Jugendliche haben weniger Zeit und unterliegen heute neuen Formen sozialer Kontrolle. Freiräume, um sich auszuprobieren, werden seltener. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit reagiert darauf. Der Autor macht deutlich, wie wichtig es ist, dass es „Offene Bereiche“ in den Einrichtungen gibt, die von pädagogischer Seite wenig vordefiniert werden.
Folgender Beitrag ist von unserem Bildunsgreferenten Christopher Roch für die Zeitschrift THEMA JUGEND der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NW e.V. verfasst worden.
Das Feld der Assoziationen, die die Begriffe „Jugend“ und „Kontrolle“ spontan hervorrufen, lässt sich zum Beispiel durch folgende Pole abstecken: Auf der einen Seite das medial vermittelte Bild ‚verhaltensauffälliger, außer Kontrolle geratener‘ Teenager, die zur Läuterung in den Wilden Westen geschickt und dort zu therapieren versucht werden. Auf der anderen Seite das Bild kreuzbraver Student/-innen, die bereits im zarten Alter von 18 ihr Prüfungswissen herunterbeten und von denen man sich fragt, wo sie eigentlich ihren rebellischen Geist gelassen haben (wenn sie ihn jemals besaßen). Im (sozial-)pädagogischen Kontext werden solche Spannungsfelder u. a. als ein Verhältnis von ‚jugendlicher‘ Raumaneignung, (sozial-)pädagogischer Intervention und sozialräumlicher Praxis in Form partizipativer Angebote diskutiert. Dieser Beitrag beleuchtet das Verhältnis von Autonomie und Kontrolle in Bezug auf Jugend aus Sicht der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an Hand der Fragestellung: Wie können Jugendlichen angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Umbrüche attraktive Aneignungsmöglichkeiten bereit gestellt werden, bei der auch (sozial-)pädagogische Zielvorstellungen mit einfließen? In diesem Rahmen werden Aspekte zur Bedeutung von Freiräumen, sozialer Kontrolle und räumlichen Umwelten Jugendlicher herausgearbeitet, die in einem Plädoyer abschließen.
Nicht nur die Szene der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beklagt, dass Jugendlichen zu wenige Räume eröffnet werden, in denen sie sich frei von Kontrolle ausprobieren, ausleben und entwickeln können (und dürfen). Seit kurzem verbindet die Trägergruppen der Jugendarbeit NRWs ein „Bündnis für Freiräume“, welches die Bedeutung von Freiräumen unterstreicht und Forderungen nach mehr freier, selbstbestimmter, nicht verzweckter Zeit für Jugendliche umsetzen will.1 Es gibt viele weitere Organisationen, Institutionen, Expert/-innen usw., die gleiches oder ähnliches zum Ziel haben. Zentrale Argumente für Forderungen nach mehr Freiräumen für Jugend werden in erster Linie aus den Unzulänglichkeiten und der Umstrukturierung bzw. „Ökonomisierung“ des formalen Bildungssystems abgeleitet.2 So seien die formalen Bildungsanforderungen in den vergangenen Jahren – primär wegen der Verkürzung der Schulzeit (G8), dem Ausbau des Offenen Ganztags und/oder der Bologna-Reform – deutlich angewachsen. Dadurch sei der Leistungsdruck für Kinder und Jugendliche entsprechend gestiegen, was wiederum im Zusammenhang mit der sinkenden subjektiven Lebenszufriedenheit von jungen Menschen stehen könne (UNICEF 2013, 10). Die Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendarbeit insgesamt sowie auf die Kinder und Jugendlichen selbst sind indes unterschiedlich: Während in einigen Einrichtungen der Jugendarbeit u. a. Besucher/-innenrückgang und ein Schrumpfen des ehrenamtlichen Engagements zu verzeichnen sind, können andere Akteure aus dem Feld gut mit den neuen Herausforderungen umgehen. Oftmals bringen bspw. Offene Einrichtungen ihre Kompetenzen bei der Kooperation mit Schule inner- und außerhalb des Offenen Ganztags mit ein und ziehen selbst auch Nutzen daraus (Deinet 2013, 177ff). Bezüglich der Auswirkungen auf Jugend selbst gehen das Deutsche Jugendinstitut und die Technische Universität Dortmund unterm Strich von einer inhaltlichen und zeitlichen Verdichtung der Jugendphase aus.3
Autonomie und Kontrolle
Gleichzeitig ist nicht nur der Rückgang von inhaltlichen und zeitlichen Freiräumen für das veränderte Verhältnis von Autonomie und Kontrolle in Bezug auf Jugend relevant. Einfluss hat auch der grundlegende und andauernde Wandel der Formation sozialer Kontrolle in unserer Gesellschaft: So sind, neben klassischen Formen der Sozialkontrolle, wie bspw. Überwachung, Strafe und Disziplinierung, insbesondere Techniken und Prozesse der Selbstführung neu hinzugekommen (Singelnstein/Stolle 2006, 13). Selbstführung meint im diesem Zusammenhang, dass Jugendliche sich selbst wegen des steigenden Zwangs zur Abarbeitung komplizierter werdender Handlungsanforderungen anpassen und kontrollieren müssen, wenn sie gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich sein wollen (ebd., 55ff). Sozialkontrolle werde demnach in das Individuum hineinverlagert und sei somit Ausprägung einer strukturellen, „indirekten“ Sozialkontrolle, die primär aus wirtschaftlichen Verwertungszwängen herrühre (ebd., 69). Ähnliche Schlussfolgerungen sind in der soziologischen Denkweise der Entgrenzung von Leben und Arbeit zu finden: Demnach werden ‚Gestaltungsspielräume der individuellen Lebensführung‘ massiv eingeschränkt, was maßgeblich vom Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft herrühre (Reutlinger 2013, 44f). Diese Selbstführung unter dem Deckmantel suggerierter Freiwilligkeit dürfte nicht zuletzt in den verschiedenen Jugend-Milieus unterschiedlich ausgeprägt sein. Für die Offene Arbeit resultiert daraus vor allem der Auftrag, die vom Bildungs- und Ausbildungssystem abgehängten bzw. ausgeschlossenen Jugendlichen zur Entwicklung eigenständiger Persönlichkeiten zu befähigen.
Raumsensibilität
Wovon sprechen wir schließlich konkret, wenn wir von Frei-„Räumen“ reden, die durch zeitliche sowie inhaltliche Verdichtung der Jugendphase und das Aufkommen neuer Formen sozialer (Selbst-)Kontrolle eingeschränkt werden? Prominentes Beispiel ist das Internet als virtueller Raum, in dem sich ein erheblicher Teil der Jugendlichen heutzutage ohne Kontrolle seiner Eltern aufhält. Gleichzeitig geht es bei einem ganzheitlichen Raumverständnis weniger um Veränderungen einzelner, bspw. virtueller oder funktionalisierter Räume, sondern um das Zusammenspiel von unterschiedlichen Räumen. Dabei etablieren sich nicht nur in der Offenen Arbeit Auffassungen über räumliche Umwelten von Jugendlichen, die das Entwickeln professioneller Raumsensibilität in einer entgrenzten Welt zum Ziel haben, in der der Mensch mit seinen Handlungskompetenzen und Handlungsoptionen im Mittelpunkt steht bzw. stehen sollte (ebd., 43). Für die Gestalter sozialräumlicher Angebote gehe es heute nicht mehr darum „‚Räume‘ als physisch-materielle Kästchen zu schaffen, um den heutigen Problemen des Aufwachsens im Lebensort Stadt zu begegnen (…), sondern es geht darum, die unsichtbar gewordenen Formen der Bewältigung des Überflüssigseins zu sehen und die dahinter liegenden Gründe zu erklären“ (ebd., 46). Vor dem Hintergrund dieses abstrakten, theoretischen Konstrukts erfahren gleichwohl konkrete sozialräumliche Angebote eine neue Bedeutung: Bspw. werden „Offene Bereiche“ in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als wenig vordefinierte bzw. funktionalisierte Räume für die Aneignungsmöglichkeiten für Jugendliche besonders herausgestellt, weil ihnen kaum zu überschätzende Bildungspotenziale innewohnen (Deinet 2013, 98ff). Offene Bereiche als zwanglose Aufenthaltsorte, die grundsätzlich für alle zugänglich sind, können von Jugendlichen und Fachkräften unterschiedlich definiert werden und ermöglichen Prozesse der Aneignung als Wechselwirkung von Ambiente, Fachkräften und Jugendlichen. Damit stellen sie wichtige Arenen dar, in denen Jugend sich „relativ“ frei bewegen kann und in denen gleichzeitig (sozial-)pädagogische Zielvorstellungen mit einfließen.
In der bildungspolitischen Diskussion um zur Verfügung stehende Aneignungsräume für Jugendliche finden informelle Bildungskonzepte der Kinder- und Jugendarbeit im Allgemeinen und der Offenen Arbeit im Speziellen zwar erhöhte Aufmerksamkeit, werden aber (paradoxer- und fatalerweise) mit sinkendem finanziellen Engagement von öffentlicher Seite bedacht. Im Übrigen ist an den Hochschulen und in den Universitäten Nordrhein-Westfalens insbesondere die Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fachlich deutlich unterrepräsentiert. Darüber hinaus sind die wichtigsten Bedingungen für Aneignung (Achtung: Schillernde Begriffe!) – Demokratie, Partizipation, Gleichberechtigung, ökonomische und bedürfnisgerechte Lebensperspektiven – in vielen gesellschaftlichen Bereichen aus Sicht von Jugend nur zum Teil erfüllt. Fehlendes Wahlrecht, ungleiche Bildungschancen oder Schein-Partizipation sind nur einige Beispiele der Baustellen. Daraus geht hervor, dass die Frage nach dem „richtigen“ Maß an Kontrolle gegenüber Jugend auch (macht-)politisch immer wieder neu beantwortet werden muss. Demzufolge kann die Offene Arbeit nur vereinzelte Antworten auf die Ausgangsfrage liefern, wie Jugendlichen angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Umbrüche attraktive Aneignungsmöglichkeiten bereit gestellt werden, bei der auch (sozial-)pädagogische Zielvorstellungen mit einfließen.
Anmerkungen:
1 Beschluss der Vollversammlung des Landesjugendrings NRW vom 9. Oktober 2013 in Bochum
2 Auf weitere Themenfelder, die im Zusammenhang mit Freiräumen eine nicht unwichtige Rolle spielen – wie zum Beispiel Konsumorientierung – soll hier nur verwiesen werden.
3 Studie „Keine Zeit für Jugendarbeit?“
Literatur:
Deinet, Ulrich: Der offene Bereich als Aneignungs- und Bildungsraum. In: Ders.: Innovative Offene Jugendarbeit. Bausteine und Perspektiven einer sozialräumlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Opladen/Berlin/Toronto 2013.
Reutlinger, Christian: Räumliche Umwelten von Kindern und Jugendlichen – oder: Das (erneute) Finden professioneller Raumsensibilität als aktuelle Herausforderung von offener Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, Ulrich: Innovative Offene Jugendarbeit. Bausteine und Perspektiven einer sozialräumlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Opladen/Berlin/Toronto 2013.
Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2006.
UNICEF: Leistungsstark aber unglücklich? Zusammenfassung des UNICEF-Berichts zur Lage der Kinder in Industrieländern. 2013.