NAGEL-Redaktion – Bildung statt Pillen

Von Birgit Taffertshofer

Kinder und Jugendliche brauchen keine Luxusmedizin für einen gesunden Start ins Leben, viel wichtiger sind gute Vorbilder und Lernmöglichkeiten. Vor allem bedürftige Familien können davon profitieren.

Statistisch gesehen geht es den Kindern in Deutschland blendend. Sie sind auffallend gut entwickelt und wachsen fast 20 Zentimeter höher als Kinder noch vor hundert Jahren. Denn im Unterschied zu jenen haben sie heute reichlich zu essen und müssen sich seltener mit Infektionskrankheiten herumschlagen. Doch größerer Wohlstand und eine bessere medizinische Versorgung garantieren noch lange nicht, dass jedem Kind ein guter Start ins Leben gelingt. Dies belegen die Ergebnisse des ersten Kinderberichts, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im September 2009 vorstellte.

Im Mittelpunkt der internationalen Studie stehen das Wohlbefinden und die Entwicklungschancen der Kinder und Jugendlichen in den 30 Mitgliedsstaaten der OECD. Die Daten deuten darauf hin, dass die hohen öffentlichen Ausgaben für Familien in Deutschland wenig darüber aussagen, wie gut es den Heranwachsenden hierzulande wirklich geht und ob das Geld bei ihnen ankommt. Obwohl die Bundesrepublik, je nach Altersgruppe, zehn bis 20 Prozent mehr Geld für Bildung, Dienstleistungen und direkte Finanztransfers ausgibt als die Mitgliedsstaaten im Schnitt, lebt hierzulande fast jedes sechste Kind in Armut. Im OECD-Schnitt ist es nur jedes achte. Die besten Werte erzielten nach den Kriterien der Organisation die skandinavischen Länder, in Dänemark gilt lediglich jedes 37. Kind als arm. 

Armut macht krank

Natürlich sind die Armen in einem reichen Land wie Deutschland nur relativ arm, die Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche sind aber nicht weniger dramatisch. Armut bedeutet für sie meist nicht nur den Verzicht auf anregende Ferien oder Nachhilfeunterricht, sondern auch höhere Gesundheitsrisiken: Sie ernähren sich häufig schlechter, bewegen sich weniger, sind öfter übergewichtig und leiden stärker an psychischen Problemen. Erkrankte benötigen Zuwendung, Trost und Therapie. Was sie nicht gebrauchen können, sind Schuldzuweisungen von außen, dass sie zu dick, zu faul oder zu schwierig sind. Nach dieser Logik würden die körperlichen oder seelischen Beschwerden aus mangelnder Investition in die eigene Gesundheit resultieren. Doch bei Kindern ist Krankheit nahezu immer unverschuldet. Denn wenn Eltern gesundes Verhalten nicht täglich vorleben, haben ihre Töchter und Söhne schlechte Chancen, es zu erlernen.

Gesundheit bedeutet ja nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Fähigkeit einer Person, Erreger und andere Krankheitsursachen erfolgreich zu bekämpfen. Viele Menschen aber leben heute ungesund und glauben, der Arzt oder die Klinik würden es schon richten. Gigantische Summen werden so für Diagnostik und Hightech-Medizin verschwendet, obwohl bereits 40 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden leiden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern vor allem einer geschulten Beratung und Gesprächsbegleitung bedürfen.

Auch Kinder und Jugendliche geraten leicht in eine Mühle von übereilten Korrekturmaßnahmen. Wenn sie mit zehn Monaten noch nicht laufen können, bekommen sie eine Lauflernhilfe, wer ein paar Gramm zuviel auf den Hüften hat, wird sofort auf Diät gesetzt, und für unruhige Schüler gibt es eine Tablette. Das Streben nach mehr Gesundheit wird in diesem Fall erst zum krankmachenden Faktor. Stattdessen muss es gelingen, die jungen Menschen zu motivieren, achtsam mit ihrer Gesundheit umzugehen. Dafür muss sich jedoch das Bewusstsein in der Bevölkerung ändern – weg von einer wohlmeinenden Fürsorge für Kranke und Behinderte hin zu einer umfassenden Befähigung und Ermutigung der Betroffenen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Schule fürs Leben

Gesundheitsförderung und Prävention stehen auch im Mittelpunkt des 13. Kinder- und Jugendberichts, für den das Deutsche Jugendinstitut (DJI) die Geschäftsführung innehatte. Die Wissenschaftler haben ihn zum Anlass genommen, das Thema Gesundheit in diesem Heft breiter zu diskutieren. Gemeinsam mit renommierten Experten zeigen sie auf, woran das System krankt, das sich in Deutschland um das Wohlbefinden der Kinder kümmern soll. Sie weisen auf Möglichkeiten hin, wie Fachkräfte des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung enger zusammenarbeiten können, damit die Schwächsten in unserer Gesellschaft auch die notwendige Hilfe erhalten: chronisch kranke, behinderte und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Sie alle haben ein Recht auf jene Grundsicherheit, die es ihnen erst erlaubt, sich möglichst frei und gesund zu entfalten.

Wenn die Eltern es nicht schaffen, ihrem Kind ein gutes Vorbild zu sein, müssen andere helfen: Erzieherinnen, Sozialarbeiter und Lehrer, aber auch Freunde, Nachbarn und Sporttrainer. Wenn sie alle anerkennen, dass Bildung nicht nur bedeutet, auf das Leben vorzubereiten und möglichst viel Wissen anzuhäufen, sondern dass Schulen und Kindertageseinrichtungen selbst Orte sind, wo junge Menschen die Kompetenzen zum Meistern des Lebens einüben, dann versteht es sich fast von selbst, dass dort auch Gesundheit gefördert wird. Der Staat muss großzügig sein bei seinen Ausgaben für Kinder, aber er muss sie auch so lenken, dass das Geld bei den Bedürftigen ankommt. Denn wenn Armut Kindern ihre Gesundheit raubt, dann bleibt vom Versprechen des Sozialstaats, all seinen Bürgern die gleichen Startchancen zu ermöglichen, nicht mehr viel übrig.

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Der Beitrag von Birgit Taffertshofer erschien zunächst im DJI Bulletin 3/2009 (Heft 87). Seitens des ABA Fachverbandes werden die Hefte regelmäßig als sehr brauchbar für die Fortentwicklung der pädagogischen Arbeit auch vor Ort eingestuft. Deshalb stellen wir sie jeweils nach ihrem Erscheinen zum Herunterladen ins ABA-Netz. Auf der Seite befindet sich zur Orientierung immer eine kleine Inhaltsangabe zur jeweiligen Ausgabe. Den 13. Kinder- und Jugendbericht gibt es ebenfalls zum Herunterladen im ABA-NetzDas DJI Bulletin findet man natürlich auch auf den Seiten des Deutschen Jugendinstituts.

Bei Birgit Taffertshofer möchten wir uns für die erfreuliche Zusammenarbeit bedanken. Dank auch für ihre Genehmigung, ihren Beitrag hier zu verwenden.

 

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