudis vom Landesjugendamt Rheinland, der uns ebenfalls bei der Realisierung unterstützt hat.

 

Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung

Autor: Reiner Prölß

Diesen Beitrag, der bereits aus dem Jahr 2003 stammt, konnten wir mit freundlicher Unterstützung des Teams vom Bauspielplatz Langwasser (Nürnberg) sowie des emwe-Verlags verwenden und hier einstellen. Reiner Prölß ist Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) für Jugend, Familie und Soziales der Stadt Nürnberg. Im Text selbst finden Sie über die Inhalte hinaus etliche Querverweise, die mit Links versehen sind. Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!

 

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Foto: Rainer Deimel

 

Kommunale Bildungslandschaften

Zu unserer Seite Bildung gibt es seit Mai 2009 eine Unterseite „Kommunale Bildungslandschaften“. Die AGOT-NRW befasst sich seit einiger Zeit mit diesem Thema. Mit Hilfe dieser Seite wollen wir den Entwicklungsprozess begleiten.

 

 

 

 

 

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Die Kölner Jugendamtsleiterin Carolin Krause geht in die Luft; Foto: Rainer Deimel, 2008

 

Weitere Beiträge  

Bildungsreport Nordrhein-Westfalen 2008

Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, Düsseldorf 2008 (9. September) – 32 Seiten, 310 KB

 

Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008

Bertelsmann Stiftung (165 Seiten, 3,2 MB)

 

Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in DeutschlandVolkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland

Eine ökonomische Bewertung langfristiger Bildungseffekt bei Kleinkindern – BASS-Studie (Bertelsmann Stiftung 2008, 19 Seiten, 2,7 MB)

 

Bildungs und Lerngeschichten

Sieh, was ich kann! Bildungs- und Lerngeschichten in Kitas – Erfahrungen aus dem Projekt „Kind & Co.“ – (Heinz Nixdorf Stiftung – Bertelsmann Stiftung 2007, 36 Seiten, 2,8 MB)

 

Die Schule geht in den Kindergarten

In seinem Beitrag bestätigt der Wissenschaftsjournalist Reinhard Kahl in der ZEIT vom 31. Januar 2008 die langjährige These des ABA Fachverbandes, dass Lernen nur durch bzw. erst in der Folge von Spielen möglich ist. Er dokumentiert praktische Beispiele und vorsichtige Annäherungsversuche.
Beitrag herunterladen

Jugendarbeit als eigenständiger Bildungsort – Jugend sucht sich eigenständige Bildungsorte

Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Deinet (Fachhochschule Düsseldorf) am 7. November 2007 in Düsseldorf im Rahmen einer Fachtagung der AGOT-NRW anlässlich der Veröffentlichung des neuen AGOT-Positionspapiers „Programm und Positionen der Landesarbeitsgemeinschaft Haus der Offenen Tür Nordrhein – Westfalen“

Positionspapier herunterladen

 

Werte reflektieren und erlebbar machen. Warum?

Vortrag von Dr. Christa Preissing (FU Berlin) anlässlich der Fachtagung des „Bundesforums Familie“ „Werte reflektieren und erlebbar machen! Wertevermittlung in jungen Jahren“ am 22. November 2007 in Hannover. Schwerpunktmäßig beschäft Christa Preissing sich mit dem Thema Bildung:
1. Was bedeutet Bildung?
Bildung bedeutet: Sich ein Bild machen von der Welt
Sich ein Bild von sich selbst in dieser Welt machen
Sich ein Bild machen von den anderen in dieser Welt
Das Geschehen in der Welt für sich erleben und verarbeiten
2. Übergreifende Orientierungen in unserem Bildungskonzept
3. Wertebildung in unserem Bildungskonzept
Bildung ist ein aktiver, sozialer und sinnlicher Prozess
Bildung ist soziale Praxis
Bildung ist sinnliche Erkenntnisfähigkeit
Bildung – auch Wertebildung – geschieht nur, wenn Gefühl im Spiel ist
Bildung ist ein kultureller Prozess: Gleihheit und Unterschiede
Gleichheit und sozial-kulturelle Unterschiede
Gleichheit und ethnisch-kulturelle Uhnterschiede
Mit Kindern in den Dialog gehen – Werte reflektieren
Vortrag herunterladen

 

Kostenloser Kindergarten rechnet sich: Renditen der Bildung – Investionen in den frühkindlichen Bereich. Eine Studie des Instituts für die deutsche Wirtschaft/IW (Februar 2007) Studie herunterladen

 

Zukunft, Bildung und Betreuung

Empfehlungen der  Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) zu den gemeinsamen Herausforderungen von Schule und Jugendhilfe bei der Umsetzung des Investionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (Juni 2003) 

 

Bildung ist mehr als Schule

Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte – Vorgelegt vom Bundesjugendkuratorium (BJK), der Sachverständigenkommission für den 11. Kinder- und Jugendbericht und der  Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe(AGJ) (10. Juli 2002).

Die 11 Thesen:

  1. Bildung ist mehr als Schule
  2. Bildung muss Zukunftsfähigkeit sichern
  3. Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit
  4. Selektion behindert Bildung
  5. Eltern sind keine Lückenbüßer
  6. Chancengleichheit für junge Migrantinnen und Migranten
  7. Bildung endet nicht mit dem Schulabschluss
  8. Geschlechtergerechtigkeit als Bildungsauftrag
  9. Kinder- und Jugendhilfe eröffnet ein breites Bildungsangebot
  10. Bildung erfordert neue Formen der Vernetzung
  11. Ganztagsangebote als Bildungsoffensive

 

 

Zukunftsfähigkeit sichern! – Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe

Eine Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums – Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums vom Dezember 2001

 

Hier gibt es weiter:

Welche Bildung leistet die Offene Arbeit

Entwurf „Bildungsplan“

Elemente eines Lernkonzeptes

Kompetenzentwicklung durch Spiel und Phantasie – Zum Bildungshorizont mobiler Spielpädagogik (nicht nur für MitarbeiterInnen beim Spielmobil)

Neugierde statt Drill
Anders als in anderen Ländern werden in Deutschland Einrichtungen des Vorschulbereichs weniger als Bildungsstätte denn als soziale „Aufbewahrungsorte“ für Kinder gesehen. („Stern“ vom 15. September 2004)

Spielmobile, Bildung, Politik

(Spiel-)mobile Bildung

Umwelt als Spiel- und Lernraum

Wie Kinder besser lernen – Was passiert im Kopf, wenn Kinder büffeln? Hirnforscher wollen das herausfinden, um unser Unterrichtssystem zu modernisieren. Erstmals arbeiten sie dabei mit Pädagogen Hand in Hand. („stern“ vom 8. September 2004)

Jugendarbeit als Teil lokaler Bildungslandschaften. Powerpoint-Präsentation von Prof. Dr. Ulrich Deinet (Fachhochschule Düsseldorf). Der Vortrag wurde gehalten am 7. November 2007 auf einer Fachtagung der AGOT-NRW. (6.847 KB, 34 Seiten)
Folien herunterladen

Zum Bildungsanspruch von Jugendarbeit – Ein Beitrag von Benedikt Sturzenhecker (2003)
Dr. Benedikt Sturzenhecker ist Professor an der Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit und Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes.

Konsortium Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht zu Bildung und Migration, erschienen am 2. Juni 2006 im Auftrag der Ständigen Konferenz des Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. (6,5 MB, 330 Seiten)

Gebildete Kindheit. Wie die Selbstbildung von Kindern gefördert wird. Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich. Von Johannes Merkel, Bremen 2005 (344 Seiten, 1,3 MB). Prof. Dr. Johannes Merkel beschäftigt sich an der Universität Bremen schwerpunktmäßig mit Vorschulkindern. Den Beitrag „Gebildete Kindheit“ haben wir im Internet gefunden. Hier werden so ziemlich alle Aspekte zum Thema fundiert aufgegriffen. Johannes Merkel liefert – auch und vor allem für die Praxis – hervorragende Argumente. Unbedingt lesen, wenn man seine Arbeit verbessern und nach außen gewinnbringender vertreten will! Dieser Beitrag wurde im September 2006 hier eingestellt.

Andere Seiten zum Thema

Privatisierungsreports der GEW: Vom Rückzug des Staates aus der Bildung

Die Privatisierungsreports der GEW haben wir auf eine spezielle Seite gestellt. – Dorthin

Privatisierungsreport 1: Vom Rückzug des Staates aus der Bildung (2006)

Privatisierungsreport 2: Vom Durchmarsch der Stiftungen und Konzerne (2006)

Privatisierungsreport 3: Unternehmen Schule: Von Billig-Lehrern, Schülerfirmen und Public Private Partnership (2007)

Privatisierungsreport 4: Globaler Freihandel: Wie das weltweite Geschäft mit der Bildung angekurbelt wird (2007)

Privatisierungsreport 5: Bildung als Privatsache: Privatschulen und Nachhilfeanbieter auf dem Vormarsch (2007)

Privatisierungsreport 6: Schöne neue Hochschulwelt (2008)

Privatisierungsreport 7: Kindertagesstätten (2008)

Privatisierungsreport 8: Erst kaputtgespart, dann privatisiert? Das öffentliche Bildungswesen in Deutschland (2009)

Privatisierungsreport 9: Neue Aufgaben – neue Märkte: Wie Diernstleistungen an Schulen Geld verdient wird (2010)

Privatisierungsreport 10: Wie die Finanzkrise die Privatisierung des Bildungswesen vorantreibt (2010)

Privatisierungsreport 11: Berufsbildende Schulen unter Privatisierungsdruck (2010)

Privatisierungsreport 12: Die Heilsbringer kommen – zur schleichenden Deprofessionalisierung im Schulbereich (2011)

Privatisierungsreport 13: Private Stiftungen versus demokratischer Staat – wie der Neoliberalismus das öffentliche Bildungswesen untergräbt (2011)

Link zur Seite mit den Privatisierungsreports

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„Ich würde mir gern mehr Wissen und mehr Allgemeinbildung aneignen. Schlau zu sein ist im Leben die beste Waffe.“

Renée Zellweger (2008)

 

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Inklusionsprojekt „Under Construction“ lädt zur Abschlussveranstaltung ein

Kinder- und Jugendhilfe NRW auf gutem Kurs in Sachen Inklusion

Mehr gemeinsame Freizeitangebote für behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche schaffen, die Kompetenz der Mitarbeiter/innen stärken und strukturelle Hindernisse abbauen: Um die inklusive Praxis der Kinder- und Jugendhilfe in NRW (weiter-) zu entwickeln, hat das Projekt „Under Construction“ 15 inklusive Praxisprojekte und eine begleitende Mitarbeiter/innen-Fortbildung durchgeführt. Die Ergebnisse präsentieren die Beteiligten am 21. März 2015 auf der Abschlussveranstaltung in Duisburg.

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Zur Situation der Offenen Arbeit mit Kindern

Einige kritische Anmerkungen

Von Hartmut Kupfer

Anfang der 80er Jahre erschienen die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die vielerorts zur Durchsetzung Offener Arbeit mit Kindern geführt hatten, im Schwinden begriffen zu sein. Ein Zurückdrängen Offener Arbeit in die Position einer Art „Sozialstation für Kinder“ fand bereits statt, und Kolleginnen und Kollegen, die dies nicht mittragen wollten, wandten sich zunehmend anderen Konzepten von Kinderkulturarbeit zu. Hierbei war allerdings häufig aus unserer damaligen Sicht die besondere Qualität Offener Arbeit, die nach wie vor mit Offenheit – Freiwilligkeit – Veränderbarkeit und Vielfältigkeit (in Kontinuität und Verlässlichkeit!) zu umschreiben ist, nicht mehr gesichert.

Seit 1987 haben sich diese Entwicklungen verschärft. In der Kinder- und Jugendarbeit sind – ich spreche von Berlin, aber anderswo ist es vielleicht ähnlich – Akzentverschiebungen vorgenommen worden. Mittlerweile wird Jugendarbeit wieder offensiv als Instanz sozialer Kontrolle über auffällige und „schwierige“ Jugendliche ausgebaut. Zuschreibungen wie „rechts“ und „gewaltbereit“ werden benutzt, um Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit an Sparzwänge und Kontrollinteressen anzupassen. Neue Finanzierungsstrategien kommen vor allem zeitlich begrenzten Projekten, spezialisierter sozialpädagogisch orientierter Arbeit mit Problemgruppen, relativ schmalspurigen soziokulturellen Projektansätzen zugute. Die Offene Kinderarbeit, die Kindern eines Stadtteils ein großzügig ausgestattetes, vielfältiges, veränderbares Lern- und Erlebnisfeld eröffnet, hat ihren Charakter als „Herzstück“ von Jugendhilfeangeboten vor Ort weitestgehend verloren, fristet ein Dasein am Rande oder passt sich durch die Umformulierung ihrer Arbeitsansätze den Trends der Zeit an. Ein Ausbau findet nicht mehr statt.

Diese Situation wird von PraktikerInnen weitgehend übereinstimmend gesehen, lässt sich aber kaum „von innen heraus“ verändern. Vielfach wird jedoch, wenn ein Widerspruch zwischen Selbstverständnis und realer Situation entsteht, die Realität für falsch erklärt, um das eigene Selbstverständnis zu retten. Langfristig scheint mir das jedoch der falsche Weg zu sein. Es müsste die Frage gestellt werden, ob die Zeit der „Offenen Arbeit“ im traditionellen Sinne vielleicht abgelaufen ist, ob sich die „Essentials“ Offenheit, Freiwilligkeit, Veränderbarkeit und Vielfältigkeit in der gesellschaftlichen Existenz der Kinder und Jugendlichen nicht langfristig auf andere Weise realisieren müssen.

Hierzu ein paar unterstützende Argumente

1. Nach zehn Jahren CDU-dominierter Politik hat sich eine Gesellschaft entwickelt, in der Ausgrenzungen und der Umgang mit ihnen sich als ein dominierendes Thema darstellt, wenn nicht sogar als das dominierende Thema. Nicht individuelle Benachteiligung ist (z.B. durch Bildung und Erziehung) aufzuheben, sondern die Individuen erwerben ihre Selbsteinschätzungen vermittelt durch Prozesse von Aussonderung und Ausgrenzung, die der direkten Bearbeitung (im Sinne eines „Privilegienabbaus“) gar nicht mehr zugänglich sind. An die Stelle der sozialdemokratischen Forderung nach „Chancengleichheit“, die am Beginn Offener Kinderarbeit stand, tritt heute „Integration“ als zentrales pädagogisches Denkschema. „Integration“ ist jedoch im Gegensatz zu „Chancengleichheit“ nur scheinbar ein politisches Konzept. Es besteht häufig darin, die große Gemeinsamkeit vorzugeben, zu der dann alle Einzelnen – unter Beachtung ihrer Besonderheiten – dazugehören können sollen. Das Ganze ist nicht Resultat der Auseinandersetzung (wie im traditionellen demokratischen Gesellschaftsverständnis), sondern es ist der Auseinandersetzung vorausgesetzt. Konflikte Offener Arbeit waren weniger integrierend als konfliktbefördernd, polarisierend. Sie ließen zu, dass sich jemand außerhalb der „großen Gemeinschaft“ stellte, nein zum „großen Ganzen“ sagte. Die spießbürgerliche „Mitte“, für die der Bundeskanzler bei jeder Gelegenheit eintritt, hat sich im Grunde unangefochten in heutige pädagogische Konzepte umgesetzt – und dies nicht erst seit der Vereinigung, sondern schon viel früher – vielleicht seit dem „deutschen Herbst“ am Ende der 70er Jahre.

2. In unserer Gesellschaft zeichnet sich ein rapider Wandel ab, was das Verständnis von „Gemeinwesen“ betrifft. Offene Arbeit lebt jedoch von der Vorstellung, dass alle, die an einem Ort, in einem Stadtteil, „Kiez“ usw. leben, zum Gemeinwesen gehören und zu der offenen Einrichtung Zugang haben sollen. Dies hat noch nie so richtig funktioniert, was wohl damit zusammenhängt, dass „Gemeinwesenarbeit“ ein Import aus den angloamerikanischen Gesellschaften ist, wo völlig andere Voraussetzungen bestehen, u.a. eine vielfach weitgehende Homogenisierung von Wohngebieten im Sinne von Ghetto-Bildung. Charakteristisch für Berliner Wohngebiete ist ihre relativ gute soziale Durchmischung, ein Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen in unmittelbarer Reichweite zueinander. Daher ging unsere Bildungspolitik immer von der Vorstellung aus, dass Selektionsprozesse in der Schule und nicht in der Gesellschaft stattfinden – was auch prägend für das Gegenkonzept der Offenen Arbeit war. Nun spielt sich allerdings eine gesellschaftliche Entwicklung ab, in der sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unter sozialen und zunehmend auch unter ethnischen Gesichtspunkten zu subkulturellen Einheiten formieren. Lokale „Gemeinwesen“ splitten sich dadurch ideologisch, ethnisch und kulturell auf. Kinder und Jugendliche machen dies sichtbar, indem sie sich in unterschiedlichen Gruppen organisieren und voneinander abgrenzen. Es könnte sein, dass dieser Prozess längerfristig offene Lernfelder mit einer einigermaßen stabilen sozialen Mischung vielerorts zum Verschwinden bringen wird. Dies hat sich z.B. im West-Berliner Bezirk Kreuzberg, was ASP-Arbeit angeht, so ähnlich abgespielt.

3. Schließlich ist der politische Hintergrund Offener Kinderarbeit, eine gesellschaftliche Perspektive auf zunehmende Partizipation und „Mehr-Demokratie-wagen“, seit den 70er Jahren in dramatischem Umfang abhanden gekommen. Mehr denn je wird die Bundesrepublik von Eliten kontrolliert und beherrscht, die über die Parteien und Verbände Nachwuchs rekrutieren; die politische Willensbildung spielt demgegenüber momentan eine untergeordnete Rolle. Von fortschreitender Demokratisierung in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist nichts zu erkennen. Insofern haben Ansätze, durch Offene Arbeit mit Kindern Basisfähigkeiten für gesellschaftliche Mit- und Selbstbestimmung zu vermitteln, keine Chance und keinerlei Perspektive. Wer politisch etwas erreichen will, der rückt im Gegenteil ab von offenen Formen, organisiert sich als Elite in einem bestimmten Politikfeld (im Bereich der Ökologie lassen sich solche Prozesse beobachten), versucht, einerseits eine massenwirksame Ausstrahlung durch Reklame zu erzielen, andererseits effektiv als Lobby zu arbeiten und eigene Persönlichkeiten in Schlüsselpositionen zu bringen.

Symptomatisch für die Situation der „politischen Kultur“, von der Offene Arbeit auch lebt, sind die gegenwärtigen Bestrebungen, Kinder direkt in die Politik „einzuschleusen“, durch Gesprächsrunden, Kinderparlamente usw. Hier wird keine Verantwortlichkeit, politische Willensbildung, demokratische Entscheidungsfähigkeit bewirkt, sondern Vertreter der Exekutivgewalt stellen sich im Stile von aufgeklärt-absolutistischen Herrschern dar, denen an der Berücksichtigung der Sorgen und Nöte der Untertanen gelegen ist. Das Ganze erweckt den Eindruck, als würden Kinder als Legitimationsbasis für Repräsentanten eines politischen Systems benutzt – gerade in dem Moment, in dem das System sich zunehmend als korrupt und rein machtorientiert erwiesen hat.1 Auch diese Entwicklungen machen es schwieriger, an eine zukünftige Perspektive für „Offene Arbeit“ zu denken.

Wie kann es weitergehen?

Der Ausgangspunkt für Offene Arbeit mit Kindern war die bildungspolitische Strategie, Benachteiligungen abzubauen und Möglichkeiten der Partizipation zu verstärken; dies bezog sich auf Kinder als Individuen. Zur Realisierung dieser Ziele war daher eine Ebene wichtig, auf der die Individuen zusammenkommen und auf der „soziales Lernen“ in neuer Weise stattfinden sollte. Dies wurde durch offene Lernfelder im Sinne alternativer pädagogischer Institutionen umgesetzt. Die Schlüsselrolle dabei spielten die Diskussionen über die „Konzeptionen“ dieser Einrichtungen. Das wissen alle, die in den 70er Jahren am Aufbau dieser Arbeitsfelder beteiligt waren. Aber man weiß auch, wie wenig heute noch über „Konzeptionen“ geredet wird…

Ausgangspunkt für eine zukünftige Offene Kinder- und Jugendarbeit wird aber wohl immer weniger die Förderung der Individuen in gemeinsamen, offen konzipierten „institutionsförmigen“ Lernfeldern sein. Kinder und Jugendliche werden sich künftig unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen organisieren, Träger mit unterschiedlichen Interessen werden auf ihre kulturelle Eigenständigkeit pochen, und Bearbeitung und Abbau von Dominanz wird nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Gruppierungen notwendig sein. Daher ist der Bezugsrahmen „Konzeption einer Einrichtung“ für die Herstellung offener Lernsituationen nicht mehr ausreichend. Offenheit kann nicht mehr sozusagen unter dem Prinzip der „Einheit des Ortes“ hergestellt werden, sondern lässt sich allenfalls noch dadurch erreichen, dass in einem Stadtteil oder in der Gemeinde ein Interessenausgleich unter den verschiedenen Gruppen gefunden wird. In dieser Form zukünftiger „Offener Arbeit“ würden Konflikte nicht individualisiert und sozialpädagogisch bearbeitet, sondern politisiert und kulturell gestaltet, wobei man häufig ohne Lösung dastehen würde (was aber nicht Neues ist). Professionalität wäre weiterhin notwendig, aber hauptsächlich, um ein versachlichendes, positives Auseinandersetzungsklima herzustellen und zu erhalten. Nicht: Um Kinder und Jugendliche auf den Weg der bürgerlichen Mitte zurückzuführen. Niemand würde „integriert“. Jeder darf sich absondern. Stadtteilversammlungen, Wahrnehmung übergreifender Aufgaben der Mittelvergabe, Veranstaltungsdurchführung usw. trügen zu einem sekundären gemeinsamen Rahmen bei. Abenteuerspielplätze würden hier und da weiterbestehen, aber stünden nicht mehr im Zentrum (real nicht und auch dem Anspruch nach nicht länger), wären nicht mehr die Orte, an denen sich Offene Arbeit wesentlich realisiert, sondern nur eine Stelle von vielen professionell und nicht professionell hergestellten Bestandteilen einer Offenen Kinder- und Jugendkulturlandschaft.

Vorstehender Beitrag stand in: DER NAGEL 56/1994. Ins Internet gestellt wurde er im August 2002. Fußnotenergänzungen sind neu.

Hartmut Kupfer arbeitete als Dipl. Pädagoge von 1980 – 1986 im Märkischen Viertel in Berlin auf einem Abenteuerspielplatz. Später widmete er sich diversen Forschungsarbeiten, u.a. mit „Lücke-Projekten“.

Anmerkungen:

1 Anm. d. Red.: Wie Jahre später die CDU-Spenden-„Affäre“ und der Kölner Müllskandal belegen durften. Inzwischen sind die „Herrscher“ strategisch verstärkt zur „Bauernopfer“-Mentalität zurückgekehrt, lassen sie doch hier und da „Miles-And-More-Sünder“ quasi stellvertretend – von den eigentlichen Polit-Skandalen ablenkend – über die „Klinge gehen“. Zur Erinnerung: Lothar Späth, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und spätere Zeiss-Jena-Chef, der mittels der Vernichtung von tausenden von Arbeitsplätzen wieder Glanz in die Firma brachte, jetzt zum Expertenteam als Wirtschaftsmann von Edmund Stoiber gehört, musste seinerzeit gehen, weil er sich von der Industrie einen Luxusurlaub schenken ließ. Der Kandidat Stoiber selbst saß die Affäre um von der Waffenindustrie gesponserte Freiflüge und um Gratisleistungen von BMW und Audi einfach aus. Helmut Kohl und Roland Koch überzeugten im Spendenskandal schlechthin. Der Altkanzler bricht das Gesetz und Hessens CDU erfindet jüdische Vermächtnisse. Norbert Rüther und Karl Wienand: Im Bau einer Müllverbrennungsanlage und gestückelten Spenden an die Kölner SPD verfilzen sich mehr als zehn Millionen Euro. Und schließlich bedient Jürgen W. Möllemann von der FDP dumpfe antisemitische Klischees, und auf den Straßen werden Juden angegriffen (letztgenannte Argumente komprimierte die Zeitschrift MAX 18/2002).

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Sexueller Missbrauch – Aufdeckung oder Aufklärung?

Zum Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Von Susanne und Heinz Offe

Seit Mitte der 80er Jahre verbreitete sich das Wissen, dass sexueller Missbrauch wesentlich häufiger vorkommt, als man sich bis dahin vorgestellt hatte. Aufgrund der Tatsache, dass es für missbrauchte Kinder schwierig ist, anderen von ihren Erlebnissen zu berichten, entwickelte sich auf Seiten der professionellen Helfer eine engagierte Haltung, die dazu führte, jede Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als glaubwürdig und zutreffend anzusehen.

Inzwischen ist bekannt, dass es auch zahlreiche unzutreffende Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs gibt. Vom Missbrauchsverdacht Betroffene, die sich fälschlich beschuldigt fühlen, haben sich inzwischen in der BRD zusammengeschlossen, um sich gegen einen „Missbrauch mit dem Missbrauch“ zu wehren und auf ihn öffentlich aufmerksam zu machen. In Zeitschriften und im Fernsehen wird auf die z.T. katastrophalen Folgen hingewiesen, die unzutreffende Beschuldigungen und die daraufhin ergriffenen Maßnahmen (Unterbringung der Kinder in Heimen oder Pflegefamilien, z.T. Trennung der Eltern, z.T. Untersuchungshaft des Beschuldigten etc.) nicht nur für den Beschuldigten selbst, sondern auch für die auf diese Weise angeblich geschützten Kinder haben.

Die z.T. sehr emotionalisiert geführte Debatte um die Häufigkeit zutreffender und falscher Beschuldigungen macht es den Mitarbeitern sozialer Berufe wie z.B. ErzieherInnen, Jugendamts-MitarbeiterInnen u.a. schwer, im Einzelfall angemessen und sachlich mit dem Verdacht des Missbrauchs umzugehen. Im folgenden soll auf einige der diagnostischen Probleme, die sich bei der Abklärung des sexuellen Missbrauchs stellen, eingegangen werden, um zu verdeutlichen, wie unzutreffende Beschuldigungen zustande kommen und auch über längere Zeit hinweg aufrecht erhalten werden.

Entstehungszusammenhänge für unzutreffende Beschuldigungen

Der sexuelle Missbrauch ist aufgrund der öffentlichen Diskussion im gesellschaftlichen Bewusstsein besonders präsent. Daher entsteht im konkreten Fall der Verdacht des sexuellen Missbrauchs leichter. Dies gilt sowohl für einen zutreffenden als auch für einen unzutreffenden Verdacht. Falsche Beschuldigungen treten ebenso wie begründete in verschiedenen Lebenskontexten auf.

Es gibt jedoch Zusammenhänge, in denen unzutreffende Beschuldigungen besonders leicht erhoben werden. Es handelt sich u.a. um Fälle, in denen Eltern sich um das Sorge- oder Umgangsrecht nach der Trennung heftig streiten, und um Fälle, in denen bei Kindern im Vorschulalter der Verdacht aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen im Kindergarten oder in anderen Betreuungssituationen entsteht und durch ErzieherInnen formuliert wird. In beiden – sich überschneidenden – Fallgruppen handelt es sich meist um Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren. Bei diesen jungen Kindern besteht das Problem, dass sie selbst noch wenig Auskunft geben können, sodass ihre Äußerungen und Verhaltensweisen einen besonderen Interpretationsspielraum beinhalten. Falsche Beschuldigungen entstehen in dieser Altersstufe deswegen besonders häufig, weil bei den jungen Kindern derartige Äußerungen und auffallende Verhaltensweisen von Erwachsenen falsch gedeutet werden.

Dass in konflikthaften Trennungssituationen, in denen der Ärger und das wechselseitige Misstrauen der Eltern ein hohes Niveau erreichen, der Verdacht des Missbrauchs zu Unrecht aufkommen kann, ist leicht nachzuvollziehen. Der Verdacht stützt sich z.T. auf Äußerungen der Kinder, die von besorgten Müttern überinterpretiert werden. Noch häufiger ist die Interpretation von ungewöhnlichem Verhalten der Kinder, das auf der Basis der intensiven öffentlichen Diskussion des Themas und aufgrund  der emotionalen Situation der Mütter, die im Trennungskonflikt den Vätern alles Schlechte zutrauen, leicht zu der Schlussfolgerung führt, dass der getrennt lebende oder geschiedene Vater das Kind missbrauche. Mütter sind von ihren Befürchtungen häufig sehr überzeugt, selbst wenn der Vorwurf nicht zutrifft. Wir fanden in unserer Tätigkeit als gerichtspsychologische Gutachter bisher jedoch keinen Fall, dass der Vorwurf ausschließlich aus taktischen Gründen in Auseinandersetzungen um das Sorge- und Umgangsrecht vorgebracht wird.

In Fällen, in denen der Verdacht vom Kindergarten ausgeht, liegen ebenfalls in den seltensten Fällen eindeutige Aussagen der Kinder über Missbrauchshandlungen vor. Meist gründet sich der Verdacht auf Zeichnungen und Verhaltensauffälligkeiten, die in Symptomlisten enthalten sind, oder auf uneindeutige und verschieden interpretierbare Aussagen der Kinder. Meist richtet sich auch in diesen Fällen der Verdacht spontan gegen die Väter. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die auch in einem irreführenden Buchtitel („Väter als Täter“) ihren Niederschlag gefunden hat, zeigen empirische Untersuchungen jedoch, dass nur bei einem geringen Anteil der Missbrauchsfälle die leiblichen Väter die Täter waren.

Fehlerquellen bei der Entstehung und Abklärung des Verdachtes

Es gibt kein eindeutiges Interpretationssystem von Kinderzeichnungen, aufgrund dessen aus Zeichnungen verlässlich auf einen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Wenn Kinder z.B. längliche Gegenstände oder Raketen zeichnen, Häuser mit Schornsteinen malen, aus denen Rauch kommt, oder einen „penisartigen“ Entenschnabel zeichnen, sind dies keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch.

Ebenso lässt sich sexueller Missbrauch nicht aufgrund von Verhaltenssymptomlisten diagnostizieren, die auffällige Verhaltensweisen auch andere Ursachen haben können. Das einzige Symptom, dem nach der vorliegenden Literatur ein gewisser diagnostischer Wert zukommt, ist „altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten“. Diese Formulierung macht deutlich, dass es auch altersangemessenes sexualitätsbezogenes Verhalten von Vorschulkindern gibt. Einen ernsthaften Hinweis (wenn auch keinen Beweis) auf sexuellen Missbrauch gibt unangemessenes sexualisiertes Verhalten dann, wenn es häufig auftritt, und zwar auch gegenüber dem Kind nicht vertrauten Personen, und wenn es mit aggressiven Handlungsanteilen verbunden ist. Kein Hinweis auf sexuellen Missbrauch ist es dagegen, wenn ein Kind sich mit gespreizten Beinen in den Sandkasten setzt und Sand zwischen den Beinen verreibt. Auch wenn sich ein Kind, das von einer Erzieherin auf den Arm genommen wird, nicht im „Äffchen-Sitz“ (d.h. mit um den Körper der Erzieherin gelegten Beinen) festhält, sondern sich zu befreien versucht, ist dies nicht als Hinweis auf einen Missbrauch zu werten. Beide Verhaltensweisen sind von Erzieherinnen als Begründungen für einen Missbrauchsverdacht genannt worden. Wenn das Spreizen der Beine als sexualisiertes Verhalten oder das Nicht-Spreizen der Beine als Ausdruck sexueller Traumatisierung verstanden werden, so handelt es sich um überzogene und willkürliche Interpretationen. Wenn erst einmal ein Verdacht vorhanden ist, wird leicht jedes Verhalten als Anzeichen für einen Missbrauch gesehen.

Auch wenn bei einem Kind Verhaltensstörungen auftreten, zeigt dies zunächst nur, dass es ihm nicht gut geht und dass es erheblichen Belastungen ausgesetzt ist, die seine Entwicklung beeinträchtigen. Es gibt keine Verhaltens-Symptome, die einen Rückschluss auf sexuellen Missbrauch als spezifische Ursache zulassen. Die Art der Symptome erlaubt keine zuverlässige Diagnose über die Art der Belastungen. Verhaltensauffälligkeiten sind ein Grund zur Besorgnis; sie sollten Anlass geben, die Art der Belastungen genauer zu klären und nach möglichen Hinweisen zu suchen. Wenn dabei der Blickwinkel von vornherein auf den Verdacht des sexuellen Missbrauchs verengt wird, bedeutet dies keine Hilfe für das Kind, sondern in der Konsequenz oft eine erhebliche zusätzliche Belastung.

Das Spiel mit anatomisch ausgebildeten Puppen ist ebenfalls keine zuverlässige Methode zur Diagnose des sexuellen Missbrauchs. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass sich Kinder, die missbraucht worden sind, nicht eindeutig von Kindern, die nicht missbraucht worden sind, aufgrund ihres Spiels mit den Puppen unterscheiden lassen. Es ist z.B. kein Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes, wenn das Kind beim Ausziehen der Puppen über die Genitalien erschrickt und die Puppen wieder weglegt, ebenso wenig, wenn es das entgegengesetzte Verhalten zeigt und für die Genitalien der Puppe Interesse zeigt. Beide Reaktionen liegen im Normbereich. Es zeigt sich an einem Beispiel wiederum, dass jedes Verhalten mit einem sexuellen Missbrauch in Verbindung gebracht wird. Diese Auffassung schließt die Möglichkeit aus, feststellen zu können, dass kein Missbrauch stattgefunden hat.

Einige Untersuchungen zum Spielverhalten mit anatomisch ausgebildeten Puppen zeigen im Gegensatz zu der bisher verbreiteten Meinung, dass Kinder, die sexuell missbraucht worden sind, sexualitätsbezogene Spiele teilweise eher vermeiden als nicht missbrauchte Kinder. Eine wichtige Informationsquelle, um den Verdacht des sexuellen Missbrauchs zu klären, ist die Befragung der Kinder. Dabei werden die Kinder häufig zunächst von Personen befragt, die von dem Missbrauch überzeugt sind. Die Mütter möchten sich über ihren Verdacht vergewissern; die KindergärtnerInnen führen Befragungen durch und führen Protokolle über jede ihnen verdächtig erscheinende Äußerung. Sogenannte „Aufdeckungsgespräche“ dienen, wie der Name sagt, dazu, einen Missbrauch aufzudecken, wobei die fragende Person meist davon ausgeht, dass ein Missbrauch vorliegt und ihre Aufgabe nur darin sieht, ihn nachzuweisen. Bei einer derartigen Voreingenommenheit müssen fehlerhafte Befragungsergebnisse die Folge sein. Diese Fehler kommen einerseits dadurch zustande, dass die Antworten der Kinder durch die Art der Fragestellung beeinflusst werden (suggestive Einflüsse), und andererseits durch einseitige Interpretationen der so erhaltenen kindlichen Antworten. Die Erkenntnis, dass grundsätzlich durch jede Befragung Einfluss auf die Vorstellungen des Kindes vom Befragungsgegenstand genommen wird, sollte dazu führen, Befragungen an strengen methodischen Regeln zu orientieren, die dazu dienen, suggestive Einflüsse zu minimieren. Anderenfalls ergibt sich leicht eine Beeinflussung der Kinder, die so weit gehen kann, dass die Kinder ausführlich von Missbrauchserlebnissen berichten, ohne sie tatsächlich erlebt zu haben.

Es wird bisher zu wenig berücksichtigt, dass besonders junge Kinder in hohem Maße suggestibel sind und dass ihre Aussagen wesentlich von den Voreinstellungen der fragenden Personen beeinflusst werden. Dies ist um so mehr der Fall, wenn die fragende Person eine für die Kinder wichtige Bezugsperson ist. Wenn Mütter oder KindergärtnerInnen von dem Missbrauch überzeugt sind, können sie wiederholte Befragung erreichen, dass das Kind ihnen berichtet, was sie hören wollen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass man in Kinder alles Beliebige hineinfragen kann. Kinder sind in unterschiedlichem Ausmaß suggestibel. Je sicherer sie sich ihrer Kenntnisse und ihrer Erinnerungen sind, desto weniger Wirkung haben suggestive Einflüsse. Wenn sie jedoch nach Situationen oder Verhaltensweisen gefragt, von denen sie kein sicheres Wissen haben, neigen vor allem jüngere Kinder dazu, entsprechend den von ihnen wahrgenommenen Erwartungen und Sichtweisen der Befrager zu antworten. Bei Befragungen muss daher immer die Möglichkeit von Suggestionswirkungen bedacht werden. Berichte jüngerer Kinder sind oft wenig ausführlich.

Daher ist es oft erforderlich, Kindern gezielte Fragen zu stellen. Es ist bekannt, dass bei derartigen Fragen fehlerhafte Angaben gegenüber Spontanberichten der Kinder zunehmen. Oft werden die Kinder gefragt, ob eine konkrete Missbrauchs-Situation oder Missbrauchshandlung, die der Befrager für möglich hält, stattgefunden hat. Damit werden den Kindern Informationen vorgegeben, denen sie nur noch zustimmen und die sie in weiteren Befragungen verwenden können. Kinder neigen dazu, Fragen mit Ja zu beantworten, wenn die Frage die Möglichkeit einer Ja- oder Nein-Antwort zulässt. Sie neigen auch dazu, Fragen zu beantworten, indem sie die Informationen verwenden, die ihnen in den Fragen vorgegeben werden. Der Grund für dieses Antwortverhalten von Kindern ist darin zu sehen, dass sie gern eine gute Beziehung zu der sie befragenden Autoritätsperson herstellen möchten. Diese Antwort-Tendenzen haben für zukünftige Befragungen der Kinder Folgen.

Um dies an einem erfundenen und absichtlich extrem gewählten Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein Kind auf die Frage eines Erwachsenen, ob sein Vater es missbraucht habe, mit Ja antwortet, um mit dem Befrager, der dies offensichtlich erwartet, Übereinstimmung herzustellen, so wird es möglicherweise bei einer nächsten Befragung, in der ihm die offene Frage gestellt wird, was sein Vater mit ihm gemacht habe, antworten: „Mein Vater hat mich missbraucht“. Auf die Frage, was er denn genau gemacht habe, wird das Kind zunächst nicht antworten können, was oft als eine aufgrund der Missbrauchserfahrung verständliche Verschlossenheit interpretiert wird. Um Kindern die Aussage zu erleichtern, werden z.B. Fragen gestellt, auf die das Kind mit Ja oder Nein antworten kann, z.B. „Hat er dich vielleicht an der Scheide angefasst?“, was dem Kind neue Informationen gibt. In weiteren Befragungen über Missbrauchshandlungen (oder auch über andere Ereignisse) kann es so dazu kommen, dass Kinder ausführlich über Erlebnisse berichten, die niemals stattgefunden haben. Diese Kinder lügen nicht; sie sind vom Realitätsgehalt ihrer Angaben überzeugt, da sie glauben, dass Erwachsene wissen, was sie erlebt haben, und sie in gutem Glauben die Meinung der Erwachsenen übernehmen. Sie unterscheiden auch selbst nicht so genau wie ein Erwachsener zwischen erlebten und ausführlich mit ihnen besprochenen Inhalten, was die Übernahme der Meinung von bedeutsamen Erwachsenen nahe legt.

Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung: Je mehr Information eine Frage enthält, desto geringere diagnostische Information liefert eine zustimmende Antwort des Kindes, und desto schwieriger wird es, zukünftig den Realitätsgehalt von Aussagen dieses Kindes festzustellen. Aber nicht nur suggestive Einflüsse verfälschen die Ergebnisse von Befragungen. Falsche Schlussfolgerungen kommen auch durch voreingenommene und einseitige Wahrnehmungen und Interpretationen der kindlichen Äußerungen zustande. So werden erwartungswidrige Antworten der Kinder schwerer wahrgenommen oder leicht „weginterpretiert“ (z.B. als Scheu der Kinder, über tatsächlich stattgefundenen Missbrauch zu sprechen). Wenn ein Kind nicht die erwarteten Antworten gibt, werden Befragungen z.T. sehr häufig wiederholt, was die Suggestionswirkung erheblich steigert. Mit der Voreingenommenheit geht auch eine Tendenz zur Überinterpretation der kindlichen Äußerungen im Sinne der vorgefassten Meinung einher, so dass Äußerungen von Kindern oft eindeutiger aufgefasst werden, als sie es sind. Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, bei Befragungen Fragen und Antworten wörtlich zu protokollieren, weil sie schon kurz nach der Befragung Erinnerungs-Verzerrungen in Richtung auf das erwartete Ergebnis einstellen. Bei späteren Überprüfungen des Verdachts ermöglichen es wörtliche Protokolle, die Entwicklung der Aussagen des Kindes zu rekonstruieren, um eventuelle Einflüsse von Erwachsenen festzustellen oder ausschließen zu können.

Hinweise für den Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Entsteht der Verdacht, dass ein Kind missbraucht worden sein könnte, befinden sich die damit befassten Personen in einer schwierigen Situation. Oft sind Verdachtsmomente zunächst nicht ausreichend, sodass weitere Nachforschungen erforderlich sind. Bei der weiteren Klärung eines Missbrauchs-Verdachts sollte in jedem Fall sehr genau überlegt werden, ob auch andere Erklärungen für Verhaltensweisen und Äußerungen des Kindes denkbar sind, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Es erscheint sinnvoll, vorsichtiger als bisher mit dem Verdacht umzugehen.

Jeder, der sich mit der Klärung eines solchen Verdachtes befasst, wird sich mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet vertraut machen müssen, um Fehlerquellen zu kennen und im eigenen Handeln zu vermeiden. Eine gegenüber dem Missbrauchsverdacht neutrale Einstellung und das Wissen, dass es falsche Beschuldigungen gibt, sind notwendiger Bestandteil dieser Kompetenzen. Der Verdacht sollte grundsätzlich nicht von der Person überprüft werden, die ihn aufgebracht hat, sondern von einer an dem Fall bisher nicht beteiligten Person. Daraus ergibt sich, dass es bei einem Verdacht, der im Kindergarten aufgekommen ist, nicht Aufgabe von ErzieherInnen sein kann, über Monate und Jahre verdächtiges Verhalten oder Äußerungen von Kindern zu beobachten. Eine Person, die den Verdacht systematisch untersucht, sollte frühzeitig eingeschaltet werden. Je länger der Zeitraum seit den vermuteten Missbrauchsereignissen ist und je öfter das Kind befragt worden ist, desto schwieriger wird es, den Verdacht zu klären.

Bisweilen werden Kinder z.B. von besorgten Müttern schon vor der Abklärung, ob ein Missbrauch stattgefunden hat, in eine Therapie geschickt, in der die Missbrauchserfahrungen bearbeitet werden sollen. Obwohl dies in manchen Fällen wegen der langen Dauer einer endgültigen Klärung notwendig sein kann, ist bei einer solchen Entscheidung zu bedenken, dass eine Therapie, in der Missbrauchserfahrungen vorausgesetzt und thematisiert werden, für ein tatsächlich nicht missbrauchtes Kind eine große Belastung darstellt. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein Kind, das nicht missbraucht worden ist, schließlich vom eigenen Missbrauch überzeugt ist. In keinem Fall kann aber ein Therapeut oder eine Therapeutin , die mit einem Kind in der Therapie (vermutete) Missbrauchserfahrungen aufarbeitet, gleichzeitig als Sachverständige(r) zur Aufklärung des Verdachts beitragen. Wenn sich ein aufkommender Verdacht gegen ein Mitglied der engeren Familie (zumeist gegen den Vater) richtet, stellt sich die Frage, ob die Kinder aus der Familie herausgenommen und fremd untergebracht werden sollen. Hier lassen sich keine allgemeinen Richtlinien geben. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass die schwerwiegenden negativen Folgen, die eine oft länger als ein Jahr dauernde Trennung von den Eltern vor allem für jüngere Kinder bedeutet, von den antragstellenden Jugendämtern oft nicht ausreichend bedacht werden. Als besonders problematisch hat es sich erwiesen, Kinder aufgrund eines ungeklärten Verdachts in Pflegefamilien unterzubringen. Es ist besser, sie für die Übergangszeit in ein Heim zu geben, damit nicht für den Fall, dass sich herausstellt, dass der Verdacht falsch war, ein Kampf zwischen den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern um das Kind entbrennt.

Dr. Susanne Offe ist Dipl. Psychologin und arbeitet u.a. als Gerichtsgutachterin in Bielefeld. Prof. Dr. Heinz Offe ist ebenfalls Dipl. Psychologe. Er arbeitet als Hochschullehrer an der Fachhochschule in Bielefeld. Auch er ist als Gerichtsgutachter tätig.

Die vorstehende Auseinandersetzung wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 56/1994. Sie wurde uns freundlicherweise vom Deutschen Kinderschutzbund zur Verfügung gestellt.

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