Wagen wir einmal das Gedankenexperiment, dass es keine Schulpflicht mehr gibt, sondern ein Recht auf Bildung. Erste, spontane Antwort: Keiner geht mehr zur Schule, weil sie ja nicht verpflichtend ist. Mag sein, dass keiner mehr in diese Schule geht; das spricht aber nicht gegen die Schüler/innen, sondern in erster Linie gegen die Schule. Weil so, wie sich Schule derzeit gibt, ist sie eine Qualifizierungsmaschine und keine Bildungswerkstatt.
Und da kommt dann die zweite Antwort, die nach längerem Nachdenken logisch erscheint: Wenn Bildung ein Recht ist, wird sich unser Bildungssystem verändern, weil alle Beteiligten mit einer anderen Perspektive bzw. einer anderen Einstellung an die Sache herangehen. Und da ist nicht einmal sicher, dass es Schule noch geben wird. Ivan Illich, Naturwissenchafter, Philosoph und Theologe, hat diesen Gedanken in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch „Entschulung der Gesellschaft“ (es ist nach seinem Tod im Jahr 2003 in der 5. Auflage erschienen und auch online einblickbar) (1) aufgegriffen und ist zu interessanten Schlussfolgerungen gekommen: Für ihn ist die weltweite Verfügbarkeit des ganzen Wissens, das derzeit existiert, für alle Menschen wichtig; also Inklusion statt Exklusion. Das Internet machte dieses sicher möglich. Und dann ging es noch darum, Lernzirkel zu gründen, in denen dieses Wissen im Austausch miteinander erarbeitet bzw. weiterentwickelt wird.
Nun: Ob jeder auf genau diese Gedanken kommen würde, sei dahingestellt. Aber: Ein Recht auf Bildung würde unsere Lernkultur nachhaltig verändern, und lebenslanges Lernen wäre dann keine Drohung mehr, sondern ein Gebot der Stunde. Zumal der Mensch ja als neugieriges, lernfreudiges Wesen geboren wird (siehe die ersten Lebenswochen, -monate und -jahre, in denen eine Fülle an Synapsen durch eine Menge an Lernprozessen entstehen). Und – wie Wissenschafter sagen – unser Gehirn nützen wir ja nur zu einem Bruchteil. Daher: weg mit der Schulpflicht und der Schule in der heutigen Form, hin zu einem Recht auf Bildung für alle! (20. Februar 2012)
Schulpflicht, die Zweite
Mein vorwöchiger Beitrag mit dem Titel „Recht auf Bildung statt Schulpflicht“ hat hinter den Kulissen teils heftige Reaktionen hervorgerufen. Das freut mich, denn dann liege ich bei diesem Thema offenbar ganz richtig. In den Diskussionen wurde sogar bis auf Maria Theresia zurückgegriffen, deren große Leistung es war, die Schulpflicht in Österreich einzuführen – und zwar nicht als Folterinstrument für die Kinder und Jugendlichen ihres Landes, sondern als Schritt in die Emanzipation und gegen die Kinderarbeit.
Da ich es in meinem Blog nicht angeführt habe, möchte ich nun diese Sichtweise gerne bestätigen. Denn das ist ja nicht das Problem mit der Schule in der Gegenwart. Sehr bald schon nämlich zeigte sich, was man alles mit der Schule und vor allem mit den SchülerInnen im Rahmen von Schule machen kann. Und da sind wir durchaus noch in den theresianischen Zeiten, in denen Drill und Vorbereitung auf die zukünftige Rolle in der Gesellschaft (2) sowie das Funktionieren im heutigen Wirtschafssystem zentrale Inhalte sind. Nur: Es klappt nicht mehr so richtig, es gibt immer mehr „schwierige“ SchülerInnen. Aus meiner Sicht sind das Kinder und Jugendliche in und mit Schwierigkeiten und solche, die uns knallhart vor Augen führen, was „unser“ Problem ist.
So kann weder Bildung vermittelt werden noch Ausbildung stattfinden. Und da geht es leider nicht nur um Strukturreformen im Schulsystem, sondern um einen grundlegenden Bewusstseinswandel aller Beteiligten, vor allem der PolitikerInnen und LehrerInnen.
Darum wage ich meine Forderung zu erneuern: Wenn wir ein Recht auf Bildung postulieren, dann brauchen wir die Schulpflicht nicht mehr. Denn dann sind ohnehin alle in der Pflicht, einerseits wirkliche Bildung zu bieten und dieses Angebot auch anzunehmen. Denn jedes Recht ergibt auch Pflichten. Nur werden sie dann als Selbstverständlichkeit gesehen. Und das ist gut so!
Michael Karjalainen-Dräger (c) 2011 – Mit freundlicher Genehmigung (Quelle: karjalainen-draeger.jimdo.com)
Übernommen in i-Punkt 4/2012 (Informationsdienst des ABA Fachverbandes)
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Fußnoten:
(2) siehe meinen Männer-Blog vom 2. März 2012 „Rollenbilder der Gegenwart“