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Sexueller Missbrauch – Aufdeckung oder Aufklärung?

Zum Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Von Susanne und Heinz Offe

Seit Mitte der 80er Jahre verbreitete sich das Wissen, dass sexueller Missbrauch wesentlich häufiger vorkommt, als man sich bis dahin vorgestellt hatte. Aufgrund der Tatsache, dass es für missbrauchte Kinder schwierig ist, anderen von ihren Erlebnissen zu berichten, entwickelte sich auf Seiten der professionellen Helfer eine engagierte Haltung, die dazu führte, jede Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als glaubwürdig und zutreffend anzusehen.

Inzwischen ist bekannt, dass es auch zahlreiche unzutreffende Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs gibt. Vom Missbrauchsverdacht Betroffene, die sich fälschlich beschuldigt fühlen, haben sich inzwischen in der BRD zusammengeschlossen, um sich gegen einen „Missbrauch mit dem Missbrauch“ zu wehren und auf ihn öffentlich aufmerksam zu machen. In Zeitschriften und im Fernsehen wird auf die z.T. katastrophalen Folgen hingewiesen, die unzutreffende Beschuldigungen und die daraufhin ergriffenen Maßnahmen (Unterbringung der Kinder in Heimen oder Pflegefamilien, z.T. Trennung der Eltern, z.T. Untersuchungshaft des Beschuldigten etc.) nicht nur für den Beschuldigten selbst, sondern auch für die auf diese Weise angeblich geschützten Kinder haben.

Die z.T. sehr emotionalisiert geführte Debatte um die Häufigkeit zutreffender und falscher Beschuldigungen macht es den Mitarbeitern sozialer Berufe wie z.B. ErzieherInnen, Jugendamts-MitarbeiterInnen u.a. schwer, im Einzelfall angemessen und sachlich mit dem Verdacht des Missbrauchs umzugehen. Im folgenden soll auf einige der diagnostischen Probleme, die sich bei der Abklärung des sexuellen Missbrauchs stellen, eingegangen werden, um zu verdeutlichen, wie unzutreffende Beschuldigungen zustande kommen und auch über längere Zeit hinweg aufrecht erhalten werden.

Entstehungszusammenhänge für unzutreffende Beschuldigungen

Der sexuelle Missbrauch ist aufgrund der öffentlichen Diskussion im gesellschaftlichen Bewusstsein besonders präsent. Daher entsteht im konkreten Fall der Verdacht des sexuellen Missbrauchs leichter. Dies gilt sowohl für einen zutreffenden als auch für einen unzutreffenden Verdacht. Falsche Beschuldigungen treten ebenso wie begründete in verschiedenen Lebenskontexten auf.

Es gibt jedoch Zusammenhänge, in denen unzutreffende Beschuldigungen besonders leicht erhoben werden. Es handelt sich u.a. um Fälle, in denen Eltern sich um das Sorge- oder Umgangsrecht nach der Trennung heftig streiten, und um Fälle, in denen bei Kindern im Vorschulalter der Verdacht aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen im Kindergarten oder in anderen Betreuungssituationen entsteht und durch ErzieherInnen formuliert wird. In beiden – sich überschneidenden – Fallgruppen handelt es sich meist um Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren. Bei diesen jungen Kindern besteht das Problem, dass sie selbst noch wenig Auskunft geben können, sodass ihre Äußerungen und Verhaltensweisen einen besonderen Interpretationsspielraum beinhalten. Falsche Beschuldigungen entstehen in dieser Altersstufe deswegen besonders häufig, weil bei den jungen Kindern derartige Äußerungen und auffallende Verhaltensweisen von Erwachsenen falsch gedeutet werden.

Dass in konflikthaften Trennungssituationen, in denen der Ärger und das wechselseitige Misstrauen der Eltern ein hohes Niveau erreichen, der Verdacht des Missbrauchs zu Unrecht aufkommen kann, ist leicht nachzuvollziehen. Der Verdacht stützt sich z.T. auf Äußerungen der Kinder, die von besorgten Müttern überinterpretiert werden. Noch häufiger ist die Interpretation von ungewöhnlichem Verhalten der Kinder, das auf der Basis der intensiven öffentlichen Diskussion des Themas und aufgrund  der emotionalen Situation der Mütter, die im Trennungskonflikt den Vätern alles Schlechte zutrauen, leicht zu der Schlussfolgerung führt, dass der getrennt lebende oder geschiedene Vater das Kind missbrauche. Mütter sind von ihren Befürchtungen häufig sehr überzeugt, selbst wenn der Vorwurf nicht zutrifft. Wir fanden in unserer Tätigkeit als gerichtspsychologische Gutachter bisher jedoch keinen Fall, dass der Vorwurf ausschließlich aus taktischen Gründen in Auseinandersetzungen um das Sorge- und Umgangsrecht vorgebracht wird.

In Fällen, in denen der Verdacht vom Kindergarten ausgeht, liegen ebenfalls in den seltensten Fällen eindeutige Aussagen der Kinder über Missbrauchshandlungen vor. Meist gründet sich der Verdacht auf Zeichnungen und Verhaltensauffälligkeiten, die in Symptomlisten enthalten sind, oder auf uneindeutige und verschieden interpretierbare Aussagen der Kinder. Meist richtet sich auch in diesen Fällen der Verdacht spontan gegen die Väter. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die auch in einem irreführenden Buchtitel („Väter als Täter“) ihren Niederschlag gefunden hat, zeigen empirische Untersuchungen jedoch, dass nur bei einem geringen Anteil der Missbrauchsfälle die leiblichen Väter die Täter waren.

Fehlerquellen bei der Entstehung und Abklärung des Verdachtes

Es gibt kein eindeutiges Interpretationssystem von Kinderzeichnungen, aufgrund dessen aus Zeichnungen verlässlich auf einen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Wenn Kinder z.B. längliche Gegenstände oder Raketen zeichnen, Häuser mit Schornsteinen malen, aus denen Rauch kommt, oder einen „penisartigen“ Entenschnabel zeichnen, sind dies keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch.

Ebenso lässt sich sexueller Missbrauch nicht aufgrund von Verhaltenssymptomlisten diagnostizieren, die auffällige Verhaltensweisen auch andere Ursachen haben können. Das einzige Symptom, dem nach der vorliegenden Literatur ein gewisser diagnostischer Wert zukommt, ist „altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten“. Diese Formulierung macht deutlich, dass es auch altersangemessenes sexualitätsbezogenes Verhalten von Vorschulkindern gibt. Einen ernsthaften Hinweis (wenn auch keinen Beweis) auf sexuellen Missbrauch gibt unangemessenes sexualisiertes Verhalten dann, wenn es häufig auftritt, und zwar auch gegenüber dem Kind nicht vertrauten Personen, und wenn es mit aggressiven Handlungsanteilen verbunden ist. Kein Hinweis auf sexuellen Missbrauch ist es dagegen, wenn ein Kind sich mit gespreizten Beinen in den Sandkasten setzt und Sand zwischen den Beinen verreibt. Auch wenn sich ein Kind, das von einer Erzieherin auf den Arm genommen wird, nicht im „Äffchen-Sitz“ (d.h. mit um den Körper der Erzieherin gelegten Beinen) festhält, sondern sich zu befreien versucht, ist dies nicht als Hinweis auf einen Missbrauch zu werten. Beide Verhaltensweisen sind von Erzieherinnen als Begründungen für einen Missbrauchsverdacht genannt worden. Wenn das Spreizen der Beine als sexualisiertes Verhalten oder das Nicht-Spreizen der Beine als Ausdruck sexueller Traumatisierung verstanden werden, so handelt es sich um überzogene und willkürliche Interpretationen. Wenn erst einmal ein Verdacht vorhanden ist, wird leicht jedes Verhalten als Anzeichen für einen Missbrauch gesehen.

Auch wenn bei einem Kind Verhaltensstörungen auftreten, zeigt dies zunächst nur, dass es ihm nicht gut geht und dass es erheblichen Belastungen ausgesetzt ist, die seine Entwicklung beeinträchtigen. Es gibt keine Verhaltens-Symptome, die einen Rückschluss auf sexuellen Missbrauch als spezifische Ursache zulassen. Die Art der Symptome erlaubt keine zuverlässige Diagnose über die Art der Belastungen. Verhaltensauffälligkeiten sind ein Grund zur Besorgnis; sie sollten Anlass geben, die Art der Belastungen genauer zu klären und nach möglichen Hinweisen zu suchen. Wenn dabei der Blickwinkel von vornherein auf den Verdacht des sexuellen Missbrauchs verengt wird, bedeutet dies keine Hilfe für das Kind, sondern in der Konsequenz oft eine erhebliche zusätzliche Belastung.

Das Spiel mit anatomisch ausgebildeten Puppen ist ebenfalls keine zuverlässige Methode zur Diagnose des sexuellen Missbrauchs. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass sich Kinder, die missbraucht worden sind, nicht eindeutig von Kindern, die nicht missbraucht worden sind, aufgrund ihres Spiels mit den Puppen unterscheiden lassen. Es ist z.B. kein Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes, wenn das Kind beim Ausziehen der Puppen über die Genitalien erschrickt und die Puppen wieder weglegt, ebenso wenig, wenn es das entgegengesetzte Verhalten zeigt und für die Genitalien der Puppe Interesse zeigt. Beide Reaktionen liegen im Normbereich. Es zeigt sich an einem Beispiel wiederum, dass jedes Verhalten mit einem sexuellen Missbrauch in Verbindung gebracht wird. Diese Auffassung schließt die Möglichkeit aus, feststellen zu können, dass kein Missbrauch stattgefunden hat.

Einige Untersuchungen zum Spielverhalten mit anatomisch ausgebildeten Puppen zeigen im Gegensatz zu der bisher verbreiteten Meinung, dass Kinder, die sexuell missbraucht worden sind, sexualitätsbezogene Spiele teilweise eher vermeiden als nicht missbrauchte Kinder. Eine wichtige Informationsquelle, um den Verdacht des sexuellen Missbrauchs zu klären, ist die Befragung der Kinder. Dabei werden die Kinder häufig zunächst von Personen befragt, die von dem Missbrauch überzeugt sind. Die Mütter möchten sich über ihren Verdacht vergewissern; die KindergärtnerInnen führen Befragungen durch und führen Protokolle über jede ihnen verdächtig erscheinende Äußerung. Sogenannte „Aufdeckungsgespräche“ dienen, wie der Name sagt, dazu, einen Missbrauch aufzudecken, wobei die fragende Person meist davon ausgeht, dass ein Missbrauch vorliegt und ihre Aufgabe nur darin sieht, ihn nachzuweisen. Bei einer derartigen Voreingenommenheit müssen fehlerhafte Befragungsergebnisse die Folge sein. Diese Fehler kommen einerseits dadurch zustande, dass die Antworten der Kinder durch die Art der Fragestellung beeinflusst werden (suggestive Einflüsse), und andererseits durch einseitige Interpretationen der so erhaltenen kindlichen Antworten. Die Erkenntnis, dass grundsätzlich durch jede Befragung Einfluss auf die Vorstellungen des Kindes vom Befragungsgegenstand genommen wird, sollte dazu führen, Befragungen an strengen methodischen Regeln zu orientieren, die dazu dienen, suggestive Einflüsse zu minimieren. Anderenfalls ergibt sich leicht eine Beeinflussung der Kinder, die so weit gehen kann, dass die Kinder ausführlich von Missbrauchserlebnissen berichten, ohne sie tatsächlich erlebt zu haben.

Es wird bisher zu wenig berücksichtigt, dass besonders junge Kinder in hohem Maße suggestibel sind und dass ihre Aussagen wesentlich von den Voreinstellungen der fragenden Personen beeinflusst werden. Dies ist um so mehr der Fall, wenn die fragende Person eine für die Kinder wichtige Bezugsperson ist. Wenn Mütter oder KindergärtnerInnen von dem Missbrauch überzeugt sind, können sie wiederholte Befragung erreichen, dass das Kind ihnen berichtet, was sie hören wollen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass man in Kinder alles Beliebige hineinfragen kann. Kinder sind in unterschiedlichem Ausmaß suggestibel. Je sicherer sie sich ihrer Kenntnisse und ihrer Erinnerungen sind, desto weniger Wirkung haben suggestive Einflüsse. Wenn sie jedoch nach Situationen oder Verhaltensweisen gefragt, von denen sie kein sicheres Wissen haben, neigen vor allem jüngere Kinder dazu, entsprechend den von ihnen wahrgenommenen Erwartungen und Sichtweisen der Befrager zu antworten. Bei Befragungen muss daher immer die Möglichkeit von Suggestionswirkungen bedacht werden. Berichte jüngerer Kinder sind oft wenig ausführlich.

Daher ist es oft erforderlich, Kindern gezielte Fragen zu stellen. Es ist bekannt, dass bei derartigen Fragen fehlerhafte Angaben gegenüber Spontanberichten der Kinder zunehmen. Oft werden die Kinder gefragt, ob eine konkrete Missbrauchs-Situation oder Missbrauchshandlung, die der Befrager für möglich hält, stattgefunden hat. Damit werden den Kindern Informationen vorgegeben, denen sie nur noch zustimmen und die sie in weiteren Befragungen verwenden können. Kinder neigen dazu, Fragen mit Ja zu beantworten, wenn die Frage die Möglichkeit einer Ja- oder Nein-Antwort zulässt. Sie neigen auch dazu, Fragen zu beantworten, indem sie die Informationen verwenden, die ihnen in den Fragen vorgegeben werden. Der Grund für dieses Antwortverhalten von Kindern ist darin zu sehen, dass sie gern eine gute Beziehung zu der sie befragenden Autoritätsperson herstellen möchten. Diese Antwort-Tendenzen haben für zukünftige Befragungen der Kinder Folgen.

Um dies an einem erfundenen und absichtlich extrem gewählten Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein Kind auf die Frage eines Erwachsenen, ob sein Vater es missbraucht habe, mit Ja antwortet, um mit dem Befrager, der dies offensichtlich erwartet, Übereinstimmung herzustellen, so wird es möglicherweise bei einer nächsten Befragung, in der ihm die offene Frage gestellt wird, was sein Vater mit ihm gemacht habe, antworten: „Mein Vater hat mich missbraucht“. Auf die Frage, was er denn genau gemacht habe, wird das Kind zunächst nicht antworten können, was oft als eine aufgrund der Missbrauchserfahrung verständliche Verschlossenheit interpretiert wird. Um Kindern die Aussage zu erleichtern, werden z.B. Fragen gestellt, auf die das Kind mit Ja oder Nein antworten kann, z.B. „Hat er dich vielleicht an der Scheide angefasst?“, was dem Kind neue Informationen gibt. In weiteren Befragungen über Missbrauchshandlungen (oder auch über andere Ereignisse) kann es so dazu kommen, dass Kinder ausführlich über Erlebnisse berichten, die niemals stattgefunden haben. Diese Kinder lügen nicht; sie sind vom Realitätsgehalt ihrer Angaben überzeugt, da sie glauben, dass Erwachsene wissen, was sie erlebt haben, und sie in gutem Glauben die Meinung der Erwachsenen übernehmen. Sie unterscheiden auch selbst nicht so genau wie ein Erwachsener zwischen erlebten und ausführlich mit ihnen besprochenen Inhalten, was die Übernahme der Meinung von bedeutsamen Erwachsenen nahe legt.

Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung: Je mehr Information eine Frage enthält, desto geringere diagnostische Information liefert eine zustimmende Antwort des Kindes, und desto schwieriger wird es, zukünftig den Realitätsgehalt von Aussagen dieses Kindes festzustellen. Aber nicht nur suggestive Einflüsse verfälschen die Ergebnisse von Befragungen. Falsche Schlussfolgerungen kommen auch durch voreingenommene und einseitige Wahrnehmungen und Interpretationen der kindlichen Äußerungen zustande. So werden erwartungswidrige Antworten der Kinder schwerer wahrgenommen oder leicht „weginterpretiert“ (z.B. als Scheu der Kinder, über tatsächlich stattgefundenen Missbrauch zu sprechen). Wenn ein Kind nicht die erwarteten Antworten gibt, werden Befragungen z.T. sehr häufig wiederholt, was die Suggestionswirkung erheblich steigert. Mit der Voreingenommenheit geht auch eine Tendenz zur Überinterpretation der kindlichen Äußerungen im Sinne der vorgefassten Meinung einher, so dass Äußerungen von Kindern oft eindeutiger aufgefasst werden, als sie es sind. Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, bei Befragungen Fragen und Antworten wörtlich zu protokollieren, weil sie schon kurz nach der Befragung Erinnerungs-Verzerrungen in Richtung auf das erwartete Ergebnis einstellen. Bei späteren Überprüfungen des Verdachts ermöglichen es wörtliche Protokolle, die Entwicklung der Aussagen des Kindes zu rekonstruieren, um eventuelle Einflüsse von Erwachsenen festzustellen oder ausschließen zu können.

Hinweise für den Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Entsteht der Verdacht, dass ein Kind missbraucht worden sein könnte, befinden sich die damit befassten Personen in einer schwierigen Situation. Oft sind Verdachtsmomente zunächst nicht ausreichend, sodass weitere Nachforschungen erforderlich sind. Bei der weiteren Klärung eines Missbrauchs-Verdachts sollte in jedem Fall sehr genau überlegt werden, ob auch andere Erklärungen für Verhaltensweisen und Äußerungen des Kindes denkbar sind, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Es erscheint sinnvoll, vorsichtiger als bisher mit dem Verdacht umzugehen.

Jeder, der sich mit der Klärung eines solchen Verdachtes befasst, wird sich mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet vertraut machen müssen, um Fehlerquellen zu kennen und im eigenen Handeln zu vermeiden. Eine gegenüber dem Missbrauchsverdacht neutrale Einstellung und das Wissen, dass es falsche Beschuldigungen gibt, sind notwendiger Bestandteil dieser Kompetenzen. Der Verdacht sollte grundsätzlich nicht von der Person überprüft werden, die ihn aufgebracht hat, sondern von einer an dem Fall bisher nicht beteiligten Person. Daraus ergibt sich, dass es bei einem Verdacht, der im Kindergarten aufgekommen ist, nicht Aufgabe von ErzieherInnen sein kann, über Monate und Jahre verdächtiges Verhalten oder Äußerungen von Kindern zu beobachten. Eine Person, die den Verdacht systematisch untersucht, sollte frühzeitig eingeschaltet werden. Je länger der Zeitraum seit den vermuteten Missbrauchsereignissen ist und je öfter das Kind befragt worden ist, desto schwieriger wird es, den Verdacht zu klären.

Bisweilen werden Kinder z.B. von besorgten Müttern schon vor der Abklärung, ob ein Missbrauch stattgefunden hat, in eine Therapie geschickt, in der die Missbrauchserfahrungen bearbeitet werden sollen. Obwohl dies in manchen Fällen wegen der langen Dauer einer endgültigen Klärung notwendig sein kann, ist bei einer solchen Entscheidung zu bedenken, dass eine Therapie, in der Missbrauchserfahrungen vorausgesetzt und thematisiert werden, für ein tatsächlich nicht missbrauchtes Kind eine große Belastung darstellt. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein Kind, das nicht missbraucht worden ist, schließlich vom eigenen Missbrauch überzeugt ist. In keinem Fall kann aber ein Therapeut oder eine Therapeutin , die mit einem Kind in der Therapie (vermutete) Missbrauchserfahrungen aufarbeitet, gleichzeitig als Sachverständige(r) zur Aufklärung des Verdachts beitragen. Wenn sich ein aufkommender Verdacht gegen ein Mitglied der engeren Familie (zumeist gegen den Vater) richtet, stellt sich die Frage, ob die Kinder aus der Familie herausgenommen und fremd untergebracht werden sollen. Hier lassen sich keine allgemeinen Richtlinien geben. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass die schwerwiegenden negativen Folgen, die eine oft länger als ein Jahr dauernde Trennung von den Eltern vor allem für jüngere Kinder bedeutet, von den antragstellenden Jugendämtern oft nicht ausreichend bedacht werden. Als besonders problematisch hat es sich erwiesen, Kinder aufgrund eines ungeklärten Verdachts in Pflegefamilien unterzubringen. Es ist besser, sie für die Übergangszeit in ein Heim zu geben, damit nicht für den Fall, dass sich herausstellt, dass der Verdacht falsch war, ein Kampf zwischen den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern um das Kind entbrennt.

Dr. Susanne Offe ist Dipl. Psychologin und arbeitet u.a. als Gerichtsgutachterin in Bielefeld. Prof. Dr. Heinz Offe ist ebenfalls Dipl. Psychologe. Er arbeitet als Hochschullehrer an der Fachhochschule in Bielefeld. Auch er ist als Gerichtsgutachter tätig.

Die vorstehende Auseinandersetzung wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 56/1994. Sie wurde uns freundlicherweise vom Deutschen Kinderschutzbund zur Verfügung gestellt.

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Kindesmissbrauch und Sexualität

„Ich würde ihm zeigen, wie verdorben ich sein konnte. Alles andere war mir egal. Mein Schamgefühl ist anders geartet. Eine Dame, die vor dem Stühlchen eines behinderten Kindes „oh, wie reizend er doch ist!“ ausruft, ein Neureicher, der dem fünfzehnjährigen Kellner am Fischimbiss einen Skandal vom Zaun bricht, nur weil er kein dunkles Brot hat, ein wohlbeleibtes und gut gekleidetes Ehepaar, das Pfennige als Almosen verteilt, das sind die Dinge, die mein Schamgefühl hervorrufen; das andere Schamgefühl, diese konventionelle Scham habe ich nie besessen.“

(Almudena Grandes in: Lulu. Die Geschichte einer Frau. Hamburg 1990)

Missbrauch des Missbrauchs? Widerständiger Versuch gegen die Irritation

Von Rainer Deimel

Zugegebenermaßen hat die nunmehr seit längerem geführte Diskussion um sexuellen Missbrauch Verunsicherung geschaffen, zumindest was mich betrifft. Gleichzeitig konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich eine ähnliche Verunsicherung ebenfalls bei zahlreichen KollegInnen in den Einrichtungen manifestiert hat.

Das Aufbrechen von Tabus ist oft Voraussetzung für eine deutliche Veränderung und – wünschenswerterweise – Verbesserung bestehender gesellschaftlicher Problemsituationen. Dies ist auch im Falle von Kindesmissbrauch geschehen. Nach anfänglicher Verunsicherung, genährt nicht nur durch das Unfassbare des Missbrauchs an sich, des scheinbar massenhaft auftretenden inzestuösen Verhaltens, der demütigenden und möglicherweise irreversiblen Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene, sondern zusätzlich noch durch meine Rolle als Mann und Vater in einer derartigen Gesellschaft „brannte und brennt mir“ das Thema „auf den Nägeln“. In der Öffentlichkeit, den Medien, in Verbänden usw. wurde die Problematik aktiv „angegangen“, Aufklärung betrieben, wurden Seminare veranstaltet, zahlreiche Bücher und Broschüren veröffentlicht und anderes mehr. Im Laufe dieser Auseinandersetzung geriet beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund zeitweise in eine scheinbar defensive Position:

  1. Seitens des Kinderschutzbundes wurden Schätz-Zahlen angeben, die weit unter denen anderer Fachleute zurückblieben. Katharina Rutschky ( ) stellt in diesem Zusammenhang provozierend fest, dass der Kinderschutzbund damit möglicherweise seine Existenzberechtigung selbst in Frage stellen würde, da er als Organisation doch ein Interesse an möglichst vielen gequälten und missbrauchten Kindern haben müsse.
  2. Der Kinderschutzbund wollte sich – soweit ich dies einschätzen kann – bislang nicht der Meinung unterwerfen, sexueller Missbrauch sei im Vergleich zu anderen Quälereien und Ausbeutungen von Kindern die schlimmste Form von Übergriffen überhaupt.
  3. Trotz aller Anfeindungen ist der Kinderschutzbund bisher nicht von seinem Motto „Helfen statt Strafen“ abgewichen.

Ich freue mich mittlerweile über die Standhaftigkeit dieser – wie ich meine – in Deutschland bedeutendsten Kinderschutzorganisation. In der fachlichen Auseinandersetzung im vergangenen Jahr fiel mir auf, dass die Diskussion immer stärker in Richtung „Hysterie“ auszuarten drohte. Als erleichternd empfand ich das Aufgreifen der Thematik genau in der Intention, einer „Hysterisierung“ entgegenzuwirken, durch das SOZIALMAGAZIN im Mai und im Oktober 1992. Als Mann hatte ich immer noch so meine Schwierigkeiten, mich in dieser Form an die Problematik heranzuwagen. Erst Katharina Rutschky, die als engagierte Frau (Pädagogin und Historikerin) ihr Buch „Erregte Aufklärung“ herausgebracht hat, hat mir den Mut gemacht, mich auf diese Weise zu äußern. Sie – Rutschky – wird sich in der Zwischenzeit allerlei Anfeindungen ausgesetzt fühlen. Ihr ihre Seriosität abzusprechen, dürfte schwer fallen, zumal sie sich als Autorin und Herausgeberin von „Schwarze Pädagogik“ ( ) bereits 1977 einen „Namen“ gemacht hat. Mit einer beharrlichen Akribie hat sich Katharina Rutschky daran gemacht, einmal die Zahlen und Hintergründe aus dem Zusammenhang des Missbrauchs zu beleuchten.

Beim ABA Fachverband erschien in der Reihe DER NAGELKOPF (Nr. 15/1991) die Broschüre „Sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen“ von Petra Monshausen. In meinem Nachwort zu dieser Broschüre hatte ich formuliert: „Statistische Angaben sind im Zusammenhang mit dieser Problematik nicht unbedingt brauchbar. Sie können dazu geeignet sein, lähmendes Entsetzen und Hysterie auszulösen, aber auch Widerstand und Zweifel (‚Jeder vierte Mann …‘); dies wiederum ist einer Begegnung im Sinne von Verhindern und Handeln nicht dienlich, eher blockierend. Darüber hinaus sagen Zahlen über das einzelne Schicksal eines Kindes überhaupt nichts aus. Prozente helfen nicht weiter, sondern bringen eher die Gefahr einer weiteren Diskriminierung mit sich.“

Katharina Rutschky beleuchtet überzeugend den mythenhaften Hintergrund der Zahlen-„Inszenierung“, wobei sie unter anderem schwerpunktmäßig den Expertinnen Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter (Sachverständigenkommission 6. Jugendbericht) „auf den Zahn fühlt“. Sie stellt dabei fest, dass es sich bei der Zahl drei um einen Mythos handeln muss („Jedes dritte Mädchen… 300000 missbrauchte Mädchen… jeder dritte Mann ein Täter… 4 x 300000 = 1,2 Mio., so ist man dann bei der Zahl der BILD-Zeitung… in jeder dritten Minute in diesem Lande Tag und Nacht ein missbrauchtes Kind… ). Sie rechnet nach und stellt fest, dass die schier unermüdlichen Täter mindestens in jeder zweiten Minute aktiv sein müssten, vorausgesetzt, sie würden nie schlafen. So führen sich manche Statistiken selbst ad absurdum, und berechtigterweise stellt Katharina Rutschky fest: „Damit nicht nur jede fünfte, vierte, dritte, ja, jede zweite Frau als Opfer, aber damit auch als Rohstoff für Statistik, Forschungsvorhaben und therapeutische Einrichtungen in Frage kommt, muss man wohl noch weiter gehen, bis dahin, wo der Wahn beginnt und auch der letzte Rest von common sense und Lebensklugheit Ade gesagt haben.“ ( ) Und hinsichtlich der Zahl der missbrauchten Frauen und Mädchen stellt sie dementsprechend die Frage: „Warum nicht alle?“ ( ) Während und nach der Lektüre ihres Buches wurde mein Verdacht bestätigt, dass sich hinter alledem nicht nur das berechtigte individuelle Recht auf seelische und körperliche Integrität des Kindes verbirgt, sondern dass hier auch reichlich ideologische Suppe gekocht werden soll. Und genau damit will ich mich im Folgenden befassen. Ich will dabei auf Zahlen völlig verzichten. Gleichwohl möchte ich aus einer Untersuchung von Dirk Bange ( ), die dieser bei StudentInnen der Universität Dortmund durchgeführt hat, einige Informationen aufgreifen, die mir wichtig erscheinen: „Der Mythos, dass sexueller Kindesmissbrauch ein besonderes Problem der unteren sozialen Schichten ist, bestimmt bis heute das Denken vieler Menschen. Kindern, die von Bürgermeistern, Lehrern oder anderen honorigen Bürgern sexuell missbraucht wurden, ist u.a. deshalb oft nicht geglaubt worden. Diese Annahme wird durch das Ergebnis meiner Studie in Zweifel gezogen. Ingesamt kommt etwa die Hälfte der sexuell missbrauchten Studentinnen aus der Oberschicht oder oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel wurde als der unteren Mittelschicht zugehörig klassifiziert, und nur ein Zehntel sind der Unterschicht zuzurechnen…

Die Ergebnisse der Befragung deuten in die Richtung, dass sexuell missbrauchte Kinder vielfach in einem angespannten Familienklima aufwachsen:

  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre Eltern signifikant konservativer ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen wurden signifikant häufiger mit Schlägen, Hausarrest, Liebesentzug und Verboten bestraft als ihre nicht missbrauchten KommilitonInnen.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten die Beziehung ihrer Eltern zueinander signifikant schlechter ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre eigene Beziehung zu den Eltern als signifikant schlechter ein als der Rest der Befragten…

Bei fast allen sexuell missbrauchten StudentInnen hat die sexuelle Ausbeutung unangenehme Gefühle wie Ekel, Hass oder Verwirrung ausgelöst…

… zu den psychosomatischen Beschwerden gaben die sexuell missbrauchten Studentinnen signifikant häufiger an, dass sie darunter leiden. Sie berichten häufiger über:

  • Essstörungen,
  • Schlafstörungen,
  • Unterleibsbeschwerden,
  • Sprachstörungen und
  • sie lehnen ihren eigenen Körper stärker ab…

Ähnlich sind die Ergebnisse bei den Fragen zu den psychischen Folgen. Die sexuell missbrauchten Studentinnen fühlen sich allgemein niedergeschlagener und trauriger als die nicht missbrauchten. Bei den Männern finden sich zwischen beiden Gruppen keine nennenswerten Unterschiede.

Etwas anders sieht das Ergebnis … zu den Einstellungen bezüglich Partnerschaft aus. Die sexuell missbrauchten Männer fühlten sich seltener wohl in engen Beziehungen und haben größere Angst vor langen Beziehungen als die nicht missbrauchten Männer. Bei den Studentinnen sind bei vier der fünf Fragen die Unterschiede statistisch signifikant: Sie haben

  • mehr Angst, in Beziehungen ausgenuzt zu werden,
  • haben mehr Angst vor Nähe,
  • sind misstrauischer in Beziehungen und
  • haben häufiger Angst vor langen Beziehungen als ihre nicht betroffenen Kommilitoninnen…

Die Ergebnisse sind auch bei den Autoaggressionen erschreckend. Denn die sexuell missbrauchten Studentinnen und Studenten gaben hochsignifikant häufiger als die nicht missbrauchten an, schon Suizidgedanken gehabt oder Suizidversuche hinter sich zu haben… Bei bewussten Verletzungen ist das Ergebnis ähnlich…

… (Die) sexuell missbrauchten Frauen (gaben) … signifikant häufiger an, ihre sexuellen Beziehungen seien schwierig und nach Sexualität seien sie unzufrieden. Die sexuell missbrauchten Männer gaben signifikant häufiger an, zu wenig sexuelle Erlebnisse zu haben und seltener die Initiative zu ergreifen als ihre nicht missbrauchten Kommilitonen.“

Entgegen den Befürchtungen Dirk Banges, das Problem des Missbrauchs könne heruntergespielt werden, möchte ich versuchen, einige pädagogisch-politische Aspekte hinzuzufügen. Ich bin mir der Tatsache des Missbrauchs sehr wohl bewusst. Ein Herunterspielen liegt mir fern. Gleichwohl möchte ich mich auf den Versuch einer Problemrelativierung einlassen.

In der Offenen Arbeit mit Kindern wurde immer wieder auf die Schwierigkeiten und Grenzen hinsichtlich Prävention und vor allem hinsichtlich konkreten Handelns im Falle (vermeintlichen) Feststellens sexuellen Missbrauchs hingewiesen. Auch dieser Umstand hat die Verunsicherung in den Einrichtungen nicht verringert. Vergleichbar schätze ich die Situation bei KollegInnen in Regelbetreuungseinrichtungen und bei LehrerInnen in Schulen ein. Viele KollegInnen sehen sich außerstande, adäquat zu reagieren. Sofern es sich dabei um tatsächlichen sexuellen Missbrauch handelt, erklären Alltag, Rechtslage in Deutschland und die unzureichende soziale, psychosoziale und sozialpädagogische Versorgung die Haltung der Bevölkerung in diesem Lande hinsichtlich dieser „erzwungenen“ Zurückhaltung. Überdies liegt die Vermutung nahe, dass eine primär juristische „Nachsorge“ den Traumatisierungs-Effekt des Missbrauchs noch einmal deutlich steigert. Die angesprochene Hysterisierung durch unangemessene Erregung und zu wenig einfühlsame Aufklärung hat überdies in etlichen Einrichtungen dazu geführt, dass ein Kind, das – aus welchen Gründen auch immer – „schlecht drauf“ ist, sogleich in den Verdacht gerät, Missbrauchsopfer zu sein. Bei aller Liebe und Leidenschaft für den Selbsthilfegedanken, bin ich davon überzeugt, dass gerade sexueller Missbrauch am wenigsten geeignet ist, ihm in Form von Selbsthilfegruppen zu begegnen. Leider ersetzt der frühere Missbrauch an der eigenen Person keine psychologische bzw. pädagogische Ausbildung. Oft sind allerdings dann die Verhaltensweisen entsprechend. Und genau hierin erblicke ich weitere Traumatisierungsgefahren.

Missbrauch und Ausbeutung von Kindern findet in allen Schichten und in vielerlei Hinsicht statt. Ich denke da beispielsweise auch an die Problematik der Kinderarbeit (= „Kindermaloche“, um es von Arbeit mit Kindern oder auch der selbstgewünschten Lohnarbeit junger Menschen abzugrenzen). Die Bewertung von Missbrauch und Ausbeutung kann in der Regel nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Kultur stattfinden. Unsere Kultur mit ihrem Wertesystem gibt Standards vor, quasi eine Skala, mit der wir den jeweiligen Schweregrad von Verstößen einordnen. Aspekte, die sich aus dem Strafrecht ergeben, will ich in diesem Zusammenhang nicht berühren. Wenn es sich nicht um einen ganz augenscheinlich auszumachenden Verstoß handelt, ist die definitive Nominierung des Missbrauchs durch Dritte objektiv kaum möglich. Täter sind wenig hilfreich, da sie meistenteils ihr Vergehen zu verbergen suchen oder überhaupt kein Unrechtsbewusstsein haben. Opfer befinden sich in einer noch größeren Zwangslage: sie sind meistenteils abhängig vom Täter ( ) und fühlen sich wehrlos. Im Falle von Inzest kommt in der Regel erschwerend hinzu, dass das Opfer den Täter liebt und diese Liebe nicht verlieren möchte. Missbrauch, der quasi im Randbereich zwischen Verbrechen und Zuneigung stattfindet, oftmals motiviert durch gestörte psychische Zusammenhänge, kann – leider – oft nur vom Täter als solcher erkannt werden. Hier unbedacht in diesen circulus diabolus einzugreifen, kann die bestehende Dynamik oftmals noch zu weiteren traumatisierenden Turbulenzen kumulieren lassen. Von daher bin ich davon überzeugt, dass es in jedem Fall wichtig und besser ist, einem Kind, das sich als Opfer zu erkennen gibt, Glauben zu schenken, es in seiner Persönlichkeit anzunehmen und ihm deutlich zu machen, dass und wie man es ernst nimmt. Hierzu haben einfühlsame PädagogInnen jederzeit Gelegenheit. Aufgrund psychologischer Erkenntnisse ist dem Opfer damit mehr gedient als mit aufgeregter Geschäftigkeit, Sensationshascherei und staatlicher sowie medialer Interventionsarbeit. Nur wenn es für das Opfer tatsächliche Alternativen und Perspektiven gibt, halte ich eine umfassende Intervention für gerechtfertigt.

Wir sollten weitere Aspekte in unser Gedächtnis zurück- bzw. hineinrufen. Welche Rolle spielen staatlich-kulturelle Normen in diesem Zusammenhang? Wie ist es mit der Vorbildfunktion von PolitikerInnen, deren Vertrauenswürdigkeit in der Bevölkerung augenblicklich – wie nie zuvor – im Schwinden begriffen ist, bestellt? Neben der persönlichen Integrität von PolitikerInnen ist mir dabei auch ihre eigene Verortung wesentlich. PolitikerInnen können es sich am wenigsten leisten, sich hinter Systemvorgaben und -schwächen zu verschanzen. Gerade sie sind es, die mit Hilfe der Politik Wertmaßstäbe entscheidend beeinflussen können. Sollte unser System sich derart verselbstständigt haben, dass PolitikerInnen das nicht mehr können, dann ist das System wohl am Ende, und man kann den PolitikerInnen nur dringend empfehlen, die Hände von der Politik zu lassen. Und wie man hört, haben die Parteien inzwischen ernsthafte Nachwuchssorgen, zumindest was qualifizierten Nachwuchs angeht. Junge Leute spüren dies und leben immer mehr danach. Unterschiedliche Jugendstudien belegen, dass „die Jugend“ nicht unpolitisch geworden ist. Die Werte der Politik entsprechen allerdings nicht den ihren, die stärker als man glauben möchte in ideellen Bereichen liegen. ( ) Welche Rolle spielen die Religionen, die oftmals doppelmoralisch-aggressiv argumentieren und reglementieren? Auch Lustfeindlichkeit sichert Abhängigkeit. Und durch die Manifestation von Abhängigkeiten werden Untertanen und Untertanengeist gesichert. Die patriarchale Gesellschaft ist zunehmend erschüttert worden. Trotzdem hat sie es bislang hervorragend geschafft, ihre Existenz weiter zu sichern. Die Okkupation des Patriarchats und seiner Instrumente durch die Frau schafft Patriarchat nicht ab, sondern lässt Frauen lediglich an ihm partizipieren. Den Grundübeln dieses Systems lässt sich so nicht begegnen. Und Missbrauch und Ausbeutung von Kindern lassen sich so auch nicht abschaffen.

Ich wittere hinter so manchem, was sich gegenwärtig als Kinderanwaltschaft (z.B. gegen sexuellen Missbrauch) oder als Lobby für dieses und jenes verkauft, den Versuch, überkommene Ideologien wieder salonfähig zu machen, neue Ideologien zu kreieren, um weithin Abhängigkeiten zu sichern. So sehe ich teilweise mit großen Bedenken, dass die Kampagne gegen sexuellen Missbrauch – so notwendig sie auch ist – missbraucht wird, um lust- und lebensfeindliche Ideologien durchzupeitschen. Katharina Rutschky schreibt dazu u.a.: „In einer seltsamen Umkehrung sollen in dieser Weltsicht Männer so unter Kuratel gestellt werden wie im Islam die Frauen. Verhüllt und mit niedergeschlagenen Augen müssen sie ihren Ruf als anständige Menschen, als Nicht-Missbraucher täglich neu erweisen. Nur sind sie verantwortlich für das Unheil, das die Sexualität stiftet, wenn sie nicht allerschärfstens überwacht wird: Von uns, den Frauen.“ ( ) Ich beobachte unheilige Allianzen, die ihre „heiligen“ Ziele unbedingt erreichen wollen. Zu einer ähnlichen Bewertung komme ich mittlerweile auch bei einigem, was uns die Aids-Debatte beschert. Vergleichbare Kampagnen gibt es im Zusammenhang mit dem § 218 StGB. PolitikerInnen aller Couleur kommen mittlerweile zu der frappierenden und falschen Feststellung, dass es letztendlich „die 68er“ mit ihren antiautoritären Gedanken und zum Teil entsprechendem Handeln waren, die verantwortlich sind für zunehmende Gewalt und faschistische Radikalisierung in diesem Lande. Wenn der Balken im eigenen Auge bloß nicht so hinderlich beim Hinsehen wäre!

Ich bin der Auffassung, dass der Zeitpunkt überfällig ist, wo PädagogInnen gefragt sind, die in der Lage sind, Kindern die lustvollen Seiten des Lebens – und dazu gehört nun auch einmal die Sexualität – wieder näher zu bringen. Gute und umfassende Aufklärungen sind notwendig, libertäre Bildungsangebote und -chancen sind gefragt. Vieles muss von PädagogInnen wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wenn der Missbrauch vor allem in autoritären (vgl. Dirk Bange) und religiös eher rigiden Familien ein besonderes Problem darstellt, liegt die Vermutung nahe, dass Missbrauch und Ausbeutung dann keine Bedeutung spielt, wenn Kinder in einem Klima aufwachsen, in dem Toleranz, Liberalität, Offenheit gegenüber Fremdem und das Zulassen von Lust und Erotik Werte darstellen. In diesem Sinne müssen pädagogische Konzeptionen entwickelt werden. Junge Leute brauchen Halt, Unterstützung und Bestärkung durch Erwachsene. Kinder haben einen Anspruch darauf, als individuelle und gemeinschaftsfähige, gleichwertige Personen von Erwachsenen akzeptiert zu werden. Erwachsene haben kein Recht, Kinder zu bestrafen oder sie zu missbrauchen.

Ich möchte Mut machen, dass in den Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, die Lust an der Lust (wieder) eine größere Rolle spielen darf. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind keine asexuellen Wesen und lange nicht alle sind Bestien. Dazu gehört auch, Elternarbeit wieder verstärkt auf die positiven Aspekte von Sexualität zu lenken. Da es formaljuristisch nun einmal so ist, dass gerade auch Sexualerziehung ein quasi verbrieftes Elternrecht ist, soll eine gezielte und einfühlsame Arbeit mit Eltern Räume für Lust und Lebensfreude bei Kindern erreichen helfen. Und wenn Eltern dann immer noch nicht aktiv widersprechen, gibt es reichlich zu nutzende „Frei“-Räume.

In dieser Intention können Eltern, PädagogInnen und andere Interessierte nachstehend die Ausführungen zum Thema „Kindliche Sexualität“ von Frank Herrath und Uwe Sielert lesen; dies hoffentlich mit viel Freude. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Elterninformationsheft des Kinderbuches „Lisa und Jan“.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurde er im August 2002 gestellt.

Rainer Deimel ist Referent beim ABA Fachverband.

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Kinder und Sexualität

Von Frank Herrath und Uwe Sielert

Was ist und wie wichtig ist überhaupt Sexualität?

Sexualität ist nicht nur Geschlechtsverkehr, hat nicht nur etwas mit Penis und Vagina bzw. Klitoris oder mit „Kinder kriegen“ zu tun. Sexualität ist sehr viel mehr und vor allem eng verwoben mit allen anderen Bereichen der Persönlichkeit. Sie hat zu tun mit dem Selbstwertgefühl von Menschen, mit ihren Beziehungen zueinander, mit Lebenslust und Lebensbejahung – oder eben auch mit Selbstverneinung und mangelndem Mut. Sexualität äußert sich nicht nur in einem bestimmten Verhalten – Sexualität ist Lebensenergie. Wenn sie akzeptiert wird und so als Energie fließen kann, drückt sie sich schon bei Kindern vielfältig aus:

  • im zärtlichen Bedürfnis nach Hautkontakt, Schmusen, Küssen, Gehalten-Werden,
  • in der Lust am eigenen und fremden Körper, einschließlich der Geschlechtsorgane,
  • in Anspannung, Entspannung, Hingabe an die streichelnden Hände der Eltern,
  • in der heftigen Balgerei mit dem Freund, dem Ganz-und-gar-alles-zusammen-Machen mit der besten Freundin und
  • in der schwärmenden Verehrung der Erzieherin im Kindergarten.

Sie wird dann tastend, sehend, fühlend, schmeckend und hörend erfahren, mit allen Sinnen also, im wahrsten Sinne der Worte: sinnlich und sinnvoll.

Wenn Sexualität als böse Kraft, als Feind betrachtet, tabuisiert und „gedeckelt“ wird, sind verschiedene Konsequenzen denkbar:

  • ihr fehlt jeglicher Ausdruck oder
  • sie äußert sich nur indirekt, im Zusammenhang gewaltsamen Verhaltens,
  • der eigene und fremde Körper wird mit Scham besetzt,
  • Selbstliebe wird nicht sinnlich erfahren,
  • die Lust am Kontakt zu sich selbst und zu anderen bleibt unterentwickelt.

In welche Richtung sich Sexualität und somit das Lebensgefühl bei Kindern entwickelt, das können Eltern mitentscheiden, das lernen Kinder – auch ohne bewusste Aufklärung – schon in der Familie. Sexualität ist aber auch nicht alles im Leben. Als Teil unserer Persönlichkeit ist sie nicht zu trennen von unseren Freundschaften, unserem Familienleben, unserer Arbeit. In jedem Fall ist sie eine mögliche Quelle von Lust, Wohlbehagen, Selbstbestätigung und Sich-angenommen-Wissen, mit der eine Person im Gleichgewicht bleiben, Kränkungen und auch die sowohl unvermeidlichen als auch zur eigenen Stärkung notwendigen Enttäuschungen verarbeiten kann.

Was Kinder „so nebenbei“ über Sexualität lernen

Kinder kriegen nicht nur mit, was man ihnen sagt, sondern ganz viel mehr: das Naserümpfen, die kritisch wirkenden Falten auf der Stirn, das sorgenvolle, unsichere Gesicht und die abwertende Geste. Und das alles zum Beispiel:

  • bei der Körperpflege: Wenn die Klitoris einfach „umgangen“ wird, wenn auf einmal alles schmutzig ist, was „da unten“ existiert, wenn Nacktheit nur auf wenige unvermeidliche Augenblicke beschränkt ist,
  • bei alltäglichen Begebenheiten: der nur flüchtige Abschiedskuss des Vaters für die Mutter als einziger “ öffentlicher“ Ausdruck von Zärtlichkeit, die Zweideutigkeiten während der Familienfeier, das Onanieren des großen Bruders und die Heimlichtuerei, wenn die Eltern miteinander schlafen,
  • bei „besonderen“ Ereignissen: Scheidung der Eltern, „Fremdgehen“ der Mutter oder des Vaters, sexuelle Gewalt durch den Onkel, oder auch, wenn die Eltern wieder neu ihre Liebe zueinander entdecken.

In jedem Fall wirkt das Leben oder angebliche „Nichtleben“ der eigenen Sexualität der Eltern prägend auf ihre Kinder.

Sexualerziehung als „freundliches Begleiten“

Begleiten

  • meint etwas Behutsameres als oft mit „Erziehen“ verbunden wird, schließt das „Sein-lassen“ ebenso ein wie das Beeinflussen: So können Eltern ihrem Kind den Umgang mit einem „undurchsichtigen“ Freund zwar erlauben, aber gleichzeitig Bedenken anmelden.
  • meint das „Zur-Seite-Stehen“ beim Erfahrungenmachen: Nur wenn die Doktorspiele mit dem Nachbarskind erlaubt sind, kann darüber geredet werden, soweit das notwendig ist.
  • meint „interessierte Distanz“: Die Geheimnisse der Kinder achten, bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern Interesse an ihrer Eigenständigkeit.
  • setzt Kontakte voraus. Kontakt entsteht da, wo sich zwei eigenständige Persönlichkeiten an ihren Grenzen begegnen: Eltern sollten um das Liebesleben ihrer Kinder wissen (was mit Hineindrängeln gar nichts gemein hat) und ihr eigenes Liebesleben nicht verstecken.

Freundliches Begleiten

  • meint, eine freundliche Einstellung zur Sexualität zu haben, Sexualität nicht als Feind der Erziehung zu begreifen.
  • meint, sich dem Kind als einer eigenständigen Persönlichkeit zu nähern und auch ein Verhalten zu akzeptieren, das dem eigenen Geschmack nicht entspricht.
  • meint, Kinder ohne Wohlverhaltensforderungen anzunehmen: Sexuelles äußert sich bei Kindern auch sehr ruppig, mit viel Aggression durchsetzt. Sie auch dann zu mögen, das ist sicherlich eine Kunst, aber gerade dann wichtig.
  • schließt Widerspruch ein. Freundlichkeit ist nicht Affenliebe: Kinder werden auch dann ernst genommen, wenn ihnen widersprochen wird, wenn sie Grenzen aufgezeigt bekommen.
  • heißt oft auch mit-leidendes, sorgenvolles Begleiten. Freiräume können auch schlechte Erfahrungen und Enttäuschungen mit einschließen; Eltern neigen dazu, sie ihren Kindern zu ersparen. Wenn das nicht geht oder dem Selbständigwerden entgegensteht, bleibt oft nur das hoffende Zusehen.

Kinder als SexualforscherInnen

„Kindliche Sexualforschung“ ist ein notwendiger Schritt in die Richtung von Selbständigkeit, Beziehungsfähigkeit, Lebensfreude und Produktivsein. Es sind eine gewisse Intelligenz und gezielte Bewegungskoordination erforderlich, sich selbst das Wohlbefinden und die Lust zu bereiten, die zuvor nur durch Kontakt mit der wichtigsten Bezugsperson erreicht wurden. Die vielen Entsagungen, die durch die langsame Loslösung aus der Mutter-Kind-Symbiose entstehen, können nur befriedigend verarbeitet werden, wenn Kinder lernen, sich selbst zu lieben und sich selbst Lust zu machen. Und dazu gehört das Be-greifen des eigenen Körpers, vor allem auch der erogenen Zonen, an denen die Lust am größten ist.

Kinder entdecken diese Lust selbstverständlich an sich selbst, wenn sie auch zuvor von den Eltern lustvoll gestreichelt wurden; wenn sie gar nicht wissen, was Lust ist, werden auch die sexuellen Spielereien fehlen. Das ist – ganz im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung – ein schlechtes Zeichen.

Alles, was erzogen und kultiviert werden soll, muss auch praktiziert, muss gezeigt werden können. Kinder müssen mit ihrem Penis oder ihrer Scheide und den vielen anderen erogenen Zonen umgehen lernen – nur so können sie sich selbst und andere begreifen. Nur so lernen sie, was ihnen selbst und anderen gut tut, was ihnen selbst und anderen schadet. In ihrer Unerfahrenheit und grenzenlosen Neugierde können sie schon mal übers Ziel hinausschießen und sich oder andere gefährden. Es ist wichtig, vor Spielereien zu warnen, die etwas am Körper schädigen können. Das ist z.B. der Fall, wenn versucht wird, Gegenstände in die Scheide zu stecken oder den Penis mit Gegenständen oder großer Kraftanstrengung zu quetschen. Häufiges Onanieren jedenfalls ist weder schädigend noch krankmachend. Ein Wundreiben der Scheide ist mit entsprechender Salbe zu behandeln, nicht mit Mahnungen und Drohungen, das Onanieren zu lassen.

Es ist jedoch wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass es sich nicht in jeder Situation deutlich sichtbar selbst befriedigen sollte, weil es sich damit leicht zum Außenseiter macht und in seinem Selbstwertgefühl geschädigt werden könnte, aber es ist ebenso wichtig, nicht zu früh einzugreifen; selbst, wenn es unangenehm ist, mit anzusehen, wie der Junge beim Spielen im Sandkasten sein Schwänzchen mit entblößter Eichel in den Sand steckt. Es ist richtiger, das Säubern zu zeigen, als das Spielen zu verhindern.

Es kann schon hart an die eigene Schamgrenze gehen, wenn Oma pikiert wegsieht, während die Enkelin am Rande des Planschbeckens sich hin- und herbewegend selbst befriedigt. Aber nichts spricht für die Notwendigkeit, die eigene, für richtig gehaltene Sexualerziehung umzustellen, weil Oma zu Besuch kommt. Und vor allem: auch die Generation der Großeltern ist lernfähig.

Meist ist es besser, die spontane Tendenz zum Eingreifen bei sich selbst zu unterdrücken. Aber auch das hat seine Grenze. Ein Erziehungsverhalten darf nicht zu einem Programm werden, das das Ansehen der eigenen Gefühle und Veränderungsmöglichkeiten als unwichtig behauptet. Wenn sich Eltern selbst überfordern, neigen sie auch dazu, ihre Kinder zu überfordern. Deshalb gilt – trotz aller Selbstkritik und gerade wegen der Notwendigkeit einer sexualfreundlichen Erziehung – ein Grundsatz, auch als ErzieherIn freundlich mit sich selbst umzugehen.

Sinnenreich erziehen

Menschen sind dann am glücklichsten, wenn sie mit allen Sinnen zu anderen Personen Kontakt machen können – und zu ihrer kulturellen und natürlichen Umwelt. Auch Sexualiät hat mit allen Sinnen zu tun: Kinder sehen genau hin, wenn ihre Eltern nackt sind und malen gerne Geschlechtsteile. Ihnen fällt auf, wie unterschiedlich einzelne Körperstellen duften, und wie anregend der Schweiß zwischen den Beinen riechen kann. Die Haut schmeckt mal salzig, mal süß, mal ist sie auch im wahrsten Sinne des Wortes geschmacklos. Ein Kichern kann schadenfroh, erregt oder einfach lustig klingen. Tasten und Berühren eröffnen eine große Bandbreite des Erlebens von wohligem Schauer über äußerste Erregung bis zu schmerzhaften Empfindungen.

Die Vielfalt der Sinne entwickelt sich nur, wenn sie gebraucht werden, wenn erlaubt wird, sie zu kultivieren und wenn Anregungen dazu gegeben werden. Vernachlässigte Sinne als Fühler zur Außenwelt bleiben unterentwickelt oder stumpfen ab – der Mensch wird sinn(en)los.

Eltern können die Sinne ihrer Kinder entfalten helfen. Sie können

  • mit einer Feder an verschiedenen Körperstellen streicheln,
  • gemeinsam Grimassen schneiden,
  • nackt im Bett herumtollen,
  • gemeinsam in der Badewanne sitzen,
  • verschiedene Töne machen, schreien und ganz leise sein,
  • Feuerwerk und Kinderkino ansehen,
  • Schweiß und Parfüm riechen.

Es tut allen gut, wenn Eltern sich gegenseitig und ihre Kinder massieren, gemeinsam singen und Faxen machen.

Noch immer werden Kinder einseitig und „so nebenbei“ mit Anweisungen wie „Träum‘ nicht!“ zum Vernünftigsein und zur emotionalen Mäßigung erzogen; vor allem deshalb, weil alles andere die gradlinige Anhäufung von Wissen stört. „Übermut tut selten gut“ gehört zu jenen Motivationskillern, die ein langweiliges Leben versprechen – und das ist für die Lust am Sexuellen tödlich. Kinder sollten bei aller Sinnenlust ihre Grenzen selbst finden, zumindest nicht zu früh in die Schranken gewiesen werden. Das schließt nicht aus, sie vor Überreizungen zu bewahren, welche die Vielfalt des sinnlichen Erlebens unmöglich machen können. Dazu gehört der überbeanspruchte Walkman ebenso wie die gedankenlose Konfrontation mit angstmachenden Pornofilmen.

Grenzen beachten und Grenzen ziehen

Grenzen geben Profil, unterscheiden voneinander, ermöglichen aber auch den Kontakt und Begegnung, Meinungen ändern sich durch neue Erfahrungen, auch durch Streit und Annäherung. Nacktsein kann in einer Familie ganz normal sein, phasenweise aber auch von den Kindern als unangenehm empfunden werden – gerade dann, wenn die Intimgrenzen erstmalig abgesteckt werden.

In der Öffentlichkeit sind die Grenzen meist enger gesteckt als in der Privatsphäre. Die meisten wollen ganz bewusst bei flüchtigen Kontakten mit vielen Menschen weder besonders auffallen noch sich mit Auffälligkeiten anderer beschäftigen. Wenn Autofahrerinnen ständig von nackten Fußgängern abgelenkt würden, wenn alle Gäste von Tante Gretes Geburtstagsfeier sich auf den onanierenden Jan konzentrierten, wenn Badegäste durch Lustgestöhne von der Nachbardecke sich mit Sex konfrontieren müssten, könnten die Nerven schon überstrapaziert werden. Vielleicht wäre das Arbeitsleben etwas bunter, die Geburtstagsfeier etwas spannender und der Straßenverkehr humaner, wenn die Menschen mehr von sich zeigen würden, wenn sie persönlicher miteinander umgehen könnten. Weil Kinder erst einmal dazu neigen, sich nicht so sehr darum zu kümmern, was man öffentlich tut und lässt, könnten sie viel dazu beitragen, wenn man sie ließe. Wenn Lisa im Beisein der Mutter die ahnungslosen Nachbarskinder darüber aufklärt, wie Männer und Frauen Kinder machen, muss Frau Brandis sich schon zusammennehmen, um nicht einzugreifen. Und Jans Vater überlegt sich bestimmt dreimal, ob er die von Papa stibitzten Präservative aus Jans Kindergartentasche wieder herausholt, die der für seine Freunde gerade eingepackt hat. Beide „Schamlosigkeiten“ könnten aber die öffentliche Kommunikation über Sexuelles bereichern. Aber die Grenzen für wirklich berührende, unberechenbare Kontakte bleiben in öffentlichen Bereichen immer enger gesteckt als in Freundschaften oder in der Familie. Und das ist meistens auch gut so.

Kinder sind oft schamlos gegenüber konventionellen Regeln, wissen aber sehr wohl, wann ihnen ein Erwachsener zu nahe rückt und seine Berührungen unangenehm werden. Wenn Erwachsene auf zärtliche Berührungen von Kindern mit Leidenschaft und Erregung antworten, kann das als gewaltsame Grenzüberschreitung erlebt werden. Viele Eltern nehmen die Signale der Kinder nicht wahr oder sehen darüber hinweg. Ihr eigenes Interesse ist ihnen in dem Moment wichtiger als die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes. Andererseits ist mancher Vater verunsichert und vermeidet vor allem im Beisein anderer zärtliche Berührungen, soweit sie nicht „unverfänglich“ und fernab von den Geschlechtsteilen stattfinden. Weil Berührungen – auch der Geschlechtsteile – für Kinder wichtig sind, sollten sie nicht aus Angst vermieden werden; wichtig ist, dabei auf die Reaktionen des Kindes zu achten, die auf unangenehme Gefühle hindeuten. Kinder leiden nicht nur unter extremen, gewaltsamen Grenzüberschreitungen; schon viel früher erlauben sich Erwachsene Einbrüche in die Intimsphäre und latschen über deutliche Schranken. Wenn lediglich wegen des allgemeinen Ordnungssinns die gerade aufgebaute Bude im Wohnzimmer zerstört wird, wenn die Selbstbefriedigung vor dem Einschlafen bewusst gestört und Oma in jedem Fall ein Recht auf feuchte Küsse eingeräumt wird, wird kindliche Privatsphäre missachtet.

Grenzen müssen manchmal erst übertreten werden, um sie zu spüren. Vor allem Kinder üben sich darin täglich und lernen dabei, die eigenen und die Grenzen anderer zu achten. Grenzen lassen sich vor allem aushandeln und dadurch verändern. Vielleicht ist Oma auch mit einem Kuss auf die Backe zufrieden, und die Bude darf noch so lange stehen bleiben, bis abends Besuch kommt. Von beiden Seiten ist dazu Entgegenkommen nötig, von Erwachsenen etwas mehr, weil sie leicht dazu neigen, sich selbst mehr Raum zu nehmen, als sie den Kindern zugestehen.

Nein- und Ja-Sagen

Weil viele traditionelle Verhaltensvorschriften heute nicht mehr gelten und die Lebensläufe der Menschen nicht mehr durch ihre Herkunft hart vorgezeichnet sind, müssen immer mehr Menschen immer früher selbst entscheiden, was für sie richtig ist und was sie wollen. Diese Fähigkeit fällt nicht vom Himmel und ist nicht ganz plötzlich da, sondern schon Kinder müssen das lernen. Wer nicht selbst deutlich JA und NEIN sagen kann, wird auch nicht bekommen, was er sich wünscht und sich nicht davor schützen können, wenn ihm andere etwas wegnehmen.

Lisa und Jan sagen, was sie mögen und was nicht. Sie haben mit ihren Sinnen viele Antennen entwickelt, die wie ein Frühwarnsystem Gefahren anzeigen und die sie als sensible Empfänger für Wohltuendes benutzen. Andere Kinder haben solche Antennen nicht entwickeln dürfen und vertrauen darauf, dass die Erwachsenen schon richtig für sie entscheiden. Wenn Kinder immer das aufessen müssen, was man ihnen auf den Teller legt, verlieren sie irgendwann das Gefühl dafür, wann sie satt sind und können auch sich selbst gegenüber nicht mehr NEIN sagen. Genauso verlieren sie die Fähigkeit, bei unangenehmen Annäherungen NEIN zu sagen, weil sie aus Dankbarkeit, Höflichkeit, Gehorsam oder anderen ehrenwerten Tugenden alles tun müssen, was ihnen Erwachsene sagen. Aus lauter Vorsicht vor Missbrauch lehren Eltern vor allem ihre Töchter das NEIN-Sagen, ohne das JA-Sagen in gleicher Weise zu stärken. Dann können sie vielleicht die unangenehmen von den wohltuenden Kontaktangeboten unterscheiden, bleiben aber in der Rolle der Abwartenden und sind von der Initiative der Erwachsenen oder der Jungen abhängig. JA-Sagen bedeutet nicht nur, etwas zuzulassen, sondern auch, sich zu nehmen, was man will: JA- und NEIN-Sagen lernen bedeutet, bewerten und entscheiden zu können. Mütter vermeiden oft das Erziehen zum JA-Sagen aus anerzogener Zurückhaltung oder aus Angst, an Grenzen zu geraten oder für Grenzüberschreitungen Unangenehmes in Kauf zu nehmen. Gegenüber allem Sexuellem wird ohnehin Zurückhaltung geübt. Immer ist es der Vater, der auch Sonntag Nachmittag mal mit der Mutter ins Bett will und dann vorwurfsvolle Blicke erntet, weil doch die Kinder im Nebenraum spielen. Wie soll die Tochter dann lernen, dass sie für ihr Wohlbefinden und ihre Lust etwas tun muss und nicht nur auf die doch extrem dünn gesäten Märchenprinzen warten kann?

Erziehung heißt Lernen ermöglichen und Grenzen setzen

Für gelingende Erziehung allgemein gilt: Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden und mit Grenzen umzugehen. In der Sexualität überwiegt bis heute das Grenzen-Setzen. Sexualität ist für viele immer noch der Feind der Erziehung, der Inbegriff alles Triebhaften, das gezügelt werden muss. Sie glauben, dass Kinder sonst überschwemmt werden von ihren Gefühlen und keine Moral mehr entwickeln.

Natürlich gibt es so etwas wie eine innere Bereitschaft zur sexuellen Aktivität, die sich phasenweise unterschiedlich dringend meldet. Die Spielarten ihrer Befriedigung, auch die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, die ganze Vielfalt der sexuellen Ausdrucksformen entwickelt sich nur im Austausch mit der Umwelt, durch Lernen auch in der Familie. Ob Sexualität als „notwendiges Übel“ mit kurzfristiger lustvoller Entladung erlebt wird, die „irgendwie ihren Weg schon findet“ oder als Sprache des Körpers mit vielen Dialekten, das hängt davon ab, was Kinder wissen und tun dürfen. Sie sollten immer etwas mehr wissen und im geschützten Raum der Familie tun dürfen als sie aktuell brauchen. Nur so ist Fortschritt beim Lernen möglich. Wie Geschlechtsverkehr aussieht, und was er für die Beteiligten bedeutet, sollten sie nicht erst wissen, wenn sie sich selbst alt genug dafür fühlen. Das dürfen sie bei ihren Eltern ruhig mal gesehen haben, wenn das auch für diese keine unvorhergesehene Katastrophe bedeutet.

Nun gibt es allerdings Eltern, die nicht mehr wagen, Grenzen zu setzen. Vor allem Mütter haben oft Angst, etwas falsch zu machen, lassen sich selbst ausbeuten, und die Kinder spüren keinen Widerstand mehr. Kinder drücken sich natürlich gerne vorm Aufräumen, wollen auch ihren Rhythmus durchsetzen, wollen nur Süßes, greifen vielleicht auch mal der Tante unter die Bluse. Dann ist es nötig, Grenzen zu setzen. Dann ist Konflikt angesagt. Erwachsene müssen aufpassen, dass sie dabei nicht ihre ganze Macht einsetzen, vor allem nicht die Körperkraft, deren Einsatz aufgrund der kindlichen Chancenlosigkeit meist als besonders erniedrigend erlebt wird. Auch für die Auseinandersetzung mit Kindern gilt der Grundsatz der fairen Ausgangsbedingungen, ohne die kein Konflikt zufriedenstellend gelöst wird.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurden er im August 2002 gestellt.

Frank Herrath ist Mitarbeiter des Instituts für Sexualpädagogik in Dortmund. Dr. Uwe Sielert ist Professor an der Universität Kiel.

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Outsourcing in der Jugendarbeit

Von Marco Szlapka

Die Ausgliederung von Verwaltungseinheiten, das sogenannte Outsourcing, um Verwaltungseinheiten flexibler zu steuern und vor allem Geld einzusparen, ist aktuell auch im Bereich der Jugendhilfe zu beobachten. Immer mehr Kommunen gehen dazu über, Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe als Eigenbetriebe, als GmbH´s mit kommunaler Beteiligung oder ganz an freie Träger der Jugendhilfe abzugeben beziehungsweise zu überführen. Die damit verbundenen Prozesse sind häufig – vor allem für die betroffenen Mitarbeiter/innen – mit einer ganzen Reihe von Ängsten und Problemen verbunden. Drei unterschiedliche Beispiele aus der letzten Zeit.

Köln: Betriebsgesellschaft Jugendzentren Köln gGmbH

Ende 1996 wurde es zum ersten Mal öffentlich: Die Stadt Köln beabsichtigt, zum 1. Januar 1998 alle 18 städtischen Jugendzentren an eine gemeinnützige Gesellschaft abzugeben, um über diesen Weg jährlich 400.000 bis 500.000 DM zu sparen. Ein entsprechender Gesellschaftsvertrag sieht die Gründung einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) vor, an der die Stadt Köln 51 Prozent der Anteile und als Mitgesellschafterin ein Jugendhilfe e.V. die verbleibenden 49 Prozent übernimmt. Die Stadt Köln hat mit der Gründung von gGmbH´s in der Jugendhilfe schon Erfahrungen gesammelt, so wurde vor Mitte der neunziger Jahre eine gGmbH als Betriebsgesellschaft für Tageseinrichtungen für Kinder gegründet.

Die Stadt Köln rechnet im Bereich der Jugendfreizeitstätten mit einer Kostenersparnis im Jahr 1998 gegenüber dem Haushaltsjahr 1997 in Höhe von 473.900,- DM. Die Ersparnis soll erreicht werden, indem die Zuschüsse der Stadt nur 95 Prozent der Betriebskosten ausmachen und die Betriebsgesellschaft die fehlenden fünf Prozent selbst erwirtschaften muss. Da die Betriebsgesellschaft im Gegensatz zu einem freien Träger der Jugendhilfe über keine eigenen Finanzmittel verfügt, können die fehlenden Finanzmittel nur über den Weg der Raumvermietung, des Sponsoring bzw. aus Einnahmen von Veranstaltungen erzielt werden. Ob dies im Umfang von einer halben Million DM gelingen kann, bleibt abzuwarten.

Dem Aufsichtsrat der neuen Betriebsgesellschaft sollen kraft Amtes der zuständige Beigeordnete, der Vorsitzende sowie der stellvertretende Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses sowie die Leitung der Verwaltung des Jugendamtes angehören. Über diesen Weg ist „gesichert“, dass die Politik der Betriebsgesellschaft weiterhin über den öffentlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt wird. Die Chance für eine größere Autonomie besteht lediglich durch die vorgesehene Gründung von Beiräten in den jeweiligen Stadtbezirken, deren Aufgabe und Funktion noch nicht näher definiert ist. In diesen Beiräten sollen nicht nur alle Fraktionen vor Ort vertreten sein, sondern neben dem oder der Bezirksjugendpfleger/in noch weitere Personen aus den Bezirken. Die Beiräte könnten so zu Gremien werden, die nicht nur eine Unterstützung für die Stadtteil- und Lebensweltorientierung der pädagogischen Arbeit leisten, sondern sich gleichzeitig zu echten Lobbyisten für die Einrichtungen entwickeln und damit die Autonomie gegenüber der städtischen Politik stärken.

Die zur Zeit noch 47 städtischen Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen erhalten von der gGmbH unter Anerkennung ihrer bisher erworbenen Beschäftigungszeiten Arbeitsverträge nach dem Bundes-Angestellten-Tarif. Den übergeleiteten Mitarbeiter/innen soll zugesichert werden, dass sie bei Kündigung, Auflösung oder Liquidation der Gesellschaft wieder bei der Stadt Köln beschäftigt werden. Für welchen Zeitraum diese Zusage gilt, steht noch nicht fest. Zur Zeit haben sich nur 17 der Mitarbeiter/innen bereit erklärt, in die gGmbH zu wechseln, alle anderen wollen bei der Stadt Köln bleiben und werden in andere Aufgabengebiete versetzt. Da im Fall der Kindertagesstätten nur zehn Einrichtungen und damit längst nicht alle städtischen Einrichtungen in die gGmbH überführt wurden, liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen mit entsprechenden Personalvereinbarungen in der Stadt Köln vor.

Die vor einem Wechsel in die gGmbH stehenden Mitarbeiter/innen erwarten von der neuen Betriebsform vor allem eine stärkere Transparenz bei Entscheidungen, eine flachere Hierarchie und vor allem größere Autonomie der Einrichtungen. Mit Unterstützung der Gewerkschaften bemühen sie sich nun, eigene Vorschläge zur Strukturierung und Steuerung der Arbeit innerhalb der Betriebsgesellschaft zu entwickeln.

Dortmund: „Feindliche Übernahme“ durch die Falken?

Das Angebot kam, wie in Fällen der „feindlichen Übernahme“ üblich, ohne dass mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen gesprochen wurde, ohne dass die städtischen Mitarbeiter/innen informiert waren und vor allem ohne dass es vorher eine fachliche Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit einer Übertragung von städtischen Einrichtungen in die Trägerschaft freier Träger gegeben hätte. Die Falken als Jugendverband haben Ende 1996 der Stadt Dortmund angeboten, sowohl eine städtische Jugendfreizeitstätte als auch einen entsprechenden Kinder- und Jugendtreff zu übernehmen.

Das Interesse der Falken an einer solchen Übernahme ist vor dem Hintergrund der Neuordnung des Landesjugendplanes NRW verständlich. So entwickeln sich die Falken immer stärker von einem „Mitgliederverband“ zu einem „Strukturverband“ der Jugendarbeit. Allein in Dortmund haben die Falken in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Einrichtungen und Strukturen für die Jugendarbeit geschaffen bzw. übernommen. Die Offene Jugendarbeit der Falken, zum Beispiel in den Städten Essen und Gelsenkirchen, genießt einen guten Ruf und verdient Anerkennung, auch über die Grenzen dieser Städte hinaus. Der Protest und der Vorwurf einer „feindlichen Übernahme“ in Dortmund, vor allem von Kindern- und Jugendlichen sowie den Mitarbeiter/innen aus den betroffenen Einrichtungen erhoben, liegt daher auch vor allem im Verfahren begründet.

Ausschließlich über die politische Ebene ein Angebot zur Übernahme von städtischen Einrichtungen zu unterbreiten, ohne dass es vorher eine fachliche Diskussionen in der Jugendhilfe, eine Debatte mit den Betroffenen über Ziele und Perspektiven der Arbeit gegeben hätte, musste auf Unverständnis und Protest stoßen.

Letztlich wurde in Dortmund auch nur die Übernahme der beiden Einrichtungen für eine Modellphase von drei Jahren beschlossen (1998 bis 2001), wobei das vorhandene Personal in andere städtische Einrichtungen gewechselt ist. Die Stadt spart 21.500,- DM jährlich, die nun von den Falken selbst erwirtschaftet werden müssen.

Festzuhalten bleibt: Die Diskussion über eine Ausgliederung von Einrichtungen, über die Chancen und Grenzen einer Übertragung an freie Träger, wurde in Dortmund möglicherweise unzureichend geführt.

Remscheid: Autonomie und Eigenverantwortung gestärkt

In der Stadt Remscheid wurde vor ca. zwei Jahren eine offene Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einrichtungen an freie Träger geführt. Als Ergebnis wurde eine Reihe von Einrichtungen an freie Träger – vor allem waren es Jugendhilfevereine – überführt und die Arbeit in den Einrichtungen per Vertrag abgesichert. Die Mitarbeiter/innen erhielten die Chance, erst einmal in die neue Trägerform zu wechseln und innerhalb der ersten fünf Jahre zu entscheiden, ob sie bleiben oder zur Stadt zurück wollen.

Sowohl der Prozess als auch die ersten Erfahrungen nach der Überleitung werden von fast allen Mitarbeiter/innen als positiv bewertet. So ist es tatsächlich gelungen, die Einrichtungen in ihrer Autonomie zu stärken und vor allem die Offene Arbeit abzusichern, was angesichts der Haushaltslage der Stadt Remscheid in städtischer Trägerschaft nur sehr schwer möglich gewesen wäre.

Entwicklungen beobachten

Eine abschließende Beurteilung der Frage, welche Chancen und Risiken in einer Übertragung von Einrichtungen der Jugendhilfe liegen, ist aktuell kaum möglich. Zu kurz und zu unterschiedlich sind die Erfahrungen in den Städten, um zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Festgehalten werden kann nur: Eine Übertragung von Einrichtungen setzt einen möglichst offenen Prozess voraus, an dem die Mitarbeiter/innen ausreichend beteiligt werden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie der ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern werden zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen die aktuellen Prozesse weiter verfolgen. Daneben ist eine Fachtagung geplant, auf der die unterschiedlichen Erfahrungen ausgetauscht und Forderungen für die Gestaltung entsprechender Prozesse formuliert werden sollen. Die Jugendhilfe muss sich in der nächsten Zeit verstärkt auf solche Prozesse – auf ein sogenanntes Outsourcing von Einrichtungen und Dienste – einstellen.

Der Autor Marco Szlapka (wohnhaft in Seeshaupt) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Essen (jetzt Duisburg-Essen) und Geschäftsführer des Instituts für Sozialplanung und Organisationsentwicklung (INSO) sowie Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Vorstehender Beitrag wurde in DER NAGEL 59/1997 veröffentlicht, hier eingestellt im Juli 2003.

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Zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe

Von Manfred Kappeler

Ich möchte eingehen auf Begriffe wie Systemgewalt, Erziehungsgewalt, Erziehungsverantwortung, Grenzensetzen, die in die Diskussion gegeben worden sind. Dabei geht es mir um die Frage, was der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen für die praktische Arbeit im gesamten Bereich der Jugendhilfe bedeutet. Ich habe diesen Fokus gewählt, weil ich glaube, dass das gemeinsame Nachdenken über die Realisierung des Subjektstatus eine Klammer bilden kann für alle Bereiche der Jugendhilfe und uns dieser Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Situation vielleicht helfen könnte, jugendpolitisch in die Offensive zu kommen.

Bevor ich genauer auf den Subjektstatus eingehe, möchte ich jedoch an einen Kontext erinnern, in dem diese Überlegungen stattfinden: die Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Es sind eine Reihe von Fragen aufgetaucht, mit denen die Wiedergabe einer Diskussion skizziert wird, die den Tenor hat (wenn ich das richtig verstanden habe): Wer macht die Arbeit mit den Kindern, den Jugendlichen und Familien besser – die Formen der offenen Arbeit, z.B. der Jugendsozialarbeit oder die Hilfen zur Erziehung? Wer ist näher dran an den Kindern und Jugendlichen? Wer erfüllt die Essentials des VIII. Jugendberichts (Lebensweltorientierung, Partizipation etc.) besser? usw. usf.

Diese Diskussion ist m.E. von Konkurrenz und gegenseitigem Misstrauen bestimmt. In dem Versuch, da herauszukommen, wurde der Vorschlag gemacht, zu überlegen, ob nicht jeder Träger der Jugendhilfe jede ihrer Aufgaben wahrnehmen soll. Wie müssen aber, wenn wir diesen Vorschlag diskutieren wollen, den Kontext unseres gegenwärtigen pädagogischen Handelns berücksichtigen. Ökonomisierung heißt: die Soziale Arbeit wird verändert in einem weiteren Kontext: dem sogenannten Umbau des Sozialstaates, u.a. mit der fadenscheinigen Begründung des Missbrauchs sozialer Leistungen und knapper Ressourcen in den öffentlichen Haushalten. Die Missbrauchsdebatte ist das Instrument, warum in der Bevölkerung eine große Koalition für den Abbau sozialer Leistungen und Netze durchzusetzen möglich wird. Ein Beispiel dazu: bis vor einigen Jahren wurde im Bereich der Sozialhilfedebatte darüber nachgedacht, wie man es erreichen könnte, dass die Hunderttausenden, die ihre Rechtsansprüche nicht wahrnehmen, zu ermutigen sind, die Schwelle zum Sozialamt zu überschreiten und die Scham der Armut zu überwinden, ihre Rechtsansprüche offensiv wahrzunehmen. SozialpädagogInnen haben sich in Gruppen zusammengetan, mit Sozialhilfe-Broschüren, mit selbstorganisierten Beratungsstellen usw. gegenüber der restriktiven Struktur der Bürokratie, die Menschen zu unterstützen. Sie haben den Subjektstatus der „Hilfeempfänger“ ernst genommen, die Menschen ermutigt, sich nicht abkanzeln zu lassen als „Schlaucher“, als Arme usw. Damals wurde ausgerechnet, dass mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten in der Bundesrepublik ihre Ansprüche auf Leistungen nicht wahrnehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert, es ist vielmehr noch schlimmer geworden, weil die Erfahrungen, die die Leute in den Sozialämtern machen, heute noch mehr dazu beitragen, aus Scham und Stolz auf Leistungsansprüche zu verzichten. Aber jeden Tag wird von Politikern und Bürokraten über die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe lamentiert, und jeden Tag werden Forderungen zur Einschränkung von sozialen Leistungen in die Diskussion gebracht.

Das ist eine Katastrophe. Es ist vor allem eine Katastrophe, dass wir unsere Profession, die Soziale Arbeit für die Politik der Privatisierung gesellschaftlich produzierter Lebensrisiken funktionalisieren lassen.

Ökonomisierung heißt: die zentrale, theoretische und gesellschaftliche Kategorie für die soziale Arbeit ist der Markt. Soziale Leistungen als Dienstleistungen haben sich auf dem Markt auszuweisen. Es wird ideologisch und scheinheilig mit dem begriff der Kunden gearbeitet, als seien die Menschen, die die sozialen Leistungen in Anspruch nehmen müssen und wollen, im Status von Käufern, die das Geld in der Tasche haben, um geschützt durch Verbrauchergesetzgebung sich auf irgendeinem Markt die sozialen Leistungen auswählen und einkaufen zu können, die sie brauchen. Welch ein Zynismus!

„Marktgängigkeit“ – neue Leitlinie Sozialer Arbeit?

Die SozialpädgogInnen werden aufgefordert, ihre Dienstleistungen als „Produkte“ zu beschreiben und sie in Katalogen öffentlich zu offerieren und auszulegen, damit die „Kunden“ sich das ihnen genehme Produkt auswählen können. Das wird unter dem Begriff der Beteiligung (Partizipation) verkauft. Das sind neue Sprachregelungen, die anfangen, das Fühlen, Denken und Handeln der Professionellen zu bestimmen. In Berlin wird in weiten Bereichen fast nur noch so geredet. Im Rahmen der Verwaltungsstrukturreform haben die KollegInnen in allen sozialen Diensten monatelang fast nichts anderes getan, als Produktkataloge zu erstellen, die termingerecht vorgelegt werden mussten. Bei der Ausarbeitung dieser „Produkte“ war nichts von irgendeiner Selbstbeteiligung der Adressaten solcher Dienstleistungen zu sehen. In Berlin ist das weit fortgeschritten, und die ganze Sache wird im Rahmen der „Neuen Steuerung“ im Prinzip mit betriebswirtschaftlichem Denken betrieben. Damit kommt eine Haltung in die soziale Arbeit, die aus einem anderen gesellschaftlichen Bereich stammt, wo sie ihre Berechtigung haben mag. Hier werden aber Sprachregelungen eingeführt, in denen die Entwicklungen, die wir in den letzten 20 Jahren in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zustande gebracht haben, verloren gehen. Das heißt, der „Markt“, auf dem sich die soziale Arbeit bewegt, ist nicht etwa ein Markt, in dem zwischen uns als den Anbietern und den Adressaten  als den Abnehmern unserer Arbeit sich irgendein Marktgeschehen abspielt, sondern es ist der Markt der Subventionen, der sich zwischen den Trägern der sozialen Arbeit abspielt. Der öffentliche Träger, der nach inhaltlichen Kriterien die Mittel zu verteilen hat, und die freien Träger, die sich darum bewerben müssen, sind die „Partner“ auf diesem Markt. Auf ihm müssen die Träger bestehen, da müssen sie „Produkte“ anbieten, die „marktgängig“ und „kostengünstig“ sind, d.h. die der jeweiligen politischen Definition, was marktgängig sei, entsprechen müssen. Auf diese Kategorie Markt reduziert sich zunehmend das Denken in der Sozialen Arbeit. Provokativ gesagt: Es gibt eine neue Elite in der Sozialen Arbeit – die ausgesprochen qualifizierten und gewieften GeschäftsführerInnen und Sozialmanager, die eben das Know How haben müssen, zu akquirieren und zu requirieren; die das große Ohr am Markt der Subventionen haben müssen, um so schnell wie möglich, jeweils das als „Leistung“, als „Produkt“ anbieten zu können, wofür es gerade Geld gibt – oder zumindest eine entsprechende Verpackung vorweisen.

Ich denke, das ist der Kontext, in dem wir uns hier bewegen. Wenn uns das nicht deutlich wird, dann werden wir über kurz oder lang die uns angebotenen Sprachregelungen übernehmen. Das bedeutet, dass wir unser eigenständigen professionelles Denken aufgeben, denn es gibt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken. So wie wir reden, wie wir unsere Sprache gebrauchen, fangen wir auch an zu denken und schließlich zu handeln. Demgegenüber müssen wir außerordentlich sensibel sein. Die Diskussion, die hier in Hamburg gerade geführt wird zwischen „Offener Arbeit“ und „Hilfen zur Erziehung“ resultiert aus der skizzierten Dynamik. Deshalb muss in diese Diskussion die Frage hineingenommen werden: Wie verhalten wir uns gegenüber der machtbetriebenen Tendenz der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, die zu einer Hegemonie des Ökonomischen über das Soziale führen wird? Eine Hegemonie, die ohnehin schon immer besteht, nun aber auf das Soziale, auf die Soziale Arbeit selbst übertragen wird und sich im Innern dieses Systems, im Denken und Handeln der Professionellen festsetzt. Sie wissen alle, dass mit Begründungen wie EG-Entwicklung, Globalisierung, Standort Deutschland usw. die Strategie des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft begründet wird, mit der wir uns in diesem Zusammenhang auseinandersetzen müssen. Ich möchte hier keinen Horizont eröffnen, hinter den wir uns wieder vor notwendigen Veränderungen flüchten können, indem wir sagen: „Wir Armen werden betriebswirtschaftlich und ökonomisch an die Kandare genommen, nun brauchen wir nicht mehr genau hinzugucken, was wir in unserem eigenen Bereich zu verantworten haben!“ Der Blick hat sich dahin zu wenden, wo wir denn selbst diese Strukturen schon längst mitbereitet haben. Denn der „Markt“ macht die, die sich auf ihm unkritisch bewegen, zu Objekten von fremdbestimmten Tendenzen und verhindert, dass sie Subjekte ihres Handelns werden.

Die Bedeutung des KJHG …

Nun zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe: Wir haben das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und den ausgezeichneten Kommentar von meinem Kollegen Johannes Münder. In das KJHG wurden eine ganze Reihe von Forderungen, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik diskutiert und gestellt worden sind, aufgenommen. Man kann einiges kritisieren, z.B. die ungenügende Rechtsstellung von Kindern gegenüber Erwachsenen, aber in ganz zentralen Punkten hat das KJHG die Diskussion der vergangenen 30 Jahre in der BRD aufgenommen. Stünden wir heute in der Situation, das alte JWG zu reformieren, würde es das KJHG nicht schon geben – so eingesetzt würde es unter den heutigen politischen Bedingungen nicht mehr zustandekommen! Im Kontext der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird in den Zentralen pausenlos daran gearbeitet, dieses Gesetz mit seinen Ansprüchen zu boykottieren, es auszuhebeln, dafür zu sorgen, dass die in ihm benannten Standards nicht in die Praxis umgesetzt werden. In dieser Situation sollten wir uns daran erinnern, dass wir professionell sozial Arbeitenden uns zum ersten Mal in der Geschichte unseres Berufes in der glücklichen Situation befinden, dass wir uns auf gesetzlich fixierte und demokratisch legitimierte Positionen berufen und deren Umsetzung in die Praxis fordern können. Wir sollten das im § 1 KJHG formulierte „Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft“ übernehmen und darüber wachen, dass die hier artikulierten Ansprüche auch realisiert werden und nicht mit dem Hinweis auf die Knappheit der Ressourcen schlicht auf den Müllhaufen geschmissen werden.

… und seiner Leitnormen

§ 1 KJHG enthält die Leitnorm, auf die ich eingehen will: jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner – nicht irgendeiner anderen! – und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Pflege und Erziehung sind „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechtes nach § 1 …“ usw. – Wir kennen diese Formulierungen auswendig. Aber weil es so wichtige Sätze sind, lohnt es sich, sie wirklich auswendig zu lernen, damit man in den Debatten der Ausschüsse, den 78er-Kommissionen und wo auch immer, diese gesetzlich formulierten Positionen als Argumente in der Tasche hat. Wir müssen sie als Anspruchsnormen in der Auseinandersetzung um die Finanzierung und die Qualitätsstandards der Jugendhilfe parat haben, um die gravierende Diskrepanz zwischen den normativen Ansprüchen und der gesellschaftlichen Realität immer wieder bewusst zu machen. Wir sollten nicht sagen, das sei die große Politik, das seien die Präambeln, um die sich sowieso keiner kümmere. Mein Plädoyer ist, diese Ansprüche ernst zu nehmen, diese Normen beim Wort zu nehmen, um sie mit ihrer gesamten demokratischen Legitimation, die sie haben, zu einem politischen Kampfinstrument zu machen. Absatz 3 lautet: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

  1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
  2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
  3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
  4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen.“ Das sind die Leitnormen.

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

Wie immer bei allen Gesetzen in der BRD steht darüber die Leitnorm des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist das oberste Prinzip, und diese Würde soll unantastbar sein.

Wenn wir uns fragen, was Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe heißt, müssen wir das auf den Begriff der Menschenwürde beziehen, dem § 1 KJHG verpflichtet ist. Das geht soweit, dass die Leitnormen des Grundgesetzes bis in die allerletzte Entscheidung eines öffentlichen Trägers der Jugendhilfe umzusetzen sind. Das ist nicht eine Geschichte, die irgendwo auf irgendeiner abstrakten Ebene abgetan wird, sondern die heruntergeholt wird, heruntergeholt werden muss in unsere alltägliche Arbeit. Damit vertrete ich eine Position, die die UNO 1993 für die Soziale Arbeit formuliert hat: Soziale Arbeit sei eine Menschenrechtsprofession. Das heißt, die in der sozialen Arbeit Tätigen müssen AnwältInnen im Prozess der Realisierung der Menschenrechte sein, überall da, wo sie tätig sind. Man muss nicht in die weite Welt schauen, um zu erkennen, dass das eine Forderung ist, die es erst zu realisieren gilt. Wenn es heißt, Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, müssen wir übersetzen: Sie soll eine sein, weil sie in der Praxis heute noch weithin das Gegenteil ist.

Definitionsprobleme

Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit: das sind die Erziehungsziele bzw. Ziele menschlicher Entwicklung, die im KJHG festgeschrieben worden sind. Bezogen auf die Essentials im VIII. Jugendbericht muss die Frage gestellt werden: Wer definiert diese Werte in der Praxis? Wer definiert, was Förderung und was Erziehung ist im Hinblick auf die Entwicklungen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit?

In Verbindung mit § 9 spricht das KJHG primär den Eltern bzw. den Personen und Sorgeberechtigten diese Definitionsmacht zu; sie, so heißt es dort, bestimmen die Grundrichtung der Erziehung, die von der Jugendhilfe zu beachten ist. Und schon befinden wir uns in einem Dilemma. Können wir eigentlich davon ausgehen, dass in der „natürlichen Erziehung“ – gibt es denn so etwas, wie das natürliche Recht auf Erziehung? – ein derartig hochkarätiger Wert wie die Eigenverantwortlichkeit der Persönlichkeit angelegt ist? Können wir einfach davon ausgehen? Oder erleben wir nicht in unserer alltäglichen Praxis an vielen Stellen genau das Gegenteil?

Welches für ein Verständnis von „Gemeinschaftsfähigkeit“ finden wir in der Alltagspraxis von Erziehung wieder? Dieser Begriff ist noch viel schwieriger als der der Eigenverantwortlichkeit. Er hat in Deutschland eine lange, problematische und teilweise schreckliche Tradition. „Gemeinschaftsfähigkeit“ war für die Nazis der zentrale Begriff der Selektion, war Fokus ihrer Bevölkerungspolitik. Gemeinschaftsfähig waren diejenigen, die sich als Volksgenossen den nationalsozialistischen Vorstellungen von Gemeinschaft widerspruchslos einordneten und sie mittrugen. Als „gemeinschaftsunfähig“ und „asozial“ wurden alle diejenigen bezeichnet, die diesen Vorstellungen widersprachen, die sich verweigerten, die nicht konformistisch waren – überwiegend Jugendliche übrigens. Mit der Behauptung, sie seien nicht „gemeinschaftsfähig“ und mit den „Mitteln der Jugendhilfe nicht mehr in die Volksgemeinschaft zu integrieren“, wurden Tausende von Mädchen und Jungen in speziell für sie eingerichtete KZ gebracht; Jugendliche, die inmitten der faschistischen Barbarei auf ihrem Subjekt-Sein bestanden haben. Und mit Unterstützung der Jugendhilfe sind in jedem einzelnen Fall Mädchen und Jungen in die KZ gebracht worden. Kein Mädchen, kein Junge kam ohne ein Gutachten des jeweiligen zuständigen Jugendamtes und der Fachkräfte der Jugendhilfe – trotz aller Mitwirkung der SS – in eines dieser Konzentrationslager. Das ist ein Teil der Geschichte unserer Profession, der bis heute so gut wie nicht bekannt ist. Grundlage dieser Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung waren solche Begriffe wie „gemeinschaftsfähig“. Es gab fachliche Kriterien, mit denen sie operationalisiert wurden. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein dominierte dieses Denken in der alten Bundesrepublik wie auch der DDR. Mitte der fünfziger Jahre gab es in Bonn eine Debatte, dass ein „Bewahrungsgesetz“ gebraucht würde, für die „nicht mehr mit den Mitteln der öffentlichen Erziehung Besserungsfähigen“. Die Nazis hatten ein solches Bewahrungsgesetz schon fix und fertig; es ist nur nicht zum Zuge gekommen, weil am 8. Mai 1945 mit ihrer Herrschaft Schluss war.

Lebensentwürfe junger Menschen und die Rolle der Pädagogik

Als ich 1959 in die Soziale Arbeit ging, habe ich eine Praxis vorgefunden, die aus diesem Denken resultiert. Die Debatte um den Verwahrlosungsbegriff und was damit verbunden war, ist bekannt.

Was eine „gemeinschaftsfähige Persönlichkeit“ ist, das ist eine hochambivalente Angelegenheit. Da wir diejenigen sind, die zum Schluss diese Ziele, die im § 1 KJHG definiert sind, in die Praxis umsetzen, da wir diejenigen sind, die zum Schluss das Wächteramt auszuüben haben – wenn nämlich die Wahrnehmung des „natürlichen Rechts der Erziehung“ auf irgendeine Weise nicht funktioniert – kommt die Sache zuletzt immer zu uns. Die Jugendhilfe ist das System, das am Ende die Definitionsmacht in der Praxis besitzt. Das sind konkret die professionell handelnden Frauen und Männer. Nicht alleine die bürokratischen, rechtlichen und politischen Systeme, in denen die Handelnden angesiedelt sind und in denen sie sich bewegen müssen, von denen sie beeinflusst werden in ihren Entscheidungen, bestimmen die praktische Umsetzung der Leitnormen. Letztendlich sind es wir als Subjekte, die lebendigen SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, die bezogen auf lebendige Kinder und Jugendliche als Subjekte ihre Entscheidung treffen müssen.

Da kommen wir mit allgemeinen Vorstellungen von „Grenzsetzungen“ nicht mehr weiter. Wir müssen uns auf einer grundsätzlichen Ebene der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten den Anforderungen stellen und uns darüber klar werden, wie wir im Alltag damit umgehen wollen.

Da das KJHG solche Leitnormen aufstellt, sie aber nicht lebendig machen kann, sind wir in der Verantwortung und müssen das in unserer praktischen Arbeit mit den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, gestalten. Weil uns der Gesetzgeber, wie ich finde, zurecht misstraut, ob wir das immer wollen und können, gibt es den § 8 KJHG: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – der nur dann einen Sinn hat, wenn wir ihn als die Anerkennung des Subjektstatus für die Minderjährigen begreifen. Das kann nur bedeuten, dass die Lebensentwürfe und die Selbstdefinitionen der Kinder und Jugendlichen gefragt sind. Und dort, wo sie von ihnen nicht offensiv geäußert werden können, müssen wir sie im Kontakt mit ihnen in Erfahrung bringen. Wenn die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Vorstellungen nicht offensiv an uns herantragen, dann sind wir aufgefordert – das ist Teil unserer Professionalität – uns mit ihnen auf die Suche zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir – sollten die nicht sagen können, was jetzt im Moment für sie das Richtige ist – uns die Kompetenzen zubilligen, den richtigen Weg, die richtige Entscheidung für sie schon zu wissen. Das Gesetz nimmt uns in die Pflicht, und wir müssen uns selbst in die Pflicht nehmen, diese Suchbewegung mit ihnen zu manhen.

Demokratisierung der Instrumente

Was das für die Ausgestaltung sozialpädagogischer Praxis bedeutet, kann man sich vorstellen: welches Setting muss ich für die tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich haben, um mich auf derartige Suchbewegungen einlassen und sie mit den Kindern, den Jugendlichen und den Familien machen zu können? Die Leitnormen des KJHG müssen wir also zurückbeziehen auf die materielle Ausgestaltung unserer Arbeitsbedingungen.

Es gibt ein Instrument im KJHG, das dafür vorgesehen ist: die Hilfeplanung und die Hilfekonferenz. Diese haben von der Idee her die Funktion, die Definitionsgewalt des einzelnen, der an diesem Prozess beteiligt ist, zu begrenzen. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass in den alten RJWG- und JWG-Zeiten die einsame Fürsorgerin in ihrer Amtsstube, vielleicht noch kontrolliert durch das Vormundschaftsgericht, die Definitionsmacht darüber hatte, was zu erfolgen habe. Damit hier kein Missbrauch von Definitionsmacht mehr entstehen kann, existiert eine demokratische Institution: Hilfeplan und Hilfekonferenz. Alle Beteiligten sollen sich darüber austauschen, wie sie die Situation sehen; und wenn ich von Sichtweisen rede, wird schon deutlich, dass es sich um subjektives Hinschauen und Beurteilen handelt, im Kontext der jeweiligen Biographie dessen, der da schaut. Wenn er oder sie noch so viele professionelle Instrumente in der Hand hat, ist es zum Schluss immer ein Subjekt mit subjektiven Sichtweisen, das hier Situationen von anderen zu verstehen meint und sie beurteilt. Die Hilfekonferenz ist also ein Instrument der Annäherung an das Fremde. Was wir im großen und ganzen heißt, dass wir uns mit unseren mittelschichts-sozialisierten Sichtweisen in der Praxis mit Lebensbedingungen und Erfahrungen auseinandersetzen müssen, die nicht unsere sind, die wir nicht durch bloßes Draufschauen einfach schon verstehen können. Deshalb ist die Hilfekonferenz ein Instrument der Annäherung. In ihr steckt die Idee, dass wir vorsichtig in unseren Beurteilungen und Zuschreibungen sein müssen. Die Beteiligten sollen ihre Sichtweisen offenlegen; dann soll darüber beraten werden, was zu tun sei. Bezogen sich auf die Zusammensetzung dieser Konferenzen kann das heißen: wer ist denn da alles beteiligt? Da sitzen eben acht Professionelle mit ihrer Mittelschichtorientierung. Ihre Blicke unterscheiden sich also gar nicht so sehr voneinander, wenn sie vielleicht auch institutionenspezifisch unterschiedlich sind – wenn da etwa die LehrerIn aus der Schule, die die „Meldung“ an das Jugendamt gemacht hat, wenn da die Erzieherin aus der Kindertagesstätte sitzen (oder wer sonst noch aus dem pädagogischen Feld). Das gibt es zwar institutionenspezifische Unterschiede, denn die Schule hat beispielsweise andere Beurteilungskriterien für konkretes Handeln von Mädchen und Jungen, hat andere Ansatzpunkte für „Meldungen“ an die Ämter als die PädagogInnen aus der offenen Jugendarbeit. In diesem Sprachgebrauch kommt aber die alte Kontrollfunktion des Jugendamtes, dem man „etwas meldet“, damit es in Ordnung gebracht werde, zum Ausdruck. In dieser Runde nun von Professionellen sitzen auch Angehörige der Familie des Kindes oder des Jugendlichen wie auch die Kinder und jugendlichen selbst (sofern sie, was eigentlich grundsätzlich gilt, dazu eingeladen werden). Man muss sich fragen, ob die Idee der Hilfekonferenz so eigentlich wirklich zu realisieren ist? Für mich steht hier die Frage auf der Tagesordnung, wie man dieses Instrument weiter demokratisieren könnte.

Beteiligungsrechte

Zwei weitere Bemerkungen zu den Beteiligungsansprüchen nach § 8 KJHG von Kindern und Jugendlichen. Es heißt da: „Sie sind zu beteiligen entsprechend ihrem Entwicklungsstand“. Und weiter: „Sie sind zu beteiligten und über ihre Verfahrensrechte gegenüber den Gerichten in geeigneter Weise“ aufzuklären. Da haben wir wieder die Ambivalenz, die einfach nicht wegzukriegen ist.

Es gibt die Entwicklungstatsache von Kindern und Jugendlichen, d.h. sie wachsen heran und machen ihre Erfahrungen. Zugleich haben wir den Begriff der Sozialisation als einen Prozess des allmählichen Hineinwachsens in die Gesellschaft und des Kennenlernens der gesellschaftlichen Erwartungen. Andererseits wissen wir, wie problematisch die Normsetzungen sind, mit denen dieses „Hineinwachsen“ beurteilt wird; dass es immer heimliche Messlatten gibt, die an das konkrete Handeln von Kindern und Jugendlichen angelegt werden. Wenn wir also im Gesetz lesen „entsprechend ihrem Entwicklungsstand“, dann hört sich das so an, als sei der Entwicklungsstand eine klare Sache, als könne man mit den Mitteln, die die Profession entwickelt hat, mit quasi objektivierten Verfahren und Standards messen, was denn der Entwicklungsstand (Entwicklungsquotient!) in jedem einzelnen Fall ist. Wenn Kinder und Jugendliche „angemessen an ihrem Entwicklungsstand“ beteiligt werden sollen, dann gibt es zuletzt wieder die Instanz, die das beurteilt und möglicherweise ihre Kriterien im Prozess der Hilfeplanung nicht offenlegt. Das heißt, die Beteiligten müssen sich darüber verständigen, was sie denn für Kriterien anlegen, wenn sie den „Entwicklungsstand“ beurteilen. Da wird sehr viel einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, so als würden sich alle in der Runde verstehen, was mit „angemessen“ gemeint ist.

Man muss sich fragen, ob denn der in § 1 artikulierte und in § 8 verstärkte Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen einer ist, der von einem durch uns zu beurteilenden „Entwicklungsstand“ abhängig ist? Erwirbt ein Mensch seinen Subjektstatus erst im Prozess seiner „Reifung“? Ist man denn erst dann ein „vollwertiger Mensch“, wenn die gesellschaftlich definierten sogenannten Entwicklungsaufgaben, die an die Heranwachsenden getragen werden, von ihnen erfüllt werden? Wenn sie das Zertifikat der „Reife“ bekommen?

Angeborener Subjektstatus?

Nein! Der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen ist völlig unabhängig – das ist mir außerordentlich wichtig – von jedem irgendwie definierten Entwicklungsstand, auf den hier Bezug genommen wird. Der Subjektstatus ist die praktische Seite dessen, was im Grundgesetz die Würde des Menschen genannt wird, die unantastbar sein soll. Kinder und Jugendliche müssen sich ihren Subjektstatus nicht erst erwerben oder erarbeiten oder verdienen durch ein irgendwie von den Erwachsenen oder von gesellschaftlichen Institutionen zu akzeptierendes Verhalten. Sie haben diesen Status, er ist ihnen angeboren; sie bringen ihn als Menschen mit auf die Welt. Sie können ihn auch nicht von sich aus aufgeben oder an den Nagel hängen. Und es hat niemand das Recht, ihnen ihren Subjektstatus abzusprechen. Auf jeder denkbaren und von uns definierten Stufe von Entwicklung haben Kinder und Jugendliche und natürlich alle Menschen diese Subjektposition. Das ist ein Kriterium, das uns herausfordert, das uns zwingt, jeweils genau darüber nachzudenken, wie bezogen auf diese Subjektposition das Handeln der Professionellen im Sinne von Unterstützung und Hilfe gestaltet werden muss.

Ich bin auf die Bedeutung des Subjektstatus gekommen, weil ich mir überlegt habe, was denn eigentlich im gegenwärtigen Prozess der Ökonomisierung Sozialer Arbeit eine politische Position und Kategorie sein könnte, auf die sich die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe gemeinsam verständigen können, um sie öffentlich in die Diskussion zu werfen. Ich glaube, dass das diese Position ist. Wir sind dafür verantwortlich, uns wird darüber ein Wächteramt zugesprochen, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft öffentlich zu machen und zu unterstützen, zu verteidigen, zu helfen, ihn zu realisieren usw. Wenn wir davon ausgehen, muss jeder Bereich von den Hilfen zur Erziehung bis hin zur offenen Jugendarbeit sich fragen, was denn diese Position bezogen auf die von uns betriebene Arbeit jeweils für Anforderungen stellt. Wenn wir das als gemeinsame Ausgangsbasis nehmen, dann haben wir eine Ebne der Verständigung, auf der wir uns gegenseitig kritisch befragen können. Je vereinzelter wir in diesem Geschäft tätig sind, desto größer ist die Gefahr, diese Position nicht entwickeln zu können oder sie zu verlassen. Denn zur Realisierung dieses Anspruchs benötigen wir die Kommunikation, den fachlichen Austausch und vor allem die öffentliche Debatte über unser Scheitern in unserer Arbeit; unser Scheitern auf der politischen Ebene, auf der individuellen Ebene, im Teamprozess usw. Um darüber zu diskutieren, wie wir uns der Position annähern, müssen wir über unsere Grenzerfahrungen reden können; müssen wir darüber reden, wo wir in Ambivalenzen geraten. Bin ich jetzt derjenige, der weiß, wo der richtige Weg für das Kind ist, welche Zeit ich habe, das herauszufinden, wie schnell „eingegriffen“ werden muss? Wenn ich mit all diesen schwierigen Fragen und Erfahrungen mit mir alleine klarkommen muss, dann bin ich mit der Zeit enorm gefährdet, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen aus dem Bewusstsein zu verlieren und in den Bedingungen und Zwängen meiner alltäglichen Arbeit nur noch zu funktionieren.

„Totalverweigerung“ von Jugendlichen …

Vor ein paar Wochen gab es in Berlin im Landesjugendamt eine Diskussion darüber, wie SozialpädagogInnen mit „Straßenkindern“ (einem, wie ich finde, schwierigen Begriff angesichts der Existenzformen von Kindern in Sao Paulo, in Bogotá, in Lima oder woanders in der so genannten Dritten Welt) im städtischen Untergrund umgehen können. Mit Kindern also, die aus Familien, Wohngemeinschaften oder sonstigen Formen stationärer „Unterbringung“ weggelaufen sind, es also aus welchen Gründen auch immer dort nicht mehr aushalten konnten. Durch die Skandalisierung ist der Berliner Senat darauf gestoßen, dass es in Berlin ungefähr dreitausend so genannte Straßenkinder gibt. Wie soll die Jugendhilfe nun mit diesen Kindern umgehen? Welche Angebote soll sie ihnen machen?

In der Diskussion stellte sich heraus, dass nahezu die gesamte Jugendhilfe, ob nun offene Arbeit oder Hilfen zur Erziehung, diesen Kindern lediglich Angebote unter der Voraussetzung der Sesshaftmachung bieten können und wollen. Nun gibt es aber unter diesen dreitausend eine beträchtliche Gruppe von ungefähr 10 Prozent, die diese Angebote radikal zurückweisen; die sagen, dass die Angebote der Jugendhilfe, die auf Sesshaftigkeit basieren und hinzielen, ihren Vorstellungen vom Leben hier und jetzt nicht entsprechen. Es gibt auch schon einen neuen Begriff für diese Jugendlichen: das sind die „Totalverweigerer“ in der Jugendhilfe. Sie verweigern alles: sie ignorieren die Schulpflicht, wie wollen nicht mehr in der Familie leben, sie weisen sämtliche gängigen Angebote der Jugendhilfe zurück; sie sind in einem qualitativen Sinne wirklich Totalverweigerer und bringen uns als Jugendhilfe-Menschen in Grenzsituationen. Wie nun darauf reagieren?

… und die „Dequalifizierung“ Sozialer Arbeit

Die „Totalverweigerer“ praktizieren in einer zugespitzten Form gegenüber den VertreterInnen der Jugendhilfe ihre Subjektposition. Nun hilft es uns überhaupt nichts, danach zu fragen, was denn dies für eine Existenzform sei? Ob man da überhaupt von einer Subjektposition reden könne? Ob es nicht eher entsetzlich ist, wie diese Jugendlichen da existieren, unter wirklich menschenunwürdigen Lebensbedingungen? Sie müssen sich doch prostituieren, sie müssen mit Drogen handeln usw.? Kann man das überhaupt noch eine Subjektposition nennen? Ist denn da überhaupt noch Subjektives, d.h. Selbstbestimmtes in der Lebensführung vorhanden?

Das haben wir nicht zu entscheiden. Und exakt das ist das Dilemma. Diese Grenzsituationen gibt es immer wieder. Die einzig mögliche Annäherung an solche Jugendlichen ist die schlichte Frage: Wie kannst Du unter solchen Bedingungen überleben? Wie kann ich Dich dabei unterstützen? Als wir in Berlin in der Diskussion an diesem Punkt waren, wurde von TeilnehmerInnen eine Position formuliert: dass die zunehmende soziale Verweigerung von Kindern und Jugendlichen PädagogInnen immer mehr in die Situation bringt, „dequalifizierende“ Arbeit leisten zu müssen, die sich im Begriff der „Überlebenshilfe“ erschöpfe. Das würde doch bedeuten, dass wir uns auf den Stand des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen ließen, wo wir wie die Heilsarmee mit Suppenküchen und allen möglichen Überlebensveranstaltungen nichts anderes getan hätten, als auf die unmittelbar geäußerten Alltagsbedürfnisse irgendwie materiell zu reagieren. Das sei eine Dequalifizierung Sozialer Arbeit.

Verständnis dafür zu schaffen, dass diese Form der radikalen offenen Annäherung an solche Kinder und Jugendlichen große Anforderungen an das professionelle Know How von SozialpädagogInnen stellt, ist außerordentlich schwierig. An keiner anderen Stelle professioneller Arbeit müssen wir so sehr reflektiert unser Denken und Handeln überprüfen wie in diesen Grenzsituationen. Und an keiner Stelle ist es so schwer, diesen einen Satz nicht zu sagen: dass doch irgendwo auch eine Grenze und Schluss mit der Toleranz sein müsse.

Akzeptanz, nicht Toleranz!

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz herauszuarbeiten. Toleranz heißt: zu dulden, was uns nicht passt. Es ist eine Position, die besagt, dass solche Jugendlichen auch hier leben dürfen mit ihren Minderheitenpositionen, solange sie bestimmte Grenzen nicht in Frage stellen. Dagegen ist Akzeptanz eine hochqualifizierte Geschichte, die allerdings in der Diskussion oft diskriminiert wird als Gewährenlassen, Gefälligkeitspädagogik, einfach alles nur hinüberschicken, ohne noch Ansprüche zu stellen usw. So geht es nicht!

Wenn wir Akzeptanz in einem professionellem Sinne begreifen wollen, dann steckt darin die Frage nach der Offenheit unserer Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten – bezogen auf Lebensbedingungen und subjektive Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen, die sich in anderen Lebenswelten bewegen als den unseren. Dazu gehört auch, dass wir ihre Entscheidungen und Schritte, die wir als „Notlösungen“ empfinden, so verstehen, dass auch die Notlösung eine Lösung ist, in diesem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Im weiteren ist zu sehen, in welche Situationen von Not dieser Weg der Lösung sie wieder bringt. Das ist unsere Aufgabe, sie damit zu konfrontieren; aber nicht, um ihnen den Weg vorzuschreiben, sondern um zu klären, wie sie das durchstehen und überleben können. Wenn wir eine solche Haltung einnehmen in den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, dann haben wir eine gemeinsame Klammer, die Ernst mit dem Ansatz gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und mit der Realisierung des Subjektstatus macht. Dann haben wir einen Bezugspunkt, auf den hin wir unser Denken und Handeln qualitativ überprüfen können. Politisch wäre das eine Basis, ein Punkt, an dem wir gemeinsam auftreten können und müssen.

Das Elend der Prävention

In Hamburg ist in einer „gemeinsamen Kommission Jugendhilfe und Polizei“ kritisiert worden, dass die Polizei eine Sonderkommission Graffiti eingerichtet hat, was von der Jugendhilfe nicht verhindert werden konnte. Die Jugendbehörde reagierte darauf mit einem präventiven Angebot in der Form der Zur-Verfügung-Stellung von Freiflächen und Sprayfarben, die bekanntlich – weil teuer – von vielen Jugendlichen geklaut werden müssen. Gegen solch ein Angebot ist nichts zu sagen. Aber ich finde es problematisch, wenn damit gegenüber den Politikern dieser Stadt von der Jugendhilfe ein Präventionsversprechen abgegeben wird. Anstatt zu vertreten, dass es Jugendliche gibt, die im Rahmen der offenen Angebote der Jugendarbeit ihre kreativen Fähigkeiten in Form von Graffiti ausprobieren – eine genuine Aufgabe von Jugendarbeit auch im Hinblick auf den Subjektstatus – sagt die Jugendhilfe, sie würde mit diesem Angebot Jugendliche davon abhalten können, an öffentlichen Gebäudeflächen die gesellschaftliche Grundnorm des Eigentums zu verletzen. So werden durch die präventive Strategie der Jugendhilfe die jugendlichen Sprayer, die im Prinzip alle dasselbe machen, aufgeteilt in diejenigen, die die Angebote der Jugendhilfe wahrnehmen und diejenigen, die trotz dieser Angebote weiterhin an ihrem kriminellen Handeln festhalten. Letztere sind dann die Zielgruppe kriminalpolizeilicher Strategien. So geht es nicht!

Wieso lässt sich die Jugendarbeit in die Position treiben, Präventionsversprechen öffentlich abzugeben, die genau den Kriterien entsprechen, die in der „Klientelisierung“ dieser Gruppe von Jugendlichen enthalten sind? Warum wird nicht dagegen aufgestanden und gesagt, dass diese Aktion gegen Graffiti-„Kriminalität“ eine Sauerei ist? Die öffentlichen Räume müssen doch auch Jugendlichen zur Aneignung zur Verfügung stehen. Und die Verregelung und Verrechtlichung des öffentlichen Raumes wird von Jugendlichen immer wieder nicht akzeptiert werden. Wer darauf mit kriminalpolizeilichen Strategien antwortet und diese Strategien mit Präventionsstrategien ergänzt, betreibt eine absolut verfehlte Jugendpolitik.

Wenn wir, die wir diese Gesellschaft so gestaltet haben wie sie ist, dafür sorgen, dass die Aneignungsfähigkeit öffentlicher Räume für Kinder und Jugendliche gegen Null geht, dann dürfen wir uns doch nicht wundern, dass diese Kinder und Jugendlichen sich in teilweise auch aggressiven Aktionen ihren Aktionsraum zurückholen und den öffentlichen Raum als Bühne zur Selbstinszenierung vorführen und sagen: Ihr könnt uns mal! Darauf mit Präventionsstrategien zu antworten, ist das Letzte!

Es ist das Gegenteil von Anerkennung des Subjektstatus. Damit betreibt die Jugendhilfe und Jugendarbeit die Klientelisierung der nonkonformistischen Gruppen von Jugendlichen. Die Jugendarbeit hat das nicht nötig. Sie kann sagen: Unsere Graffiti-Aktionen sind ein Angebot für diejenigen, die nicht im öffentlichen Raum ihre Bedürfnisse realisieren wollen; die Lust haben, dies in unseren von der Jugendarbeit zur Verfügung gestellten Räumen zu machen. Dann entgehen wir auch dem berechtigten Vorwurf der Gettoisierung, die immer wieder – in bester Absicht – von der Jugendhilfe betrieben wird!

Der Autor Dr. Manfred Kappeler ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der TU Berlin.

Der vorstehende Beitrag erschien in DER NAGEL 59/1997 und wurde im Juli 2003 hier eingestellt.

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