Von Siegfried Kühbauer
1. Privatisierung – eine Form der „Enteignung“ öffentlichen Vermögens?
Nach Art. 20 Grundgesetz ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Für die verfassungsgebende Versammlung war es noch unverzichtbar, dass sozialer Ausgleich und Demokratie eine Einheit bilden. Inzwischen werden Milliardensummen für das marode Finanzsystem zur Verfügung gestellt. Für Wirtschaftshilfen und Steuergeschenke gibt es unvorstellbare Beträge. Gleichzeitig gibt es immer weniger Vollzeitarbeitsplätze, die Kommunen sind pleite oder verschuldet, und vielen BürgerInnen jeden Alters fehlt es am Nötigsten.
Seit ca. 25 Jahren rollt eine Privatisierungswelle um die Erde. Nichts scheint sie aufzuhalten. Begründet wird sie immer mit dem gleichen Argument. Die öffentlichen Kassen sind leer. Dies aber ist keine Folge einer Naturkatastrophe oder gar der Globalisierung. Die Kassen sind geleert worden durch eine gezielte Politik der Steuersenkung zugunsten des Kapitals und der Reichen. In den vergangenen zwölf Jahren wurden die Steuern kräftig gesenkt. Nach Untersuchungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat dies mehr zum Staatsdefizit beigetragen als die Ausgabenentwicklung. Würden heute noch die Steuergesetze von 1998 gelten, würden Bund, Länder und Gemeinden in diesem Jahr über 51 Milliarden Euro mehr an Steuern einnehmen. Die inzwischen eingetretene verfassungswidrige Vermögensverteilung in unserem Land enthält explosiven politischen Sprengstoff. Dies zeigt nicht zuletzt die Qualität der momentan geführten öffentlichen Auseinandersetzung um soziale und kulturelle Integrationspolitik.
Ist die Pleite der „öffentlichen Hände“ erst einmal vollzogen, ist das die Gelegenheit für den Verkauf öffentlicher Unternehmen oder die Übertragung öffentlicher Dienstleistung an Private. Nach der Inszenierung der Politik der leeren Kassen müssen diese jetzt selbstverständlich „entlastet“ werden.
2. Meinungsführung durch Henkel und Esel
Seit Ende der 80er Jahre dominierte der damalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel jede von ihm als wichtig erachtete Talkshow, um Anhänger zu sammeln und der marktradikalen Heilslehre zum Sieg zu verhelfen. Er hatte Erfolg. Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten standen für entsprechende Belohnung Spalier. Von allen Seiten dröhnte es: Viel mehr Markt, viel weniger Staat. Die unverzügliche Umsetzung sollte den bevorstehenden Abstieg der Nation aufhalten. Die in unserer Verfassung verankerten persönlichen und kollektiven Grund- und Freiheitsrechte, wie Koalitionsfreiheit und deren vertragliche Sicherungen, menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, würdiges Altern und Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit, gerieten in Misskredit.
Kritiker, die zu mehr Gerechtigkeit, besserer Bildung, höherer Binnennachfrage und Abbau der Kluft zwischen Arm und Reich rieten, wurden diskriminiert. Sie galten als Bedenkenträger, Besitzstandswahrer, Sozialromantiker und Schmarotzer – also als die ideellen Gesamtgewerkschafter.
Jüngster Höhepunkt dieser Diskriminierungskampagne ist die hoch intellektuelle Bemerkung von der „spätrömischen Dekadenz“. Die deutlichste Korrektur haben wir dem inzwischen durch Helmut Kohl zum „Herz-Jesu-Marxisten“ geadelten Heiner Geißler zu verdanken: „Kaiser Caligula hat einen Esel zum Konsul ernannt. Insofern stimmt Westerwelles Vergleich: Vor 100 Tagen ist ein Esel Bundesaußenminister geworden“ (Welt Online, 12. Februar 2010).
Heiner Geißler hat sich mit dem Esel ein wenig vergaloppiert. Incitatus war wohl Caligulas bestes Pferd im Stall. Das konnte Heiner Geißler mit Verlaub von Westerwelle weder sagen noch denken. Von daher ist ihm in diesem Zusammenhang der Vergleich mit dem Esel zu verzeihen.
3. Privatisierung in Berlin durch die Expertenkommission Staatsaufgabenkritik
2001 hat die Expertenkommission (Scholz-Kommission) ihren Abschlussbericht vorgelegt. Versprochen wurde u. a. eine Verwaltungssanierung und –modernisierung, Beschleunigung von Geschäftsabläufen und Bürokratieabbau. Jeder Mensch mit Arbeits- und Lebenserfahrung weiß, wie wenig dies zumindest beim Bürokratieabbau gelungen ist. Die Staatskanzlei im Land Brandenburg bringt es auf den Punkt: „Bürokratieabbau ist als Projekt bislang gescheitert!“ Was bleibt ist die Privatisierung.
Umfangreiche Privatisierungen werden als Trennlinie zwischen öffentlichem und privatem Sektor im Bilde des „kooperativen Sozialstaats“ beschrieben. Die „Einsparpotenziale“ sollten sich bis zum Jahr 2006 im „dreistelligen Millionen-€-Betrag“ bewegen. Eine allgemeine Bewertung soll uns hier erspart werden. Wir alle kennen die Folgen des massiven Stellenabbaus in nahezu allen Lebens- und Dienstleistungsbereichen.
4. Freie Träger als Leiharbeitsfirmen des öffentlichen Dienstes
Die Mütter und Väter des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/SGB VIII) hatten hohe Ansprüche. Nach einer ca. 30 Jahre dauernden Reformdiskussion sollte ein modernes Leistungsgesetz für die Kinder und Jugendlichen unseres Landes verabschiedet werden, das den hohen sozialstaatlichen Ansprüchen unseres Grundgesetzes genügt. Vielfalt statt Konkurrenz, Fachlichkeit statt Stümperei, Gleichheit statt marktbestimmter Beliebigkeit waren u. a. Ansprüche an eine qualifizierte Bildungs- und Sozialplanung.
Die o. g. Marktschreier und die Politik der leeren Kassen haben inzwischen in der Realität dafür gesorgt, dass diese gesetzlichen Ansprüche nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Während die Spitzenrepräsentanten der Wohlfahrtsverbände nicht müde werden, die gesellschaftlichen Armutsverhältnisse und deren Auswirkungen zu bemängeln, werden genau diese Verhältnisse – zumindest was die Arbeitsbedingungen anbelangt – unter ihrer Verantwortung geduldet und organisiert. Dabei ist die Maserati-Affäre nur die Spitze des Eisbergs.
Die aktuelle Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) über den sogenannten „Dritten Sektor“ verdeutlicht, dass die starke Beschäftigungsentwicklung der gemeinnützigen Organisationen in den 1990er Jahren inzwischen stagniert und diese quantitative Stabilität mit deutlichen qualitativen und strukturellen Veränderungen einhergeht. Es zeigt sich ein überproportionaler Anstieg der Teilzeitbeschäftigung, eine exzessive Befristungspraxis und eine deutliche Verschiebung hin zu Ein-Euro-Jobs. Davon sind insbesondere Frauen betroffen, da sie mit 76 % (2008) den größten Anteil der Beschäftigten stellen. Mit dieser Entwicklung sind gleichzeitig eine massive Deregulierung des tariflichen Gesamtgefüges und der Abbau betrieblicher Mitbestimmungsmöglichkeiten zu beobachten.
Dieser Abbau sozialer Leistungen reicht der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, bestehend aus Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag und Deutscher Städte- und Gemeindebund, noch nicht. In einem Schreiben vom 24. Februar 2010 mit dem sinnigen Betreff „Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe – Änderungsbedarf im SGB VIII“ an das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend wird darauf hingewiesen, „dass das in § 4 SGB VIII verankerte Subsidiaritätsprinzip öffentlicher Maßnahmen gegenüber Angeboten der Freien Wohlfahrtspflege sich oftmals wettbewerbshemmend auswirke und kostengünstigere Angebotsstrukturen behindere. Wir bitten zu prüfen, ob dies noch zeitgemäß ist oder ob nicht vielmehr den Jugendämtern die Möglichkeit eingeräumt werden soll, sich ebenfalls an wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientieren zu können“.
5. Privatisierung durch das Berliner „Leitbild Jugendamt“
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Scholz-Kommission haben sich die zuständige Senatsverwaltung und die Berliner Jugendämter im Jahr 2003 auf ein Berliner „Leitbild Jugendamt“ verständigt. Dieses Jugendamt soll sich auf die „Kernaufgaben der Planung, Gewährleistung und Steuerung“ konzentrieren. Die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen sollen dabei weniger durch eigene Leistungserbringung erfüllt werden, sondern durch Leistungen Freier Träger. Wesentliche Kriterien für die Ausgliederung einer Aufgabe sollen dabei vor allem „Qualitäts-, Effektivitäts- und/oder Wirtschaftlichkeitskriterien“ sein. Einig waren sich Senatsverwaltung und Jugendämter, dass das zukünftige Jugendamt seinen Charakter als „kompetente sozialpädagogisch geführte Fachbehörde“ behalten soll. Dabei soll es zu den zwingenden Aufgaben des Jugendamtes gehören, „die rechtlichen Rahmenbedingungen und qualitativen Standards im Leistungsangebot der Jugendhilfe zu gewährleisten“. Für Eingeweihte ist es aber ein offenes Geheimnis, dass inzwischen selbst bei Kernaufgaben der Jugendhilfe die gesetzlich geforderte Gewährleistungsverpflichtung von keinem der Berliner Jugendämter erfüllt wird.
6. Privatisierung der Berliner Jugendarbeit durch Steria Mummert Consulting
Zunächst ist es erstaunlich, dass eine Behörde, zu deren Kernaufgabe die Planung, Gewährleistung und Steuerung gehört, eine Beraterfirma braucht, um die Struktur dieser Behörde zu organisieren. Doch eventuell geht es darum gar nicht. Am Beispiel der Jugendarbeit verdeutlicht sich das wahre Anliegen.
In dem Gutachten von Steria Mummert wird zwar festgestellt, dass Jugendarbeit zu den Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gehört und dass es für die Durchführung der daraus resultierenden Aufgaben eine „objektive Rechtsverpflichtung“ gibt. Gleichzeitig wird aber ohne fachliche Begründung darauf hingewiesen, dass die Vorhaltung eigener Angebote der Jugendarbeit nicht zu den Kernaufgaben des Jugendamtes zählt. Der Betrieb von Einrichtungen sowie die Durchführung von Projekten stellt nach Ansicht von Steria Mummert eine „voll übertragbare Aufgabe“ dar. Begründet wird dies mit der Einsicht, „dass die Beibehaltung solcher operativen Tätigkeiten zum Zwecke des Erhalts eines praktischen Erfahrungswissens oder zur Sicherstellung spezieller Leistungsangebote weder zwingend notwendig noch grundsätzlich ausgeschlossen ist“. Dies ist wahrscheinlich einer der Sätze, die den bekannten Kabarettisten Volker Pispers (*) zu der Aussage animiert haben: „Kennen Sie doch, Unternehmensberater – Eunuchen, sie wissen wie man’s macht“.
Als Beweis dafür, dass in Berlin von der Verfügbarkeit einer ausreichenden Anzahl freier Träger ausgegangen werden kann, die ein qualitativ hochwertiges Angebot realisieren und die Trägerpluralität sichern können, wird der nicht in die Untersuchung einbezogene Berliner Bezirk Lichtenberg herangezogen. Denn dieser hätte bereits 17 von 20 öffentlichen Jugendfreizeiteinrichtungen an freie Träger übertragen. Dabei wird wie selbstverständlich kein Wort über die Einhaltung der eigentlich in Berlin geltenden quantitativen und qualitativen Standards verloren. Für die „Qualitätssicherung“ reicht es, wenn man möglichst viele öffentliche Einrichtungen überträgt und es dadurch „billiger“ wird.
Doch was bedeutet objektive Rechtsverpflichtung und Gewährleistungspflicht für das jeweils zuständige Jugendamt? Die im KJHG/SGB VIII geforderte Gewährleistungspflicht dient der Wahrnehmung der strukturellen und individuellen Gesamtverantwortung. „Die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen müssen nicht nur zur Verfügung stehen, sondern eine bestimmte Normqualität erfüllen. Sechs Faktoren bestimmen diese Qualität: erstens müssen sie geeignet, zweitens in erforderlicher Zahl, drittens in ausreichender Personalausstattung, viertens in ausreichender Finanzausstattung, fünftens in pluraler Breite und sechstens rechtzeitig zur Verfügung stehen. Wird diese Normqualität nicht erbracht, ist die Gewährleistungspflicht nicht erfüllt“ (Prof. Peter-Christian Kunkel).
Für Steria Mummert hat diese gesetzlich geforderte Normqualität offensichtlich keinerlei Bedeutung. Ähnliche Schwierigkeiten haben sie auch mit dem im § 45 AG KJHG geforderten mindestens 10 %-Anteil der Gesamtjugendhilfe für die Jugendarbeit. „Im Sinne der Planungssicherheit ist diese prozentuale Bemessung ungeeignet.“ Endlich wissen wir, weshalb kein Berliner Bezirk diese gesetzliche Verpflichtung erfüllt. Die Planungssicherheit stößt bei der Prozentrechnung an ihre Grenzen. Vorgeschlagen wird von den Unternehmensberatern stattdessen die Bemessung des Budgets der Jugendförderung nach der Zahl der Kinder und Jugendlichen im Bezirk, „z. B. x € pro 1.000 junge Menschen zwischen 12 und 21 Jahren“. Das Beispiel ist erstaunlich, denn bisher müssen junge Menschen zwischen 6 und 25 Jahren gefördert werden.
Ebenso interessant ist der Vorschlag, dass bei der Finanzierung der Jugendarbeit keine „soziostrukturelle Gewichtung“ vorgenommen werden müsse, weil sich allgemeine Jugendarbeit an alle jungen Menschen richte. Dabei wurde offensichtlich übersehen, dass nach § 80 Abs. 2 S. 3 KJHG/SGB VIII Einrichtungen und Dienste so geplant werden sollen, dass „insbesondere junge Menschen und Familien in gefährdeten Lebens- und Wohnbereichen besonders gefördert werden“.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Gutachten von Steria Mummert im Bereich der Jugendarbeit mehr der Rechtfertigung von Missständen als der Förderung junger Menschen dient.
Siegfried Kühbauer, beschäftigt auf der Weddinger Kinderfarm in Berlin, ist ver.di-Mitglied, Diplomsozialpädagoge und Diplomsoziologe. Info Weddinger Kinderfarm: www.sparrplatz-quartier.de/Weddinger-Kinderfarm-e-V.126.0.html
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Fußnote
(*) Das hörens- und sehenswerte Zitat ist einem Beitrag von Volker Pispers auf „You Tube“ aus dem Jahr 2004 entnommen: „Berufsgruppen, die diese Welt nicht braucht“.
Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, den Siegfried Kühbauer am 20. September 2010 bei der Fachgruppe Sozialarbeit der ver.di Berlin gehalten hat. Wir bedanken uns bei Siegfried Kühbauer und der ver.di für die freundliche Genehmigung, ihn hier verwenden zu dürfen.
November 2010