Kindesmissbrauch und Sexualität

„Ich würde ihm zeigen, wie verdorben ich sein konnte. Alles andere war mir egal. Mein Schamgefühl ist anders geartet. Eine Dame, die vor dem Stühlchen eines behinderten Kindes „oh, wie reizend er doch ist!“ ausruft, ein Neureicher, der dem fünfzehnjährigen Kellner am Fischimbiss einen Skandal vom Zaun bricht, nur weil er kein dunkles Brot hat, ein wohlbeleibtes und gut gekleidetes Ehepaar, das Pfennige als Almosen verteilt, das sind die Dinge, die mein Schamgefühl hervorrufen; das andere Schamgefühl, diese konventionelle Scham habe ich nie besessen.“

(Almudena Grandes in: Lulu. Die Geschichte einer Frau. Hamburg 1990)

Missbrauch des Missbrauchs? Widerständiger Versuch gegen die Irritation

Von Rainer Deimel

Zugegebenermaßen hat die nunmehr seit längerem geführte Diskussion um sexuellen Missbrauch Verunsicherung geschaffen, zumindest was mich betrifft. Gleichzeitig konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich eine ähnliche Verunsicherung ebenfalls bei zahlreichen KollegInnen in den Einrichtungen manifestiert hat.

Das Aufbrechen von Tabus ist oft Voraussetzung für eine deutliche Veränderung und – wünschenswerterweise – Verbesserung bestehender gesellschaftlicher Problemsituationen. Dies ist auch im Falle von Kindesmissbrauch geschehen. Nach anfänglicher Verunsicherung, genährt nicht nur durch das Unfassbare des Missbrauchs an sich, des scheinbar massenhaft auftretenden inzestuösen Verhaltens, der demütigenden und möglicherweise irreversiblen Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene, sondern zusätzlich noch durch meine Rolle als Mann und Vater in einer derartigen Gesellschaft „brannte und brennt mir“ das Thema „auf den Nägeln“. In der Öffentlichkeit, den Medien, in Verbänden usw. wurde die Problematik aktiv „angegangen“, Aufklärung betrieben, wurden Seminare veranstaltet, zahlreiche Bücher und Broschüren veröffentlicht und anderes mehr. Im Laufe dieser Auseinandersetzung geriet beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund zeitweise in eine scheinbar defensive Position:

  1. Seitens des Kinderschutzbundes wurden Schätz-Zahlen angeben, die weit unter denen anderer Fachleute zurückblieben. Katharina Rutschky ( ) stellt in diesem Zusammenhang provozierend fest, dass der Kinderschutzbund damit möglicherweise seine Existenzberechtigung selbst in Frage stellen würde, da er als Organisation doch ein Interesse an möglichst vielen gequälten und missbrauchten Kindern haben müsse.
  2. Der Kinderschutzbund wollte sich – soweit ich dies einschätzen kann – bislang nicht der Meinung unterwerfen, sexueller Missbrauch sei im Vergleich zu anderen Quälereien und Ausbeutungen von Kindern die schlimmste Form von Übergriffen überhaupt.
  3. Trotz aller Anfeindungen ist der Kinderschutzbund bisher nicht von seinem Motto „Helfen statt Strafen“ abgewichen.

Ich freue mich mittlerweile über die Standhaftigkeit dieser – wie ich meine – in Deutschland bedeutendsten Kinderschutzorganisation. In der fachlichen Auseinandersetzung im vergangenen Jahr fiel mir auf, dass die Diskussion immer stärker in Richtung „Hysterie“ auszuarten drohte. Als erleichternd empfand ich das Aufgreifen der Thematik genau in der Intention, einer „Hysterisierung“ entgegenzuwirken, durch das SOZIALMAGAZIN im Mai und im Oktober 1992. Als Mann hatte ich immer noch so meine Schwierigkeiten, mich in dieser Form an die Problematik heranzuwagen. Erst Katharina Rutschky, die als engagierte Frau (Pädagogin und Historikerin) ihr Buch „Erregte Aufklärung“ herausgebracht hat, hat mir den Mut gemacht, mich auf diese Weise zu äußern. Sie – Rutschky – wird sich in der Zwischenzeit allerlei Anfeindungen ausgesetzt fühlen. Ihr ihre Seriosität abzusprechen, dürfte schwer fallen, zumal sie sich als Autorin und Herausgeberin von „Schwarze Pädagogik“ ( ) bereits 1977 einen „Namen“ gemacht hat. Mit einer beharrlichen Akribie hat sich Katharina Rutschky daran gemacht, einmal die Zahlen und Hintergründe aus dem Zusammenhang des Missbrauchs zu beleuchten.

Beim ABA Fachverband erschien in der Reihe DER NAGELKOPF (Nr. 15/1991) die Broschüre „Sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen“ von Petra Monshausen. In meinem Nachwort zu dieser Broschüre hatte ich formuliert: „Statistische Angaben sind im Zusammenhang mit dieser Problematik nicht unbedingt brauchbar. Sie können dazu geeignet sein, lähmendes Entsetzen und Hysterie auszulösen, aber auch Widerstand und Zweifel (‚Jeder vierte Mann …‘); dies wiederum ist einer Begegnung im Sinne von Verhindern und Handeln nicht dienlich, eher blockierend. Darüber hinaus sagen Zahlen über das einzelne Schicksal eines Kindes überhaupt nichts aus. Prozente helfen nicht weiter, sondern bringen eher die Gefahr einer weiteren Diskriminierung mit sich.“

Katharina Rutschky beleuchtet überzeugend den mythenhaften Hintergrund der Zahlen-„Inszenierung“, wobei sie unter anderem schwerpunktmäßig den Expertinnen Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter (Sachverständigenkommission 6. Jugendbericht) „auf den Zahn fühlt“. Sie stellt dabei fest, dass es sich bei der Zahl drei um einen Mythos handeln muss („Jedes dritte Mädchen… 300000 missbrauchte Mädchen… jeder dritte Mann ein Täter… 4 x 300000 = 1,2 Mio., so ist man dann bei der Zahl der BILD-Zeitung… in jeder dritten Minute in diesem Lande Tag und Nacht ein missbrauchtes Kind… ). Sie rechnet nach und stellt fest, dass die schier unermüdlichen Täter mindestens in jeder zweiten Minute aktiv sein müssten, vorausgesetzt, sie würden nie schlafen. So führen sich manche Statistiken selbst ad absurdum, und berechtigterweise stellt Katharina Rutschky fest: „Damit nicht nur jede fünfte, vierte, dritte, ja, jede zweite Frau als Opfer, aber damit auch als Rohstoff für Statistik, Forschungsvorhaben und therapeutische Einrichtungen in Frage kommt, muss man wohl noch weiter gehen, bis dahin, wo der Wahn beginnt und auch der letzte Rest von common sense und Lebensklugheit Ade gesagt haben.“ ( ) Und hinsichtlich der Zahl der missbrauchten Frauen und Mädchen stellt sie dementsprechend die Frage: „Warum nicht alle?“ ( ) Während und nach der Lektüre ihres Buches wurde mein Verdacht bestätigt, dass sich hinter alledem nicht nur das berechtigte individuelle Recht auf seelische und körperliche Integrität des Kindes verbirgt, sondern dass hier auch reichlich ideologische Suppe gekocht werden soll. Und genau damit will ich mich im Folgenden befassen. Ich will dabei auf Zahlen völlig verzichten. Gleichwohl möchte ich aus einer Untersuchung von Dirk Bange ( ), die dieser bei StudentInnen der Universität Dortmund durchgeführt hat, einige Informationen aufgreifen, die mir wichtig erscheinen: „Der Mythos, dass sexueller Kindesmissbrauch ein besonderes Problem der unteren sozialen Schichten ist, bestimmt bis heute das Denken vieler Menschen. Kindern, die von Bürgermeistern, Lehrern oder anderen honorigen Bürgern sexuell missbraucht wurden, ist u.a. deshalb oft nicht geglaubt worden. Diese Annahme wird durch das Ergebnis meiner Studie in Zweifel gezogen. Ingesamt kommt etwa die Hälfte der sexuell missbrauchten Studentinnen aus der Oberschicht oder oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel wurde als der unteren Mittelschicht zugehörig klassifiziert, und nur ein Zehntel sind der Unterschicht zuzurechnen…

Die Ergebnisse der Befragung deuten in die Richtung, dass sexuell missbrauchte Kinder vielfach in einem angespannten Familienklima aufwachsen:

  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre Eltern signifikant konservativer ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen wurden signifikant häufiger mit Schlägen, Hausarrest, Liebesentzug und Verboten bestraft als ihre nicht missbrauchten KommilitonInnen.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten die Beziehung ihrer Eltern zueinander signifikant schlechter ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre eigene Beziehung zu den Eltern als signifikant schlechter ein als der Rest der Befragten…

Bei fast allen sexuell missbrauchten StudentInnen hat die sexuelle Ausbeutung unangenehme Gefühle wie Ekel, Hass oder Verwirrung ausgelöst…

… zu den psychosomatischen Beschwerden gaben die sexuell missbrauchten Studentinnen signifikant häufiger an, dass sie darunter leiden. Sie berichten häufiger über:

  • Essstörungen,
  • Schlafstörungen,
  • Unterleibsbeschwerden,
  • Sprachstörungen und
  • sie lehnen ihren eigenen Körper stärker ab…

Ähnlich sind die Ergebnisse bei den Fragen zu den psychischen Folgen. Die sexuell missbrauchten Studentinnen fühlen sich allgemein niedergeschlagener und trauriger als die nicht missbrauchten. Bei den Männern finden sich zwischen beiden Gruppen keine nennenswerten Unterschiede.

Etwas anders sieht das Ergebnis … zu den Einstellungen bezüglich Partnerschaft aus. Die sexuell missbrauchten Männer fühlten sich seltener wohl in engen Beziehungen und haben größere Angst vor langen Beziehungen als die nicht missbrauchten Männer. Bei den Studentinnen sind bei vier der fünf Fragen die Unterschiede statistisch signifikant: Sie haben

  • mehr Angst, in Beziehungen ausgenuzt zu werden,
  • haben mehr Angst vor Nähe,
  • sind misstrauischer in Beziehungen und
  • haben häufiger Angst vor langen Beziehungen als ihre nicht betroffenen Kommilitoninnen…

Die Ergebnisse sind auch bei den Autoaggressionen erschreckend. Denn die sexuell missbrauchten Studentinnen und Studenten gaben hochsignifikant häufiger als die nicht missbrauchten an, schon Suizidgedanken gehabt oder Suizidversuche hinter sich zu haben… Bei bewussten Verletzungen ist das Ergebnis ähnlich…

… (Die) sexuell missbrauchten Frauen (gaben) … signifikant häufiger an, ihre sexuellen Beziehungen seien schwierig und nach Sexualität seien sie unzufrieden. Die sexuell missbrauchten Männer gaben signifikant häufiger an, zu wenig sexuelle Erlebnisse zu haben und seltener die Initiative zu ergreifen als ihre nicht missbrauchten Kommilitonen.“

Entgegen den Befürchtungen Dirk Banges, das Problem des Missbrauchs könne heruntergespielt werden, möchte ich versuchen, einige pädagogisch-politische Aspekte hinzuzufügen. Ich bin mir der Tatsache des Missbrauchs sehr wohl bewusst. Ein Herunterspielen liegt mir fern. Gleichwohl möchte ich mich auf den Versuch einer Problemrelativierung einlassen.

In der Offenen Arbeit mit Kindern wurde immer wieder auf die Schwierigkeiten und Grenzen hinsichtlich Prävention und vor allem hinsichtlich konkreten Handelns im Falle (vermeintlichen) Feststellens sexuellen Missbrauchs hingewiesen. Auch dieser Umstand hat die Verunsicherung in den Einrichtungen nicht verringert. Vergleichbar schätze ich die Situation bei KollegInnen in Regelbetreuungseinrichtungen und bei LehrerInnen in Schulen ein. Viele KollegInnen sehen sich außerstande, adäquat zu reagieren. Sofern es sich dabei um tatsächlichen sexuellen Missbrauch handelt, erklären Alltag, Rechtslage in Deutschland und die unzureichende soziale, psychosoziale und sozialpädagogische Versorgung die Haltung der Bevölkerung in diesem Lande hinsichtlich dieser „erzwungenen“ Zurückhaltung. Überdies liegt die Vermutung nahe, dass eine primär juristische „Nachsorge“ den Traumatisierungs-Effekt des Missbrauchs noch einmal deutlich steigert. Die angesprochene Hysterisierung durch unangemessene Erregung und zu wenig einfühlsame Aufklärung hat überdies in etlichen Einrichtungen dazu geführt, dass ein Kind, das – aus welchen Gründen auch immer – „schlecht drauf“ ist, sogleich in den Verdacht gerät, Missbrauchsopfer zu sein. Bei aller Liebe und Leidenschaft für den Selbsthilfegedanken, bin ich davon überzeugt, dass gerade sexueller Missbrauch am wenigsten geeignet ist, ihm in Form von Selbsthilfegruppen zu begegnen. Leider ersetzt der frühere Missbrauch an der eigenen Person keine psychologische bzw. pädagogische Ausbildung. Oft sind allerdings dann die Verhaltensweisen entsprechend. Und genau hierin erblicke ich weitere Traumatisierungsgefahren.

Missbrauch und Ausbeutung von Kindern findet in allen Schichten und in vielerlei Hinsicht statt. Ich denke da beispielsweise auch an die Problematik der Kinderarbeit (= „Kindermaloche“, um es von Arbeit mit Kindern oder auch der selbstgewünschten Lohnarbeit junger Menschen abzugrenzen). Die Bewertung von Missbrauch und Ausbeutung kann in der Regel nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Kultur stattfinden. Unsere Kultur mit ihrem Wertesystem gibt Standards vor, quasi eine Skala, mit der wir den jeweiligen Schweregrad von Verstößen einordnen. Aspekte, die sich aus dem Strafrecht ergeben, will ich in diesem Zusammenhang nicht berühren. Wenn es sich nicht um einen ganz augenscheinlich auszumachenden Verstoß handelt, ist die definitive Nominierung des Missbrauchs durch Dritte objektiv kaum möglich. Täter sind wenig hilfreich, da sie meistenteils ihr Vergehen zu verbergen suchen oder überhaupt kein Unrechtsbewusstsein haben. Opfer befinden sich in einer noch größeren Zwangslage: sie sind meistenteils abhängig vom Täter ( ) und fühlen sich wehrlos. Im Falle von Inzest kommt in der Regel erschwerend hinzu, dass das Opfer den Täter liebt und diese Liebe nicht verlieren möchte. Missbrauch, der quasi im Randbereich zwischen Verbrechen und Zuneigung stattfindet, oftmals motiviert durch gestörte psychische Zusammenhänge, kann – leider – oft nur vom Täter als solcher erkannt werden. Hier unbedacht in diesen circulus diabolus einzugreifen, kann die bestehende Dynamik oftmals noch zu weiteren traumatisierenden Turbulenzen kumulieren lassen. Von daher bin ich davon überzeugt, dass es in jedem Fall wichtig und besser ist, einem Kind, das sich als Opfer zu erkennen gibt, Glauben zu schenken, es in seiner Persönlichkeit anzunehmen und ihm deutlich zu machen, dass und wie man es ernst nimmt. Hierzu haben einfühlsame PädagogInnen jederzeit Gelegenheit. Aufgrund psychologischer Erkenntnisse ist dem Opfer damit mehr gedient als mit aufgeregter Geschäftigkeit, Sensationshascherei und staatlicher sowie medialer Interventionsarbeit. Nur wenn es für das Opfer tatsächliche Alternativen und Perspektiven gibt, halte ich eine umfassende Intervention für gerechtfertigt.

Wir sollten weitere Aspekte in unser Gedächtnis zurück- bzw. hineinrufen. Welche Rolle spielen staatlich-kulturelle Normen in diesem Zusammenhang? Wie ist es mit der Vorbildfunktion von PolitikerInnen, deren Vertrauenswürdigkeit in der Bevölkerung augenblicklich – wie nie zuvor – im Schwinden begriffen ist, bestellt? Neben der persönlichen Integrität von PolitikerInnen ist mir dabei auch ihre eigene Verortung wesentlich. PolitikerInnen können es sich am wenigsten leisten, sich hinter Systemvorgaben und -schwächen zu verschanzen. Gerade sie sind es, die mit Hilfe der Politik Wertmaßstäbe entscheidend beeinflussen können. Sollte unser System sich derart verselbstständigt haben, dass PolitikerInnen das nicht mehr können, dann ist das System wohl am Ende, und man kann den PolitikerInnen nur dringend empfehlen, die Hände von der Politik zu lassen. Und wie man hört, haben die Parteien inzwischen ernsthafte Nachwuchssorgen, zumindest was qualifizierten Nachwuchs angeht. Junge Leute spüren dies und leben immer mehr danach. Unterschiedliche Jugendstudien belegen, dass „die Jugend“ nicht unpolitisch geworden ist. Die Werte der Politik entsprechen allerdings nicht den ihren, die stärker als man glauben möchte in ideellen Bereichen liegen. ( ) Welche Rolle spielen die Religionen, die oftmals doppelmoralisch-aggressiv argumentieren und reglementieren? Auch Lustfeindlichkeit sichert Abhängigkeit. Und durch die Manifestation von Abhängigkeiten werden Untertanen und Untertanengeist gesichert. Die patriarchale Gesellschaft ist zunehmend erschüttert worden. Trotzdem hat sie es bislang hervorragend geschafft, ihre Existenz weiter zu sichern. Die Okkupation des Patriarchats und seiner Instrumente durch die Frau schafft Patriarchat nicht ab, sondern lässt Frauen lediglich an ihm partizipieren. Den Grundübeln dieses Systems lässt sich so nicht begegnen. Und Missbrauch und Ausbeutung von Kindern lassen sich so auch nicht abschaffen.

Ich wittere hinter so manchem, was sich gegenwärtig als Kinderanwaltschaft (z.B. gegen sexuellen Missbrauch) oder als Lobby für dieses und jenes verkauft, den Versuch, überkommene Ideologien wieder salonfähig zu machen, neue Ideologien zu kreieren, um weithin Abhängigkeiten zu sichern. So sehe ich teilweise mit großen Bedenken, dass die Kampagne gegen sexuellen Missbrauch – so notwendig sie auch ist – missbraucht wird, um lust- und lebensfeindliche Ideologien durchzupeitschen. Katharina Rutschky schreibt dazu u.a.: „In einer seltsamen Umkehrung sollen in dieser Weltsicht Männer so unter Kuratel gestellt werden wie im Islam die Frauen. Verhüllt und mit niedergeschlagenen Augen müssen sie ihren Ruf als anständige Menschen, als Nicht-Missbraucher täglich neu erweisen. Nur sind sie verantwortlich für das Unheil, das die Sexualität stiftet, wenn sie nicht allerschärfstens überwacht wird: Von uns, den Frauen.“ ( ) Ich beobachte unheilige Allianzen, die ihre „heiligen“ Ziele unbedingt erreichen wollen. Zu einer ähnlichen Bewertung komme ich mittlerweile auch bei einigem, was uns die Aids-Debatte beschert. Vergleichbare Kampagnen gibt es im Zusammenhang mit dem § 218 StGB. PolitikerInnen aller Couleur kommen mittlerweile zu der frappierenden und falschen Feststellung, dass es letztendlich „die 68er“ mit ihren antiautoritären Gedanken und zum Teil entsprechendem Handeln waren, die verantwortlich sind für zunehmende Gewalt und faschistische Radikalisierung in diesem Lande. Wenn der Balken im eigenen Auge bloß nicht so hinderlich beim Hinsehen wäre!

Ich bin der Auffassung, dass der Zeitpunkt überfällig ist, wo PädagogInnen gefragt sind, die in der Lage sind, Kindern die lustvollen Seiten des Lebens – und dazu gehört nun auch einmal die Sexualität – wieder näher zu bringen. Gute und umfassende Aufklärungen sind notwendig, libertäre Bildungsangebote und -chancen sind gefragt. Vieles muss von PädagogInnen wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wenn der Missbrauch vor allem in autoritären (vgl. Dirk Bange) und religiös eher rigiden Familien ein besonderes Problem darstellt, liegt die Vermutung nahe, dass Missbrauch und Ausbeutung dann keine Bedeutung spielt, wenn Kinder in einem Klima aufwachsen, in dem Toleranz, Liberalität, Offenheit gegenüber Fremdem und das Zulassen von Lust und Erotik Werte darstellen. In diesem Sinne müssen pädagogische Konzeptionen entwickelt werden. Junge Leute brauchen Halt, Unterstützung und Bestärkung durch Erwachsene. Kinder haben einen Anspruch darauf, als individuelle und gemeinschaftsfähige, gleichwertige Personen von Erwachsenen akzeptiert zu werden. Erwachsene haben kein Recht, Kinder zu bestrafen oder sie zu missbrauchen.

Ich möchte Mut machen, dass in den Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, die Lust an der Lust (wieder) eine größere Rolle spielen darf. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind keine asexuellen Wesen und lange nicht alle sind Bestien. Dazu gehört auch, Elternarbeit wieder verstärkt auf die positiven Aspekte von Sexualität zu lenken. Da es formaljuristisch nun einmal so ist, dass gerade auch Sexualerziehung ein quasi verbrieftes Elternrecht ist, soll eine gezielte und einfühlsame Arbeit mit Eltern Räume für Lust und Lebensfreude bei Kindern erreichen helfen. Und wenn Eltern dann immer noch nicht aktiv widersprechen, gibt es reichlich zu nutzende „Frei“-Räume.

In dieser Intention können Eltern, PädagogInnen und andere Interessierte nachstehend die Ausführungen zum Thema „Kindliche Sexualität“ von Frank Herrath und Uwe Sielert lesen; dies hoffentlich mit viel Freude. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Elterninformationsheft des Kinderbuches „Lisa und Jan“.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurde er im August 2002 gestellt.

Rainer Deimel ist Referent beim ABA Fachverband.

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