Zur Situation der Offenen Arbeit mit Kindern

Einige kritische Anmerkungen

Von Hartmut Kupfer

Anfang der 80er Jahre erschienen die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die vielerorts zur Durchsetzung Offener Arbeit mit Kindern geführt hatten, im Schwinden begriffen zu sein. Ein Zurückdrängen Offener Arbeit in die Position einer Art „Sozialstation für Kinder“ fand bereits statt, und Kolleginnen und Kollegen, die dies nicht mittragen wollten, wandten sich zunehmend anderen Konzepten von Kinderkulturarbeit zu. Hierbei war allerdings häufig aus unserer damaligen Sicht die besondere Qualität Offener Arbeit, die nach wie vor mit Offenheit – Freiwilligkeit – Veränderbarkeit und Vielfältigkeit (in Kontinuität und Verlässlichkeit!) zu umschreiben ist, nicht mehr gesichert.

Seit 1987 haben sich diese Entwicklungen verschärft. In der Kinder- und Jugendarbeit sind – ich spreche von Berlin, aber anderswo ist es vielleicht ähnlich – Akzentverschiebungen vorgenommen worden. Mittlerweile wird Jugendarbeit wieder offensiv als Instanz sozialer Kontrolle über auffällige und „schwierige“ Jugendliche ausgebaut. Zuschreibungen wie „rechts“ und „gewaltbereit“ werden benutzt, um Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit an Sparzwänge und Kontrollinteressen anzupassen. Neue Finanzierungsstrategien kommen vor allem zeitlich begrenzten Projekten, spezialisierter sozialpädagogisch orientierter Arbeit mit Problemgruppen, relativ schmalspurigen soziokulturellen Projektansätzen zugute. Die Offene Kinderarbeit, die Kindern eines Stadtteils ein großzügig ausgestattetes, vielfältiges, veränderbares Lern- und Erlebnisfeld eröffnet, hat ihren Charakter als „Herzstück“ von Jugendhilfeangeboten vor Ort weitestgehend verloren, fristet ein Dasein am Rande oder passt sich durch die Umformulierung ihrer Arbeitsansätze den Trends der Zeit an. Ein Ausbau findet nicht mehr statt.

Diese Situation wird von PraktikerInnen weitgehend übereinstimmend gesehen, lässt sich aber kaum „von innen heraus“ verändern. Vielfach wird jedoch, wenn ein Widerspruch zwischen Selbstverständnis und realer Situation entsteht, die Realität für falsch erklärt, um das eigene Selbstverständnis zu retten. Langfristig scheint mir das jedoch der falsche Weg zu sein. Es müsste die Frage gestellt werden, ob die Zeit der „Offenen Arbeit“ im traditionellen Sinne vielleicht abgelaufen ist, ob sich die „Essentials“ Offenheit, Freiwilligkeit, Veränderbarkeit und Vielfältigkeit in der gesellschaftlichen Existenz der Kinder und Jugendlichen nicht langfristig auf andere Weise realisieren müssen.

Hierzu ein paar unterstützende Argumente

1. Nach zehn Jahren CDU-dominierter Politik hat sich eine Gesellschaft entwickelt, in der Ausgrenzungen und der Umgang mit ihnen sich als ein dominierendes Thema darstellt, wenn nicht sogar als das dominierende Thema. Nicht individuelle Benachteiligung ist (z.B. durch Bildung und Erziehung) aufzuheben, sondern die Individuen erwerben ihre Selbsteinschätzungen vermittelt durch Prozesse von Aussonderung und Ausgrenzung, die der direkten Bearbeitung (im Sinne eines „Privilegienabbaus“) gar nicht mehr zugänglich sind. An die Stelle der sozialdemokratischen Forderung nach „Chancengleichheit“, die am Beginn Offener Kinderarbeit stand, tritt heute „Integration“ als zentrales pädagogisches Denkschema. „Integration“ ist jedoch im Gegensatz zu „Chancengleichheit“ nur scheinbar ein politisches Konzept. Es besteht häufig darin, die große Gemeinsamkeit vorzugeben, zu der dann alle Einzelnen – unter Beachtung ihrer Besonderheiten – dazugehören können sollen. Das Ganze ist nicht Resultat der Auseinandersetzung (wie im traditionellen demokratischen Gesellschaftsverständnis), sondern es ist der Auseinandersetzung vorausgesetzt. Konflikte Offener Arbeit waren weniger integrierend als konfliktbefördernd, polarisierend. Sie ließen zu, dass sich jemand außerhalb der „großen Gemeinschaft“ stellte, nein zum „großen Ganzen“ sagte. Die spießbürgerliche „Mitte“, für die der Bundeskanzler bei jeder Gelegenheit eintritt, hat sich im Grunde unangefochten in heutige pädagogische Konzepte umgesetzt – und dies nicht erst seit der Vereinigung, sondern schon viel früher – vielleicht seit dem „deutschen Herbst“ am Ende der 70er Jahre.

2. In unserer Gesellschaft zeichnet sich ein rapider Wandel ab, was das Verständnis von „Gemeinwesen“ betrifft. Offene Arbeit lebt jedoch von der Vorstellung, dass alle, die an einem Ort, in einem Stadtteil, „Kiez“ usw. leben, zum Gemeinwesen gehören und zu der offenen Einrichtung Zugang haben sollen. Dies hat noch nie so richtig funktioniert, was wohl damit zusammenhängt, dass „Gemeinwesenarbeit“ ein Import aus den angloamerikanischen Gesellschaften ist, wo völlig andere Voraussetzungen bestehen, u.a. eine vielfach weitgehende Homogenisierung von Wohngebieten im Sinne von Ghetto-Bildung. Charakteristisch für Berliner Wohngebiete ist ihre relativ gute soziale Durchmischung, ein Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen in unmittelbarer Reichweite zueinander. Daher ging unsere Bildungspolitik immer von der Vorstellung aus, dass Selektionsprozesse in der Schule und nicht in der Gesellschaft stattfinden – was auch prägend für das Gegenkonzept der Offenen Arbeit war. Nun spielt sich allerdings eine gesellschaftliche Entwicklung ab, in der sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unter sozialen und zunehmend auch unter ethnischen Gesichtspunkten zu subkulturellen Einheiten formieren. Lokale „Gemeinwesen“ splitten sich dadurch ideologisch, ethnisch und kulturell auf. Kinder und Jugendliche machen dies sichtbar, indem sie sich in unterschiedlichen Gruppen organisieren und voneinander abgrenzen. Es könnte sein, dass dieser Prozess längerfristig offene Lernfelder mit einer einigermaßen stabilen sozialen Mischung vielerorts zum Verschwinden bringen wird. Dies hat sich z.B. im West-Berliner Bezirk Kreuzberg, was ASP-Arbeit angeht, so ähnlich abgespielt.

3. Schließlich ist der politische Hintergrund Offener Kinderarbeit, eine gesellschaftliche Perspektive auf zunehmende Partizipation und „Mehr-Demokratie-wagen“, seit den 70er Jahren in dramatischem Umfang abhanden gekommen. Mehr denn je wird die Bundesrepublik von Eliten kontrolliert und beherrscht, die über die Parteien und Verbände Nachwuchs rekrutieren; die politische Willensbildung spielt demgegenüber momentan eine untergeordnete Rolle. Von fortschreitender Demokratisierung in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist nichts zu erkennen. Insofern haben Ansätze, durch Offene Arbeit mit Kindern Basisfähigkeiten für gesellschaftliche Mit- und Selbstbestimmung zu vermitteln, keine Chance und keinerlei Perspektive. Wer politisch etwas erreichen will, der rückt im Gegenteil ab von offenen Formen, organisiert sich als Elite in einem bestimmten Politikfeld (im Bereich der Ökologie lassen sich solche Prozesse beobachten), versucht, einerseits eine massenwirksame Ausstrahlung durch Reklame zu erzielen, andererseits effektiv als Lobby zu arbeiten und eigene Persönlichkeiten in Schlüsselpositionen zu bringen.

Symptomatisch für die Situation der „politischen Kultur“, von der Offene Arbeit auch lebt, sind die gegenwärtigen Bestrebungen, Kinder direkt in die Politik „einzuschleusen“, durch Gesprächsrunden, Kinderparlamente usw. Hier wird keine Verantwortlichkeit, politische Willensbildung, demokratische Entscheidungsfähigkeit bewirkt, sondern Vertreter der Exekutivgewalt stellen sich im Stile von aufgeklärt-absolutistischen Herrschern dar, denen an der Berücksichtigung der Sorgen und Nöte der Untertanen gelegen ist. Das Ganze erweckt den Eindruck, als würden Kinder als Legitimationsbasis für Repräsentanten eines politischen Systems benutzt – gerade in dem Moment, in dem das System sich zunehmend als korrupt und rein machtorientiert erwiesen hat.1 Auch diese Entwicklungen machen es schwieriger, an eine zukünftige Perspektive für „Offene Arbeit“ zu denken.

Wie kann es weitergehen?

Der Ausgangspunkt für Offene Arbeit mit Kindern war die bildungspolitische Strategie, Benachteiligungen abzubauen und Möglichkeiten der Partizipation zu verstärken; dies bezog sich auf Kinder als Individuen. Zur Realisierung dieser Ziele war daher eine Ebene wichtig, auf der die Individuen zusammenkommen und auf der „soziales Lernen“ in neuer Weise stattfinden sollte. Dies wurde durch offene Lernfelder im Sinne alternativer pädagogischer Institutionen umgesetzt. Die Schlüsselrolle dabei spielten die Diskussionen über die „Konzeptionen“ dieser Einrichtungen. Das wissen alle, die in den 70er Jahren am Aufbau dieser Arbeitsfelder beteiligt waren. Aber man weiß auch, wie wenig heute noch über „Konzeptionen“ geredet wird…

Ausgangspunkt für eine zukünftige Offene Kinder- und Jugendarbeit wird aber wohl immer weniger die Förderung der Individuen in gemeinsamen, offen konzipierten „institutionsförmigen“ Lernfeldern sein. Kinder und Jugendliche werden sich künftig unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen organisieren, Träger mit unterschiedlichen Interessen werden auf ihre kulturelle Eigenständigkeit pochen, und Bearbeitung und Abbau von Dominanz wird nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Gruppierungen notwendig sein. Daher ist der Bezugsrahmen „Konzeption einer Einrichtung“ für die Herstellung offener Lernsituationen nicht mehr ausreichend. Offenheit kann nicht mehr sozusagen unter dem Prinzip der „Einheit des Ortes“ hergestellt werden, sondern lässt sich allenfalls noch dadurch erreichen, dass in einem Stadtteil oder in der Gemeinde ein Interessenausgleich unter den verschiedenen Gruppen gefunden wird. In dieser Form zukünftiger „Offener Arbeit“ würden Konflikte nicht individualisiert und sozialpädagogisch bearbeitet, sondern politisiert und kulturell gestaltet, wobei man häufig ohne Lösung dastehen würde (was aber nicht Neues ist). Professionalität wäre weiterhin notwendig, aber hauptsächlich, um ein versachlichendes, positives Auseinandersetzungsklima herzustellen und zu erhalten. Nicht: Um Kinder und Jugendliche auf den Weg der bürgerlichen Mitte zurückzuführen. Niemand würde „integriert“. Jeder darf sich absondern. Stadtteilversammlungen, Wahrnehmung übergreifender Aufgaben der Mittelvergabe, Veranstaltungsdurchführung usw. trügen zu einem sekundären gemeinsamen Rahmen bei. Abenteuerspielplätze würden hier und da weiterbestehen, aber stünden nicht mehr im Zentrum (real nicht und auch dem Anspruch nach nicht länger), wären nicht mehr die Orte, an denen sich Offene Arbeit wesentlich realisiert, sondern nur eine Stelle von vielen professionell und nicht professionell hergestellten Bestandteilen einer Offenen Kinder- und Jugendkulturlandschaft.

Vorstehender Beitrag stand in: DER NAGEL 56/1994. Ins Internet gestellt wurde er im August 2002. Fußnotenergänzungen sind neu.

Hartmut Kupfer arbeitete als Dipl. Pädagoge von 1980 – 1986 im Märkischen Viertel in Berlin auf einem Abenteuerspielplatz. Später widmete er sich diversen Forschungsarbeiten, u.a. mit „Lücke-Projekten“.

Anmerkungen:

1 Anm. d. Red.: Wie Jahre später die CDU-Spenden-„Affäre“ und der Kölner Müllskandal belegen durften. Inzwischen sind die „Herrscher“ strategisch verstärkt zur „Bauernopfer“-Mentalität zurückgekehrt, lassen sie doch hier und da „Miles-And-More-Sünder“ quasi stellvertretend – von den eigentlichen Polit-Skandalen ablenkend – über die „Klinge gehen“. Zur Erinnerung: Lothar Späth, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und spätere Zeiss-Jena-Chef, der mittels der Vernichtung von tausenden von Arbeitsplätzen wieder Glanz in die Firma brachte, jetzt zum Expertenteam als Wirtschaftsmann von Edmund Stoiber gehört, musste seinerzeit gehen, weil er sich von der Industrie einen Luxusurlaub schenken ließ. Der Kandidat Stoiber selbst saß die Affäre um von der Waffenindustrie gesponserte Freiflüge und um Gratisleistungen von BMW und Audi einfach aus. Helmut Kohl und Roland Koch überzeugten im Spendenskandal schlechthin. Der Altkanzler bricht das Gesetz und Hessens CDU erfindet jüdische Vermächtnisse. Norbert Rüther und Karl Wienand: Im Bau einer Müllverbrennungsanlage und gestückelten Spenden an die Kölner SPD verfilzen sich mehr als zehn Millionen Euro. Und schließlich bedient Jürgen W. Möllemann von der FDP dumpfe antisemitische Klischees, und auf den Straßen werden Juden angegriffen (letztgenannte Argumente komprimierte die Zeitschrift MAX 18/2002).

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