Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung

Von Reiner Prölß


Foto: Rainer Deimel

„Jugendhilfe und Bildung“ – ein Thema, das ja in unserer Profession durchaus umstritten ist, und von dem manche meinen, Jugendhilfe verhebe sich mit ihrem Bildungsanspruch. (1) Ich bin da anderer Meinung und sehe darin durchaus eine Chance für die Jugendhilfe.

Welche Aufgaben und Inhalte, welche Rolle und Funktion, welche Chancen und Möglichkeiten hat Jugendhilfe in der gegenwärtigen oder der zukünftigen Gesellschaft?

Hat Jugendhilfe in dieser zukünftigen Gesellschaft überhaupt noch einen Stellenwert?

Wird Jugendhilfe überhaupt wahrgenommen, ist sie wichtig und noch von Bedeutung?

Was muss sich ändern?

Diesen Fragen will ich nun nachspüren.

Die aktuelle Bildungsdebatte als Chance für die Jugendhilfe

 

Dass der deutsche Bildungsbegriff ein sperriger und schwieriger, in anderen Sprachen so nicht bestehender ist, wissen alle, die sich irgendwann einmal mit Pädagogik beschäftigt haben. Es ist ein idealistischer Begriff. Es ist ein Begriff der Aufklärung, aus dem sich dann im deutschen Humanismus so etwas wie eine „Theorie der Bildung“ entwickelt hat. Die Namen, die damit verbunden sind, lesen sich wie das „Who is who“ deutscher Geistesgeschichte dieser Zeit: Herder, Wilhelm von Humboldt, Schlegel, Schiller, Fichte und viele andere haben sich damit beschäftigt. Die Urväter deutscher Pädagogik haben darauf Bezug genommen: Pestalozzi, Fröbel, Campe u. v. m. Schleiermacher hat von einem „unbestimmten Selbstzweck“ der Bildung gesprochen. In dieser Tradition bewegen sich die zahlreichen – und im Gegensatz zur PISA-Studie leider in der öffentlichen Diskussion noch viel zu wenig beachteten Papiere wie die Empfehlungen Forum-Bildung (2), der Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe (3) und die Aussagen im Kapitel B IV „Bildungschancen und Herausforderungen an Bildung“ des Elften Kinder- und Jugendberichtes (4), das Papier Die bildungspolitische Bedeutung der Familie – Folgerungen aus der PISA-Studie des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen der Bundesregierung (5) oder jüngst, darauf basierend Bildung ist mehr als Schule! Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte, die vomBundesjugendkuratorium, der Kinder- und Jugendberichtskommission und der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe formuliert wurden (6).

 

Die Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums führt aus: „Bildung heißt immer: ‚sich bilden‘.“ Bildung ist stets ein Prozess des sich bildenden Subjekts, zielt immer auf Selbstbildung ab. Bildung ist mehr als ein Katalog akkumulierten Wissens, ein Kanon von Inhalten, über den man verfügen muss, um – wie gerne behauptet – als gebildeter Mensch zu gelten. Bildung ist kein Gut und keine Ware. Bildung meint auch Wissenserwerb, geht aber nicht darin auf. Sie ist zu verstehen als Befähigung zu eigenbestimmter Lebensführung, als Empowerment, als Aneignung von Selbstbildungsmöglichkeiten. Im Kinder- und Jugendalter ist Bildung als „eigen-sinniger“ Prozess des Subjekts von grundlegender Bedeutung für dessen Entwicklung und Hineinwachsen in Kultur und Gesellschaft …“ (7)

Bildung hat also Konjunktur! Seit der Veröffentlichung der PISA-Studie gibt es eine breite und teilweise aufgeregt geführte Diskussion über das bundesdeutsche Bildungssystem. Doch wird diese Diskussion sehr verkürzt und zu sehr aus der Perspektive des Schulwesens geführt. Überhaupt ist die öffentliche Debatte nach PISA von einem sehr eingeengten und auch merkwürdigen Verständnis von Bildung geprägt, das – wie es Thomas Rauschenbach formuliert hat – „Bildung auf Wissensvermittlung, auf überprüfbare Wissensbestände fokussiert“. (8) Bildung wird mit Schule gleichgesetzt, um dann daraus die gleichermaßen einfache wie falsche Schlussfolgerung zu ziehen, eine institutionelle Zuordnung zum Schulbereich garantiere per se Bildung. In der aktuellen bildungspolitischen Debatte sollten vielleicht stärker die Aneignungsprozesse, die der „Alltagsbewältigung dienen“, in den Blick genommen werden, denn „angesichts der zunehmenden Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der kulturellen und technischen Entwicklungen, angesichts des mit wachsender Beschleunigung vonstatten gehenden Wandels von Lebensbedingungen kann „Bildung“ nicht darauf beschränkt werden, den Nachwachsenden die Kenntnisse von „Wissensbeständen, Interpretationen und Regeln einer gegenwärtig bestehenden kulturellen Lebensform zu vermitteln“ (9) – beschreibt der Elfte Kinder- und Jugendbericht.

Es ist aber auffällig, dass diese Anforderungen zwar deklamatorisch in Sonn- und Feiertagsreden wohlfeil formuliert werden, dass sie aber nicht Grundlage zur Operationalisierung der Bildungsinstitutionen und Gestaltung von Bildungspolitik sind.

Wer sich auf eine solche Operationalisierung einlässt, wird sehr schnell feststellen, dass es gerade die Schule in Deutschland ist, die in Struktur und Organisation nicht den Anforderungen einer eben beschriebenen Gesellschaft gerecht wird – trotz vieler mutmachender Ansätze und auch etlicher engagierter und kreativer Kolleginnen und Kollegen. Schule wird weder in der erforderlichen Breite und Tiefe bei Inhalten noch bei didaktischen und methodischen Ansätzen den Erfordernissen veränderter Gesellschaft gerecht, sondern – ich wage die These – sie entspricht mehr als jede andere Bildungsinstitution nach wie vor den Reproduktionsbedingungen einer „alten“ Industriegesellschaft vergangener Tage. Bei der Betrachtung der Schulorganisation sowie von Formen und Inhalten schulischer Lernprozesse wird eine Formenbestimmung deutlich, die mit ihrer Taylorisierung der Wissensvermittlung und der Strukturierung von Zeitabläufen (Denken im %-Stunden-Takt), Disziplin und Selektion einer industriell-kapitalistischen Massengüterproduktion entspricht.

Es ist deshalb kein Zufall, dass Schule, wie sie ist, nur einen geringen Anteil am nachhaltigen Lernen von Menschen in allen Lebensphasen hat. 70 bis 80 Prozent des Wissens und der Fähigkeiten werden außerhalb von Schule angeeignet.

Eine ernsthafte bildungspolitische Diskussion muss deshalb alle Orte des Lernens in den Blick nehmen und überlegen, wie Lernprozesse sinnvoll und wirkungsvoll gestaltet werden können – in und außerhalb der Schule und das ist die Chance und Aufgabe der Jugendhilfe!

Bildung ist also mehr! Bildung ist also – institutionell gedacht – mehr als Schule. Bildung umfasst – von den Aneignungsbedingungen her betrachtet – formelle Bildung, wie curricular abgestimmte, weitgehend verpflichtende, mit leistungszertifizierende Schul-, Ausbildungs- und Hochschulsysteme, nichtformelle Bildung als jene Form organisierter Bildung und Erziehung, die freiwilliger Natur ist und Angebotscharakter hat und informelle Bildung, worunter ungeplante und nicht intendierte Bildungsprozesse verstanden werden, die sich im Alltag von Familie, Nachbarschaft, Arbeit und Freizeit ergeben. Schließlich ist Bildung – von den Aneignungsprozessen her gesehen – höchst unterschiedlich, differenziert und individuell vielfältig. Und Bildung ist – wie bereits konstatiert – immer auch Selbstbildung.

 

In den Mittelpunkt der Betrachtung müssen die Rahmenbedingungen, die Räume und Orte, die ein erfolgreiches Lernen ermöglichen, gerückt werden und die Frage, welches Wissen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten wir heute für morgen benötigen. Letzteres sicherlich eine schwierig zu entscheidende Frage, die einen Werte orientierten, gesellschaftspolitischen Diskurs erfordert, der Fragen der Demokratie, Mündigkeit, Toleranz ebenso wie die nach Wissensinhalten, Kenntnissen und Fertigkeiten in einer globalisierten Welt.

 

Jugend(hilfe)politik als Querschnittspolitik

 

Jugendpolitik wird in der äußeren Wahrnehmung als Ressortpolitik gesehen und wahrgenommen und intern meist auch als Ressortpolitik gelebt. Jugendpolitik wird mit der Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und einiger weiterer auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien bezogenen Rechtsnormen (z. B. das BGB, JGG, JÖSchG, Adoptionsgesetz u.v.m) sowie mit dem Bundesjugendplan gleichgesetzt.

„Allerdings war Jugendhilfe“, schrieb Ingrid Mielenz vor knapp 10 Jahren in dem von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe herausgegebenen Band „Jugendhilfe 2000 – Visionen oder Illusionen?“, „als ausschließliche, gegen andere Politikbereiche abgrenzbare Ressortaufgabe für die in sie gesetzten Erwartungen und für die von ihr selbst formulierten Zielsetzungen schon immer viel zu eng gesetzt. Lebenslagen von jungen Menschen und Familien werden von einer Vielzahl von Bedingungsfaktoren geprägt. Jugendhilfe – als ein Erziehungs- und Bildungsbereich neben anderen – findet in einem sozialen Kontext statt, der mit dem Begriff der Lebensweltorientierung seine fachliche Ausformung gefunden hat. Mit diesem, an den gegebenen Lebensverhältnissen orientierten Handlungszusammenhang wollte (und will) Jugendhilfe ihre Adressaten aktivieren, Strukturen verändern, ganzheitlich tätig sein.

Mit einem weit reichenden, recht selbstbewussten Ansatz, nämlich konkret zur Verbesserung von Lebenslagen beizutragen, hat sich … mit dem Begriff der „Einmischungsstrategie“ eine offensive Jugendhilfepraxis durchgesetzt. … Eine Jugendhilfe, die sich mit gesellschaftlichen Veränderungen auseinander setzt, die Lebenssituationen und Bedürfnisse ihrer Adressaten ernst nimmt, wird sich ‚quer‘ in andere Politikbereiche einmischen und dafür Handlungskonzepte entwickeln müssen.“ (13)

 

Orientierungsrahmen für eine neue Jugend(hilfe)politik

 

Abschließend stellt sich die Frage: Was bedeutet dies nun für die Kinder- und Jugendhilfe in gegenwärtiger und zukünftiger Gesellschaft konkret, in einer Gesellschaft, die der Veranstalter als „Informations- und Wissensgesellschaft“ ausgemacht hat? Was ist der Orientierungsrahmen für eine neue, eine offensive Jugend(hilfe)politik vor Ort. Eine Neuorientierung der Kinder- und Jugendhilfe sollte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in folgenden drei Korridoren erfolgen:

Orientierung und Konzentration auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien

● Wir brauchen auf allen Ebenen eine Veränderung in den Jugend- und familienpolitischen Finanzierungsinstrumentarien, in deren Zentrum zwei Prinzipien stehen: Dienste und Infrastruktur vor Geld und lelstungsbezogene – aber nicht monetäre – Subjektförderung zur Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts, z. B. in Form von Bildungsgutscheinen, Kita-Cards etc.

● Jugendhilfe hat sich in der Vergangenheit von Familienpolitik abzugrenzen versucht. Das war falsch! Vielmehr muss zukünftig Jugendhilfe die familienpolitische Dimension planerisch und in der konkreten Praxis stärker berücksichtigen. Dabei geht es einmal um die Stärkung der Erziehungsfähigkeit in der Familie, zum Zweiten um soziale Integration und die Überwindung von Ungleichheit und drittens um eine stärkere öffentliche Wahrnehmung der Bedeutung von Familie für die Zukunft unseres Gemeinwesens.

● Kommunale Sozialpolitik muss sich stärker und prioritär auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien konzentrieren und – gerade aufgrund der knappen Haushaltsmittel – ihre Ressourcen darauf ausrichten.

● Wir brauchen eine intensive Kooperation von Kindertagesstätten, Schulen, Beratungsdiensten, dem Allgemeinen Sozialdienst (ASD) und der Eltern- und Familienbildung. Wir brauchen „neue Formen der Vernetzung“, wie es in der 10. Leipziger These heißt.

● Aus diesen Überlegungen und aus den vielfältigen Erkenntnissen über die Bedeutung des sozialen Nahraums ist zu überlegen, ob die Rolle des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) nicht völlig neu definiert werden müsste. Es geht darum, den programmatischen Satz „vom Fall zum Feld“ inhaltlich und strukturell umzusetzen. Aufgrund dieses vorstehend beschriebenen Perspektivenwechsels verbunden mit der Konzentration der Ressourcen auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien, käme dem ASD eine neu Rolle und Aufgabe zu. Die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen des ASD müssten verstärkt mit Kindertagesstätten und Schulen kooperieren und auch Einrichtungen als Kristallisationspunkt für den sozialen Nahraum nutzen. Sie würden zum Berater und Manager des sozialen Nahraums und seiner Ressourcen und Potenziale, sie würden Quartiersmanager und Koordinatoren für Lern- und Bildungsprozesse im Stadtteil.

 

Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung

Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung, Betreuung, Förderung und Hilfe. In der Vergangenheit ist der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Jugendhilfe in allen Handlungsfeldern vernachlässigt; worden, auch in den sogenannten „bildungsnäheren“, wie Kindergärten und Jugendarbeit. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Jugendhilfe muss deshalb wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden. Das bedeutet u. a.:

Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung, Betreuung, Förderung und Hilfe. In der Vergangenheit ist der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Jugendhilfe in allen Handlungsfeldern vernachlässigt; worden, auch in den sogenannten „bildungsnäheren“, wie Kindergärten und Jugendarbeit. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Jugendhilfe muss deshalb wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden. Das bedeutet u. a.:

● Es bedarf eines quantitativen Ausbaus von Krippen und Krabbelstuben sowie der Tagesbetreuung für unter 3-Jährige auf einen Bedarfsdeckungsgrad von 30 bis 40 Prozent und eines Umbaus von sozialpolitisch begründeten Betreuungs- zu Bildungseinrichtungen. Durch gezielte Ansprache und Vermittlung soll vor allem sozial benachteiligten Kindern (Sozialhilfebedürftigkeit) und Kindern mit Migrationshintergrund ein Besuch ermöglicht werden. Sie sollen entsprechend gefördert werden. Begleitend ist eine intensive Elternarbeit anzubieten, einschließlich entsprechender Sprachkurse. Dies ist aufgrund der Bedeutung von Lern- und Bildungsprozessen in der frühen Kindheit von großer Wichtigkeit für eine gelingende Integration.

● Die Qualität des Kindergartens in Deutschland ist empirischen Studien zufolge bestenfalls als mittelmäßig zu bezeichnen. Der – auch oft im Gegensatz zur Schule – erhobene kindgerechtere Bildungsansatz wird in der Breite nicht erfüllt. Eine systematische Förderung erfolgt nicht. Deshalb ist die Einführung von verbindlichen Standards, eventuell im Rahmen eines nationalen Kerncurriculums sinnvoll und erforderlich. Insbesondere muss im Kindergarten mehr Gewicht auf die Sprachförderung gelegt werden. Die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte muss auf ein international übliches Vergleichsniveau angehoben werden.

● Beim Übergang Kindergarten und Grundschule muss intensiver zusammengearbeitet werden, aus Schnittstellen müssen Schritte des Übergangs werden. In gemeinsamen „Einschulungskonferenzen“ sollen mindestens ein Jahr vor der Einschulung „individuelle Bildungspläne“ erstellt werden, die die rechtzeitige Gewährleistung des individuellen Förderbedarfs im Kindergarten und dessen Fortsetzung in der Grundschule verbindlich festlegen.

● Zur Stärkung der Erziehungsfähigkeit der und zur Unterstützung von Familien sind Kindertagesstätten zu „Orten für Familien“ umzugestalten. In den Kindergärten werden inzwischen fast alle Kinder und ihre Familien erreicht. Sie stellen eine weitestgehend flächendeckende soziale Infrastruktur der Jugendhilfe dar. Damit können sie mit ihren räumlichen Voraussetzungen zum Kristallisationspunkt zur Gestaltung des sozialen Nahraums und für Lern- und Bildungsprozesse im Stadtteil werden. Ein Blick über den bundesdeutschen Gartenzaun zeigt die Potenziale, die in einem solchen Ansatz für soziale Integration liegen (Early Excellence Center).

● Das Verhältnis – Institutionen gedacht – von Jugendhilfe und Schule und – von der Professionalität her gedacht – Schul- und Sozialpädagogik – muss neu gestaltet werden. Es ist derzeit geprägt von zwei unterschiedlichen Positionen. Die eine ist, die Schule soll sich darum kümmern, Wissen, Fähig- und Fertigkeiten zu vermitteln und die darüber hinausgehenden Erziehungsfragen oder sozialpädagogischen Ansätze zu externalisieren. Die andere Position setzt auf eine Sozialpädagogisierung der Schule. Bei letzterer Position gibt es wiederum drei theoretische Modelle. Das eine setzt auf die Integration von erzieherischer Verantwortung (und damit auch sozialpädagogischer Aufgaben) und Unterricht als Aufgabe von Schule durch das jeweilige Lehrpersonal (personale Integration). Dem widersprechen häufig berufliches Selbstverständnis, schulische Rahmenbedingungen und entsprechende Qualifikation, wenngleich dies je nach Schulart differenziert werden muss. Das zweite Modell setzt auf die Einbeziehung sozialpädagogischer Professionalität in der Schule in Form von Schulsozialpädagog/inn/en als Mitarbeiter/innen des Systems Schule. Da sie hier allerdings eine eher randständige und strukturell nachrangige Stellung haben, kommt es vielfach zu professionellen Deformationen und dem Versuch es den Lehrkräften gleich zu tun, eigene Unterrichtseinheiten, z. B. für „soziales Lernen“ oder „Antiaggressionstrainings“ für die ganze Klasse, eingebettet im Dreiviertelstundentakt in die Stundentafel durchzuführen. Das dritte Modell basiert auf einer gleichberechtigten Partnerschaft der Systeme Jugendhilfe und Schule an einem Lernort. Der Lernort Schule wird gemeinsam gestaltet, Bildungs- und Lernprozesse fächer- und unterrichtsübergreifend organisiert, der Unterricht wird entrhythmisiert, die Schule wird somit Ansprechpartner für Familien in allen Erziehungs- und Bildungsfragen, sie öffnet sich zum Gemeinwesen in Kooperationen mit Kunst, Kultur, Sport und Wirtschaft. Konkret heißt das, Jugendhilfe muss viel mehr versuchen, in den Schulen Fuß zu fassen mit ihrem gesamten Angebot von Beratung, Eltern- und Familienbildung, Kinder- und Jugendarbeit und Hilfen zur Erziehung. Jugendhilfe muss deshalb auch ihre Ressourcen stärker in Richtung Schule lenken. Das gilt für den Bereich der Horterziehung, des ASD und auch der Kinder- und Jugendarbeit.

● Kinder- und Jugendarbeit muss sich in ihrem Verhältnis zur Schule den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und einer allmählichen Veränderung hin zur Ganztagsschule anpassen und entsprechende Strategien entwickeln. Wenn Kinder- und Jugendarbeit vor allem aber Jugendverbände glauben, mit dem Hinweis auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation von Kindern und Jugendliche die Ganztagsschule ablehnen zu können, werden sie scheitern. Nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ einer Ganztagsschule muss auf die Agenda der Jugend(verbands)arbeit geschrieben werden. Wenn nämlich in der Schule durch eine ganztägige Öffnung das möglich wird, was Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendarbeit suchen und finden, Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Freundschaften, Spiel, Sport, Geselligkeit, kreatives Gestalten, Musik und Theater, Anerkennung, Ausprobieren können, Herrschafts- und Leistungsdispens, Anregung zu selbstgestalteten Lernprozessen usw., dann stellt sich in der Tat die Frage nach der Legitimation und strukturellen Verortung von Kinder- und Jugendarbeit, die nach dem „Gebrauchswert“ für Kinder und Jugendliche. Deshalb ist es notwendig, dass Kinder- und Jugendverbände bei der Ausgestaltung von Ganztagsschule mit dabei sind, Konzepte entwickeln und in die Schule gehen (dürfen). Denn Jugendverbände als selbst organisierte Gesellungsformen von jungen Menschen haben einen gesellschaftspolitischen Auftrag, der mehr ist als die Gestaltung von Freizeit und Bildungsprozessen. Es geht bei ihnen auch um politische Beteiligung, um Interessensvertretung und um Organisation.

● Die aktuelle Entwicklung zur Ganztagesschule ist für die Jugendhilfe eine große Chance der Schule auf gleicher Augenhöhe begegnen zu können, denn das System Schule ist derzeit nicht in der Lage, einen fachlich qualifizierten Ganztagsbetrieb zu konzipieren und zu organisieren und auch nicht, ihn zu finanzieren.

● Jugendhilfe muss in ihren verschiedenen Handlungsfeldern vor allem an den Schnittstellen zur Schule gemeinsam mit dieser individuelle Bildungs- und Förderpläne für die Kinder und Jugendlichen ausarbeiten. Ein Modell hierfür könnte die Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII sein.

 

Qualität und Organisation verbessern

Die fachliche Qualität der Jugendhilfe und ihre Organisation entsprechen in vielen Bereichen nicht dem fachlichen Erkenntnisstand und vielfach auch nicht den normativen und verfahrensrechtlichen Vorgaben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Deshalb bedarf es einer Qualitätsoffensive, die organisatorische Strukturen und fachliche Standards beinhaltet. Die Handlungsstrategien einer solchen Offensive sollten in fünf Richtungen gehen:

● Integration statt Versäulung: Wir brauchen eine Aufhebung der Versäulung innerhalb der Jugendhilfe. Denn auch die verschiedenen isolierten Ressortzuständigkeiten innerhalb der Jugendhilfe und ihre Struktur, z. B. ASD, Streetwork, Jugendarbeit und Hort stehen oft isoliert nebeneinander und entsprechen nicht den Lebensrealitäten ihrer Adressaten.

● Klarheit und Transparenz: Ziele, Inhalte und Handlungsweisen müssen klar beschrieben und vereinbart werden und nachvollziehbar sein. Sie müssen dokumentiert, überprüft, transparent gemacht und bzgl. ihrer Wirkung evaluiert werden. Wir brauchen vor Ort mehr Wissen über die Wirkung von Maßnahmen. Deshalb sollte auf kommunaler Ebene ein Berichtswesen aufgebaut und es sollten Mittel für lokale Forschung zur Verfügung stehen.

● Zeitlich begrenzt statt dauerhaft: Wir brauchen in der Jugendhilfe mehr Flexibilität und eine bedarfsgerechte Steuerung. Strukturen, Organisation und Finanzierung müssen so angelegt sein, dass auf neue Anforderungen rasch reagiert werden kann. (Zelt- statt Palaststrukturen). Zunehmend ist in der sozialen Arbeit jedoch eine Tendenz im Sinne von der Idee, zur Initiative und zur Institution erkennbar. Die „Segnung für alle Ewigkeit“ erfolgt dann mit der eigenen Haushaltstelle. Eine solche Entwicklung blockiert Ressourcen und verhindert Innovation und Weiterentwicklung.

● Intensiv statt routinemäßig: Die Leistungen der Jugendhilfe müssen intensiver und kompakter, zeitnah am Unterstützungsbedarf ansetzen und sie müssen zeitlich begrenzt sein. Die Mitwirkung muss im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe eingefordert werden. Auch das gehört zu „Fördern und Fordern“.

● Aktive Betätigung und Mitwirkung statt passiver Entgegennahme (Selbsthilfe statt Alimentierung): Das Wunsch- und Wahlrecht der Adressaten der Jugendhilfe ist zu stärken, auch um damit einen fachlichen Wettbewerb zu fördern. Der Leistungsberechtigte ist als Co-Produzent seiner Hilfe mehr all bisher einzubeziehen. Biografische, familiäre und nachbarschaftliche Potenziale müssen stärker genutzt und einbezogen werden. Die vielfältigen Formen von bürgerschaftlichen Engagements in einer Zivilgesellschaft sollen mobilisiert werden. Professionalität und ehrenamtliches Engagement bzw. Selbsthilfe werden im beruflichen Selbstverständnis vieler sozialpädagogischer Fachkräfte als Gegensatz gesehen. Dieses Verständnis ist aber falsch. Es ist eine andere Professionalität gefordert, die die Ressourcen der Lebenswelten besser nutzt.

 

Schlussbemerkung

Soweit einige Überlegungen, in welche Richtung sich Kinder- und Jugendhilfe weiterentwickeln sollte. Die Frage der Generationengerechtigkeit ist dabei mehr denn je Begründung und Legitimation für Jugendhilfe. Nehmen wir die Losung mit auf den Weg, die vor über 2.000 Jahren bereits Konfuzius seiner Generation mit auf den Weg gegeben hat: „Diejenigen, die sagen, es könne nicht gemacht werden, sollen denjenigen Platz machen, die handeln.“

 

Zum Autor

Reiner Prölß, Dipl.-Pädagoge, Dipl.-Sozialpädagoge, war lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat für Jugend, Familie und Soziales der Stadt Nürnberg und dort zuständig für Grundsatzfragen, Planung und Koordination. Seit 2005 ist er Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) für Jugend, Familie und Soziales in Nürnberg. Er verfügt über vieljährige berufliche und ehrenamtliche Erfahrung in verschiedenen Handlungsfeldern der Jugendhilfe auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Von 2000-2006 war er Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) in Berlin.

Diesen Beitrag verfasste Reiner Prölß anlässlich des 30jährigen Bestehens des Bauspielplatzes Langwasser (Nürnberg). Erschienen ist der Beitrag zunächst in dem Buch „Wo die Kinder spielen(d) lernen“, erschienen 2003 im emwe-Verlag, Nürnberg 2003. Die Verwendung hier geschieht mit freundlicher Genehmigung des Teams vom Bauspielplatz und des emwe-Verlages.

 

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Fußnoten

(1) siehe dazu: Hebenstreit-Müller, Sabine/Müller, Burkhard: Verhoben. Kritik der „Streitschrift“ des Bundesjugendkuratoriums zum Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe. In: Sozialmagazin, 27 Jg. 4/2002 und dies.: Warum Kitas in Deutschland noch keine Bildungseinrichtungen sind – Thesen und Konsequenzen im Elementarbereich und Konsequenzen aus HSA. In: FORUM-Jugendhilfe 2/2002

(2) Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderang Arbeitsstelle Forum Bildung: Empfehlungen des Forum Bildung. 2001

(3) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Bundesjugendkuratorium: Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe. Eine Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums. Berlin 2001

(4) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Elfter Kinder- und Jugendbericht. Berlin 2002

(5) Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen: Die bildungspolitische Bedeutung der Familie – Folgerungen aus der USA-Studie. Berlin 2002

(6) Bundesjugendkuratorium (BJK), Sachverständigenkommission für den elften Kinder- und Jugendbericht, Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ): Bildung ist mehr als Schule. Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte. Berlin 2002

(7) Bundesjugendkuratorium, Streitschrift, S. 22

(8) Rauschenbach, Thomas: Der Bildungsauftrag des Kindergartens – Neubesinnung nach dem PISA-Schock. In: „Theorie und Praxis der sozialen Arbeit Nr. 3/2002

(9) Elfter Kinder- und Jugendbericht, S. 153

(10) Mielenz, Ingrid: Wo stößt Jugendhilfe in ihrer Leistungsfähigkeit an die Grenzen anderer sozialer Systeme? Lebenslagen und qualitative Aspekte des KJHG im Hinblick auf eine notwendige Vernetzung sozialer Leistungen und Angebote. In: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (Hrsg.) Jugendhilfe 2000. Visionen oder Illusionen. Bonn 1994, S. 29f

(11) Leipziger Thesen, a.a.O.

(12) Elfter Kinder- und Jugendbericht, S. 122 ff.

13. Ausführlicher siehe dazu: Reiner Prölß: Pisa deckt eine Bildungskatastrophe auf: Brauchen wir „neue Wege des Lernens“? In: Jugendnachrichten – Zeitschrift des Bayerischen Jugendringes Nr.4/2002

Weitere Diskussionsbeiträge und wichtige Dokumente zum Thema „Bildung und Jugendhilfe“ sind auch nachzulesen in: Reiner Prölß (Hrsg.): Bildung ist mehr! Die Bedeutung der verschiedenen Lernorte – Konsequenzen aus der PISA-Studie zur Gestaltung der Jugendhilfe in einer kommunalen Bildungslandschaft, emwe-Verlag Nürnberg 2003

 

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