Kinder und Sexualität

Von Frank Herrath und Uwe Sielert

Was ist und wie wichtig ist überhaupt Sexualität?

Sexualität ist nicht nur Geschlechtsverkehr, hat nicht nur etwas mit Penis und Vagina bzw. Klitoris oder mit „Kinder kriegen“ zu tun. Sexualität ist sehr viel mehr und vor allem eng verwoben mit allen anderen Bereichen der Persönlichkeit. Sie hat zu tun mit dem Selbstwertgefühl von Menschen, mit ihren Beziehungen zueinander, mit Lebenslust und Lebensbejahung – oder eben auch mit Selbstverneinung und mangelndem Mut. Sexualität äußert sich nicht nur in einem bestimmten Verhalten – Sexualität ist Lebensenergie. Wenn sie akzeptiert wird und so als Energie fließen kann, drückt sie sich schon bei Kindern vielfältig aus:

  • im zärtlichen Bedürfnis nach Hautkontakt, Schmusen, Küssen, Gehalten-Werden,
  • in der Lust am eigenen und fremden Körper, einschließlich der Geschlechtsorgane,
  • in Anspannung, Entspannung, Hingabe an die streichelnden Hände der Eltern,
  • in der heftigen Balgerei mit dem Freund, dem Ganz-und-gar-alles-zusammen-Machen mit der besten Freundin und
  • in der schwärmenden Verehrung der Erzieherin im Kindergarten.

Sie wird dann tastend, sehend, fühlend, schmeckend und hörend erfahren, mit allen Sinnen also, im wahrsten Sinne der Worte: sinnlich und sinnvoll.

Wenn Sexualität als böse Kraft, als Feind betrachtet, tabuisiert und „gedeckelt“ wird, sind verschiedene Konsequenzen denkbar:

  • ihr fehlt jeglicher Ausdruck oder
  • sie äußert sich nur indirekt, im Zusammenhang gewaltsamen Verhaltens,
  • der eigene und fremde Körper wird mit Scham besetzt,
  • Selbstliebe wird nicht sinnlich erfahren,
  • die Lust am Kontakt zu sich selbst und zu anderen bleibt unterentwickelt.

In welche Richtung sich Sexualität und somit das Lebensgefühl bei Kindern entwickelt, das können Eltern mitentscheiden, das lernen Kinder – auch ohne bewusste Aufklärung – schon in der Familie. Sexualität ist aber auch nicht alles im Leben. Als Teil unserer Persönlichkeit ist sie nicht zu trennen von unseren Freundschaften, unserem Familienleben, unserer Arbeit. In jedem Fall ist sie eine mögliche Quelle von Lust, Wohlbehagen, Selbstbestätigung und Sich-angenommen-Wissen, mit der eine Person im Gleichgewicht bleiben, Kränkungen und auch die sowohl unvermeidlichen als auch zur eigenen Stärkung notwendigen Enttäuschungen verarbeiten kann.

Was Kinder „so nebenbei“ über Sexualität lernen

Kinder kriegen nicht nur mit, was man ihnen sagt, sondern ganz viel mehr: das Naserümpfen, die kritisch wirkenden Falten auf der Stirn, das sorgenvolle, unsichere Gesicht und die abwertende Geste. Und das alles zum Beispiel:

  • bei der Körperpflege: Wenn die Klitoris einfach „umgangen“ wird, wenn auf einmal alles schmutzig ist, was „da unten“ existiert, wenn Nacktheit nur auf wenige unvermeidliche Augenblicke beschränkt ist,
  • bei alltäglichen Begebenheiten: der nur flüchtige Abschiedskuss des Vaters für die Mutter als einziger “ öffentlicher“ Ausdruck von Zärtlichkeit, die Zweideutigkeiten während der Familienfeier, das Onanieren des großen Bruders und die Heimlichtuerei, wenn die Eltern miteinander schlafen,
  • bei „besonderen“ Ereignissen: Scheidung der Eltern, „Fremdgehen“ der Mutter oder des Vaters, sexuelle Gewalt durch den Onkel, oder auch, wenn die Eltern wieder neu ihre Liebe zueinander entdecken.

In jedem Fall wirkt das Leben oder angebliche „Nichtleben“ der eigenen Sexualität der Eltern prägend auf ihre Kinder.

Sexualerziehung als „freundliches Begleiten“

Begleiten

  • meint etwas Behutsameres als oft mit „Erziehen“ verbunden wird, schließt das „Sein-lassen“ ebenso ein wie das Beeinflussen: So können Eltern ihrem Kind den Umgang mit einem „undurchsichtigen“ Freund zwar erlauben, aber gleichzeitig Bedenken anmelden.
  • meint das „Zur-Seite-Stehen“ beim Erfahrungenmachen: Nur wenn die Doktorspiele mit dem Nachbarskind erlaubt sind, kann darüber geredet werden, soweit das notwendig ist.
  • meint „interessierte Distanz“: Die Geheimnisse der Kinder achten, bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern Interesse an ihrer Eigenständigkeit.
  • setzt Kontakte voraus. Kontakt entsteht da, wo sich zwei eigenständige Persönlichkeiten an ihren Grenzen begegnen: Eltern sollten um das Liebesleben ihrer Kinder wissen (was mit Hineindrängeln gar nichts gemein hat) und ihr eigenes Liebesleben nicht verstecken.

Freundliches Begleiten

  • meint, eine freundliche Einstellung zur Sexualität zu haben, Sexualität nicht als Feind der Erziehung zu begreifen.
  • meint, sich dem Kind als einer eigenständigen Persönlichkeit zu nähern und auch ein Verhalten zu akzeptieren, das dem eigenen Geschmack nicht entspricht.
  • meint, Kinder ohne Wohlverhaltensforderungen anzunehmen: Sexuelles äußert sich bei Kindern auch sehr ruppig, mit viel Aggression durchsetzt. Sie auch dann zu mögen, das ist sicherlich eine Kunst, aber gerade dann wichtig.
  • schließt Widerspruch ein. Freundlichkeit ist nicht Affenliebe: Kinder werden auch dann ernst genommen, wenn ihnen widersprochen wird, wenn sie Grenzen aufgezeigt bekommen.
  • heißt oft auch mit-leidendes, sorgenvolles Begleiten. Freiräume können auch schlechte Erfahrungen und Enttäuschungen mit einschließen; Eltern neigen dazu, sie ihren Kindern zu ersparen. Wenn das nicht geht oder dem Selbständigwerden entgegensteht, bleibt oft nur das hoffende Zusehen.

Kinder als SexualforscherInnen

„Kindliche Sexualforschung“ ist ein notwendiger Schritt in die Richtung von Selbständigkeit, Beziehungsfähigkeit, Lebensfreude und Produktivsein. Es sind eine gewisse Intelligenz und gezielte Bewegungskoordination erforderlich, sich selbst das Wohlbefinden und die Lust zu bereiten, die zuvor nur durch Kontakt mit der wichtigsten Bezugsperson erreicht wurden. Die vielen Entsagungen, die durch die langsame Loslösung aus der Mutter-Kind-Symbiose entstehen, können nur befriedigend verarbeitet werden, wenn Kinder lernen, sich selbst zu lieben und sich selbst Lust zu machen. Und dazu gehört das Be-greifen des eigenen Körpers, vor allem auch der erogenen Zonen, an denen die Lust am größten ist.

Kinder entdecken diese Lust selbstverständlich an sich selbst, wenn sie auch zuvor von den Eltern lustvoll gestreichelt wurden; wenn sie gar nicht wissen, was Lust ist, werden auch die sexuellen Spielereien fehlen. Das ist – ganz im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung – ein schlechtes Zeichen.

Alles, was erzogen und kultiviert werden soll, muss auch praktiziert, muss gezeigt werden können. Kinder müssen mit ihrem Penis oder ihrer Scheide und den vielen anderen erogenen Zonen umgehen lernen – nur so können sie sich selbst und andere begreifen. Nur so lernen sie, was ihnen selbst und anderen gut tut, was ihnen selbst und anderen schadet. In ihrer Unerfahrenheit und grenzenlosen Neugierde können sie schon mal übers Ziel hinausschießen und sich oder andere gefährden. Es ist wichtig, vor Spielereien zu warnen, die etwas am Körper schädigen können. Das ist z.B. der Fall, wenn versucht wird, Gegenstände in die Scheide zu stecken oder den Penis mit Gegenständen oder großer Kraftanstrengung zu quetschen. Häufiges Onanieren jedenfalls ist weder schädigend noch krankmachend. Ein Wundreiben der Scheide ist mit entsprechender Salbe zu behandeln, nicht mit Mahnungen und Drohungen, das Onanieren zu lassen.

Es ist jedoch wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass es sich nicht in jeder Situation deutlich sichtbar selbst befriedigen sollte, weil es sich damit leicht zum Außenseiter macht und in seinem Selbstwertgefühl geschädigt werden könnte, aber es ist ebenso wichtig, nicht zu früh einzugreifen; selbst, wenn es unangenehm ist, mit anzusehen, wie der Junge beim Spielen im Sandkasten sein Schwänzchen mit entblößter Eichel in den Sand steckt. Es ist richtiger, das Säubern zu zeigen, als das Spielen zu verhindern.

Es kann schon hart an die eigene Schamgrenze gehen, wenn Oma pikiert wegsieht, während die Enkelin am Rande des Planschbeckens sich hin- und herbewegend selbst befriedigt. Aber nichts spricht für die Notwendigkeit, die eigene, für richtig gehaltene Sexualerziehung umzustellen, weil Oma zu Besuch kommt. Und vor allem: auch die Generation der Großeltern ist lernfähig.

Meist ist es besser, die spontane Tendenz zum Eingreifen bei sich selbst zu unterdrücken. Aber auch das hat seine Grenze. Ein Erziehungsverhalten darf nicht zu einem Programm werden, das das Ansehen der eigenen Gefühle und Veränderungsmöglichkeiten als unwichtig behauptet. Wenn sich Eltern selbst überfordern, neigen sie auch dazu, ihre Kinder zu überfordern. Deshalb gilt – trotz aller Selbstkritik und gerade wegen der Notwendigkeit einer sexualfreundlichen Erziehung – ein Grundsatz, auch als ErzieherIn freundlich mit sich selbst umzugehen.

Sinnenreich erziehen

Menschen sind dann am glücklichsten, wenn sie mit allen Sinnen zu anderen Personen Kontakt machen können – und zu ihrer kulturellen und natürlichen Umwelt. Auch Sexualiät hat mit allen Sinnen zu tun: Kinder sehen genau hin, wenn ihre Eltern nackt sind und malen gerne Geschlechtsteile. Ihnen fällt auf, wie unterschiedlich einzelne Körperstellen duften, und wie anregend der Schweiß zwischen den Beinen riechen kann. Die Haut schmeckt mal salzig, mal süß, mal ist sie auch im wahrsten Sinne des Wortes geschmacklos. Ein Kichern kann schadenfroh, erregt oder einfach lustig klingen. Tasten und Berühren eröffnen eine große Bandbreite des Erlebens von wohligem Schauer über äußerste Erregung bis zu schmerzhaften Empfindungen.

Die Vielfalt der Sinne entwickelt sich nur, wenn sie gebraucht werden, wenn erlaubt wird, sie zu kultivieren und wenn Anregungen dazu gegeben werden. Vernachlässigte Sinne als Fühler zur Außenwelt bleiben unterentwickelt oder stumpfen ab – der Mensch wird sinn(en)los.

Eltern können die Sinne ihrer Kinder entfalten helfen. Sie können

  • mit einer Feder an verschiedenen Körperstellen streicheln,
  • gemeinsam Grimassen schneiden,
  • nackt im Bett herumtollen,
  • gemeinsam in der Badewanne sitzen,
  • verschiedene Töne machen, schreien und ganz leise sein,
  • Feuerwerk und Kinderkino ansehen,
  • Schweiß und Parfüm riechen.

Es tut allen gut, wenn Eltern sich gegenseitig und ihre Kinder massieren, gemeinsam singen und Faxen machen.

Noch immer werden Kinder einseitig und „so nebenbei“ mit Anweisungen wie „Träum‘ nicht!“ zum Vernünftigsein und zur emotionalen Mäßigung erzogen; vor allem deshalb, weil alles andere die gradlinige Anhäufung von Wissen stört. „Übermut tut selten gut“ gehört zu jenen Motivationskillern, die ein langweiliges Leben versprechen – und das ist für die Lust am Sexuellen tödlich. Kinder sollten bei aller Sinnenlust ihre Grenzen selbst finden, zumindest nicht zu früh in die Schranken gewiesen werden. Das schließt nicht aus, sie vor Überreizungen zu bewahren, welche die Vielfalt des sinnlichen Erlebens unmöglich machen können. Dazu gehört der überbeanspruchte Walkman ebenso wie die gedankenlose Konfrontation mit angstmachenden Pornofilmen.

Grenzen beachten und Grenzen ziehen

Grenzen geben Profil, unterscheiden voneinander, ermöglichen aber auch den Kontakt und Begegnung, Meinungen ändern sich durch neue Erfahrungen, auch durch Streit und Annäherung. Nacktsein kann in einer Familie ganz normal sein, phasenweise aber auch von den Kindern als unangenehm empfunden werden – gerade dann, wenn die Intimgrenzen erstmalig abgesteckt werden.

In der Öffentlichkeit sind die Grenzen meist enger gesteckt als in der Privatsphäre. Die meisten wollen ganz bewusst bei flüchtigen Kontakten mit vielen Menschen weder besonders auffallen noch sich mit Auffälligkeiten anderer beschäftigen. Wenn Autofahrerinnen ständig von nackten Fußgängern abgelenkt würden, wenn alle Gäste von Tante Gretes Geburtstagsfeier sich auf den onanierenden Jan konzentrierten, wenn Badegäste durch Lustgestöhne von der Nachbardecke sich mit Sex konfrontieren müssten, könnten die Nerven schon überstrapaziert werden. Vielleicht wäre das Arbeitsleben etwas bunter, die Geburtstagsfeier etwas spannender und der Straßenverkehr humaner, wenn die Menschen mehr von sich zeigen würden, wenn sie persönlicher miteinander umgehen könnten. Weil Kinder erst einmal dazu neigen, sich nicht so sehr darum zu kümmern, was man öffentlich tut und lässt, könnten sie viel dazu beitragen, wenn man sie ließe. Wenn Lisa im Beisein der Mutter die ahnungslosen Nachbarskinder darüber aufklärt, wie Männer und Frauen Kinder machen, muss Frau Brandis sich schon zusammennehmen, um nicht einzugreifen. Und Jans Vater überlegt sich bestimmt dreimal, ob er die von Papa stibitzten Präservative aus Jans Kindergartentasche wieder herausholt, die der für seine Freunde gerade eingepackt hat. Beide „Schamlosigkeiten“ könnten aber die öffentliche Kommunikation über Sexuelles bereichern. Aber die Grenzen für wirklich berührende, unberechenbare Kontakte bleiben in öffentlichen Bereichen immer enger gesteckt als in Freundschaften oder in der Familie. Und das ist meistens auch gut so.

Kinder sind oft schamlos gegenüber konventionellen Regeln, wissen aber sehr wohl, wann ihnen ein Erwachsener zu nahe rückt und seine Berührungen unangenehm werden. Wenn Erwachsene auf zärtliche Berührungen von Kindern mit Leidenschaft und Erregung antworten, kann das als gewaltsame Grenzüberschreitung erlebt werden. Viele Eltern nehmen die Signale der Kinder nicht wahr oder sehen darüber hinweg. Ihr eigenes Interesse ist ihnen in dem Moment wichtiger als die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes. Andererseits ist mancher Vater verunsichert und vermeidet vor allem im Beisein anderer zärtliche Berührungen, soweit sie nicht „unverfänglich“ und fernab von den Geschlechtsteilen stattfinden. Weil Berührungen – auch der Geschlechtsteile – für Kinder wichtig sind, sollten sie nicht aus Angst vermieden werden; wichtig ist, dabei auf die Reaktionen des Kindes zu achten, die auf unangenehme Gefühle hindeuten. Kinder leiden nicht nur unter extremen, gewaltsamen Grenzüberschreitungen; schon viel früher erlauben sich Erwachsene Einbrüche in die Intimsphäre und latschen über deutliche Schranken. Wenn lediglich wegen des allgemeinen Ordnungssinns die gerade aufgebaute Bude im Wohnzimmer zerstört wird, wenn die Selbstbefriedigung vor dem Einschlafen bewusst gestört und Oma in jedem Fall ein Recht auf feuchte Küsse eingeräumt wird, wird kindliche Privatsphäre missachtet.

Grenzen müssen manchmal erst übertreten werden, um sie zu spüren. Vor allem Kinder üben sich darin täglich und lernen dabei, die eigenen und die Grenzen anderer zu achten. Grenzen lassen sich vor allem aushandeln und dadurch verändern. Vielleicht ist Oma auch mit einem Kuss auf die Backe zufrieden, und die Bude darf noch so lange stehen bleiben, bis abends Besuch kommt. Von beiden Seiten ist dazu Entgegenkommen nötig, von Erwachsenen etwas mehr, weil sie leicht dazu neigen, sich selbst mehr Raum zu nehmen, als sie den Kindern zugestehen.

Nein- und Ja-Sagen

Weil viele traditionelle Verhaltensvorschriften heute nicht mehr gelten und die Lebensläufe der Menschen nicht mehr durch ihre Herkunft hart vorgezeichnet sind, müssen immer mehr Menschen immer früher selbst entscheiden, was für sie richtig ist und was sie wollen. Diese Fähigkeit fällt nicht vom Himmel und ist nicht ganz plötzlich da, sondern schon Kinder müssen das lernen. Wer nicht selbst deutlich JA und NEIN sagen kann, wird auch nicht bekommen, was er sich wünscht und sich nicht davor schützen können, wenn ihm andere etwas wegnehmen.

Lisa und Jan sagen, was sie mögen und was nicht. Sie haben mit ihren Sinnen viele Antennen entwickelt, die wie ein Frühwarnsystem Gefahren anzeigen und die sie als sensible Empfänger für Wohltuendes benutzen. Andere Kinder haben solche Antennen nicht entwickeln dürfen und vertrauen darauf, dass die Erwachsenen schon richtig für sie entscheiden. Wenn Kinder immer das aufessen müssen, was man ihnen auf den Teller legt, verlieren sie irgendwann das Gefühl dafür, wann sie satt sind und können auch sich selbst gegenüber nicht mehr NEIN sagen. Genauso verlieren sie die Fähigkeit, bei unangenehmen Annäherungen NEIN zu sagen, weil sie aus Dankbarkeit, Höflichkeit, Gehorsam oder anderen ehrenwerten Tugenden alles tun müssen, was ihnen Erwachsene sagen. Aus lauter Vorsicht vor Missbrauch lehren Eltern vor allem ihre Töchter das NEIN-Sagen, ohne das JA-Sagen in gleicher Weise zu stärken. Dann können sie vielleicht die unangenehmen von den wohltuenden Kontaktangeboten unterscheiden, bleiben aber in der Rolle der Abwartenden und sind von der Initiative der Erwachsenen oder der Jungen abhängig. JA-Sagen bedeutet nicht nur, etwas zuzulassen, sondern auch, sich zu nehmen, was man will: JA- und NEIN-Sagen lernen bedeutet, bewerten und entscheiden zu können. Mütter vermeiden oft das Erziehen zum JA-Sagen aus anerzogener Zurückhaltung oder aus Angst, an Grenzen zu geraten oder für Grenzüberschreitungen Unangenehmes in Kauf zu nehmen. Gegenüber allem Sexuellem wird ohnehin Zurückhaltung geübt. Immer ist es der Vater, der auch Sonntag Nachmittag mal mit der Mutter ins Bett will und dann vorwurfsvolle Blicke erntet, weil doch die Kinder im Nebenraum spielen. Wie soll die Tochter dann lernen, dass sie für ihr Wohlbefinden und ihre Lust etwas tun muss und nicht nur auf die doch extrem dünn gesäten Märchenprinzen warten kann?

Erziehung heißt Lernen ermöglichen und Grenzen setzen

Für gelingende Erziehung allgemein gilt: Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden und mit Grenzen umzugehen. In der Sexualität überwiegt bis heute das Grenzen-Setzen. Sexualität ist für viele immer noch der Feind der Erziehung, der Inbegriff alles Triebhaften, das gezügelt werden muss. Sie glauben, dass Kinder sonst überschwemmt werden von ihren Gefühlen und keine Moral mehr entwickeln.

Natürlich gibt es so etwas wie eine innere Bereitschaft zur sexuellen Aktivität, die sich phasenweise unterschiedlich dringend meldet. Die Spielarten ihrer Befriedigung, auch die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, die ganze Vielfalt der sexuellen Ausdrucksformen entwickelt sich nur im Austausch mit der Umwelt, durch Lernen auch in der Familie. Ob Sexualität als „notwendiges Übel“ mit kurzfristiger lustvoller Entladung erlebt wird, die „irgendwie ihren Weg schon findet“ oder als Sprache des Körpers mit vielen Dialekten, das hängt davon ab, was Kinder wissen und tun dürfen. Sie sollten immer etwas mehr wissen und im geschützten Raum der Familie tun dürfen als sie aktuell brauchen. Nur so ist Fortschritt beim Lernen möglich. Wie Geschlechtsverkehr aussieht, und was er für die Beteiligten bedeutet, sollten sie nicht erst wissen, wenn sie sich selbst alt genug dafür fühlen. Das dürfen sie bei ihren Eltern ruhig mal gesehen haben, wenn das auch für diese keine unvorhergesehene Katastrophe bedeutet.

Nun gibt es allerdings Eltern, die nicht mehr wagen, Grenzen zu setzen. Vor allem Mütter haben oft Angst, etwas falsch zu machen, lassen sich selbst ausbeuten, und die Kinder spüren keinen Widerstand mehr. Kinder drücken sich natürlich gerne vorm Aufräumen, wollen auch ihren Rhythmus durchsetzen, wollen nur Süßes, greifen vielleicht auch mal der Tante unter die Bluse. Dann ist es nötig, Grenzen zu setzen. Dann ist Konflikt angesagt. Erwachsene müssen aufpassen, dass sie dabei nicht ihre ganze Macht einsetzen, vor allem nicht die Körperkraft, deren Einsatz aufgrund der kindlichen Chancenlosigkeit meist als besonders erniedrigend erlebt wird. Auch für die Auseinandersetzung mit Kindern gilt der Grundsatz der fairen Ausgangsbedingungen, ohne die kein Konflikt zufriedenstellend gelöst wird.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurden er im August 2002 gestellt.

Frank Herrath ist Mitarbeiter des Instituts für Sexualpädagogik in Dortmund. Dr. Uwe Sielert ist Professor an der Universität Kiel.

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