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NAGEL-Redaktion – Behauptungen zum „Spannungsfeld öffentliche und freie Träger“

Von Siegfried Kühbauer

1. Privatisierung – eine Form der „Enteignung“ öffentlichen Vermögens?

Nach Art. 20 Grundgesetz ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Für die verfassungsgebende Versammlung war es noch unverzichtbar, dass sozialer Ausgleich und Demokratie eine Einheit bilden. Inzwischen werden Milliardensummen für das marode Finanzsystem zur  Verfügung gestellt. Für Wirtschaftshilfen und Steuergeschenke gibt es unvorstellbare Beträge. Gleichzeitig gibt es immer weniger Vollzeitarbeitsplätze, die Kommunen sind pleite oder verschuldet, und vielen BürgerInnen jeden Alters fehlt es am Nötigsten.

Seit ca. 25 Jahren rollt eine Privatisierungswelle um die Erde. Nichts scheint sie aufzuhalten. Begründet wird sie immer mit dem gleichen Argument. Die öffentlichen Kassen sind leer. Dies aber ist keine Folge einer Naturkatastrophe oder gar der Globalisierung. Die Kassen sind geleert worden durch eine gezielte Politik der Steuersenkung zugunsten des Kapitals und der Reichen. In den vergangenen zwölf Jahren wurden die Steuern kräftig gesenkt. Nach Untersuchungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat dies mehr zum Staatsdefizit beigetragen als die Ausgabenentwicklung. Würden heute noch die Steuergesetze von 1998 gelten, würden Bund, Länder und Gemeinden in diesem Jahr über 51 Milliarden Euro mehr an Steuern einnehmen. Die inzwischen eingetretene verfassungswidrige Vermögensverteilung in unserem Land enthält explosiven politischen Sprengstoff. Dies zeigt nicht zuletzt die Qualität der momentan geführten öffentlichen Auseinandersetzung um soziale und kulturelle Integrationspolitik.

Ist die Pleite der „öffentlichen Hände“ erst einmal vollzogen, ist das die Gelegenheit für den Verkauf öffentlicher Unternehmen oder die Übertragung öffentlicher Dienstleistung an Private. Nach der Inszenierung der Politik der leeren Kassen müssen diese jetzt selbstverständlich „entlastet“ werden.

2. Meinungsführung durch Henkel und Esel

Seit Ende der 80er Jahre dominierte der damalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel jede von ihm als wichtig erachtete Talkshow, um Anhänger zu sammeln und der marktradikalen Heilslehre zum Sieg zu verhelfen. Er hatte Erfolg. Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten standen für entsprechende Belohnung Spalier. Von allen Seiten dröhnte es: Viel mehr Markt, viel weniger Staat. Die unverzügliche Umsetzung sollte den bevorstehenden Abstieg der Nation aufhalten. Die in unserer Verfassung verankerten persönlichen und kollektiven Grund- und Freiheitsrechte, wie Koalitionsfreiheit und deren vertragliche Sicherungen, menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, würdiges Altern und Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit, gerieten in Misskredit.

Kritiker, die zu mehr Gerechtigkeit, besserer Bildung, höherer Binnennachfrage und Abbau der Kluft zwischen Arm und Reich rieten, wurden diskriminiert. Sie galten als Bedenkenträger, Besitzstandswahrer, Sozialromantiker und Schmarotzer – also als die ideellen Gesamtgewerkschafter.

Jüngster Höhepunkt dieser Diskriminierungskampagne ist die hoch intellektuelle Bemerkung von der „spätrömischen Dekadenz“. Die deutlichste Korrektur haben wir dem inzwischen durch Helmut Kohl zum „Herz-Jesu-Marxisten“ geadelten Heiner Geißler zu verdanken: „Kaiser Caligula hat einen Esel zum Konsul ernannt. Insofern stimmt Westerwelles Vergleich: Vor 100 Tagen ist ein Esel Bundesaußenminister geworden“ (Welt Online, 12. Februar 2010).

Heiner Geißler hat sich mit dem Esel ein wenig vergaloppiert. Incitatus war wohl Caligulas bestes Pferd im Stall. Das konnte Heiner Geißler mit Verlaub von Westerwelle weder sagen noch denken. Von daher ist ihm in diesem Zusammenhang der Vergleich mit dem Esel zu verzeihen.

3. Privatisierung in Berlin durch die Expertenkommission Staatsaufgabenkritik

2001 hat die Expertenkommission (Scholz-Kommission) ihren Abschlussbericht vorgelegt. Versprochen wurde u. a. eine Verwaltungssanierung und –modernisierung, Beschleunigung von Geschäftsabläufen und Bürokratieabbau. Jeder Mensch mit Arbeits- und Lebenserfahrung weiß, wie wenig dies zumindest beim Bürokratieabbau gelungen ist. Die Staatskanzlei im Land Brandenburg bringt es auf den Punkt: „Bürokratieabbau ist als Projekt bislang gescheitert!“ Was bleibt ist die Privatisierung.

Umfangreiche Privatisierungen werden als Trennlinie zwischen öffentlichem und privatem Sektor im Bilde des „kooperativen Sozialstaats“ beschrieben. Die „Einsparpotenziale“ sollten sich bis zum Jahr 2006 im „dreistelligen Millionen-€-Betrag“ bewegen. Eine allgemeine Bewertung soll uns hier erspart werden. Wir alle kennen die Folgen des massiven Stellenabbaus in nahezu allen Lebens- und Dienstleistungsbereichen.

4. Freie Träger als Leiharbeitsfirmen des öffentlichen Dienstes

Die Mütter und Väter des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/SGB VIII) hatten hohe Ansprüche. Nach einer ca. 30 Jahre dauernden Reformdiskussion sollte ein modernes Leistungsgesetz für die Kinder und Jugendlichen unseres Landes verabschiedet werden, das den hohen sozialstaatlichen Ansprüchen unseres Grundgesetzes genügt. Vielfalt statt Konkurrenz, Fachlichkeit statt Stümperei, Gleichheit statt marktbestimmter Beliebigkeit waren u. a. Ansprüche an eine qualifizierte Bildungs- und Sozialplanung.

Die o. g. Marktschreier und die Politik der leeren Kassen haben inzwischen in der Realität dafür gesorgt, dass diese gesetzlichen Ansprüche nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Während die Spitzenrepräsentanten der Wohlfahrtsverbände nicht müde werden, die gesellschaftlichen Armutsverhältnisse und deren Auswirkungen zu bemängeln, werden genau diese Verhältnisse – zumindest was die Arbeitsbedingungen anbelangt – unter ihrer Verantwortung geduldet und organisiert. Dabei ist die Maserati-Affäre nur die Spitze des Eisbergs.

Die aktuelle Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) über den sogenannten „Dritten Sektor“ verdeutlicht, dass die starke Beschäftigungsentwicklung der gemeinnützigen Organisationen in den 1990er Jahren inzwischen stagniert und diese quantitative Stabilität mit deutlichen qualitativen und strukturellen Veränderungen einhergeht. Es zeigt sich ein überproportionaler Anstieg der Teilzeitbeschäftigung, eine exzessive Befristungspraxis und eine deutliche Verschiebung hin zu Ein-Euro-Jobs. Davon sind insbesondere Frauen betroffen, da sie mit 76 % (2008) den größten Anteil der Beschäftigten stellen. Mit dieser Entwicklung sind gleichzeitig eine massive Deregulierung des tariflichen Gesamtgefüges und der Abbau betrieblicher Mitbestimmungsmöglichkeiten zu beobachten.

Dieser Abbau sozialer Leistungen reicht der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, bestehend aus Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag und Deutscher Städte- und Gemeindebund, noch nicht. In einem Schreiben vom 24. Februar 2010 mit dem sinnigen Betreff „Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe – Änderungsbedarf im SGB VIII“ an das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend wird darauf hingewiesen, „dass das in § 4 SGB VIII verankerte Subsidiaritätsprinzip öffentlicher Maßnahmen gegenüber Angeboten der Freien Wohlfahrtspflege sich oftmals wettbewerbshemmend auswirke und kostengünstigere Angebotsstrukturen behindere. Wir bitten zu prüfen, ob dies noch zeitgemäß ist oder ob nicht vielmehr den Jugendämtern die Möglichkeit eingeräumt werden soll, sich ebenfalls an wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientieren zu können“.

5. Privatisierung durch das Berliner „Leitbild Jugendamt“

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Scholz-Kommission haben sich die zuständige Senatsverwaltung und die Berliner Jugendämter im Jahr 2003 auf ein Berliner „Leitbild Jugendamt“ verständigt. Dieses Jugendamt soll sich auf die „Kernaufgaben der Planung, Gewährleistung und Steuerung“ konzentrieren. Die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen sollen dabei weniger durch eigene Leistungserbringung erfüllt werden, sondern durch Leistungen Freier Träger. Wesentliche Kriterien für die Ausgliederung einer Aufgabe sollen dabei vor allem „Qualitäts-, Effektivitäts- und/oder Wirtschaftlichkeitskriterien“ sein. Einig waren sich Senatsverwaltung und Jugendämter, dass das zukünftige Jugendamt seinen Charakter als „kompetente sozialpädagogisch geführte Fachbehörde“ behalten soll. Dabei soll es zu den zwingenden Aufgaben des Jugendamtes gehören, „die rechtlichen Rahmenbedingungen und qualitativen Standards im Leistungsangebot der Jugendhilfe zu gewährleisten“. Für Eingeweihte ist es aber ein offenes Geheimnis, dass inzwischen selbst bei Kernaufgaben der Jugendhilfe die gesetzlich geforderte Gewährleistungsverpflichtung von keinem der Berliner Jugendämter erfüllt wird.

6. Privatisierung der Berliner Jugendarbeit durch Steria Mummert Consulting

Zunächst ist es erstaunlich, dass eine Behörde, zu deren Kernaufgabe die Planung, Gewährleistung und Steuerung gehört, eine Beraterfirma braucht, um die Struktur dieser Behörde zu organisieren. Doch eventuell geht es darum gar nicht. Am Beispiel der Jugendarbeit verdeutlicht sich das wahre Anliegen.

In dem Gutachten von Steria Mummert wird zwar festgestellt, dass Jugendarbeit zu den Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gehört und dass es für die Durchführung der daraus resultierenden Aufgaben eine „objektive Rechtsverpflichtung“ gibt. Gleichzeitig wird aber ohne fachliche Begründung darauf hingewiesen, dass die Vorhaltung eigener Angebote der Jugendarbeit nicht zu den Kernaufgaben des Jugendamtes zählt. Der Betrieb von Einrichtungen sowie die Durchführung von Projekten stellt nach Ansicht von Steria Mummert eine „voll übertragbare Aufgabe“ dar. Begründet wird dies mit der Einsicht, „dass die Beibehaltung solcher operativen Tätigkeiten zum Zwecke des Erhalts eines praktischen Erfahrungswissens oder zur Sicherstellung spezieller Leistungsangebote weder zwingend notwendig noch grundsätzlich ausgeschlossen ist“. Dies ist wahrscheinlich einer der Sätze, die den bekannten Kabarettisten Volker Pispers (*) zu der Aussage animiert haben: „Kennen Sie doch, Unternehmensberater – Eunuchen, sie wissen wie man’s macht“.

Als Beweis dafür, dass in Berlin von der Verfügbarkeit einer ausreichenden Anzahl freier Träger ausgegangen werden kann, die ein qualitativ hochwertiges Angebot realisieren und die Trägerpluralität sichern können, wird der nicht in die Untersuchung einbezogene Berliner Bezirk Lichtenberg herangezogen. Denn dieser hätte bereits 17 von 20 öffentlichen Jugendfreizeiteinrichtungen an freie Träger übertragen. Dabei wird wie selbstverständlich kein Wort über die Einhaltung der eigentlich in Berlin geltenden quantitativen und qualitativen Standards verloren. Für die „Qualitätssicherung“ reicht es, wenn man möglichst viele öffentliche Einrichtungen überträgt und es dadurch „billiger“ wird.

Doch was bedeutet objektive Rechtsverpflichtung und Gewährleistungspflicht für das jeweils zuständige Jugendamt? Die im KJHG/SGB VIII geforderte Gewährleistungspflicht dient der Wahrnehmung der strukturellen und individuellen Gesamtverantwortung. „Die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen müssen nicht nur zur Verfügung stehen, sondern eine bestimmte Normqualität erfüllen. Sechs Faktoren bestimmen diese Qualität: erstens müssen sie geeignet, zweitens in erforderlicher Zahl, drittens in ausreichender Personalausstattung, viertens in ausreichender Finanzausstattung, fünftens in pluraler Breite und sechstens rechtzeitig zur Verfügung stehen. Wird diese Normqualität nicht erbracht, ist die Gewährleistungspflicht nicht erfüllt“ (Prof. Peter-Christian Kunkel).

Für Steria Mummert hat diese gesetzlich geforderte Normqualität offensichtlich keinerlei Bedeutung. Ähnliche Schwierigkeiten haben sie auch mit dem im § 45 AG KJHG geforderten mindestens 10 %-Anteil der Gesamtjugendhilfe für die Jugendarbeit. „Im Sinne der Planungssicherheit ist diese prozentuale Bemessung ungeeignet.“ Endlich wissen wir, weshalb kein Berliner Bezirk diese gesetzliche Verpflichtung erfüllt. Die Planungssicherheit stößt bei der Prozentrechnung an ihre Grenzen. Vorgeschlagen wird von den Unternehmensberatern stattdessen die Bemessung des Budgets der Jugendförderung nach der Zahl der Kinder und Jugendlichen im Bezirk, „z. B. x € pro 1.000 junge Menschen zwischen 12 und 21 Jahren“. Das Beispiel ist erstaunlich, denn bisher müssen junge Menschen zwischen 6 und 25 Jahren gefördert werden.

Ebenso interessant ist der Vorschlag, dass bei der Finanzierung der Jugendarbeit keine „soziostrukturelle Gewichtung“ vorgenommen werden müsse, weil sich allgemeine Jugendarbeit an alle jungen Menschen richte. Dabei wurde offensichtlich übersehen, dass nach § 80 Abs. 2 S. 3 KJHG/SGB VIII Einrichtungen und Dienste so geplant werden sollen, dass „insbesondere junge Menschen und Familien in gefährdeten Lebens- und Wohnbereichen besonders gefördert werden“.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Gutachten von Steria Mummert im Bereich der Jugendarbeit mehr der Rechtfertigung von Missständen als der Förderung junger Menschen dient.

 

Siegfried Kühbauer, beschäftigt auf der Weddinger Kinderfarm in Berlin, ist ver.di-Mitglied, Diplomsozialpädagoge und Diplomsoziologe. Info Weddinger Kinderfarm: www.sparrplatz-quartier.de/Weddinger-Kinderfarm-e-V.126.0.html

 

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Fußnote

(*) Das hörens- und sehenswerte Zitat ist einem Beitrag von Volker Pispers auf „You Tube“ aus dem Jahr 2004 entnommen: „Berufsgruppen, die diese Welt nicht braucht“.

 

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, den Siegfried Kühbauer am 20. September 2010 bei der Fachgruppe Sozialarbeit der ver.di Berlin gehalten hat. Wir bedanken uns bei Siegfried Kühbauer und der ver.di für die freundliche Genehmigung, ihn hier verwenden zu dürfen.

November 2010

 

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NAGEL-Redaktion – Leichen pflastern ihren Weg

Kommunen in Not

Die Verschuldung der deutschen Kommunen wird durch die Regierungen verursacht. Mancherorts werden inzwischen Verstorbene, für die die Kommune zuständig ist, in anderen Bundesländern unter die Erde gebracht – um zu sparen. Jetzt werden die Bürger/innen aktiv


Von Werner Rügemer

Auf die deutschen Kommunen wird geschimpft wie auf die griechischen Schuldenmacher. Doch in beiden Fällen herrscht mehr Psychokrieg als Wahrheitsliebe. Griechenlands Statistik-Schummelei wäre nicht möglich ohne die Mithilfe US-amerikanischer Banken, französischer Rüstungsverkäufer und Schmiergeldzahler namens Siemens. Und ungleich mehr Schulden als die Kommunen machen in Deutschland die Bundesregierung und die Landesregierungen, die ohne Sinn und Verstand bankrotte Banken retten, die sich mit ihrer Hilfe verspekuliert haben.

Es ist richtig, dass in vielen Kommunen im Laufe des letzten Jahrzehnts auch dubiose, ja gesetzwidrige Wege gegangen wurden: Cross Border Leasing, Derivate und Zinswetten (Swap-Geschäfte) sollten auf scheinbar clevere Weise Geld in die Kasse bringen. Doch auch hier wird gern verschwiegen, dass die Berliner Regierungen dasselbe über die Bundesunternehmen Telekom, Deutsche Post, Deutsche Bahn und Deutsche Flugsicherung machten. Und es wird auch hier verschwiegen, dass die Banken, die diese „Finanzinnovationen“ den Stadtkämmerern andienten, vorher durch die Deregulierung des Finanzsektors aus Berlin die Freigabe erhalten hatten.

Bei aller möglichen Miss- und Klüngelwirtschaft in den Kommunen ist unbestreitbar: Ihre strukturelle Verschuldung wurde und wird durch die Bundesregierungen verursacht, in zweiter Linie durch die Landesregierungen. Beginnend mit der deutschen Vereinigung, dann insbesondere seit etwa dem Jahre 2000 folgten die Bundesregierungen dem neoliberalen Muster: Neben der Aufwertung der Großbanken und der Export- und Energiekonzerne gehört dazu die Abwertung des öffentlichen Dienstes und der Kommunen, während der Zentralstaat ausgebaut wurde.

Allein die Steuergesetzgebung der schwarz-roten Bundesregierung seit 2005 bringt den Kommunen bis 2013 einen Verlust von knapp 20 Milliarden Euro. Und allein die ersten Steuersenkungen der neuen schwarz-gelben Regierung seit Anfang 2010 („Wachstumsbeschleunigungsgesetz“) führen zu jährlichen Verlusten der Kommunen von 1,6 Milliarden Euro. Die Bundesländer tun das Ihrige dazu: So belastet die schwarz-gelbe Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Kommunen durch neue Kürzungen und Aufgaben allein im Jahr 2010 mit 375 Millionen Euro.

Die Bundesregierung schädigt die Kommunen noch ganz anders. Sie haben Milliarden Euro in umweltschonende und effektive Energie-Technologien investiert – im Vertrauen auf die Abschaltung der Atomkraftwerke. Die Regierung will nun aber deren Laufzeit verlängern. Durch den konkurrenzlos billigen Atomstrom aus den bereits abgeschriebenen Atommeilern der vier großen Energiekonzerne würden die kommunalen Investitionen weitgehend entwertet, Einnahmen fallen aus.

Bürger dürfen ihren Namen auf Parkbänke nageln

Gegenüber diesen strukturellen Maßnahmen mit Milliardeneffekt nehmen sich gegenwärtige Versuche zu fieberhaften Einsparungen und Erschließung neuer Geldquellen in den Kommunen wie absurdes Theater aus. Um ein paar Euro zu sparen, werden Öffnungszeiten von Bibliotheken um weitere Stunden verkürzt, in den Bädern wird die Wassertemperatur um ein paar Grad Celsius abgesenkt, die Straßenbeleuchtung in Außenbezirken wird ausgeschaltet; Preise für Schwimmbäder, Kindergärten und Volkshochschulkurse werden erhöht, Hotel- und Sexsteuern werden erhoben. Freundliche Bürger dürfen ihr Namensschildchen auf Parkbänke und Theaterstühle nageln, weil sie für 200 Euro den Bank- und Stuhl-Paten spielen. Und ein großer Versicherungskonzern übernimmt gnädigerweise für 15.000 Euro im Jahr die Kosten dafür, dass im Springbrunnen auf dem Marktplatz das Wasser weiter sprudeln kann. Makaber wird es, wenn etwa die Stadt Grevenbroich die Leichen ihrer armen Bürger, für die sie zuständig ist, in ein anderes Bundesland zur Verbrennung und Bestattung schickt, weil dies dort ein paar Euro billiger ist.


Verwüstungen in einem der reichsten Länder der Welt

Doch schon bei etwas größeren Routineaufgaben versagt diese Peanuts-Methode. Schulen, Bäder, Bürgerbüros, Jugendzentren werden geschlossen. Theatern droht die Schließung. Parks verwildern. Straßenlöcher bleiben Straßenlöcher. Ganztagsplätze in Kindergärten und Horten werden gestrichen. Freie Träger im sozialen und kulturellen Bereich erhalten keine Zuschüsse mehr. Welche Verwüstungen in einem der reichsten Länder der Welt! Das ist erst der Anfang – und die angeblich immer noch beliebte Bundeskanzlerin Merkel blicket stumm in der Wüstenei herum.

Alle bisherigen neuen Heilmittel sind gescheitert. Das betrifft nicht nur Cross Border Leasing und ähnliches. Auch nach dem (Teil-)Verkauf von Stadtwerken und anderen kommunalen Unternehmen sind die Kassen leerer und die Schulden höher als vorher. Bei den Berliner Wasserbetrieben BWB erhöhen RWE und Veolia die Preise auf europäische Rekordhöhe und kassieren die Gewinne ab. Städte wie Solingen und Kiel, die sich für ihre Stadtwerke einen gelobten „strategischen Partner“ ins Haus geholt haben, finden sich ausgepowert wieder: Der „strategische Partner“ hat vor allem für sich selbst gesorgt, hat Arbeitsplätze abgebaut und Dienstleistungen an eigene Tochterfirmen vergeben. Nach dem Verkauf von 48.000 kommunalen Wohnungen in Dresden explodieren dort die Mieten, und die städtischen Schulden wachsen schon wieder.

Aus solchen Erfahrungen haben so manche Stadtobere immer noch nichts gelernt. Gerade jetzt holen sie sich teure Berater. Rüsselsheim etwa will sich mit Hilfe der Bertelsmann-Stiftung selbst aus dem Sumpf ziehen: Die strukturellen Ursachen der Verschuldung werden nicht benannt. Bei der neuen Privatisierungsmethode Public Private Partnership (PPP) bahnt sich ein neues Desaster an.

Immer noch fällt es Stadtoberen schwer, sich aus der Kumpanei mit dubiosen Investoren zu lösen. Der Europäische Gerichtshof hat den PPP-Vertrag der Stadt Köln mit dem Investor Oppenheim zu den neuen Messehallen für unwirksam erklärt. Die Bank Oppenheim ging pleite, die Vorstände, mit denen der Vertrag unterschrieben wurde, sind wegen Unfähigkeit geschasst worden: Die Stadt könnte den Vertrag neu verhandeln, die Messehallen zum wirklichen Wert kaufen und dabei eine dreistellige Millionensumme sparen. Aber nichts dergleichen geschieht, lieber kürzt man in aufwändigen Auseinandersetzungen den freien Trägern dort 5.000 Euro, hier 2.000 Euro.

Die kommunale Infrastruktur ist eine elementare Voraussetzung für den Sozialstaat und den Zusammenhalt der Gesellschaft, für ein sicheres Leben der Bürger. In der Bevölkerung hat sich inzwischen die Meinung verfestigt, dass die Daseinsvorsorge in kommunale und öffentliche Hand gehört. Die kommunale Infrastruktur ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Die im Grundgesetz garantierte Selbstverwaltung der Kommunen erfordert dafür ausreichende Finanzen. Alles andere ist Verfassungsbruch.

In vielen Städten sind Bürgerinnen und Bürger längst selbst aktiv geworden. Sie bilden offene Foren, treffen sich wie „Köln kann auch anders“ jede Woche montags 18 Uhr vor dem Rathaus, laden Bürgerinitiativen und Experten zum Erfahrungsaustausch ein. Kritische Stadträte und städtische Personalräte koordinieren sich überregional. Die Vorschläge von vielen Seiten liegen auf dem Tisch: ein kurzfristiger staatlicher Rettungsschirm für die Kommunen, eine Gemeindewirtschaftssteuer unter Einschluss der freien Berufe, die Gründung neuer öffentlicher Energie- und Wohnungsunternehmen, Offenlegung und Rückabwicklung dubioser Privatisierungsverträge, Ausbau und Qualifizierung des öffentlichen Dienstes, Zinsmoratorium – es ist gar nicht so schwer, wenn wir der demokratischen Fantasie nur freien Lauf lassen.

Dr. Werner Rügemer arbeitet als Publizist und Lehrbeauftragter in Köln. Sein Beitrag „Leichen pflastern ihren Weg“ erschien zunächst in der Zeitung VER.DI PUBLIK 4/2010. Die Verwendung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie der Redaktion von VER.DI PUBLIK.

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NAGEL-Redaktion – Bildung statt Pillen

Von Birgit Taffertshofer

Kinder und Jugendliche brauchen keine Luxusmedizin für einen gesunden Start ins Leben, viel wichtiger sind gute Vorbilder und Lernmöglichkeiten. Vor allem bedürftige Familien können davon profitieren.

Statistisch gesehen geht es den Kindern in Deutschland blendend. Sie sind auffallend gut entwickelt und wachsen fast 20 Zentimeter höher als Kinder noch vor hundert Jahren. Denn im Unterschied zu jenen haben sie heute reichlich zu essen und müssen sich seltener mit Infektionskrankheiten herumschlagen. Doch größerer Wohlstand und eine bessere medizinische Versorgung garantieren noch lange nicht, dass jedem Kind ein guter Start ins Leben gelingt. Dies belegen die Ergebnisse des ersten Kinderberichts, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im September 2009 vorstellte.

Im Mittelpunkt der internationalen Studie stehen das Wohlbefinden und die Entwicklungschancen der Kinder und Jugendlichen in den 30 Mitgliedsstaaten der OECD. Die Daten deuten darauf hin, dass die hohen öffentlichen Ausgaben für Familien in Deutschland wenig darüber aussagen, wie gut es den Heranwachsenden hierzulande wirklich geht und ob das Geld bei ihnen ankommt. Obwohl die Bundesrepublik, je nach Altersgruppe, zehn bis 20 Prozent mehr Geld für Bildung, Dienstleistungen und direkte Finanztransfers ausgibt als die Mitgliedsstaaten im Schnitt, lebt hierzulande fast jedes sechste Kind in Armut. Im OECD-Schnitt ist es nur jedes achte. Die besten Werte erzielten nach den Kriterien der Organisation die skandinavischen Länder, in Dänemark gilt lediglich jedes 37. Kind als arm. 

Armut macht krank

Natürlich sind die Armen in einem reichen Land wie Deutschland nur relativ arm, die Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche sind aber nicht weniger dramatisch. Armut bedeutet für sie meist nicht nur den Verzicht auf anregende Ferien oder Nachhilfeunterricht, sondern auch höhere Gesundheitsrisiken: Sie ernähren sich häufig schlechter, bewegen sich weniger, sind öfter übergewichtig und leiden stärker an psychischen Problemen. Erkrankte benötigen Zuwendung, Trost und Therapie. Was sie nicht gebrauchen können, sind Schuldzuweisungen von außen, dass sie zu dick, zu faul oder zu schwierig sind. Nach dieser Logik würden die körperlichen oder seelischen Beschwerden aus mangelnder Investition in die eigene Gesundheit resultieren. Doch bei Kindern ist Krankheit nahezu immer unverschuldet. Denn wenn Eltern gesundes Verhalten nicht täglich vorleben, haben ihre Töchter und Söhne schlechte Chancen, es zu erlernen.

Gesundheit bedeutet ja nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Fähigkeit einer Person, Erreger und andere Krankheitsursachen erfolgreich zu bekämpfen. Viele Menschen aber leben heute ungesund und glauben, der Arzt oder die Klinik würden es schon richten. Gigantische Summen werden so für Diagnostik und Hightech-Medizin verschwendet, obwohl bereits 40 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden leiden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern vor allem einer geschulten Beratung und Gesprächsbegleitung bedürfen.

Auch Kinder und Jugendliche geraten leicht in eine Mühle von übereilten Korrekturmaßnahmen. Wenn sie mit zehn Monaten noch nicht laufen können, bekommen sie eine Lauflernhilfe, wer ein paar Gramm zuviel auf den Hüften hat, wird sofort auf Diät gesetzt, und für unruhige Schüler gibt es eine Tablette. Das Streben nach mehr Gesundheit wird in diesem Fall erst zum krankmachenden Faktor. Stattdessen muss es gelingen, die jungen Menschen zu motivieren, achtsam mit ihrer Gesundheit umzugehen. Dafür muss sich jedoch das Bewusstsein in der Bevölkerung ändern – weg von einer wohlmeinenden Fürsorge für Kranke und Behinderte hin zu einer umfassenden Befähigung und Ermutigung der Betroffenen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Schule fürs Leben

Gesundheitsförderung und Prävention stehen auch im Mittelpunkt des 13. Kinder- und Jugendberichts, für den das Deutsche Jugendinstitut (DJI) die Geschäftsführung innehatte. Die Wissenschaftler haben ihn zum Anlass genommen, das Thema Gesundheit in diesem Heft breiter zu diskutieren. Gemeinsam mit renommierten Experten zeigen sie auf, woran das System krankt, das sich in Deutschland um das Wohlbefinden der Kinder kümmern soll. Sie weisen auf Möglichkeiten hin, wie Fachkräfte des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung enger zusammenarbeiten können, damit die Schwächsten in unserer Gesellschaft auch die notwendige Hilfe erhalten: chronisch kranke, behinderte und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Sie alle haben ein Recht auf jene Grundsicherheit, die es ihnen erst erlaubt, sich möglichst frei und gesund zu entfalten.

Wenn die Eltern es nicht schaffen, ihrem Kind ein gutes Vorbild zu sein, müssen andere helfen: Erzieherinnen, Sozialarbeiter und Lehrer, aber auch Freunde, Nachbarn und Sporttrainer. Wenn sie alle anerkennen, dass Bildung nicht nur bedeutet, auf das Leben vorzubereiten und möglichst viel Wissen anzuhäufen, sondern dass Schulen und Kindertageseinrichtungen selbst Orte sind, wo junge Menschen die Kompetenzen zum Meistern des Lebens einüben, dann versteht es sich fast von selbst, dass dort auch Gesundheit gefördert wird. Der Staat muss großzügig sein bei seinen Ausgaben für Kinder, aber er muss sie auch so lenken, dass das Geld bei den Bedürftigen ankommt. Denn wenn Armut Kindern ihre Gesundheit raubt, dann bleibt vom Versprechen des Sozialstaats, all seinen Bürgern die gleichen Startchancen zu ermöglichen, nicht mehr viel übrig.

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Der Beitrag von Birgit Taffertshofer erschien zunächst im DJI Bulletin 3/2009 (Heft 87). Seitens des ABA Fachverbandes werden die Hefte regelmäßig als sehr brauchbar für die Fortentwicklung der pädagogischen Arbeit auch vor Ort eingestuft. Deshalb stellen wir sie jeweils nach ihrem Erscheinen zum Herunterladen ins ABA-Netz. Auf der Seite befindet sich zur Orientierung immer eine kleine Inhaltsangabe zur jeweiligen Ausgabe. Den 13. Kinder- und Jugendbericht gibt es ebenfalls zum Herunterladen im ABA-NetzDas DJI Bulletin findet man natürlich auch auf den Seiten des Deutschen Jugendinstituts.

Bei Birgit Taffertshofer möchten wir uns für die erfreuliche Zusammenarbeit bedanken. Dank auch für ihre Genehmigung, ihren Beitrag hier zu verwenden.

 

NAGEL-Redaktion – Wie man Ausschuss produziert

Integrationsrassismus und Alltagsrenitenz

Von Thomas Seibert

Das Ekelhafte am Fall Sarrazin sind nicht die Ergüsse eines Geisteskretins aus den besten Kreisen, sondern die Deckung, die ihm auf breitester Front zuteil wird. Perfiderweise werden dabei gleich zwei „Debatten“ verschachtelt. Die eine handelt von gefährdeten BürgerInnenrechten und meint natürlich die des rassistischen Täters. So wünschen Hunderte SPD-Mitglieder den Verbleib Sarrazins und fürchten um die innerparteiliche „Meinungsfreiheit“. Millionen anderer Deutscher stellen sich spontan auf Sarrazins Seite und murmeln dazu mehr oder minder laut: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“ – die Zauberformel, mit der rassistisches wie antisemitisches Gequatsche immer schon legitimiert wird. Kaum jemand merkt an, dass bei Sarrazins neoliberaler Modernisierung altvölkischer Standards eigentlich zu fragen wäre, ob nicht der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist. Dass solche Fragen nicht gestellt werden, hängt an der „Integrationsdebatte“. In der springen JournalistInnen wie PolitikerInnen dem Alltagsrassismus bei, indem sie sich im ersten Zug pflichtschuldigst von der Blödigkeit Sarrazins distanzieren, um im zweiten Zug in der mangelnden „Integration“ der EinwanderInnen das „Problem“ auszumachen, das Sarrazin immerhin „benannt“ hätte. Die Methode ähnelt exakt derjenigen, die dasselbe Personal schon Anfang der 1990er praktiziert hat. Damals – erinnert man sich noch des Mobs von Hoyerswerda und Rostock? – wurde der mörderische Rassismus von Nazischlägern zum willkommenen Anlass, das Asylrecht abzuschaffen – trotz der Lichterketten der Gutwilligen. Wozu der Fall Sarrazin führen wird, ist noch unentschieden – die SPD jedenfalls überlegt, „integrationsunwillige“ EinwanderInnen mit Strafen zu belegen: was rechts von ihr zusammengebraut wird, dürfte nicht unterhalb der Zielvorgaben Gabriels liegen.

Bei solcher Ausgangslage sind zwei Punkte festzuhalten. Den ersten benennt der „Demokratie statt Integration“ überschriebene Aufruf in der taz mit unüberbietbar klaren Worten: „Man kann diese Debatte nicht versachlichen, denn nichts an ihr ist richtig. (…) Wir wollen das Offensichtliche klar stellen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Das bedeutet: Wenn wir über die Verhältnisse und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden. Integration heißt, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.“ 

Der zweite Punkt geht einen Schritt weiter. Tatsächlich belegen die Beschlüsse zur Neuregelung von Hartz 4 unmissverständlich, dass „unsere Demokratie“ vom Klassenkampf durchzogen wird – wahrnehmbar zunächst vom Klassenkampf von oben. Wenn der Klassenkampf von unten weniger wahrnehmbar ist, liegt das auch daran, dass selbst seinen AkteurInnen nicht immer klar ist, dass und wie sie ihr Leben längst im Widerstand gegen kapitalistische und rassistische Alltagsrealitäten führen. Dasselbe Nicht-Wissen tritt bei denen zu Tage, die gewollt oder ungewollt beim Klassenkampf von oben mitmischen: dort also, wo von „Integrationsunwillen“ statt vom Recht des alltäglichen Widerstands die Rede ist. Im Klartext gesprochen: viele Verhaltensweisen so genannten „Integrationsunwillens“ sind tatsächlich Ausdruck klassenkämpferischer Renitenz. Damit ist nicht gesagt, dass alles super wäre, was da so üblich ist – es geht nicht um Sozialromantik. Doch ist damit gesagt, wie inkriminiertes Verhalten vorgeblicher „anderer“ zunächst einmal wahrzunehmen wäre. Und: Es ist damit gesagt, wie umkämpft die Worte sind, die sich uns scheinbar „neutral“ zur Beschreibung von Verhalten und Verhältnissen zusprechen. Das gilt noch dort, wo eingewandt wird, dass es bei all’ dem nicht um Differenzen der vorgeblich „eigenen“ und der vorgeblich „fremden“ Kultur gehe, sondern um Probleme der „Armut“ deutscher wie nicht-deutscher „Unterschichten“. Nochmals Klartext: wir haben es nicht mit „Armutsproblemen“, sondern mit solchen des gesellschaftlichen Reichtums zu tun – mit Fragen, genau besehen, der ungleichen Verfügung über seine Produktion und seine Produkte. Das meint nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Produkte – Sprache z.B., Wörter und Diskurse. Hier gilt es, Abhilfe zu schaffen, auch mit den Mitteln, die in Gegenkulturen proletarischer Alltagsrenitenz erprobt werden. Deutscht uns nicht voll.

Dr. Thomas Seibert ist studierter Philosoph und bei Medico International in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zuständig als Referent für Netzwerkarbeit. Sein Beitrag wurde zunächst veröffentlicht im „attac-Rundbrief 4/2010“

 

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NAGEL-Redaktion – Der tägliche und weit verbreitete Rassismus

 

Von Grazyna Gintner

Der Rassismus hat viele Gesichter, nicht nur das von Neonazis. Er begleitet den Menschen auf Schritt und Tritt. Kaum jemand ärgert sich darüber.

Wenn man in den Tagen nach dem schrecklichen Massaker in Norwegen hierzulande nach einem Abbild des Rassismus sucht, stolpert man über einen bekannten Namen: Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied, Autor des Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“ und der Buhmann der Nation. Seine Person gilt nach wie vor als Auslöser für polemische, hitzige Debatten. Dennoch hat er eigentlich nur das laut gesagt, was viele leise denken. Anders lässt sich der enorme Erfolg seines Buches nicht erklären. Wie auch der Fakt, dass man von einem Ausschluss aus der SPD abgesehen hat.

Sarrazin ist nicht allein

Es fällt einem normalen Bürger meist nicht schwer, sich über die Neonazis zu empören und laut gegen sie in beeindruckenden Demonstrationen zu protestieren. Dies hindert ihn jedoch wenig, im Alltag über „die Türken“ zu schimpfen und sich über die angebliche niedrige Kultur der Zugewanderten zu mokieren. Man spricht eben ungeniert nicht über den konkreten Menschen, sondern über eine Nation, ein Volk, eine ganze Gruppe, deren man bestimmte einheitliche Eigenschaften zuschreibt und als angeborene – also in Genen zwingend übertragbare – erklärt. In einer beinahe Ku-Klux-Klan-Manier äußert sich nicht nur ein Besoffener am Stammtisch; diese Lesart ist auch in der Politik und den Medien derart verbreitet, dass sich niemand mehr darüber entrüstet. So prägt die regierende Kanzlerin im öffentlichen Bewusstsein die Verknüpfung zwischen den Migranten und Kriminellen und verbindet die Frage der Integration mit der Gewaltprävention.

Menschen und Umstände

Nicht die Menschen sind schlecht, sondern die Umstände, in denen sie leben, behauptete einmal Bertolt Brecht. Die Schlussfolgerung aus dieser These müsste lauten: Endlich sollen sich die Machthaber richtig um die Verbesserung in dieser Hinsicht kümmern. Dies ist doch die primäre Aufgabe der Volksvertreter: dem Volke zu dienen. Der Staat ist für die Rahmenbedingungen verantwortlich, und dieser Verantwortung darf er sich nicht entziehen. Stattdessen wird jedoch lieber auf die Sündenböcke (Türken, Migranten und so weiter) mit dem gestreckten Finger gezeigt. Dabei muss man die Frage „Wer ist für die Kriminalität hierzulande verantwortlich?“ viel differenzierter diskutieren. Niemand kommt als Krimineller auf die Welt. Die Verantwortung des Staates muss man thematisieren. Jene beginnt gleich mit der Geburt oder noch früher, wie die Diskussion um die PID-Diagnostik zeigte. Weiter geht es mit den Kinderkrippen und Schulen. Wenn es beispielsweise eine Schulpflicht gibt – also eine Beschränkung der Elterngewalt für eine bestimmte Zeit am Tag – kann man sich nicht hinter Ausreden verstecken. „Die Eltern müssen es richten“. Wer eine Schulpflicht anordnet, muss auch erzieherische Aufgaben übernehmen. Die Schule darf nicht ein „erziehungsfreier“ Raum sein. Übrigens, viele Länder – im Gegenteil zu Deutschland – kennen keine Schulpflicht, sondern nur eine Unterrichtspflicht, wo die Kinder auch zu Hause unterrichtet werden dürfen.

Täglicher Rassismus – nicht gewalttätig, nur herablassend

Der alltägliche Rassismus begegnet dem Menschen mit weißen Handschuhen und höflichem Lächeln. Er kennt die verpönten Ausdrücke und meidet sie bewusst. Man trifft ihn in der Schule, im Amt, in der Arbeit: überall dort, wo man einen Grund findet, jemanden nicht wegen seiner Qualifikationen und Fähigkeiten, sondern wegen Herkunft oder Hautfarbe zu beurteilen. So schimpfen die überlasteten Lehrer auf die Migranten-Kinder, die in Überzahl die Schulen bevölkern, statt nach Verantwortlichen für diese Verteilung oder nach neuen Wegen zu suchen. Die normalen Bürger, die sonst gegen die Braunen gerne mitmarschieren, warnen mitfühlend von bestimmten Gegenden, wo die Türken, Russen und so weiter wohnen. Der alltägliche Rassismus ist nicht gewalttätig. Er schaut lediglich auf den anderen von oben herab und sieht in ihm keinen gleichwertigen Menschen. Dort, wo es an der gleichen Behandlung und den gleichen Chancen fehlt, ist er zu Hause.

Türken haben es bewiesen

Wie ein Schluckauf kommen wieder und wieder die alten Thesen zurück, von Sarrazin zuletzt aufgewärmt, von erblicher Intelligenz oder vererbten kriminellen Neigungen. Dies soll die Missstände jeglicher Art erklären. Natürlich ist es einfacher, die Verantwortlichen für die eigene schlechte Politik woanders zu suchen, statt sich selbst um Lösungen zu bemühen. Diese Methode ist so alt wie der Mensch selbst. Als Schuldige nannte man abwechselnd: Juden, Zigeuner, Schwarze … Und das, noch bevor man über die Gene Bescheid wusste. Vor vielen Jahrhunderten gingen die Türken einen anderen Weg – und damit waren sie Sarrazin & Co. weit voraus. Sie ließen Jungen von 8 bis 18 Jahren, die sie sich aus verschiedenen Ländern holten, zu Janitscharen, den treuesten Truppen des Sultans, ausbilden. Damit haben sie auf eine spektakuläre Weise bewiesen, dass die Herkunft gar keine Rolle spielt, wenn man die Sache richtig anpackt.

 

Grazyna Gintner, Journalistin, hat in Polen gearbeitet und lebt seit Jahren in Deutschland. Kürzlich brachte sie unter dem Pseudonym Lydia Sanojar im BoD-Verlag den Märchenroman „In einem Atemzug“ heraus. Vorstehender Beitrag wurde zunächst in www.suite101.de veröffentlicht. Der Kontakt zur Autorin wird über Facebook gepflegt.

 

Wir danken Grazyna Gintner für die freundliche Genehmigung, ihren Text verwenden zu dürfen.

NAGEL-Redaktion – Ulla Keienburg’s Blog

 

In Hamburg befinden sich Office und Wohnsitz – mein Zuhause. Hamburg – meine Perle. Das Haupnest meiner Kleinfamilie.

Von hier aus toure ich durch die Welt – und erlebe sie: als Touristin, Counselor, Frau, Mutter, Freundin, Journalistin, Autorin oder Fotografin. Als Ulla begegne ich spannenden Menschen in faszinierenden Gegenden, lerne mit und von Weisen – großen und kleinen- und bin im Dialog mit Suchenden, halte die Eindrücke mitunter fest – in Bild und Wort – wohl wissend, dass kein Foto und kein Text die Tiefe, die Komplexität und die Emotionen des Erlebens wirklich wiedergeben kann.

Welcome to my reality!

Ulla Keienburg

 

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NAGEL-Redaktion – Normal besonders oder besonders normal?

Von Ulla Keienburg

„Eigentlich kann ich nicht meckern!“, sagte ich mitunter, nachdem ich mal wieder etwas durchgekämpft hatte. Seit mein Sohn vor genau 28 Jahren auf die Welt kam, sind Behörden und Organisationen bis heute eine echte Herausforderung. Was hatte ich zuvor mit Sozialamt, Versorgungsamt, Frühförderstellen, Sozialen Hilfsdiensten, Familienkassen und Pflegekassen zu tun? Als ein Mittelschichts- und Bildungsbürgerkind: NICHTS. Rein gar nichts.

Sehr schnell wurde das Antreten am Amt, das Vorsprechen, das Erklären, das Auflisten zur Routine. Anträge hier, Bestimmungen dort, Nachteilsausgleich, Bescheinigungen. Steuerberater, Sozialarbeiter, Arbeitsamtsangestellte, Jugendamtsmitarbeiterin, Chefs, Arbeitgeber hatten für meine Anliegen jeweils nur eine Ansage: „Das hatten wir so noch nicht!“ Meine Antwort war immer die gleiche: „Dann wird es Zeit!“

Ich nahm nicht hin, dass mein Sohn in einen „Sonderkindergarten“ sollte. Ich ersparte ihm die organisierte „Frühförderung“ und wollte keine vermeidbare „Besonderung“. Was ich aber gern für ihn wollte: Alles, was jedes andere, auch nicht behinderte, Kind angeboten bekam. Das sollte sich schnell als ein Marathon herausstellen – wenn die Streckenbezeichnung überhaupt passt, um die auszuhaltenden Anstrengungen, Respektlosigkeiten und Kränkungen zu beschreiben, die ich mir und uns damit eingehandelt habe.

An dem Tag, als „WIR“ mit der Diagnose „Downsyndrom“ etikettiert wurden, entschied ich, ihn nicht therapieren zu lassen. Die Chance sollte er bekommen, MIT mir, meiner Familie und Freunden, Erwachsenen wie Kindern zu lernen, zu erfahren, zu erproben, zu entwickeln, was heute „Soziale Kompetenz“ genannt wird.

Wie hätte er lernen sollen auszuhandeln, Rücksicht zu nehmen, Geduld zu haben, ggf. zurückzustecken, zu helfen, sich zu engagieren, gemeinsam etwas zu planen, zu bewerkstelligen, außer im Kontakt mit anderen Kindern und Erwachsenen? Therapie erschien mir zu „individuell“ und nicht sehr förderlich. Wenn mir die Therapeuten predigten, wie wichtig ihre Interventionen seien, sah ich schon einen Angepassten vor mir, der aus ihm zu werden drohte: Ausschließlich „behandelt“ – und damit „auf Spur gebracht“ – und stellte mir sein Leben vor: einsam, gebeugt und mit erlerntem Anspruch auf Besonderung. So entschied ich, alles daranzusetzen, ihn in einem „ganz normalen“ Kontext groß werden zu lassen. Für ihn war schon normal, ohne Vater groß zu werden. An Geschwister war also nicht zu denken. So landete er, dank für Neues offener Menschen, in einem Regelkindergarten – erst in der Nähe von Flensburg, später in Dortmund.

Er liebte die Kita und die Erzieherinnen – und die Kinder haben einander geliebt und gefordert, geärgert und besänftigt, gestritten und geschützt – er hatte dort das pralle Leben. Die Kinder agierten unreflektiert und respektierten seine Grenzen – und er die ihren. Und wenn mal nicht – dann gab es halt Krach und sie hatten zusammen etwas Neues gelernt. Welch ein Wunder. Und alle hielten das für normal.

Das Land spendierte jeweils eine zusätzliche Stelle zwecks Förderung – und wir vereinbarten , dass sie ihn in Ruhe lassen und somit die gewonnene Zusatzkraft im Kita-Alltag aufgehen konnte.

Ich habe ihn mitgenommen auf Demonstrationen gegen Atomkraft, Kürzungen bei der Bildung, habe mit ihm für Integration gekämpft, bin mit ihm Motorrad gefahren; er war mit in der Sauna, auf dem Sportplatz, zum Surfen, zum Tanzen und im Sonntags-Familien-Konzert. Letzteres führte zu größten Protesten, an mich gerichtet. Motto: Was hat ein behindertes Kind in einem klassischen Konzert zu suchen? Alles lebend überstanden! Er wusste früh, welche Arbeit im Haushalt anfällt, hat auch seine Aufgaben darin bekommen und erledigt. Nicht immer freiwillig – das aber fand ich normal. Die Polizisten waren unsere Freunde. Sie warteten auch keine 24 Stunden, wenn ich verzweifelt anrief, um mitzuteilen, dass er mal wieder auf eigene Faust unterwegs war und auf seinen Streifzügen nicht zu finden war.

Er hat extrem von seinen Erkundungstouren profitiert. Das habe ich zwar in dem Moment nicht so empfunden – aber im Rückblick …

Das Drama mit der Schulzeit erspare ich dem geneigten Leser. Als Fazit: Wir haben es überstanden!!! Mit viel Krach und Auseinandersetzungen, die nicht immer das Ziel hatten, sich wieder zusammenzusetzen, zumindest nicht von beiden Seiten. Irgendwann war sie einfach vorbei – die Pflichtzeit in der Abrichtungsanstalt. 28 Jahre alt wird er heute. An diesem Tag bin ich immer wieder etwas melancholisch. Aber auch stolz.

Als er 17 Jahre alt war, habe ich für die Lebenshilfe Zeitung einen Artikel geschrieben: „Wir haben zusammen Laufen gelernt – und jetzt geht jeder seiner Wege!“

Irgendwann bekam ich mal diese Geschichte geschenkt:

Vier Hände und ein Herz voll Liebe (von Erma Bombeck)

Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, nach welchen Gesichtspunkten die Mütter dieser Kinder ausgewählt werden?

Ich stelle mir Gott vor, wie er über der Erde schwebt und sich die Werkzeuge der Arterhaltung mit größter Sorgfalt und Überlegung aussucht. Er beobachtet genau und diktiert dann seinen Engeln Anweisungen ins riesige Hauptbuch. Neumann, Lisa: Sohn. Schutzheiliger: Mathias. Förster, Ute: Tochter, Schutzheilige: Cäcilie, Bollman, Karola: Zwillinge. Schutzheiliger? Gebt ihr Gerhard, der ist es gewohnt, dass geflucht wird. Schließlich nennt er dem Engel einen Namen und sagt lächelnd: Ihr gebe ich ein Kind mit einer Behinderung. Der Engel wird neugierig: „Warum gerade ihr, oh Herr? Sie ist doch so glücklich.“ „Eben deswegen,“ sagt Gott lächelnd. „Kann ich einem behinderten Kind eine Mutter geben, die das Lachen nicht kennt? Das wäre grausam!“ „Aber hat sie denn die nötige Geduld?“, fragt der Engel. „Ich will nicht, dass sie zuviel Geduld hat, sonst ertrinkt sie in einem Meer von Selbstmitleid und Verzweiflung. Wenn der anfängliche Schock und Zorn erst abgeklungen sind, wird sie es tadellos schaffen. Ich hab sie heute beobachtet. Sie hat den Sinn für Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, die bei Müttern so selten und so nötig sind. Verstehst du: Das Kind, das ich ihr schenken werde, wird in seiner eigenen Welt leben. Und sie muss es zwingen, in der ihren zu leben, das wird nicht leicht werden.“ „Aber, Herr, soviel ich weiß, glaubt sie nicht einmal an dich.“ Gott lächelt. „Das macht nichts, das bringe ich schon in Ordnung. Nein, sie ist hervorragend geeignet. Sie hat genügend Egoismus.“ Der Engel ringt nach Luft. „Egoismus? Ist das denn eine Tugend?“

Gott nickt. „Wenn sie sich nicht gelegentlich von dem Kind trennen kann, wird sie das alles nicht überstehen. Diese Frau ist es, die ich mit einem Kind beschenken werde, das besondere Hilfe braucht. Sie weiß es zwar noch nicht, aber sie ist zu beneiden. Nie wird sie ein gesprochenes Wort als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Nie einen Schritt als etwas Alltägliches. Wenn ihr Kind zum ersten Mal Mama sagt, wird ihr klar sein, dass sie ein Wunder erlebt. Wenn sie ihrem blinden Kind einen Baum, einen Sonnenuntergang schildert, wird sie ihn so sehen, wie nur wenige Menschen meine Schöpfung sehen. Ich werde ihr erlauben, alles deutlich zu erkennen, was auch ich erkenne – Unwissenheit, Grausamkeit, Vorurteile –, und ich werde ihr erlauben, sich darüber zu erheben. Sie wird niemals allein sein. Ich werde bei ihr sein, jeden Tag ihres Lebens, jede einzelne Minute, wie sie meine Arbeit ebenso sicher tut, als sei sie hier neben mir.“ „Und was bekommt sie für einen Schutzheiligen?“ fragt der Engel mit gezückter Feder. Da lächelt Gott. „Ein Spiegel wird genügen.“

Ein solcher Spiegel war mein Sohn mir, ist er mir und wird er mir bleiben. Dafür bin ich dankbar und fühle mich nach wie vor „blessed“ … hört sich besser an als „gesegnet“.

Zum Geburtstag hat er sich von mir Tickets für ein Handballspiel der SG Flensburg-Handewitt gewünscht. „Eigentlich kann ich nicht meckern!“, denke ich wieder – schmunzelnd und stolz. Und danke von Herzen allen, die es normal fanden und finden, dass wir wohl beide besonders sind!

Erstveröffentlichung: Ulla Keienburgs’s Blog: Welcome to my Reality! 17. Oktober 2011. Wir danken Ulla Keienburg für die freundliche Genehmigung, den Text hier zu verwenden!

 

Ulla Keienburg über sich:

„In Hamburg befinden sich Office und Wohnsitz – mein Zuhause. Hamburg – meine Perle. Das Haupnest meiner Kleinfamilie.

Von hier aus toure ich durch die Welt – und erlebe sie: als Touristin, Counselor, Frau, Mutter, Freundin, Journalistin, Autorin oder Fotografin. Als Ulla begegne ich spannenden Menschen in faszinierenden Gegenden, lerne mit und von Weisen – großen und kleinen – und bin im Dialog mit Suchenden, halte die Eindrücke mitunter fest – in Bild und Wort – wohl wissend, dass kein Foto und kein Text die Tiefe, die Komplexität und die Emotionen des Erlebens wirklich wiedergeben kann.“

 

Und wir – der ABA Fachverband – möchten den einen oder anderen „Ausflug“ auf Ullas Seiten wärmstens empfehlen. Dank sozialer Netzwerke im Internet konnten wir uns kennenlernen.

NAGEL-Redaktion – Beobachtete Bewegung – Bewegte Beobachtung – Grundsätzliche Überlegungen

Von Ulla Keienburg 

Die Diskussionen um Bildung bleiben bewegt. Kaum wieder am Schreibtisch, erinnere ich mich an einen Text, der nicht erst einmal publiziert wurde. Es scheint Erkenntnisse zu geben, die relativ unabhängig von der Zeit sind.

Beobachtete Bewegung – Bewegte Beobachtung – Grundsätzliche Überlegungen

Wenn Tränen tropfen, glauben wir, ein Mensch sei traurig. Das stimmt, statistisch gesehen, sicherlich auch. Doch haben wir diesen Menschen gefragt? Oder haben wir in unseren Biografien gelernt, etwas anzunehmen und auf der Basis dieser Annahmen zu (re-)agieren? „Ich habe gedacht, du hättest gedacht, ich hätte gedacht … Und deshalb habe ich …“ Wie oft verlieren wir uns in Erklärungen! Wer hat heute den Mut, hinzuschauen? Was könnten wir alles entdecken, Großes, Kleines, Wichtiges, wenn wir uns die Zeit nähmen, hinzuschauen, hinzuhören, hinzufühlen, zu fragen?

Kinder haben uns gegenüber einen riesigen Vorteil. Sie lernen viel schneller, sie verarbeiten zügiger, sie sind aufmerksamer, mutiger, neugieriger – wenn wir Großen sie lassen. Die Natur hat sich schon etwas dabei gedacht, wenn sie den Kindern in den ersten vier Jahren abverlangt – und gleichzeitig die psychischen und hirnphysiologischen Voraussetzungen dafür geschaffen hat –, so schnell und so viel wie möglich zu lernen, unter welchen Bedingungen auch immer.

Die Hirnforschung verifizierte in den letzten Jahren mit viel Aufwand, was Freud und Kollegen längst als Grundlage ihrer Betrachtung des Menschen und des Umgangs mit ihm verstanden. Die ersten Jahre sind die entscheidenden. Nun bekommen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie endlich die Wertschätzung, die sie schon lange verdient haben. Vertreterinnen und Vertreter dieser Disziplinen hatten bereits gewagt, „mindestens ein halbe Stunde am Tag das Gegenteil von dem zu denken als das, was in der Wissenschaft als gesichert gilt“, um Albert Einstein zu zitieren. Sie hatten gewagt, hinzuschauen, haben viele Menschen beobachtet, haben das ausführlich getan, haben sich davon bewegen lassen, haben erkannt und tun das heute ebenso.

Kinder lernen anders, schneller und mehr als wir Erwachsenen. Sie sind die Meister ihrer Lernprozesse, solange sie in Beziehung zu sich, zu den Menschen, zu den Dingen und zur Natur sind. Dann können sie nichts anderes als lernen. Nicht lernen geht nicht.

So haben Kinder seit Olims Zeiten gelernt, was sie sollen, nicht unbedingt, was sie wollen und hätten lernen können. Normen entstanden. Keiner weiß so recht, wie. Naturverhältnisse, Kulturen, Traditionen, politische Verhältnisse und ihnen entsprechende Menschenbilder waren es, die diese Normen beeinflussten.

Im vorletzten Jahrhundert bereits hatten Fröbel und Pestalozzi dafür plädiert, Kinder als aktive Mitgestalter ihrer Lernprozesse zu sehen, hatten erkannt, dass Kinder alles, was man ihnen beibringt, nicht mehr selbst lernen können. Später wurden Inhalte, Bewegungsformen, Regeln, Zeiten und Ziele festgelegt, aus denen fast jeder herausfallen muss, weil kaum ein lebendiger Mensch hineinpasst.

Angst vor Eigenständigkeit und Überraschendem hat Menschen im Bereich der Bildung und Betreuung verführt, zu regulierenden Maßnahmen zu greifen, anstatt die Lernprozesse, die Kinder durchlaufen, zu achten und sie zu steuern, indem sie Umwelten der Kinder zu Lernumwelten werden lassen. Andererseits: Der Mensch ist in seinem Berufsalltag einem hohen Maß an Fremdbestimmung ausgeliefert. Wie soll er, eingedenk dessen, gegenüber emotionalen und unkonventionellen Lernprozessen von Kindern offen sein?

Grundannahmen über Kinder

Die Psychomotorik z.B. geht davon aus, dass jeder Mensch sich jede Erfahrung merkt, dass sich jede Erfahrung in den Bewegungen niederschlägt, dass man selbst in späten Jahren zum Beispiel noch den Schmerz fühlt, den ein aufgeschlagenes Knie verursachte, eine Ohrfeige oder ein verschlucktes Apfelstück. Aber auch ein Streicheln, einen Gute-Nacht-Kuss. Der Körper speichert jede Erfahrung psychischer und physischer Natur.

Die Bewegung ist das Erste und Wichtigste, das Kinder entwickeln. In ihren ersten Lebensjahren lernen sie, den Kopf zu heben, sich abzustützen und aufzusetzen, zu greifen, zu sitzen, zu krabbeln, zu laufen. Zu essen und zu trinken. Jeder Entwicklungsschritt geschieht, weil sie etwas erreichen wollen.

Häufig werden die Kleinen hingesetzt, bevor sie sich aufsetzen können. Sie werden aufrecht durch die Weltgeschichte getragen, bevor sie sich selbst aufrichten können. Sie werden aufgestellt, ohne dass sie eine Motivation oder gar die körperlichen Voraussetzungen haben, sich an etwas hochzuziehen, geschweige denn die psychische Stabilität, die Eindrücke zu verarbeiten, die sie nun empfangen.

Jede körperliche Entwicklungsphase ist gekoppelt an die psychische und intellektuelle Entwicklung. Kinder, die nicht die Chance hatten, sich ausgiebig zu bewegen, selbst zu entdecken, wie man sich hinsetzt, läuft, krabbelt, haben nachweislich später Schwierigkeiten mit der Sprach- und Zahlenwelt. Wem zuliebe also setzen wir die Kinder hin, beschleunigen wir via Krankengymnastik die Bewegungsentwicklung?

Kinder brauchen ihre Zeit. „Entwicklungsrückstände“, also eine defizitäre Betrachtung und Bewertung der kindlichen Entwicklung, sind Grund für die endlosen „Reparatur“-Maßnahmen, die es niemand anderem als den Erwachsenen ermöglichen sollen, die Eigenwilligkeit der Kinder leichter auszuhalten. Erst müssen die Kinder den Erwachsenen zuliebe stehen, bevor sie sich selbst hinstellen können, und dann müssen sie zur Therapie, weil ihnen Entwicklungsschritte wie Krabbeln oder Aufrichten fehlen, was sich womöglich auf die Sprachentwicklung oder die feinmotorischen Fähigkeiten auswirkt. Immer öfter müssen sie etwas tun, das ihrer natürlichen Entwicklung nicht entspricht. Eine gemeine Falle…

Grundlegende Kenntnisse über die körperliche und seelische Entwicklung der Kinder sollten verpflichtend sein für Menschen, die mit Kindern arbeiten.

Grundannahmen über Menschen, die mit Kindern arbeiten

Menschen, die mit Kindern arbeiten, müssen sich selbst begegnen, um zu einer befriedigenden Bewältigung ihres (Arbeits-)Alltags zu gelangen. Da sie dies aufgrund eines hohen Maßes an Fremdbestimmung nicht gewohnt sind und es, verschiedener Ängste wegen, nicht von sich aus tun, muss einer solchen Begegnung mit sich selbst ein hohes Maß an Versorgung vorausgehen.

Erzieherinnen und Erzieher, Pädagoginnen und Pädagogen haben ihren Beruf und den entsprechenden Arbeitsbereich aufgrund ihrer persönlichen Geschichte gewählt. Wenn auch zunächst vielleicht unbewusst, streben sie damit eine Begegnung mit ihrer eigenen Person an.

Über die grundlegenden emotionalen und fachlichen Fähigkeiten, um diese Begegnung zu vollziehen und sie für sich, im Team und für die Arbeit mit den Kindern und deren Eltern zu nutzen, verfügen sie. Deshalb verstehen wir eine Arbeitsweise wie zum Beispiel in diesem Workshop als „Verständigungsangebot an als zumindest potenziell kompetent und aktiv gedachte Persönlichkeiten“1. Daraus rekrutieren sich auch die Kompetenzen, die wir den Menschen, die in dem wichtigen Bereich der frühkindlichen Förderung tätig sind, zutrauen und abfordern. Sie kennen den Katalog der Kompetenzen aus den Zielen der frühkindlichen Förderung für Kinder:

● Wahrnehmungskompetenzen;
● Bewegungskompetenzen;
● emotionale Kompetenzen;
● soziale Kompetenzen.

Die genannten Kompetenzen beziehen sich jedoch nicht ausschließlich auf prüfbare Fähigkeiten der Kinder. Jeder beobachtende Mensch, insbesondere in Lernkontexten, sollte sie auch bei sich selbst überprüfen, verifizieren und erweitern.

Dazu schlage ich folgende Fragen vor:

● Welche Grundhaltungen bewegen mich, treiben mich an?
● Kann ich die Unterschiedlichkeit der Menschen wirklich akzeptieren?
● Nach welchen Vorgaben wurde ich selbst erzogen?
● Was rührt der Blick, insbesondere der längere und zielgerichtete, auf das mir anvertraute Kind in mir selbst an?
● Definiere ich mich über die Erfolge, die ein Kind dank meiner „Förderarbeit“ erbringt?
● Wie nah bin ich damit dem Bild der Mutter, die das „gelungene“ Kind für ihre „Leistung“ und das „gestörte“ Kind für ihr „Versagen“ hält?
● Welchen Druck erzeugt es bei mir, Kinder fördern zu sollen?
● Wozu will ich Kinder „fördern“?
● Wonach halte ich Ausschau, wenn ich ein Kind beobachte?
● Welche Ressourcen entdecke ich, welche bleiben mir vielleicht verborgen?
● Was verstellt möglicherweise meinen Blick?
● Wie viel mehr achte ich auf Probleme als auf Lösungen?
● Was bedeutet für mich Elternarbeit? Arbeit mit Eltern? Bearbeitung von Eltern? Gar eine Last, eine Störung, Kontrolle? Oder Hilfe, Partnerschaft?
● Wie weit ist der Beruf der Erzieherin für mich ein Kompromiss zwischen halbmännlichem Karrierewunsch und exklusiver Mutterschaft? Immerhin liegt das Erzieherinnendasein so dicht am „Mutterarbeitsbereich Liebe“, dass die Tätigkeit inklusive der relativ geringen Bezahlung am unteren Ende des pädagogisch-professionellen Bereichs rangiert.
● Gestehe ich mir Ängste, Inkompetenz, Unsicherheit zu und (wie) äußere ich diese?
● Die Bildungsvereinbarungen verpflichten mich plötzlich zur Beobachtung und Dokumentation von kindlichen Lernprozessen. Kann ich überhaupt beobachten, ohne selbst beteiligt zu sein?

Grundannahmen zur Beobachtung

„Dabei geht es zunächst darum, das, was uns bewegt, zuzulassen und bewusst zu beschreiben. Dadurch sind wir eng mit dem Geschehen verbunden; wir spüren, wenn uns das Verhalten eines Kindes berührt, eine ganz persönliche Nähe zu den Ereignissen. Wir werden an unsere Kindheit erinnert, Ereignisse, die wir schon vergessen haben, werden neu belebt, aber auch Lebensprobleme, die uns im Alltag bewegen, tauchen gleichsam in der Beobachtungssituation auf und beschäftigen (bewegen) uns: Wir nehmen Ähnlichkeiten zwischen unserer und der Situation des beobachteten Kindes wahr und merken, dass das Geschehen auch mit uns etwas zu tun hat. Dieser Blick kann uns den Blick auf die Struktur der Entwicklung des Kindes versperren. (…) Wir sind keine Apparate, die seelenlos, unbeteiligt, ,objektiv΄ registrieren, was ist. Wir sind immer beteiligt, das heißt, Teile des Prozesses.“2

Was bedeutet das für uns?

● Dass wir unser pädagogisches Verhalten und unsere Rolle regelmäßig überdenken.
● Dass wir den Mut haben sollten, die Ereignisse auch aus der Perspektive der Kinder, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu betrachten.
● Dass wir uns als Lernende verstehen.
● Dass wir uns als Begleiterinnen und Begleiter der Kinder verstehen.
● Dass wir uns die Frage stellen, was uns persönlich im schlimmsten und im besten Falle passiert, wenn wir unsere Haltung auf diese Weise verändern.
● Dass wir unser Handeln jederzeit auch in Frage stellen.

Mütter, Väter, Erzieherinnen, Erzieher und andere Erwachsene schaffen ein förderliches Umfeld für Kinder, wenn sie selbst in den Spiegel schauen, ihre eigenen Begrenzungen, Chancen und Fähigkeiten erkennen und zunehmend unabhängiger davon die Potenziale der Kinder wahrnehmen, ihnen also mehr Raum, Zeit und Gelegenheit für selbsttätige Erfahrungen schaffen und lassen.

Aufgabe der Erwachsenen ist es, gesellschaftliche Vereinbarungen zu kennen und sie verantwortlich als Ziel und Rahmen anzusehen. Wenn Erwachsene sich als Lernende verstehen und mit Kindern dem Bedürfnis nachgehen, sich zu entwickeln, steht Bildung tatsächlich nichts im Wege.

In dem rasanten Tempo, in dem Wissen veraltet, ist Bildung die wichtigste Grundlage, um Strategien zu entwickeln, mit denen der Mensch, ob klein oder groß, sich neues und notwendiges Wissen aneignen kann. Wir als Erwachsene haben die Aufgabe, uns selbstverständlich als Vorbild zu verhalten. Das sollte beinhalten, dass wir uns als Lernende zeigen, dass wir akzeptieren, dass nicht alles gelingt, dass wir warten, wenn es sich lohnt, dass wir uns ein Bewusstsein über unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, Chancen, Wünsche und Begrenzungen verschaffen.

Grundannahmen zur Selbstbeobachtung

● Wie habe ich mich selbst bei der Beobachtung erlebt?
● Was fühle ich?
● Was denke ich?
● Was halte ich für gefährlich? Ist es das wirklich? Woher weiß ich das?
● Um was geht es eigentlich?

Die Selbstbeobachtung ist die wichtigste Erfahrung und ein unverzichtbares Instrument in der Arbeit mit Kindern, insbesondere mit ganz kleinen Kindern. Niemand hat diese Forderung in seiner Ausbildung zur Pädagogin, zum Pädagogen – welcher Kategorie auch immer – angetragen bekommen. Erst der therapeutische Bereich hat als notwendig erachtet, die eigene Biografie als Grundlage für die Struktur der eigenen Handlungs- und Denkweisen und die Berufswahl zu erachten und sie entsprechend zu reflektieren. Erst durch den Bereich der therapeutischen Arbeit sind das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich zu entwickeln, identifiziert worden. Die Tradition der Supervision hat sich daraus entwickelt. Leider wurde sie lange zum Zweck der Intervention genutzt und wird erst gewährt, wenn intern unlösbare Probleme in Einrichtungen und bei Trägern auftauchten.

Doch heute verfügen wenige einzelne Menschen in den Einrichtungen über entsprechende Ausbildungen und lassen ihre (Er-)Kenntnisse in ihre Arbeit einfließen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Instrumente, die zunächst zur eher unbeteiligten Beobachtung von Kindern und deren Lernprozessen gedacht waren, auch als Selbstbeobachtungsinstrumente einsetzen. Bildungs- und Lerngeschichten zum Beispiel kann jedes Team, jede Erzieherin und jeder Erzieher für sich als Spiegel benutzen. Teamspiele wurden entwickelt, die zur Reflexion der Stimmung in den Teams dienen. Mitarbeiterbesprechungen werden genutzt, um einander zu spiegeln.

Eines ist sicher: Die Kinder sind mit ihrem sichtbaren Verhalten Spiegel der Stimmung und Haltung in den Einrichtungen, Spiegel der Beziehungen zwischen den Erzieherinnen und Eltern, und sie sind ein Spiegel der inneren Haltung ihnen gegenüber. Wenn wir das akzeptieren, bleibt uns nur, Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen zu finden:

● Warum sehe ich, was ich sehe, und wozu sehe ich es so, wie ich es sehe?
● Warum rege ich mich auf?
● Warum und wozu bewegt mich das Erkannte?

Wir werden schnell hinter alte Setzungen kommen, schnell auf die Werte, die uns, vielfach unbewusst, regieren. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Die uns anvertrauten Kinder zeigen deutlich, welchen Interessen sie gerade nachgehen.

Unsere Aufgabe ist es, ihre Handlungslogik zu entschlüsseln. Nur dann können wir sie begleiten und Prozesse steuern mit dem Blick auf das Ziel. Wenn wir diese Aufforderung ernst nehmen, sollten sich bald unsere Angebote an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder und der jeweiligen Situation orientieren.

Literatur

Dorothee Eichendorf und Ulla Keienburg „Beobachtete Bewegung – bewegte Beobachtung“ in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) „Guck mal“, ©Verlag Bertelsmann Stiftung , Gütersloh 2005, S. 124-136

Westphal, Erich: Bewegen als Lebensweise. Unveröffentlichtes Manuskript, Universität Oldenburg, 1989

Keienburg, Ulla: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998, 61ff.

Hunger, Ina und Zimmer, Renate (Hg.): Bildungschancen durch Bewegung – von früher Kindheit an. Verlag Hofmann, ISBN 978-3-7780-8620-9

Fußnoten

1 Funke, J. Zit in. Keienburg, U.: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998

2 Westphal, E. Zit. in: Keienburg, U.: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998

 

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NAGEL-Redaktion – Inklusive Grundschule: ein starkes Glied in der „Kommunalen Präventionskette“ gegen Kinderarmut

Von Dr. Brigitte Schumann

Deutschland tut zu wenig für die frühkindliche Bildung und vernachlässigt geradezu sträflich die präventive Förderung von Kindern in Armutslagen. Aus dem Mangel an frühzeitiger öffentlicher Verantwortungsübernahme für das Wohlergehen aller Kinder erwachsen den Kommunen, den Ländern und dem Bund tendenziell steigende Kosten wegen teurer und ineffektiver nachsorgender Unterstützungsmaßnahmen für unzureichend qualifizierte und integrierte Jugendliche.

Deshalb haben sich AWO, DGB, GEW, Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen 2009 zu einem landesweiten Bündnis gegen Kinderarmut zusammengeschlossen: Sie fordern die staatliche Pflicht zur Prävention. Der politische Appell des Bündnisses „Zum Auf- und Ausbau kommunaler Präventionsketten“ ist nicht ungehört geblieben. Die Landesregierung von NRW hat am 9. November 2011 in einer Auftaktveranstaltung das Modellvorhaben „Kommunale Präventionsketten“ ins Leben gerufen.

In dem folgenden Beitrag geht es darum, die Funktionsweise der Präventionskette zu skizzieren, das Verhältnis von Prävention und Inklusion zu bestimmen und die inklusive Grundschule als unverzichtbares Glied innerhalb der Präventionskette bildungspolitisch einzufordern.

Die Idee der Präventionskette

Sie orientiert sich an dem erfolgreichen Projekt „Mo.Ki – Monheim für Kinder“, das 2002 startete. Die Kommune am Rhein hat zusammen mit der AWO Niederrhein beispielhaft eine kind-/jugendbezogene durchgängige (Armuts-)Präventionskette entwickelt. Diese will von Geburt an bis zum Übergang Schule-Beruf Begleitung und Unterstützung für besonders gefährdete Kinder und Jugendliche und deren Familien sicherstellen. Das Motto lautet: frühe Förderung und Partizipation anstelle von später Krisenintervention. Das Konzept zielt auf die Vermeidung von Armutsfolgen – wie z.B. hohe Gesundheitsrisiken, soziale und emotionale Entwicklungsprobleme, geringe Bildung – und auf die Gewährleistung gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe.

Heute arbeiten mehr als 50 Netzwerkpartner mit der Stadt Monheim und der AWO zusammen. Sie werden wissenschaftlich begleitet und unterstützt von dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS – Frankfurt a.M.). In Kooperation von öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, der Familienhilfe, des Gesundheitswesens und des Bildungssystems werden praxisnahe und bedarfsgerechte Maßnahmen im Rahmen eines abgestimmten Gesamtkonzeptes für den Einzelfall entwickelt, das die Situation des Kindes bzw. des Jugendlichen und die Stärken und Schwächen der zugehörigen Familie berücksichtigt. Die Netzwerksteuerung liegt in der Hand der Kommune, die per Gesetz für die Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich ist. Die Steuerung basiert auf Verhandlung und Abstimmung mit den Kooperationspartnern und entwickelt sich an den Aufträgen, die sich die Partner geben.

Gerda Holz, die Verantwortliche für die wissenschaftliche Begleitung durch das ISS, betont: „Präventionsnetzwerke sind Produktionsnetzwerke.“ Präventionsorientierte Produkte sind z.B. der Begrüßungsbesuch bei Geburt eines Kindes mit einem verlässlichen bedarfsgerechten Angebot für die „Neueltern“, die systematische frühe Förderung ab Geburt in Gruppen, Krippen, KiTas als Grundlage für Bildungsteilhabe von Anfang an und einen erfolgreichen Schulverlauf sowie die besondere Unterstützung an den Übergängen des Bildungssystems KiTa – Grundschule, Grundschule – weiterführende Schule, Schule – Beruf.

Das Monheimer Projekt versteht sich als ein Erfolgsmodell. Die Sprachkenntnisse und die Gesundheitsdaten armer Kinder haben sich verbessert. Die Zahl der Schulabbrecher ist gesunken, immer mehr jungen Menschen gelingt der Einstieg in das Berufsleben.

Das Modellvorhaben der Landesregierung, das auch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden soll, will bis zu 15 Kommunen in NRW darin unterstützen, ebenfalls ressort- und institutionsübergreifende Netzwerkstrukturen für präventive sozialräumliche Konzepte zur Unterstützung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien aufzubauen. Die Landesregierung hat beim Start den Willen bekundet, nach Auswertung des Modellvorhabens das Projekt in die Fläche bringen zu wollen.

Die Landesregierung von NRW hat sich zu einer sozialen Präventionspolitik und damit zu einem Paradigmenwechsel in der Sozial-, Kinder- und Bildungspolitik bekannt. Sie setzt ein wichtiges Signal für andere Bundesländer. Angesichts der Tatsache, dass nach Angaben des Bildungsberichts Ruhr, dem ersten regionalen Bildungsbericht in Deutschland, allein 30 Prozent der Kinder in der Metropole Ruhr zwei Jahre vor der Einschulung einen erheblichen Sprachförderbedarf haben, ist offensichtlich, dass die neue Landesinitiative für sich allein nicht greifen kann. Sie muss unterfüttert werden mit abgestimmten ressortübergreifenden Maßnahmen des Landes und der Kommunen. Das kostet zusätzliches Geld. Vor dem Hintergrund kommunaler Nothaushalte und begrenzter Möglichkeiten des Landeshaushalts muss auch der Bund mit ins Boot geholt werden.

Zum Zusammenhang von Prävention und Inklusion

Soziale Inklusion ist ein allgemeines Menschenrecht und meint das Recht auf ein selbstverständliches Zusammenleben und eine gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen, unabhängig von sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Religion, Geschlecht, Fähigkeiten und Behinderungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention macht dieses Recht aus gutem Grund explizit geltend für die besonders stark von sozialem Ausschluss betroffene Gruppe der Menschen mit Behinderungen. Es aber auf diese Zielgruppe zu verkürzen, wie dies derzeit im Diskurs der deutschen Bildungspolitik üblich ist, ist unzulässig.

Da Prävention auf die Vermeidung und Abwehr von Benachteiligung, Behinderung und sozialer Exklusion abzielt, ist sie ein unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Inklusionskonzeptes. Sie ist – positiv gesprochen – „vorsorgende Inklusion“ und muss besonders in der lernsensiblen Phase der frühkindlichen Bildung und der sich anschließenden Phase der Grundschulbildung stark gemacht werden. Wegen der untrennbaren Verbindung zu Inklusion besteht auch ein menschenrechtlicher Anspruch auf Prävention. Der Staat ist dazu verpflichtet, ihn so auszugestalten, dass er individuell einklagbar ist und von keinem Kämmerer mehr kassiert werden kann.

Die UNESCO hat in ihrer Veröffentlichung „Inklusion- Leitlinien für die Bildungspolitik“ (2009) diesen Zusammenhang pointiert herausgehoben, wenn sie dort betont: „Das Fundament für Inklusion wird durch einen frühen Bildungsbeginn gelegt, denn die frühe Kindheit ist – wie die kognitiven Neurowissenschaften belegen – eine wichtige Phase für das Erlernen kognitiver Fähigkeiten. Gut konzipierte Programme zu frühkindlicher Förderung sind also zwingend erforderlich. Insbesondere für die am stärksten benachteiligten Kinder.“ Natürlich werden auch emotionale und soziale Kompetenzen in dieser Phase angebahnt.

Um dem Präventionsgedanken auf allen politischen Handlungsebenen – Bund, Länder, Kommunen – endlich zum Durchbruch zu verhelfen, ist unbedingt auf die menschenrechtliche Begründung für eine staatlich verpflichtende Prävention zu verweisen.

Die Grundschule heute – eine Schule für fast alle Kinder

Der Grundschule kommt innerhalb der Präventionskette eine besonders wichtige Bedeutung zu. Mit ihr beginnt das verpflichtende formale Lernen. Sie hat nicht nur die Grundbildungskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln, sondern auch grundlegende soziale, personale Kompetenzen und eine positive Einstellung zum Lernen zu fördern.

Zu Recht darf die deutsche Grundschule für sich in Anspruch nehmen, dass sie anders als die weiterführenden Schulen im gegliederten Schulsystem erfolgreiche pädagogische Konzepte im Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Kinder entwickelt hat. Dennoch muss einschränkend konstatiert werden, dass bis heute Kinder mit Behinderungen keinen selbstverständlichen Zugang zu ihr haben und sie derzeit noch nicht allen Grundschulkindern eine solide Grundlage für eine erfolgreiche Schulbiografie sichert.

Kinder aus sozial benachteiligten Milieus scheitern in und an der Grundschule, weil es an Vorsorge für sie fehlt. Sie werden aufgrund verpasster „Zeitfenster der Entwicklung“ im Elementarbereich häufiger als andere Kinder mit umfangreichem Förderbedarf eingeschult. Unter den bestehenden Rahmenbedingungen kann die Grundschule diesen Bedarf nicht adäquat abdecken. Das frühe Scheitern von Grundschulkindern bedeutet in der Regel, dass sie lebenslang in ihren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt bleiben.

Die jüngste Literalitätsstudie LEO 2011 der Universität Hamburg im Auftrag des Bundesbildungsministeriums hat ergeben, dass von den 18-29-Jährigen etwa 13 Prozent zu den funktionalen Analphabeten gehören. Ihre begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen reichen nicht aus für eine erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Im Rückschluss heißt das: Ein relativ großer Teil hat als Kind in der Grundschule keine hinreichenden Kenntnisse im Lesen und Schreiben erworben und die nachfolgenden Schulen haben ein nachholendes Lernen nicht ermöglicht.

Aufschlussreich ist auch eine Langzeitstudie über Armutsfolgen bei Grundschulkindern, die das ISS im Auftrag des AWO- Bundesverbandes durchgeführt hat. Es ist die erste Studie dieser Art in Deutschland. Der Endbericht wurde im Dezember 2005 vorgelegt. Danach unterscheiden sich die Bildungsverläufe von armen und nicht-armen Grundschulkindern erheblich.

Armen Kindern bleiben erfolgreiche Bildungswege weitgehend verschlossen. Jedes dritte in Armut lebende Kind bleibt schon in der Grundschule sitzen und nur 4 Prozent der armen Kinder erreichen das Gymnasium. Das Risiko von armen Kindern, während oder am Ende ihrer Grundschulzeit in eine Förderschule für Lernen, emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache überwiesen zu werden, ist dagegen dreieinhalb mal so groß wie das von Kindern, die nicht in Armut leben. Eine zuverlässige wissenschaftliche Definition von „Lernbehinderung“ liegt dabei nicht vor. Sie wird ausschließlich relational als negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen der Kinder der betreffenden Klasse, Schule oder des betreffenden Altersjahrgangs bestimmt.

In der Förderschule bleiben Kinder mit Leistungsschwächen und Verhaltensproblemen unter sich und lernen in einem sozial entmischten, relativ anregungsarmen und mit vielen sozialen Problemen belasteten Lernmilieu. Sie sind, wie in wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder nachgewiesen, in ihrem Kompetenzerwerb dadurch extrem benachteiligt und, wie die Statistiken der Schulabschlüsse ausweisen, zur Erfolglosigkeit verurteilt. In der modernen Wissensgesellschaft stellen Förderschulabsolventen als gering Qualifizierte eine normabweichende Minderheit dar und sind stärker als in früheren Zeiten von Stigmatisierung und sozialem Ausschluss bedroht.

2008 waren nach einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm mehr als die Hälfte der Jugendlichen ohne Abschluss Förderschüler, rund ein Viertel der Schulverlierer gingen auf eine Hauptschule. Klemm fand in seiner Studie auch heraus, dass rund die Hälfte der Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, diesen später nachholen. Dies gelingt ihnen vor allem im Übergangssystem, das für schwer vermittelbare Jugendliche geschaffen wurde, um deren Ausbildungsreife zu fördern. Das sei einerseits ein Erfolg, schreibt Klemm, er werde jedoch teuer erkauft. Der Experte schätzt die zusätzlichen Kosten auf über 200 Millionen Euro pro Altersjahrgang. „Würden diese Ressourcen im allgemeinbildenden Schulwesen präventiv eingesetzt, könnte vielen Schülern das Erlebnis des Scheiterns und die Vergeudung von Lebenszeit erspart bleiben.“

Die inklusive Grundschule – eine Schule für alle Kinder

Die inklusive Schule in einem inklusiven Schulsystem ist eine völkerrechtliche Verpflichtung, zu der sich die Bundesregierung und mit ihr die Länder durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention bekannt haben. Das Fundament dafür muss in der Primarstufe mit der inklusiven Grundschule gelegt werden.

Die inklusive Grundschule ist eine Schule für alle Kinder. Kein Kind wird wegen seiner Lernprobleme, seiner emotionalen und sozialen Entwicklung, seiner Hochbegabung, seiner Behinderung auf eine Förderschule überwiesen. Kein Kind wird kategorisiert. Jedes Kind ist unabhängig von seiner sozialen Herkunft, seiner ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit willkommen und wird in seiner individuellen Lernentwicklung im gemeinsamen Unterricht gefördert. Die Grundschule passt sich den Kindern an und arbeitet mit den KiTas ihres Einzugsbereichs eng zusammen, um den Übergang für Kinder und Eltern vorzubereiten. Die Kinder werden im wahrsten Sinne da abgeholt, wo sie stehen.

Wie muss man sich Arbeitsbedingungen und Arbeitsweise der inklusiven Grundschule im Vergleich zu der heutigen Grundschule vorstellen? Die inklusive Grundschule verfügt über die notwendigen sonderpädagogischen Ressourcen, um alle Kinder, auch Kinder mit sozialen Entwicklungsproblemen, bestmöglich zu fördern. Die Mittelzuweisung erfolgt pauschal und ist nicht mehr an das einzelne Kind gebunden. Die stigmatisierende Feststellungsüberprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf entfällt. Arme Kinder müssen nicht als „behindert“ etikettiert werden, damit die Schule zusätzliche Fördermittel bekommt. Der Ressourcentransfer von den Förderschulen zu den Grundschulen geht einher mit dem jahrgangsweisen Auslaufen der Förderschulen für die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache.

Dazu schreiben die Bildungsforscher Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz in ihrem Gutachten für das nordrhein-westfälische Schulministerium (2011): „Um die schulische Absonderung von Armutskindern zu vermeiden, die sich zudem sowohl kognitiv als auch für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung negativ auswirkt, kann nur das generelle Auslaufen der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache die Anhebung der Schulabschlüsse und damit das Erreichen normaler Ausbildungsgänge wie auch die Stärkung sozialer Partizipation erreicht werden. Die Kompetenz der Sonderpädagogen kommt unter den strukturellen Bedingungen des gemeinsamen Unterrichts wirksamer zur Geltung.“

In prekären Einzugbereichen mit vielen Kindern in benachteiligten Lebenslagen ist der Unterstützungsbedarf besonders groß. Dem muss personell, sächlich und konzeptionell Rechnung getragen werden. Die Zuweisung der sonderpädagogischen Ressourcen erfolgt daher differenziert nach Sozialindex des Einzugsbereichs und nach der konkreten Zusammensetzung der Schülerschaft einer Grundschule. Auch die Klassengrößen müssen darauf abgestimmt werden. Die Priorisierung folgt dem Grundsatz, dass Ungleiche nicht gleich behandelt werden dürfen.

Die dauerhafte Beschäftigung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern an Grundschulen in schwierigen sozialräumlichen Kontexten ist notwendig. Diese Grundschulen müssen sich wie die KiTas, mit denen sie im Quartier eng zusammenarbeiten, zu Familienzentren entwickeln und Eltern- und Kindberatung in der Präventionskette weiterführen. Niederschwellige Angebote wie Elterncafes, Anlaufstellen für Elternberatung in der Schule sowie Hausbesuche bei Eltern sind wichtige präventive Bausteine einer inklusiven Grundschule.

Die befristete Finanzierung der Schulsozialarbeit im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets bis 2013 durch den Bund muss verstetigt werden. Das derzeitige Konzept muss allerdings radikal umgestellt werden. Die finanziellen Leistungen, die jetzt an die Bedürftigkeit des einzelnen Kindes gebunden sind und damit über bürokratische Umwege von den Eltern einzeln abgerufen werden müssen, müssen direkt den Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden, damit diese inklusionsfähig sind.

Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache sind besonders häufig von frühem Scheitern in der Grundschule bedroht, wenn ihre Eltern einen niedrigen Bildungsstatus haben und in sozial prekären Verhältnissen leben. Für die spezifischen Lern- und Sprachbedürfnisse dieser Kinder gibt es durchgängig verankerte interkulturelle Sprachförderkonzepte. Entsprechend ausgebildete Lehrkräfte verstärken das Kollegium der inklusiven Grundschule. Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gehören dazu. Die inklusive Grundschule sieht in der natürlichen Mehrsprachigkeit der Kinder einen Schatz, der gehoben werden muss. Sie lässt sich grundsätzlich von der Überzeugung leiten, dass jedes Kind Potenziale hat. Es ist Aufgabe der Pädagogen, gemeinsam die Talente eines jeden Kindes zu erkennen und zu fördern.

Durch die Inklusion von Kindern, die heute den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören und Sehen zugeordnet werden, werden die Grundschulen mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet. Diese orientieren sich an den angemessenen Vorkehrungen, die für das einzelne Kind mit seinem individuellen Förderbedarf bereit gestellt werden müssen. Neben den Sonderpädagogen und Sozialpädagogen werden auch Integrationshelfer und Assistenten Bestandteile des Kollegiums. Therapeuten und Spezialkräfte besuchen bei Bedarf die Kinder in der inklusiven Grundschule. Auch die Gebäude und die räumliche Ausstattung werden bedarfsgerecht angepasst.

Inklusive Grundschulen bringen die Vorzüge ihres multiprofessionellen Personals zum optimalen Einsatz durch die Organisation verbindlicher multiprofessioneller Teamarbeit. Dafür muss das pädagogische Personal aus- und fortgebildet geben. Schulleiter/innen werden im Rahmen von Fortbildungen darin unterstützt, Teamstrukturen aufzubauen. Die Gutachter Klemm und Preuss-Lausitz empfehlen die Einrichtung eines Zentrums für unterstützende Pädagogik (ZuP) an jeder inklusiven Schule als organisatorische Lösung. Die Arbeit im Team ermöglicht einen intensiven Austausch über die individuelle Entwicklung der einzelnen Kinder. Ein Förderplan für jedes Kind dokumentiert die jeweilige Lernentwicklung und ist Grundlage für Gespräche mit Eltern und Kind. Durch die Vernetzung mit außerschulischen Netzwerkpartnern wird es möglich, bei Problemen, die nicht allein schulisch gelöst werden können, bedarfsgerechte Hilfe und Unterstützung zu organisieren. Die Kooperationszeit wird in der Arbeitszeit des Personals berücksichtigt.

Die Einführung des gebundenen Ganztags ist ein weiteres zentrales Element zur Stärkung der präventiven und inklusiven Arbeit der Grundschule. In einem allerersten Schritt ist er für Grundschulen in sozial belasteten Einzugsbereichen einzurichten. Der offene Ganztag der Grundschule gleicht derzeit einem bunten Flickenteppich an Angeboten, den die Grundschule in Eigenregie zusammenstellen und organisieren muss. Eine gezielte pädagogische Lernförderung ist über den Einsatz von wechselnden Honorarkräften in einem vom schulischen Vormittag abgetrennten Nachmittagsbereich nicht gewährleistet.

Der gebundene Ganztag hingegen schafft Rahmenbedingungen für die lernförderliche Individualisierung im Unterricht und gibt Raum für forschendes, handlungsorientiertes Lernen. Er passt sich den biologischen Bedürfnissen der Kinder an durch eine rhythmisierte Struktur von Phasen der Konzentration und Entspannung. Er sichert allen Kindern ein gesundes Mittagessen und ermöglicht eine ganzheitliche Ausgestaltung des erweiterten Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebots durch die Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer an den individuellen Fördermaßnahmen im Nachmittagsbereich. Kulturelle Bildung muss groß geschrieben werden. Aktive Teilhabe an kulturellen Angeboten wie Tanz, Theater, Musik und Chor regt die kreativen Kräfte der Kinder an, stärkt ihr Selbstwertgefühl und erschließt ihnen Welten, die sie durch ihre Familien in der Regel nicht kennenlernen.

Das Jahrgangsprinzip für die Zusammenstellung von Klassen bzw. Lerngruppen wird ersetzt durch die Jahrgangsmischung. Die Mischung von Kindern aus den Jahrgängen 1-4 hat sich pädagogisch bewährt und sorgt dafür, dass auch eine vorwiegend sozial benachteiligte Schülerschaft in anregungsreichen Lerngruppen mit- und voneinander lernen kann. Lerneffektive Verfahren der Individualisierung und des kooperativen Lernens sichern angesichts der großen Leistungsunterschiede individuelle Lernerfolge für alle.

Altergemischte Gruppen sind hervorragend geeignet für das Erlernen und Leben von Verantwortung für sich und andere. Gerade Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten brauchen die Erfahrung, dass ihnen verantwortungsvolle Aufgaben für die Gemeinschaft übertragen werden. Altersgemischte Gruppen sind hilfreich für die Entwicklung einer demokratischen partizipativen Schulkultur. In der inklusiven Grundschule sind die Kinder und ihre Eltern aktiv beteiligt an der Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts. Konflikte im Schulalltag werden gemeinsam mit den Kindern reflektiert und bearbeitet.

Die inklusive Grundschule kennt nicht die undifferenzierte und entmutigende, defizitorientierte Leistungsbewertung mit Ziffernnoten. Sie gibt den Kindern eine sichere, anregungsreiche und anspruchsvolle Lernumgebung und dazu individuelle prozess- und kompetenzorientierte Leistungsrückmeldungen. Diese werden ergänzt durch unterschiedliche Formen der Selbstevaluation.

Elemente der inklusiven Lernkultur gehören heute schon zu den Bausteinen der guten Grundschulpädagogik. Sie müssen nicht erst erfunden werden. In der inklusiven Grundschule sind sie jedoch systemisch verankert und werden von allen Lehrkräften auch angewendet, weil Aus- und Fortbildung in Qualität und Umfang darauf abgestellt sind.

Zusammen mit der präventiven frühkindlichen Förderung kann die inklusive Grundschule eine stabile und belastbare Förderkette von 0-10 bilden. Sie kann Lernfreude, Lernmotivation und Anstrengungsbereitschaft wecken bzw. erhalten, zur Vermeidung von frühem Scheitern und späterem Schulabbruch beitragen und der Entstehung eines umfangreichen langfristigen Förderbedarfs entgegenwirken. Fragt man finnische Experten nach dem Geheimnis ihres Schulerfolgs, dann verweisen sie auf ihr Credo: Auf den Anfang kommt es an!

Es ist ein Gebot der Vernunft und der Menschenrechte, die Grundschule in Deutschland zu einer Schule für alle zu machen. Die Politik ist aufgefordert, das zu realisieren.

Inklusive Grundschule – und danach?

Bislang wird die Grundschule von vielen hierzulande immer noch als bloßer „Zubringer“ zu den weiterführenden Schulen betrachtet. Sie hat sich – je ach Bundesland – übe mehr oder weniger verbindlich geltende Grundschulempfehlungen an der Selektion zu beteiligen. Obwohl die Aufteilung der Kinder auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge dem Inklusionsgebot widerspricht und zur Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt, ist man in Deutschland noch weit von einem einheitlichen inklusiven Schulsystem entfernt. Die integrierte Gesamtschule und neue Schularten des längeren gemeinsamen Lernens können sich bis auf Weiteres nur in Konkurrenz zu den selektiven Schulformen als Schulen für alle Kinder anbieten und weiterentwickeln.

Der bildungspolitische Fortschritt in Deutschland ist eine Schnecke!

In NRW können sich demnächst im Rahmen eines Modellvorhabens bis zu 15 Grundschulen mit Schulen der Sekundarstufe I und II auf Antrag des Schulträgers zusammenschließen. Zu diesem im Sinne der Prävention und Inklusion unterstützenswerten bildungspolitischen Vorstoß liegen u. a. Initiativen von Grundschulen mit durchgängigen Lernkonzeptionen von 1-10 bzw. 1-13 vor. Diese Variante hat gegenüber dem Zusammenschluss von bestehenden Schulen des Primar- und Sekundarbereichs den pädagogischen Charme, dass Geist und Konzept der inklusiven Grundschularbeit naht- und bruchlos fortgeführt und für die nachfolgenden Jahrgänge altersgemäß ausgestaltet werden können. Wie wäre es, wenn auch der Vorschulbereich mit einbezogen werden dürfte?

Literatur

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bund und Länder planen Grundbildungspakt für Alphabetisierung. Pressemitteilung 025/2011

Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn 2009

ISS – Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.): Fachliche Maßstäbe zum Auf- und Ausbau von Präventionsketten in Kommunen. Abzurufen unter: www.iss-ffm.de/veröffentlichungen/publikationen.html

Holz, G. et al.: Zukunftschancen für Kinder!? Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Zusammenfassung des Endberichts der 3. AWO-ISS-Studie. Im Auftrag der AWO Bundesverband e.V. Bonn/Berlin/Frankfurt 2005

Klemm, K./Preuss-Lausitz, U.: Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in NRW. Juni 2011. Abrufen

Klemm, K.: Sonderweg Förderschulen. Hoher Einsatz, wenig Perspektiven. Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit der Förderschulen in Deutschland. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2011

RVR – Regionalverband Ruhr (Hrsg.): Bildungsbericht Ruhr. Münster 2012

Schumann, B.: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle. Bad Heilbrunn 2007

Stähling, R.: „Du gehörst zu uns“. Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Hohengehren 2006

Dr. Brigitte Schumann, Essen, arbeitet als Bildungsjournalistin.

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NAGEL-Redaktion – Recht auf Bildung statt Schulpflicht

 

Wagen wir einmal das Gedankenexperiment, dass es keine Schulpflicht mehr gibt, sondern ein Recht auf Bildung. Erste, spontane Antwort: Keiner geht mehr zur Schule, weil sie ja nicht verpflichtend ist. Mag sein, dass keiner mehr in diese Schule geht; das spricht aber nicht gegen die Schüler/innen, sondern in erster Linie gegen die Schule. Weil so, wie sich Schule derzeit gibt, ist sie eine Qualifizierungsmaschine und keine Bildungswerkstatt.

Und da kommt dann die zweite Antwort, die nach längerem Nachdenken logisch erscheint: Wenn Bildung ein Recht ist, wird sich unser Bildungssystem verändern, weil alle Beteiligten mit einer anderen Perspektive bzw. einer anderen Einstellung an die Sache herangehen. Und da ist nicht einmal sicher, dass es Schule noch geben wird. Ivan Illich, Naturwissenchafter, Philosoph und Theologe, hat diesen Gedanken in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch „Entschulung der Gesellschaft“ (es ist nach seinem Tod im Jahr 2003 in der 5. Auflage erschienen und auch online einblickbar) (1) aufgegriffen und ist zu interessanten Schlussfolgerungen gekommen: Für ihn ist die weltweite Verfügbarkeit des ganzen Wissens, das derzeit existiert, für alle Menschen wichtig; also Inklusion statt Exklusion. Das Internet machte dieses sicher möglich. Und dann ging es noch darum, Lernzirkel zu gründen, in denen dieses Wissen im Austausch miteinander erarbeitet bzw. weiterentwickelt wird.

Nun: Ob jeder auf genau diese Gedanken kommen würde, sei dahingestellt. Aber: Ein Recht auf Bildung würde unsere Lernkultur nachhaltig verändern, und lebenslanges Lernen wäre dann keine Drohung mehr, sondern ein Gebot der Stunde. Zumal der Mensch ja als neugieriges, lernfreudiges Wesen geboren wird (siehe die ersten Lebenswochen, -monate und -jahre, in denen eine Fülle an Synapsen durch eine Menge an Lernprozessen entstehen). Und – wie Wissenschafter sagen – unser Gehirn nützen wir ja nur zu einem Bruchteil. Daher: weg mit der Schulpflicht und der Schule in der heutigen Form, hin zu einem Recht auf Bildung für alle! (20. Februar 2012)

Schulpflicht, die Zweite 

Mein vorwöchiger Beitrag mit dem Titel „Recht auf Bildung statt Schulpflicht“ hat hinter den Kulissen teils heftige Reaktionen hervorgerufen. Das freut mich, denn dann liege ich bei diesem Thema offenbar ganz richtig. In den Diskussionen wurde sogar bis auf Maria Theresia zurückgegriffen, deren große Leistung es war, die Schulpflicht in Österreich einzuführen – und zwar nicht als Folterinstrument für die Kinder und Jugendlichen ihres Landes, sondern als Schritt in die Emanzipation und gegen die Kinderarbeit.

Da ich es in meinem Blog nicht angeführt habe, möchte ich nun diese Sichtweise gerne bestätigen. Denn das ist ja nicht das Problem mit der Schule in der Gegenwart. Sehr bald schon nämlich zeigte sich, was man alles mit der Schule und vor allem mit den SchülerInnen im Rahmen von Schule machen kann. Und da sind wir durchaus noch in den theresianischen Zeiten, in denen Drill und Vorbereitung auf die zukünftige Rolle in der Gesellschaft (2) sowie das Funktionieren im heutigen Wirtschafssystem zentrale Inhalte sind. Nur: Es klappt nicht mehr so richtig, es gibt immer mehr „schwierige“ SchülerInnen. Aus meiner Sicht sind das Kinder und Jugendliche in und mit Schwierigkeiten und solche, die uns knallhart vor Augen führen, was „unser“ Problem ist.

So kann weder Bildung vermittelt werden noch Ausbildung stattfinden. Und da geht es leider nicht nur um Strukturreformen im Schulsystem, sondern um einen grundlegenden Bewusstseinswandel aller Beteiligten, vor allem der PolitikerInnen und LehrerInnen.

Darum wage ich meine Forderung zu erneuern: Wenn wir ein Recht auf Bildung postulieren, dann brauchen wir die Schulpflicht nicht mehr. Denn dann sind ohnehin alle in der Pflicht, einerseits wirkliche Bildung zu bieten und dieses Angebot auch anzunehmen. Denn jedes Recht ergibt auch Pflichten. Nur werden sie dann als Selbstverständlichkeit gesehen. Und das ist gut so!

Michael Karjalainen-Dräger (c) 2011 – Mit freundlicher Genehmigung (Quelle: karjalainen-draeger.jimdo.com)

Übernommen in i-Punkt 4/2012 (Informationsdienst des ABA Fachverbandes)

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Fußnoten:

(2) siehe meinen Männer-Blog vom 2. März 2012 „Rollenbilder der Gegenwart“

NAGEL-Redaktion – Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetz (KiWaBez) – Eine Satire

Von Detlef Träbert

 

Als Ergänzung zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), in Abstimmung mit Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Maßnahmen zur Förderung des Wachstums von Kindern und ihrer Bildung beschlossen. Der Entwurf eines Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetzes (KiWaBez) soll dem Kabinett gleich nach der Sommerpause vorgelegt werden.

 

In Anerkennung der Tatsache, dass die Kinder aufgrund ihres immer jüngeren Einschulungsalters am ersten Schultag immer kleiner sind, empfiehlt das Bundesbildungsministerium, dass sie im Vorschulalter schneller wachsen müssten. Dies entlaste nicht zuletzt die Gemeinden als Schulträger, die ansonsten zusätzliche kleinere Schulmöbel anschaffen müssten. Zu diesem Zweck sollen vorschulische Betreuung und Bildung von Kindern effizienter betrieben werden.

Es werde künftig zum Aufgabenbereich der Kindertagesstätten gehören, Wachstumsförderung zu betreiben durch ein verbessertes Essensangebot mit Kraftfutterbeimischung, tägliche Spezialgymnastik mit Streckübungen sowie Elternschulung. „Eltern müssen sich wieder ihrer Rolle besinnen und den Auftrag ernst nehmen, die Kinder großzuziehen“, erläuterte Bildungsministerin Schavan. Kindern täglich die Hammelbeine lang zu ziehen sei eine gute Vorbereitung auf den Schulstart, wenn es auf liebevolle Weise erfolge. Ziel sei, dass alle I-Dötzchen wenigstens 1,29 m und alle Schulkinder beim Übergang auf die weiterführende Schule mindestens 1,56 m groß sein sollten.

 

Zur Förderung des Bildungswachstums seien zusätzlich intelligenzfördernde Maßnahmen beabsichtigt, um einen Mindest-IQ von 120 bei der Einschulung für jedes Kind zu gewährleisten. Dafür sollen ehrenamtliche Senior-Intelligenztrainer aus den Reihen pensionierter Akademiker gewonnen werden. Darüber hinaus werde ein Qualitätssiegel entwickelt, um besonders intelligenzförderndes Spielzeug damit auszuzeichnen. „Das Siegel ‚Genius Plus’ wird Eltern die heutzutage schwierige Kaufentscheidung bei Spielsachen erleichtern“, ist Schavans Kabinettskollegin Schröder vom Familienministerium überzeugt. Um das Bildungswachstum auch während der Grundschulzeit zu beschleunigen, werde es laut Schavan künftig ab dem 2. Schuljahr bundesweit einheitliche halbjährliche VerA (Vergleichsarbeiten) geben.

 

In einem ersten Kommentar begrüßte der Bundesverband der Nachhilfewirtschaft die geplanten Maßnahmen. Man werde sie mit einem bedarfsorientierten Angebot an VerA-Vorbereitungskursen flankierend begleiten und dafür nötigenfalls das Filialnetz ausweiten. Auch die Pharmaindustrie äußerte sich zuversichtlich und sieht Wachstumspotenzial bei den Umsätzen für Wachstumshormone. Während der Bundesverband der Kinderärzte vorsichtige Kritik an den geplanten Maßnahmen äußerte, freut sich die Vereinigung der Kurkliniken auf ein Wachstum ihrer Belegungsquoten. Ihr Sprecher sagte: „Neben dem jetzt schon sicheren Geschäft mit Burnout bei Lehrkräften und Erzieherinnen rechnen wir mit einer wachsenden Zahl von Nervenzusammenbrüchen bei Eltern.“ Unterdessen sehen sich Bildungs- und Familienministerium mit ihrer ganzheitlichen Interpretation des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes auf einem guten, zukunftsweisenden Weg.

 

Detlef Träbert, Dipl.-Päd. aus Niederkassel betreibt den Schulberatungsservice. Beste Empfehlung!

 

NAGEL-Redaktion – Arbeitszwang: Sklavenmarktgeschrei aus dem Hause von der Leyen

 

Von Lotar Martin Kamm

 

Jeder von uns kennt aus der Beobachtung, was geschieht, wenn bei der Drehbewegung des Schraubstocks unaufhörlich die Backen das festzuklemmende Werkstück sehr kräftig zusammenpressen. Diesem Druck sind tatsächlich all jene ausgesetzt, die, mittels Erpressbarkeit in Arbeitslosigkeit gekommen, sich gefälligst der Bundesanstalt für Arbeit und den Jobcentern bzw. Argen zur Verfügung zu stellen haben.

Nach kurzer Phase der Arbeitslosengeldzahlung mit halbwegs gesichertem Schutz der Menschenwürde folgt die Entrechtung auf dem Hartz-IV-Tablett, wo die „gestrauchelten, unfähigen Versager“, schließlich waren sie nicht in der Lage, einen Job zu ergattern, Zwangsmaßnahmen, Bewerbertrainings, Ein-Euro-Jobs und Bürgerarbeit widerstandslos ausüben müssen.

Schlecker-Angestellte, die ohnehin bereits dem Martyrium einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik seitens des inzwischen pleite gegangenen Familienkonzerns sich unterziehen mussten (denken wir nur an interne Videoüberwachung, Dumpinglöhne, die etlichen Raubüberfälle und das Hin- und Her eines möglichen Jobverlusts) befinden sich nunmehr im Visier. Aus dem Hause von der Leyen wird Arbeitszwang per Sklavenmarktgeschrei mit einer neuen Idee salonfähig gemacht. Da auf der einen Seite in strukturschwachen Regionen Erzieher- und Altenpflegerinnen fehlen, benutzt man doch einfach ähnlich wie auf einem Verschiebebahnhof die just arbeitslos gewordenen Schlecker-Frauen, um diese Lücken zu füllen.

Freie Berufswahlentscheidung steht nicht zur Diskussion

Wunderbar einfach schnappt die Falle zu. Die unheimliche Saat der Agenda 2010 scheint in Gänze aufzugehen Gut neun Jahre nach ihrer Verkündung durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder in der bezeichnenden Regierungserklärung verhandeln heute öffentlich fast schon „prangerähnlich“ Regierung und die Gewerkschaften über das Schicksal der Schlecker-Frauen. Die Gewerkschaften haben sich ohnehin längst einer Wirtschaftspolitik untergeordnet, in der nicht die Interessen der Menschen, also der Arbeitnehmer zählen, sondern die Belange der Arbeitgeber bzw. die Finanzinteressen des Großkapitals und der Konzerne.

Müssen wir davon ausgehen, dass sämtliche sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte endgültig zu Grabe getragen werden? Und nicht nur das? Selbst ganz selbstverständliche Grundrechte wie die Menschenwürde (Art. 1 GG) und die freie Berufswahl (Art. 12 GG) werden einfach ausgehebelt, da über die vorgeschobene Gefälligkeit einer Auszahlung des Existenzminimums bei „Verweigerung“ eine Sanktionierung folgt, die sogar den Hungertod der Betroffenen in Kauf nimmt, wie längst schon vorgekommen. Sicherlich werden sich die Schlecker-Frauen breitschlagen lassen und den Vorschlägen willenlos zustimmen, weil die wenigsten den Kampf mit den Zwangsbehörden aufnehmen und durchstehen können und wollen. Das wird von einer ohnehin hämisch gaffenden Bevölkerungsschicht vorausgesetzt, die das Instrument der Hartz-IV-Gesetzgebung eher gutheißen, als die Missachtung der Menschenwürde zu erkennen.

Erzieher und Altenpfleger – keine Berufung per Crashkurs

Möchten Sie Ihre Kinder in die Obhut geben lassen von unfreiwillig und hektisch geschulten Erzieherinnen? Oder die Fortsetzung einer ohnehin dramatisch menschenverachtenden Altenpflege mitverantworten, wenn ehemalige Verkäuferinnen nach einem Crashkurs plötzlich eine Berufung erlangen? Beide Berufe bedingen vor allem eines: Sie können nur dann wirklich erfolgreich ausgeübt werden, wenn dies mit viel Herz und Liebe, starkem Nervenkostüm, der Voraussetzung zur physischen Belastung und mit entsprechender Freude und Elan geschieht. Im übrigen gilt das sowieso für sämtliche Berufe, nicht zufällig gibt es den Artikel 12. Das scheint aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, eines Pflegenotstandes und einem Mangel an Erzieherinnen irrelevant zu sein, Hauptsache, sensenartiger Pragmatismus führt zum Erfolg. Es fragt sich nur: für wen? Die Schlecker-Frauen ordnen sich unter, Kinder und Alte werden gleich gar nicht gefragt, und schon geht die Rechnung auf?

Nach Schleckerpleite ein Tor sperrangelweit aufgerissen

Denken wir doch mal weiter und spielen die Möglichkeiten durch, die da noch vor sich hinschlummern. Jetzt war die Schleckerpleite, und Tausende Arbeitslose haben sich zu fügen, wer keinen Job kriegt, wird einfach mal Erzieher oder Altenpfleger. Wenn morgen aber zwei oder drei heftige Weltkonflikte einen Nachschub an Soldaten brauchen, weil die BRD ohnehin zunehmend den Kurs einer Verteidigungsarmee verlassen hat, werden dann in der Logik einer Mangelsituation aus dem Hause von der Leyen mal eben per Crashkurs zumindest Sanitäter und Bereiche in der Logistik ausgebildet, um auszuhelfen? Das einmal sperrangelweit geöffnete Tor dieser sozialrassistischen Politik lässt sich unschwer schließen in einer Erwartungshaltung von Gehorsam, Arbeitszwang und Sanktionierung. Da bedarf es unbedingt einer grundlegenden Änderung der Wirtschaft selbst, die per Lohndumping, neoliberaler Konzernpolitik und Überreichtum die Schere zwischen Armut und Reichtum zu verantworten hat. Solange die gewählten Politiker sich ihr unterordnen und das Volk missachten, sollten wir mit einer Fortsetzung und Steigerung der dramatischen Arbeitszwangpolitik rechnen.

Lotar Martin Kamm ist Lektor, Übersetzer und Journalist bei der Buergerstimme sowie 1. Vorsitzender Vereins Buergerstimme.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Lotar Martin Kamm hat seinen Beitrag zunächst in der Internet-Zeitschrift „BUERGERSTIMME – Zeit für Veränderungen“ veröffentlicht. Er uns ihn uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür wir ihm herzlich danken. Das engagierte Team der „Buergerstimme“ ist hier zu finden.

NAGEL-Redaktion – Schnipp-Schnapp – Beschneidung der Religionsfreiheit?

Von Heinrich Schmitz  

 

Der SPIEGEL tut’s, die Zeit, die FAS, die FAZ – alle tun es. Alle kommentieren das Urteil des Kölner Landgerichts und dessen angebliche Folgen für die Gesellschaft. Im aktuellen SPIEGEL treten Matthias Matussek und Maximilian Stehr an, ihre jeweiligen Positionen zu vertreten, in der Zeit war es Robert Spaemann, der einen beispiellosen „Angriff auf die Identität religiöser Familien“ sah. Überall mehr oder weniger eifernde oder aufgeregte Kommentare.

Das jedenfalls Gute, das die Urteilsbegründung des LG Köln ausgelöst hat, ist die nun laufende gesellschaftliche Diskussion. Was weniger gut ist, dass kaum ein Kommentar sich mit der wirklichen Problematik befasst bzw. immer nur Teilaspekte der Gesamtproblematik angesprochen werden und großenteils mit flauen Argumenten für oder gegen ein Beschneidungsrecht der jüdischen und muslimischen Eltern gekämpft wird.

Die Fürsprecher aller Religionen fürchten offenbar eine Beschneidung der Religionsfreiheit im allgemeinen, wenn die Justiz die Beschneidung der Vorhaut von Säuglingen und Kleinkindern auf Wunsch ihrer Eltern als rechtswidrige Körperverletzung behandeln würde. Die Fürsprecher der körperlichen Unversehrtheit von unmündigen Kindern fürchten offenbar massive Gesundheits- und Entwicklungsschäden, wenn die Beschneidung weiterhin nicht bestraft würde.

Dazwischen fürchten die Juden einen erstarkenden Antisemitismus, die Muslime eine deutsche Islamophobie und die Atheisten einen staatlich unterstützen religiösen Angriff auf die Vernunft. Dabei ist ernstlich nichts von alledem zu befürchten, wenn nicht Regierung und Bundestag aus Furcht davor, eine Komikernation zu führen, überreagieren. (Wobei ich Komiker eigentlich immer dafür geschätzt habe, dass sie unliebsame Wahrheiten auf unterhaltsame Weise an ihr Publikum bringen.)

Zu dem Urteil und seiner Begründung hatte ich mich bereits in meiner ersten Notiz geäußert, zu der unsinnigen Resolution des Bundestages in meiner zweiten.

Mit dieser dritten und hoffentlich letzten Notiz zu diesem Thema möchte ich nochmals versuchen, zur Versachlichung und Entschärfung beizutragen.

1) Eine Berufungskammer eines Landgerichts ist weder der originäre Sitz der juristischen Weisheit noch spricht sie absolute Wahrheiten aus. Das hat das Gericht aber auch selbst so gesehen und bereits im Urteil festgestellt. „Die Frage der Rechtmäßigkeit von Knabenbeschneidungen aufgrund Einwilligung der Eltern wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Es liegen, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, Gerichtsentscheidungen vor, die, wenn auch ohne nähere Erörterung der wesentlichen Fragen, inzident von der Zulässigkeit fachgerechter, von einem Arzt ausgeführter Beschneidungen ausgehen, ferner Literaturstimmen, die sicher nicht unvertretbar die Frage anders als die Kammer beantworten.“ Das Gericht hat also die notwendige Demut an den Tag gelegt und – anders als mancher Kommentator – gar nicht behauptet, die Frage der Rechtswidrigkeit der durch die Beschneidung begangenen Körperverletzung sei durch sein Urteil abschließend und rechtskräftig beantwortet. Ein Landgericht ist nicht unfehlbar und hält sich meistens auch nicht dafür.

2) Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen! Das wird leider immer wieder übersehen. Es hätte die Sache theoretisch auch dem Bundesverfassungsgericht vorlegen können, was den Vorteil gehabt hätte, dass dieses die angesprochene Grundrechtsproblematik in der ihm eigenen entspannten Sachlichkeit entschieden hätte, was allerdings den Nachteil gehabt hätte, dass die jetzt laufende, wichtige Diskussion vermutlich nicht stattgefunden hätte.

3) Das Landgericht hat einen ohne jeden Zweifel bestehenden Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechten des Kindes und seiner Eltern in einer bestimmten Weise, nämlich zugunsten der körperlichen Unversehrtheit des Kindes bewertet.

4) Wie Spaemann in der Zeit richtig festgestellt hat, sind Grundrechte nie absolut. Sie finden ihre innere Begrenzung an anderen Grundrechten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Grundrechte nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander stehen, dass also nicht ein Grundrecht grundsätzlich höherwertiger als das andere ist. Wenn Spaemann also meint: „Angesichts der fundamentalen Bedeutung der Beschneidung für religiöse Gemeinschaften fallen die damit verbundenen Körperverletzungen gar nicht ins Gewicht, sodass, falls man die Sache überhaupt zu einem Grundrechtskonflikt hinaufsteigern will, die Abwägung nur zugunsten der Freiheit der Eltern ausfallen kann, es sei denn, der Richter hielte die Eltern aufgrund ihres Festhaltens an diesem Ritus für unzurechnungsfähig.“ – so ist das ein netter Versuch, das Grundrecht der Religionsfreiheit der Eltern und deren Erziehungsrecht über das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zu stellen, der mit dieser Argumentation jedenfalls nicht verfangen wird. Möglicherweise allerdings mit einer anderen.

5) Der von den vehementen Verteidigern der Beschneidung immer wieder ins Feld geführte Vergleich mit Impfungen ist ebenfalls ein äußerst schiefer Vergleich. Natürlich sind Impfungen ebenso standardmäßige Körperverletzungen wie Beschneidungen, aber sie unterscheiden sich in zweifacher Hinsicht deutlich.

Impfungen werden – soweit mir bekannt – von keiner Religionsgemeinschaft als Voraussetzung für die vollständige Religionszugehörigkeit gefordert, d.h. wenn Eltern sich für oder gegen eine Impfung ihrer Kinder entscheiden, dann tun sie das ausschließlich im Sinne von deren Gesundheit. Und zwar sowohl für als auch gegen die Impfung. Bei den fundamental bedeutsamen Beschneidungen entscheidet aber eher die Religionszugehörigkeit der Eltern über das Dafür oder Dagegen und weniger eine individuelle Elternentscheidung. Der zweite Unterschied besteht darin, dass es zwar auch bei einer Impfung zu einem Gesundheitsschaden kommen kann, die Körpersubstanz aber nicht verändert wird. Man sieht einem Kind später nicht an, ob es geimpft wurde oder nicht.

6) Selbst wenn die Beschneidung immer medizinisch ungefährlich und harmlos wäre, was von Ärzten bestritten wird, bleibt sie ein Eingriff in den Körper und damit eine Körperverletzung.

7) Die Überschneidungsfreier ihrerseits seien daran erinnert, dass auch das Grundrecht aus Art. 2. Abs. 2 GG kein Kreuzbube des Grundrechtsskats ist, sondern dass auch in die körperliche Unversehrtheit aufgrund eines verfassungsgemäßen Gesetzes eingegriffen werden kann, wie z.B. bei einer Blutentnahme nach einer Trunkenheitsfahrt.

8) Es ist nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes, das mit der Religionsfreiheit der Eltern konkurriert, es ist auch die eigene Religionsfreiheit des Kindes und das Erziehungsrecht der Eltern, die grundsätzlich auch über die religiöse Erziehung ihrer Kinder entscheiden dürfen. Da nach der Logik der Religionen und auch der Atheisten jeder sich im Besitz der einen, reinen Wahrheit befindet, beinhaltet dieses Recht auf religiöse Erziehung durch die Eltern zwangsläufig auch das Recht der Eltern, ihre Kinder in einer falschen Weise religiös zu erziehen. Es ist weder möglich noch Sache des Staates zu entscheiden, welche religiöse Erziehung einschließlich der damit vermittelten Glaubensinhalte richtig oder falsch ist. Das Wächteramt des Staates aus Art. 6 GG beschränkt sich auf kindeswohlgefährdende Ausübung des Elternrechts.

9) Auch verfassungsrechtliche Problemstellungen unterliegen einem langsamen, aber stetigen Wandel. Was vor 50 Jahren als sicher galt, ist es heute nicht mehr. Über die Verfassung wacht in bisher überwiegend bewährter Weise das Bundesverfassungsgericht. Seine originäre Aufgabe ist es, Grundrechtskonflikte durch Auslegung der Verfassung wohlerwogen und wohlbegründet, nach Anhörung aller möglichen beteiligten staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen, medizinischen, pädagogischen und theologischen Sachverständigen zu entscheiden. Es gibt keinen Grund, aus Gruppeninteressen heraus an diesem Procedere irgendetwas zu ändern und hier auf Zuruf der Kanzlerin eine politisch erwünschte Lösung durchzuprügeln, die vermutlich ohnehin in Karlsruhe auf den Prüfstand käme.

10) Respekt vor dem Nächsten aus innerer Überzeugung, der Verzicht auf „dümmliche Verhöhnung Gottes“ (Matthias Matussek im SPIEGEL), aber auch der Respekt der Gläubigen vor den Andersgläubigen, den Nichtgläubigen oder den Agnostikern, Toleranz im gegenseitigen Umgang wäre ein wünschenswertes Ergebnis dieser aktuellen Diskussion. Wenn dieser Respekt allerdings nicht aus innerer Überzeugung kommt – was, wie die Vergangenheit leider zeigt, gerade bei Diskussionen um religiöse Inhalte selten erreicht wird –, dann muss ein offener, freiheitlicher Rechtsstaat das gemeinsame Zusammenleben aller eben mit Hilfe seiner Gesetze regeln, damit alle zu ihrem Recht kommen. Ohne Recht gibt es keinen Frieden.

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt. Die Kanzlei Rechtsanwälte Heinrich Schmitz & Peter Heimbach befindet sich in Euskirchen.

Heinrich Schmitz auf seiner Facebook-Präsenz am 23. Juli 2012 

Veröffentlicht anschließend in: i-Punkt 9/2012

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Dank an Heinrich Schmitz für die freundliche Zustimmung, seinen Beitrag zu verwenden.

NAGEL-Redaktion – Kindheit damals: Ein klein wenig wehmütig

Von Ria Garcia (Mettmann)

Kindheit – geboren 1961 – sah anders aus:

Ich besuchte nie einen Kindergarten. Wir wohnten direkt am Wald und ein „klein wenig abgelegen“. Ich habe nie einen Kindergarten vermisst oder hätte sagen können, dass es mir leid tat keinen besucht zu haben. Mit etwa 10-12 Kindern unterschiedlichen Alters in der Nachbarschaft gab es eigentlich keine Langeweile, und die Kleinen lernten von den Größeren. Wir haben uns noch als Gemeinschaft verstanden, unabhängig von den Altersunterschieden.

Mit stolzen 4 Jahren erkundete ich mit meiner Nachbarsfreundin den Ja- und den Sandberg, während unsere Eltern schon sorgenvoll nach uns suchten. Das hat nichts daran geändert, dass es Wiederholungstouren gab. Mit 5 trug ich Lederhosen und kletterte leidenschaftlich gern auf die Weidenbäume bei den Nachbarn oder sammelte auf sumpfigen Wiesen nahe der Itter riesige Sträuße mit Wiesenschaumkraut oder wilden Margariten, aus denen wir Kränze geflochten haben.

Der kürzeste Weg zum nächsten Schwimmbad ging quer durch den Wald. Wir gingen immer im Verbund hin. Große und Kleine. In der nahe gelegenen Waldkaserne waren noch Engländer stationiert, die uns quer über das Kasernengelände laufen ließen, weil der Weg sicherer und kürzer war und vielleicht einfach auch, weil Kinderlachen eine so herzliche Abwechslung war. Mit 6 hatte ich mein erstes richtiges Taschenmesser, um zu schnitzen, und mein erstes Fahrrad, mit dem ich auch häufig den etwa zwei Kilometer langen Schulweg über eine kleine Landstraße vorbei an Bauernhöfen bewältigte.

Mit 7 befestigte ich die alten Rollschuhe meiner großen Schwester mit Einmachgummis an meinen Schuhen, weil die Riemen gerissen waren, und raste mutig geteerte Garagenabfahrten an einem Hügel herunter. Ich watete barfuß im Naturschutzgebiet durchs Wasser, dass etwa 20 cm hoch zwischen den Bäumen, die dort auf kleinen Inseln wuchsen, stand und erfreute mich an meinem „Märchenwald“, in dem ich oft für mich allein sein konnte. Es war offiziell nicht erlaubt, aber der „Wächter der Vogelskau“ drückte für mich immer beide Augen zu.

Ich durfte sein, wie ich war: Manchmal ein wenig wild und ungebändigt, freiheitsliebend mit Forscherdrang, mal mehr der kleine Junge, mal ganz das kleine Mädchen. Ich durfte alles sein, was ich wollte. Ich durfte Fußball spielen oder Puppenkleider nähen. Ich durfte mir selbst etwas kochen, wenn meine Kreationen meist auch nur für mich essbar waren.

Mit 10 durfte ich mich ein wenig auf der Geburtstagsparty meiner fünf Jahre älteren Schwester tummeln und mich „groß“ fühlen. Mit den älteren Brüdern meiner Freundin entdeckten wir eines Tages eine alte Holzhütte in einem unzugänglichen Waldstück. Wir nahmen uns Vorräte mit und entzündeten den alten Ofen, um uns Brot zu rösten. Mit 12 besuchte ich die Sonntagsdisco im Jugendheim der nahegelegenen Stadt (ohne Mamataxi). Ich war so „angstfrei“, dass ich oft im Dunkeln sogar die Abkürzung über einen Waldweg nach Hause nahm.

Es ist nur ein Erinnerungsausschnitt und es gäbe viel mehr abenteuerliche, kleine Geschichten. Ich war bzw. wir waren weitaus weniger angepasst, als es unsere Kinder heute sind und wir hatten etwas wertvolles: ZEIT. Verglichen mit dem Artikel in der „Zeit“ oder auch mit der Altersspanne bei meinen Kindern, denen ich kaum Termine „aufgedrückt“ habe, die sie aber dennoch innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung hatten, hatte ich ungeheuer viel Freiheit und eine sehr glückliche Kindheit. Kein Wunder, dass die Anzahl psychischer Erkrankungen zunimmt. Ein Kind kann sich heute kaum noch frei entfalten.

Quelle: Facebook-Seite „Spielplatzpaten Mettmann“ vom 20. September 2012

Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Zustimmung der Autorin.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Die Autorin nimmt Bezug auf den Artikel Kindererziehung Ich will doch nur spielen aus der ZEIT vom 5. September 2012. Die hier angegebenen Örtlichkeiten befinden sich in bzw. in der Nähe von Hilden (Kreis Mettmann). Die NAGEL-Redaktion warnt davor, leichtfertig den Begriff „Nostalgie“ zu verwenden. Gestattet sei ferner ein Hinweis auf unser Internetportal DRAUSSENKINDER.

NAGEL-Redaktion – Beschneidung – Schnipp-schnapp die Vierte oder: Wie man ein schlechtes Gesetz macht

Von Heinrich Schmitz

Es war zu befürchten, dass die Politik in der Beschneidungsdebatte keine „Lösung“ finden würde. Jetzt liegt der Gesetzesentwurf vor und sein Inhalt löst – völlig unabhängig, welche Position man in der Beschneidungsfrage selbst vertritt – nur erstauntes Kopfschütteln aus. Dass der Bundestag, angetrieben von der Kanzlerin und allen Religionsgemeinschaften, wild entschlossen war, die Beschneidung von nicht zustimmungsfähigen Kindern unmissverständlich zu erlauben, war seit der eiligen Resolution des Bundestages klar. (1) 

Das hatten sie dem noch diskutierenden Volk ja sofort deutlich gemacht: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Herbst 2012 unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechtes der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.“ Und wenn man sich grundsätzlich die Gesetzgebungsarbeit auch anders vorstellen mag, so ungewöhnlich ist das nicht, dass eine offene Debatte nicht so erwünscht ist und ein Thema schnell vom Tisch soll. Kennen wir ja z.B. auch bei Diätenerhöhungen. Hauptzweck des Gesetzentwurfes war daher von Anfang an, die Debatte über die Rechtmäßigkeit von Beschneidungen möglichst zu beenden, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. So was geht auch – wenn man es richtig anpackt.

Und jetzt ist er da. Der lange erwartete Entwurf. Und so sollte er zuerst aussehen:

(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird.
(2) Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet ist.

Klingt unspektakulär.

Fand das Kabinett wohl auch und änderte noch munter dran rum. Die Kabinettsvorlage brachte dann dies hier zustande: 

„§ 1631d
Beschneidung des männlichen Kindes
(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.
(2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgemeinschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“

Das Ganze soll als neuer § 1631d ins BGB eingeführt werden. Und dann? Dann dürfte aus meiner Sicht das ganze Problem wieder bei der Justiz landen und die ganze Diskussion von vorne beginnen. Das hat verschiedene Gründe. Die Zustimmungsberechtigung zu einer Beschneidung im Bereich der Personensorge zu regeln, war zunächst einmal ein vernünftiger gesetzestechnischer Ansatz. Die Personensorge liegt regelmäßig bei beiden Eltern, solange sie nicht aus irgendwelchen Gründen auf einen sorgeberechtigten Elternteil übertragen wurde. Solange also beide Eltern einer medizinisch nicht erforderlichen Beschneidung zustimmen würden, wäre sie zunächst einmal nicht mehr rechtswidrig.
Tja, und da haben wir schon das erste Problem. Das Gesetz sagt leider nichts darüber, was denn geschehen soll, wenn sich die Eltern in dieser Frage nicht einig sind. Das kommt in den besten Familien vor, jedenfalls häufiger als in den schlechten, dass Eltern sich unterschiedliche Vorstellungen darüber machen, was gut für ihr Kind ist.

Es sollte auch so sein, dass man das Für und Wider abwägt und dann eine gemeinsame Entscheidung trifft. Klappt aber nicht immer – und dann? Müsste ein Familienrichter einem der beiden Elternteile die Entscheidungsbefugnis in dieser Frage übertragen. Ja, da wird’s dann wieder lustig. Nach welchen Kriterien sollte er das denn bitte tun? Da er ja nicht einfach willkürlich entscheiden kann, müsste er sich wieder mit diesen lästigen Grundrechten auseinandersetzen, die Kinder hier nun mal auch haben. Das könnte dazu führen, dass er eine ähnliche rechtliche Einschätzung vornimmt wie das „böse“ Landgericht Köln; oder auch nicht.

Dass der Familienrichter diese Entscheidung innerhalb der bei jüdischen Kindern erforderlichen 8 Tage nach der Geburt treffen würde oder auch nur könnte, ist aber ausgeschlossen. So schnell kann der schnellste Familienrichter und auch die schnellste Familienrichterin nicht über die Sinnhaftigkeit einer ja immer noch tatbestandsmäßigen Körperverletzung entscheiden. Er/sie könnte höchstens einen Euro werfen, da weiß man ja auch nie, was man hat.

Diese Problematik hätte man im Entwurf ganz leicht umgehen können, indem man für die Zustimmung zur Beschneidung einfach die Zustimmung beider Elternteile gefordert hätte. Keine Einstimmigkeit in der Frage, keine Beschneidung. War wohl zu simpel. Aber das war ja nur das erste, kleinere Problem. Das zweite Problem ist gravierender. Offenbar weil man sich der Tatsache bewusst ist, dass man bei allen Entscheidungen, die unmündige Kinder betreffen, deren Wohl und Wehe im Auge haben muss, hat man dem Gesetzentwurf in Absatz 1 Satz 2 eine Zeitbombe hinzugefügt. Denn der ganze schöne Absatz 1, der so tut, als wären die Eltern ganz alleine in der Lage, die Zustimmung zur Beschneidung zu geben, wird nun erheblich relativiert. Er gilt nämlich gar nicht, „wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet ist.“ „Guckguck“, ruft da ganz laut die bisherige Debatte und lacht sich kaputt, dass die Regierung geglaubt hat, sie mit diesem Gesetz zu verscheuchen. „Da bin ich wieder!“, ruft die Debatte. Es geht letztlich doch wieder um das Kindeswohl und nicht um den reinen Elternwillen. Die Eltern und der Beschneider können sich also doch nicht so sicher sein, dass nicht wieder eine Anklage kommt, jedenfalls dann, wenn etwas schief geht, was ja vorkommen soll. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Nicht mal ein Gesetz, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer „breiten“ – oder vielleicht sollte man fairerweise sagen: „großen“? – Mehrheit durchgewinkt würde, bekommt man anständig formuliert.

Der Begriff des Kindeswohls ist in der familiengerichtlichen Praxis seit Jahren eine Wundertüte. Er ist an keiner Stelle des Gesetzes definiert, er hat auch durch die Rechtssprechung, also durch sogenanntes Richterrecht, keine rechte Definition erfahren. In jedem Sorge- oder Umgangsrechtsprozess können also die Parteien und das Gericht mehr oder weniger beliebig über diesen entscheidungserheblichen Begriff philosophieren. Ist ja auch schwer. Der Begriff des Kindeswohls oder der der Kindeswohlgefährdung beeinhaltet ja eine Prognose für die Zukunft des Kindes auf der Basis der Vergangenheit und der Gegenwart. Das ist wie bei der Wettervorhersage. Für einen Tag noch ganz gut machbar, aber wenn es um das Wetter in einem halben Jahr geht, wird’s schon unbrauchbar.
Ist es gut, wenn das Kleinkind bei der überbehütenden Mutter bleibt oder zum laisser-faire-Vater zieht? Besser zur berufstätigen Mutter oder zum Hartz-vierenden Vater, der viel mehr Zeit hat? Ist es besser, das Kind geht zum Vater, der ihm ein Pony versprochen hat (was auch für seinen Rücken gut wäre), oder zur Mutter, die eine gehörige Angst vor Pferden hat? Besser mit oder ohne Vorhaut? Diese Entscheidung ist letztlich immer willkürlich, auch wenn ein einigermaßen guter Jurist sowohl die eine wie auch die andere mit guten Argumenten vertreten kann.

Den Begriff des Kindeswohls ausdrücklich mit der Zustimmungsbefugnis der Eltern in einen Paragrafen zu packen, schafft jedenfalls nicht das Ende der Debatte, erfüllt also nicht einmal den eigentlichen Zweck, den die Mehrheit des Bundestages und auch der Regierung beabsichtigt hatte, nämlich aus der inhaltlichen Diskussion auszusteigen. Der vom Kabinett eingefügte Absatz 2, der bei ganz kleinen Jungs auch den Mohel und andere religiösen Beschneider zum Schnitt kommen lässt, weist das ganze Gesetz auch noch als Sondergesetz für Religionen aus. Oh Gott, kann man da nur sagen. Will das Kabinett ein verfassungswidriges Gesetz?

Vielleicht können sie es nicht (wahrscheinlich), vielleicht wollen sie es nicht (unwahrscheinlich), vielleicht hat die Justizministerin ihnen eine Zeitbombe untergejubelt (hätte was) – letztlich wird wohl doch das Bundesverfassungsgericht die Linien ziehen und entscheiden müssen, was verfassungsmäßig an Körperverletzung geht und was nicht. Das ist vermutlich auch besser so!

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt in Euskirchen. Sein Beitrag erschien am 10. Oktober 2012 im Blog „Alexander Wallasch“. Er hat ihn uns zur Weiterverwendung freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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Fußnote
(1) 
https://www.facebook.com/notes/heinrich-schmitz/die-resolution%C3%A4re-des-schnipp-schnapp-von-ra-heinrich-schmitz/447262585295275

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