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NAGEL-Redaktion – Kinder, Jugendliche und Gesundheit

Von Rainer Deimel

Vorbemerkung

Beim Zusammentragen der Materialien und beim Schreiben dieses Textes habe ich festgestellt, dass es schier unmöglich ist, alles hier Verarbeitete so zu präsentieren, dass es „einfach so“ in der Praxis verwandt werden könnte. Dazu reicht weder der Platz in dieser Zeitschrift, noch die mir zur Verfügung stehende Zeit. Im ersten Teil der Auseinandersetzung versuche ich, Bilanz zu ziehen; dies mit Hilfe zum großen Teil aktueller Quellen. Im zweiten Teil bin ich bemüht, Perspektiven vor allem für die Praxis und die Politik aufzuzeigen. Dabei habe ich in erster Linie Personen bemüht, Personen, die für Konzepte, Erkenntnisse und Rückschlüsse stehen. Ich habe einerseits versucht, das Material so zu bearbeiten, dass die Praxis Hilfestellungen bezüglich konzeptioneller Reflexionen finden kann. Anderseits war ich daran interessiert, die üblichen Kriterien des wissenschaftlichen Journalismus einigermaßen zu erfüllen. So bleibt Interessierten, die neugierig auf mehr an hier Dokumentiertem geworden sind, nicht erspart, sich selbst weiter auf den Weg zu mehr Fachlichkeit zu begeben. Wir können darüber hinaus anbieten, mit Hilfe des ABA Fachverbandes passgerechte Fortbildungen zu organisieren.
Unter dem Titel „Man muss den Charakter bilden“ gab das Journalistenehepaar Petra Gerster und Christian Nürnberger dem SPIEGEL ein Interview, das in der Ausgabe 35/2001 veröffentlicht wurde. Anlass des Interviews war ihr Buch, dass kürzlich erschien.
1 Es scheint so, als habe nach Doris Schröder-Köpf auch andere Leute das erreicht, was hier als „Erziehungsnotstand“ charakterisiert wird. Es werden Thesen von „kollektiver Ratlosigkeit“ und des Unvermögens zu erziehen, aufgestellt. In diese Kerbe soll hier nicht weiter gehauen werden. Wer sich grundsätzlich mit dem Thema Erziehung beschäftigen möchte, dem sei hier erneut das Buch „Wozu erziehen?“ von Wilhelm Rotthaus empfohlen. Wir besprachen es im NAGEL 61.2 In Abrede gestellt werden soll auch keineswegs die hehre Absicht, mit der Gerster und Nürnberger versuchen, für das Erziehen von Kindern einen – möglicherweise neuen – Grundkonsens herzustellen. Gleichsam kann z.B. nicht das Ziel der Bemühungen sein, die Schule müsse „zeitloses Wissen, das hilft, die Welt zu verstehen“, vermitteln (im Kernsatz stimme ich dieser Auffassung durchaus zu) und sich dabei z.B. auf die Newtonschen Gesetze berufen.3 Wo sich die Physik längst in die Tiefen der Chaostheorie vorgewagt hat, kommen mir derartige Forderungen eher hinterwäldlerisch vor. Dass die Schule mit ihrem Latein häufig am Ende ist, hat meines Erachtens eher etwas damit zu tun, dass sie am Alten zu stark festzuhalten versucht und zu wenige praktische Konsequenzen aus dem zieht, was gegenwärtige Kindheit im Wesentlichen charakterisiert. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, den Aspekt einer gedeihlichen Sozialisation ansatzweise zu bearbeiten; dies vor allem zugespitzt vor dem Hintergrund kindlicher Gesundheit und Konsequenzen, die sich daraus einerseits für das pädagogische Handeln und andererseits als politische Verpflichtungen ergeben.

Eine Bestandsaufnahme

Die Themenkomplexe „Gesundheit“ und „Krankheit“ erlebe ich gegenwärtig nahezu wie einen Dickicht. Gleichwohl weisen alle neueren Untersuchungen ähnliche Ergebnisse auf. Kindheit und kindliches Befinden haben sich stark verändert, Antworten auf diese Veränderungen müssten adäquat sein. Für meine „Dickicht-These“ spricht möglicherweise auch der Umstand, dass das Robert-Koch-Institut in Berlin eine umfassende Studie zum Thema durchführt, die bis zum Jahre 2005 vorliegen soll. Unter dem Motto „GUT DRAUF“ gab es bereits vor ein paar Jahren eine Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die sich an alle möglichen Felder, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, richtete. Hierzu kann kostenlos ein Ordner „Kompakt – Das GUT DRAUF-Kommunikationspaket“ bezogen werden.4 Die Direktorin der BZgA, Elisabeth Pott, die auch das Kommunikationspaket als Herausgeberin mit zu verantworten hatte, greift in einem kürzlich erschienen Artikel unter dem Thema „Alles hängt mit allem zusammen“ die zentralen Anliegen der GUT DRAUF-Kampagne erneut auf, nennt sie Stress, Essstörungen und Bewegungsmangel als die fundamentalen Probleme des gegenwärtigen Aufwachsens und betont gleichzeitig, diese Phänomene dürften nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Vielmehr stünden sie in einer Beziehung untereinander.5 Ziel der Bemühungen müsse die positive Beeinflussung des Selbstwertgefühls durch das Erzeugen von Selbstvertrauen und eines harmonischen Körpergefühls sein. Sie spricht sich hinsichtlich der Gesundheitsförderung für einen „ganzheitlichen Ansatz“ aus.6 Welche Methoden und Mittel, welche Konzepte am ehesten geeignet sind, einen solchen „ganzheitlichen Ansatz“ zu verfolgen, werden wir an späterer Stelle versuchen, herauszuarbeiten. 
„Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ Diese plakative Definition galt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die Definition der WHO (World Health Organization – Weltgesundheitsorganisation) von 1946 fasst hingegen „Gesundheit“ deutlich umfassender. Einerseits wird Gesundheit als Zustand des „völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ betrachtet, andererseits ist „Gesundheit“ vor dem Hintergrund dieser Definition in einem interdisziplinären Kontext von Psychologie, Sozialmedizin, Epidemologie sowie Medizinsoziologie zu sehen.
7 Gesundheit ist nur möglich, „wenn eine Person konstruktiv soziale Beziehungen aufbauen kann, sozial integriert ist, die eigene Lebensgestaltung an die wechselhaften Belastungen des Lebensumfeldes anpassen kann, dabei individuelle Selbstbestimmung sichert und den Einklang mit den biogenetischen, physiologischen und körperlichen Möglichkeiten herstellen kann.“8
Versuchen wir, Bilanz zu ziehen, d.h. ein Szenario zu zeichnen, was postmoderne Kindheit im Kontext dieser Auseinandersetzung ausmacht. Krankheitsbilder und -verläufe haben sich bei jungen Menschen grundlegend verändert. Die Mortalitätsrate bei Kindern ist durch die Jahrhunderte infolge medizinischer Fortschritte und durch ein gestiegenes Maß an Aufklärung deutlich gesunken, flankiert durch Vorsorgeuntersuchungen ab der Geburt bis zum Schulalter. Akute Erkrankungen sind bei jungen Menschen kaum noch feststellbar. Wirft man allerdings einen Blick auf die Veränderungen, stellt man fest, dass chronische Erkrankungen sowie psychische und psychosomatische Störungen in geradezu alarmierender Weise zugenommen haben. Die Jugendgesundheitsstudie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 1993 bezeichnet 70 % aller Jugendlichen in Deutschland als nicht gesund.
9 Folgt man Professor Klaus Hurrelmanns Argumenten, hat sich der Gesundheitszustand der zwischen 12 und 17-Jährigen seit Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts verschlechtert.10
Kinder und Jugendliche selbst haben diffuse Vorstellungen über Gesundheit. So mögen sie den Zustand chronischer Erkrankung möglicherweise als „normal“ begreifen. Eltern beurteilen die gesundheitliche Situation ihres Nachwuchses häufig anders, wobei es auch hier nicht selten zu Fehleinschätzungen kommt. Lediglich in Bezug auf auffällige verhaltensbezogene „Störungen“ (z.B. soziale Isolation und Essstörungen) gab es vergleichbare Einschätzungen. Bezüglich der Elterneinschätzung ist der Geschwisterstatus erwähnenswert. Bei Erstgeborenen – was somit auch für die gestiegene Zahl der Einzelkinder gilt – neigen Mütter zu einer Überschätzung von Problemverhalten. Adäquat zur eigenen Lebenssituation bzw. dem Umgang mit sich selbst geben sich Väter dagegen sorgloser und zuversichtlicher.
11 Bei dieser Feststellung wird deutlich, dass auch die Geschlechterrolle von Bedeutung ist; dies gilt nicht nur für Eltern, sondern ebenso für die jungen Menschen selbst. In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass junge Menschen nicht selten hinter der Sorge um die Gesundheit den Versuch von Erwachsenen wittern, diese wollten ihre Lebensgestaltung reglementieren.12 Eltern, vor allem Mütter, haben oft die Befürchtung, ihr Kind könne ausgelacht werden, sich beim Sport verletzen oder andere Risiken nicht bestehen. Die Fehleinschätzung von Risiken durch Eltern führt im Resultat nicht selten zu einer Minderung des Selbstvertrauens der Kinder. Eine Unzufriedenheit der Eltern mit sich selbst ist ebenfalls ein die Kinder krankmachender Faktor, wohingegen eine lebensbejahende und nicht alles überbewertende Grundstimmung ihrerseits eine wichtige Voraussetzung für ein einigermaßen gesundes Wachstum darstellt.13 Ich selbst erfuhr in Interviews mit gegenwärtig jungen Eltern, dass diese selbst Erfahrungen, die das geforderte „ganzheitliche Aufwachsen“ im Wesentlichen bestimmen, nicht mehr gemacht haben, z.B. das Toben im Freien.
Jugendliche neigen naturgemäß zu einer risikoreichen Lebensweise. Zwei für sie typische Manifestationen werden von Professorin Inge Seiffge-Krenke, der Leiterin der Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, beschrieben: die „imaginäre Audienz“, nämlich das Gefühl, ständig durch andere beobachtet und bewertet zu werden, und den „personal faible“, die von ihnen erlebte Einzigartigkeit, kombiniert mit dem Gefühl, von niemandem verstanden zu werden.
14 Weitere Stressoren, die an der Ausprägung psychischer und psychosomatischer Auffälligkeiten beteiligt sind, ergeben sich aus unzureichend verarbeiteten gesellschaftlichen Werteveränderungen sowie aus sich daraus ableitenden Marginalpositionen wie Deklassierungsprozessen, schulischen Leistungsdruck, unkalkulierbaren Berufswünschen usw. Vor diesem Hintergrund wird das eingangs genannte Buch von Gerster und Nürnberger um so verständlicher. In einer Verlautbarung äußerte der Bund Deutscher Psychologen Anfang 1996, dass selbst junge Leute im Alter von sechs bis neun Jahren kaum noch Zeit für spontanes Spielen und Ruhepausen hätten; sie lebten nach einem Terminkalender und litten in der Folge häufig unter Kopf- und Bauchschmerzen, nervöser Unruhe und Schlafstörungen. Ursächlich hierfür werden Schulstress und zu stark verplante Freizeitaktivitäten angegeben.15 Dieser Trend scheint sich in den letzten Jahren eher noch verschärft zu haben. Hierauf werde ich an späterer Stelle noch einmal zurückkommen.
Hinsichtlich genannter Deklassierungsprozesse kann festgestellt werden, dass gegen Ende des letzten Jahrhunderts 12 % der Bevölkerung als arm galten. 2 Mio. Kinder lebten 1991 in einkommensschwachen Verhältnissen; 500 000 Kinder in Obdachlosensiedlungen.
16 1997 waren über 1 Mio. Kinder bis 18 Jahre Sozialhilfeempfänger (Hilfe zum Lebensunterhalt). Demnach sind über 37 Prozent der Sozialhilfeempfänger Kinder und Jugendliche. Nimmt man die jungen Erwachsenen – die bis 25-Jährigen – hinzu, kommt man zu der frappierenden Feststellung, dass fast die Hälfte derjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen, jung ist.17 Insgesamt hat sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen von 1980 bis 1997 mehr als verdreifacht, sie stieg von 851 000 auf 2,58 Mio.; einschließlich der neuen Bundesländer, die in der Statistik vor der Wende logischerweise nicht auftauchen, beziehen knapp 3 Mio. Menschen Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Datenreport  1999 des Statistischen Bundesamtes zeigt zudem auf, dass 1997 noch weitere 1,41 Mio. Menschen Hilfe in besonderen Lebenslagen bezogen.18 Armut macht einsam, sozial isoliert19, macht mut- und antriebslos und krank20; jeder vierte Haushalt in Deutschland gilt gegenwärtig als arm.21 Norbert Kozicki zeigt auf, dass sich der Anteil junger Menschen an der armen Bevölkerung zunehmend gesteigert hat: „Das Gesicht der Armut wird immer jünger.“22 Aus einer von ihm zitierten Untersuchung des Psychologen Thomas Kieselbach von der Universität Bremen wird deutlich, dass „ärmere“ Kinder „depressiver, einsamer, empfindlicher, weniger gesellig, misstrauischer und weniger in der Lage (sind), Stress zu bewältigen, als Kinder aus gesicherten materiellen Verhältnissen“.23
Wie bereits unter Berufung auf Elisabeth Pott erwähnt, beeinflussen sich im Rahmen einer ganzheitlichen Sicht Ernährung, Bewegung und Stress bzw. dessen Bewältigung gegenseitig. Werfen wir einen Blick auf die Komplexe Ernährung und Bewegung.
Ernährung hat nicht nur über Nahrungsbestandteile einen Einfluss auf das physische wie psychische Wohlbefinden. Hunger ist ein starker Stressor mit den typischen Folgen wie Aggressivität, Nervosität usw. Das sogenannte Fastfood spielt bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen eine erhebliche Rolle; dieses Phänomen muss auch im Kontext von Peernormen betrachtet werden. Gefördert wird der Trend zum Fastfood ebenfalls durch sich verändernde Familien- und Rollensituationen. Die Ernährungsversorgung mit „ausgewogenen Mahlzeiten“ ist markant zurück gegangen. In nur noch der Hälfte der Familien wird gekocht und gemeinsam gegessen. Erwiesenermaßen trägt Fastfood infolge übergroßer Anteile an Fett und Kohlehydraten sowie mangelnden Ballaststoffen und Vitaminen zu einem Gutteil zur Fehlernährung mit allen ihren negativen Folgen bei. Eine Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zeigt auf, dass sich ein Drittel der Deutschen aus Konserven und der Tiefkühltruhe und 60 % mit Fertiggerichten ernähren. Die Untersuchung weist darauf hin, dass dies primär für jüngere Menschen gelte.
24 Damit will ich hier allerdings nicht zum Ausdruck bringen, Essen beispielsweise aus dem Gefrierschrank sei schädlich; vielmehr geht es bei diesem Hinweis darum, geändertes Nahrungsverhalten aufzuzeigen.
Hurrelmann verwies schon vor einigen Jahren darauf, die Nahrung junger Leute sei unausgewogen zusammengesetzt. Ferner wirke sich die unregelmäßig Einnahme von Mahlzeiten krankmachend aus. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass ungünstiges Ernährungsverhalten mit abfallendem Sozial- und Finanzstatus steige.
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Ein weiterer Aspekt ist die Irritation, die bei Eltern durch offenbar unlautere Werbung ausgelöst wird. Hierbei geht es beispielsweise um die „Extra-Portion Milch“, „lebenswichtige Vitamine“ oder „viel Kalzium“. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund erläutert die Überflüssigkeit und Systemlosigkeit derart „nährstoffangereicherter“ Lebensmittel. In der Folge seien die Lebensmittel teurer, ohne dass sie die für die Ernährung junger Menschen wichtigen Ballaststoffe enthalten seien. Sie trügen demnach in keiner Weise zur Veränderung falscher Essgewohnheiten bei. Das Institut vertritt die Auffassung, Mangelerscheinungen seien eher die Ausnahme, nicht aber massive Fehlernährungen durch zuviel Fett und Zucker. Und genau diese seien häufig in den umworbenen Produkten enthalten. Damit leisten sie – zumindest indirekt – postmodernen Zivilisationserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Problemen, Bluthochdruck und Übergewicht Vorschub. Letztendlich diene derartige Werbung in keiner Weise einer gesünderen Ernährung, sondern sie sei allein umsatzsteigernd zu begreifen.
26 Die amerikanische Professorin Jean Harvey-Berino, Fachfrau für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft an der Universität von Vermont, hat zwischenzeitlich Beobachtungen gemacht, die über die These, bestimmten Zivilisationserkrankungen würde Vorschub geleistet, hinausgeht: „Was wir beobachten, sind Kinder mit Krankheiten, die sonst bei Erwachsenen auftreten, etwas, das zuvor nicht registriert wurde. Wir beobachten Kinder mit Bluthochdruck, Kinder mit hohem Cholesterinspiegel und Kinder mit Typ 2-Diabetes, was bisher als Erwachsenenvariante der Zuckerkrankheit angesehen wurde. Diese Entwicklung ist so schnell aufgetreten, dass genetische Faktoren als Ursache nahezu ausgeschlossen werden können. Wir haben festgestellt, dass es wahrscheinlich auf eine verringerte körperliche Aktivität und auf den Verzehr größerer Mengen zurückzuführen ist. Es ist einfach das Phänomen der Riesenportionen, die zehn Mal größer sind, als sie sein müssten.“27
Räumt man den US-AmerikanerInnen eine gewisse Vorreiter-Rolle bezüglich des Konsums von Fastfood und Süßigkeiten ein, ist ein vergleichbar auf uns zukommendes Szenario vorstellbar, wobei sich einige Tendenzen bereits jetzt unübersehbar abzeichnen. Die nationalen Institute für Gesundheit in den USA geben an, mehr als 97 Millionen, also über 50 % der Amerikaner über 20 Jahren hätten Übergewicht. Davon wögen etwa vier Millionen mehr als 45 Kilogramm zu viel. Dies wiederum hätte eine zehnfach erhöhte Sterblichkeitsrate im Vergleich zu Normalgewichtigen zur Folge. Bei den Kindern seien inzwischen 20 % fettleibig.
28 Die Leiterin des Amtes für Gesundheit und Ernährung von Vermont, Allison Gardner, zeigt die gesellschaftlichen Veränderungen auf, die mit dieser Entwicklung einhergehen. Sie verweist darauf, dass in der Regel beide Eltern beruftätig seien, die Kinder sich demzufolge nach der Schule selbst versorgen müssten. Hinzu kommen Argumente der Eltern, die wir in Deutschland ebenso erleben können: Kinder spielen – selbst dann, wenn es noch möglich wäre – kaum noch draußen, da die Eltern Angst haben, es sei nicht sicher. Man wolle sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Diese oft dubiosen Ängste werden bisweilen von den Kindern übernommen und internalisiert. Ich erlebe immer wieder Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die sich z.B. nicht mehr in den Wald begeben aus Angst vor dem „Grauen“, das sich dort verbergen könnte. Infolgedessen bewegen sich viele Kinder „automatisch“ weniger, sehen mehr fern, essen mehr Fastfood usw.. Gardner berichtet ferner, in den USA würden Süßigkeiten nicht selten zur Verhaltenssteuerung eingesetzt.29
Aus dem Ernährungsbericht 2000 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung geht hervor, dass es nicht nur Übergewicht und Adipositas (Fettsucht) sind, die bei deutschen Kindern auffallen. Es kann augenblicklich (2001) davon ausgegangen werden, dass 11 % aller Jungen und Mädchen übergewichtig sind; sie liegen mit ihrem Gewicht zwischen 15 und 25 % über dem empfohlenen Grenzwert. Neun Prozent der Jungen und sieben Prozent der Mädchen überschreiten gar noch die 25-%-Marke, können dementsprechend als fettsüchtig bezeichnet werden. Es wird ebenso auf die Zahl von acht Prozent aller Jungen und Mädchen verwiesen, die untergewichtig sind. Von den 11-15-Jährigen haben elf Prozent der Jungen und 17 Prozent der Mädchen bereits Diäten gemacht, um Schönheitsidealen nachzukommen. Sogar untergewichtige Jugendliche, nämlich sieben Prozent der Jungen und acht Prozent der Mädchen nehmen weiterhin ab: sie finden sich immer noch als zu dick.
30 Hurrelmann geht gar davon aus, 21 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren hätten bereits eine oder zwei Diäten gemacht, um abzunehmen. Er konstatiert, weniger als die Hälfte der Mädchen sei der Auffassung, das richtige Gewicht zu haben; 40 Prozent hielten sich für zu dick.31Diese Zahl scheint weiterhin zu steigen: Der Ernährungsbericht 2000 gibt an, 56 Prozent der Mädchen zwischen 13 und 14 Jahren seien dieser Auffassung.32
Die Tendenz zu unzureichender Bewegung ist nicht nur in den USA zu beobachten. Vielmehr gibt es auch hierzulande alarmierende Trends. Bewegung reguliert einerseits die Nahrungszufuhr durch Kalorienverbrauch. Andererseits trägt sie auf beste Weise dazu bei, gestresste Körper wieder in Balance zu bringen. Bewegung ist eine der wesentlichen Erfordernisse einer gelingenden Sozialisation in einem ganzheitlichen Sinne. Eine der Ursachen für gesteigerte Bewegungsarmut dürfte im Verlust erforderlicher Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche gesehen werden. Dies soll nicht nur am Verhalten der Eltern, deren Ängstlichkeit usw., festgemacht werden. Vielmehr werden jungen Menschen Räume vorenthalten, die sie zu einem Mehr an Bewegung motivieren würden. Dieses Verdrängen von Kindern und Jugendlichen vor allem aus natürlichen, zum Teil auch aus „künstlichen“ Räumen bewirkt – ganz „nebenbei“ – eine gesteigerte „Anfälligkeit“ zum Konsum angebotener Medien. In diesem Circulus vitiosus wird das Problem der Bewegungsarmut weiter verschärft. Dies ist um so bedauerlicher, da unter gesundheitsfördernden – sprich: menschen- und vor allem kindgerechten – Bedingungen ein ausgesprochener Bewegungstrieb wesentlich deutlicher als bei Erwachsenen vorhanden ist. Dass dieser gelebt werden kann, hängt sehr stark von der Aktionsraumqualität ab, wie es Baldo Blinkert in seiner Freiburger Kinderstudie deutlich macht.
33 Die Bertelsmann Stiftung legte kürzlich eine Bewegungsstudie vor. Diese Studie unter der Leitung von Professor Klaus Bös vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlruhe kommt zu der Auffassung, deutsche Kinder seien Bewegungsmuffel. 6-10-Jährige lägen bzw. säßen neun Stunden und stünden fünf Stunden täglich. Die Bewegungszeit der Kinder betrüge höchstens eine Stunde täglich. Auf intensive Bewegung entfielen davon lediglich 15 bis 30 Minuten.34
Bestätigung finden derartige Ergebnisse durch Erkenntnisse der Arbeitstelle für Kinder-, Jugend-, Sport- und Sozialforschung an der Universität Essen. Die Arbeitsstelle unter der Leitung von Professor Werner Schmidt verweist am Beispiel der Stadt Essen auf den Umstand, der Autoverkehr habe seit Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – also in dreißig Jahren – um 500 Prozent zugenommen. In der Folge seien für Kinder erforderliche Spiel- und Bewegungsflächen
35 verloren gegangen. Die städtebauliche Verdichtung habe dazu geführt, dass Kinder nicht mehr gefahrlos auf der Straße spielen könnten. Schmidts Thesen gipfeln in der Erkenntnis, dass bei acht von zehn Kindern bei der Einschulung Defizite – wie Haltungsschwächen und Koordinationsstörungen – festgestellt werden könnten. Jedes fünfte Kind bedürfe einer gezielten individuellen bewegungstherapeutischen Behandlung.36 In einer zehnjährigen Vergleichsstudie an SchulanfängerInnen (1986 – 1996) konstatiert Schmidt dramatische Zunahmen von Auffälligkeiten. Er kommt zu dem Schluss, bereits 1986 seien die Ausgangsdaten schon relativ hoch gewesen. Demnach ist in den untersuchten zehn Jahren festzustellen eine Steigerung bei 

  • Sehschwäche von 15,2 auf 21,4 Prozent;
  • Koordinationsstörungen (nicht Schwäche) von 7,8 auf 13,9 Prozent;
  • Haltungsschwäche von 9,6 auf 10,2 Prozent;
  • Übergewicht von 5,6 auf 7,1 Prozent;
  • Hörstörung von 3,4 auf 6,8 Prozent;
  • chronisches Ekzem von 2,7 auf 5,4 Prozent;
  • Allergien von 0,7 auf 2,4 Prozent.37

M.E. erübrigt sich eine Kommentierung dieser alarmierenden Befunde. Insgesamt fehle es den Kindern an Spiel- und Bewegungsfreiräumen. Die Notwendigkeit, ihre Umwelt spielerisch zu erfahren, geschähe vielfach nur noch virtuell. Tatsächliche Bewegungsabläufe würden nicht mehr ausreichend verinnerlicht. Kinder könnten beispielsweise nicht mehr rückwärts balancieren. Idealtypisch zur Entwicklung kindlichen Bewegungsdranges und kindlicher Kreativität seien Abenteuerspielplätze; hier könnten sie diese frei entfalten.38
An früherer Stelle habe ich darüber berichtet, dass eine Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen im Trend liege. Angaben der BzgA zufolge klagen 19 Prozent der Mädchen und neun Prozent der Jungen über Kopfschnerzen, elf Prozent der Mädchen und sechs Prozent der Jungen über Nervosität und Unruhe, acht Prozent der Mädchen und drei Prozent der Jungen über Schlafstörungen und schließlich sieben Prozent der Mädchen und zwei Prozent der Jungen über Magenbeschwerden.
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Im Auftrag des „stern“ wurde von der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Kölner Psy-data-Institut eine bundesweite repräsentative Studie über seelische und körperliche Gesundheit von vier- bis 18-Jährigen durchgeführt, die von Professor Michael Schulte-Markwort vom Hamburger Klinikum Eppendorf ausgewertet wurde. Demnach ist jedes fünfte Kind in Deutschland physisch oder psychisch derart beeinträchtigt, dass es professionelle Hilfe bräuchte. Einige der Erkenntnisse dieser Studie sollen hier wiedergegeben werden. Fast jeder dritte junge Mensch berichtet von Albträumen. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Kinder die Ängste ihrer Eltern internalisierten. Diese These wird ebenfalls durch die Hamburger Studie bestätigt. Jeder dritte junge Mensch leidet unter Phobien (z.B. Angst vor Dunkelheit), ist häufig oder zeitweise deprimiert und macht sich viele Sorgen. Konzentrationsprobleme haben 46 Prozent, über 40 Prozent dürften als hyperaktiv angesehen werden und über 30 Prozent sind „Nägelkauer“. Weiterhin leidet jeder zweite unter plötzlichen Stimmungswechseln, mehr als die Hälfte der jungen Leute ist misstrauisch und fast 30 Prozent sind bisweilen verwirrt oder zerstreut. Über ständige Kopfschmerzen klagen zehn Prozent und immerhin 2,5 Prozent über Magenschmerzen. Mehr als fünf Prozent stellen bei sich eine „bleierne Müdigkeit“ fest und über zehn Prozent haben Angst vor der Schule. Absichtlich verletzt haben sich über vier Prozent bzw. sie haben Selbstmord versucht. Über Suizid nachgedacht haben immerhin knapp fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen; dies meist ohne Wissen ihrer Eltern. Der Studie zufolge weiß nur jedes achte Elternpaar überhaupt davon, dass ihr Kind sich verletzt bzw. einen Suizidversuch verübt hat. Die Untersuchung kommt weiter zu der Auffassung, 6,2 Prozent der jungen Menschen litten unter Asthma und fast 20 Prozent unter Allergien. Ebenso viele berichten von Hautproblemen. Auf den Komplex „Allergien“ werde ich im Weiteren noch einmal zu sprechen kommen. Ständige bzw. häufige Rückenschmerzen haben fast sieben Prozent, gelegentliche Rückenschmerzen noch einmal weitere 13,5 Prozent. Wie Werner Schmidt kommt auch hier die Studie zu der Auffassung, dies habe etwas mit der akuten Bewegungsarmut zu tun und führt kausal das lange Sitzen vor dem Fernseher bzw. Computer an. Die an früherer Stelle berichteten Gewichtsprobleme werden ebenfalls bestätigt. Der Kinder- und Jugendpsychiater Schulte-Markwort hält eine unbeschwerte Kindheit schlicht für ein Mythos. Abweichend von früheren Untersuchungen kommt die Gesundheitsstudie zu der Auffassung, dass wohlbehütete Kinder inzwischen stärker von den Auffälligkeiten betroffen sind als Kinder aus sogenannten „sozial schwachen“ Schichten.
40 Die Journalistin Ulrike Moser sieht neben der Überbehütung auch das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung, glaubt aber, dass es vor allem die Armutsverwahrlosung gebe. Sie verweist aktuell auf die eine Million Kinder, die von der Sozialhilfe leben. Im Falle von Unterprivilegierung fehle es am ehesten an Fürsorge.41
Erwin Jordan, Vorsitzender des Instituts für soziale Arbeit in Münster, ergänzt mit Blick auf offizielle Jugendhilfestatistiken, die Öffentlichkeit werde oftmals erst von spektakulären Fällen aufgeschreckt, etwa von verhungerten oder verdursteten Kindern. Schleichende Vernachlässigung von Kindern werde kaum wahrgenommen. Anzeichen für eine anhaltende Vernachlässigung seien chronische Unterernährung, schlechte oder auch nicht passende Kleidung, unbehandelte Krankheiten und mangellnde Körperpflege. Jordan betont ausdrücklich, die Eltern seien nicht schlechter geworden, vielmehr lösten sich die früher üblichen entlastenden Netzwerke – bestehend etwa aus Großmüttern und Freunden – zunehmend auf. 50 000 Kinder sind nach Jordans Auffassung betroffen. Vermutlich mit Blick auf die Politik sei dieser Zustand ein „Armutszeugnis für Deutschland“.
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Zu ähnlichen Beurteilungen wie die Hamburger Repräsentativstudie kommt auch ein Symposion für Dynamische Psychiatrie in München.
43 Hier wird ein dramatischer Anstieg von Depressionen und Ängsten bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. In Zusammenhang bringen dies die Wissenschaftler mit einer oft exzessiven Internetnutzung und dem damit einhergehenden Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen. Gerade die seien allerdings für eine gelingende Sozialisation erforderlich, entsprächen sie doch dem menschlichen Urbedürfnis nach Kontakt und Bindung. Um seine Persönlichkeit und seien Identität herausbilden zu können, benötige der heranwachsende Mensch den Austausch mit anderen Menschen. In der Folge genannter und zunehmender Defizite sein Beziehungsstörungen, soziale Ängste, ja sogar Beziehungs-Erkrankungen (wie z.B. das Borderline-Syndrom) zu befürchten.
In der gegenwärtigen Diskussion um Gesundheit von Kindern und Jugendlichen spielt ferner das Thema „Allergien“ eine zuvor nicht gekannte Rolle. Die Zahlen variieren zum Teil. Während die Hamburger Gesundheitsstudie von über sechs Prozent der Kinder ausgeht, berichtet der Jenaer Pneumologe Prof. Claus Krögel, der sich sehr spezifisch mit dieser Problematik befasst hat, davon, inzwischen sei bereits jedes 10. Kind in Deutschland Asthmatiker. Die Zahl der betroffenen Kinder sei doppelt so hoch wie die der Erwachsenen. Innerhalb von zehn Jahren habe sich die Zahl der Erkrankten insgesamt verdoppelt. Wenn wir die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die unter Allergien und Hautproblemen leiden, mit der vermuteten Anzahl der Asthmatiker addieren, kommen wir gegenwärtig auf einen alarmierenden Anteil von etwa der Hälfte der jungen Leute, die mehr oder weniger stark krank sind. 
Bereits seit längerem ist aufgefallen, dass das Risiko allergischer Reaktionen bzw. Erkrankungen dort am höchsten ist, wo die hygienischen Bedingen die höchsten Standards erfüllen, etwa in Krankenhäusern. Unisono kommen denn auch Krögel, der Pädiater Professor Theodor Zimmermann von der Universität Erlangen, die Münchner Pädiaterin Erika von Mutius, die Allergologin Sabina Illi, ebenfalls aus München, Erich Wichmann vom GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg sowie eine Ärztegruppe um den Allergologen Ratko Djukanovic aus dem britischen Southampton zu vergleichbaren Erkenntnissen. Krögel stellt fest, nicht Umweltverschmutzung sei die Ursache von Allergien, sondern die Lebensweise der Betroffenen. Er führt als krankmachende Beispiele Dämmung, Doppelverglasung und Teppichböden an, die verantwortlich seien für die Zunahme an Milben, Schimmelpilzen und erhöhte Empfindlichkeiten darauf. Ferner wirkten sich übertriebene Hygienevorstellungen verschärfend aus. „Übertriebene Sauberkeit“ bewirke gerade bei kleinen Kindern das Gegenteil ihrer vermeintlichen Absicht.
44 Ich selbst kenne aus meiner eigenen Kindheit den Spruch: „Dreck reinigt den Magen.“ Dieser „Bauernweisheit“ scheinen zutreffende Erfahrungen zugrunde zu liegen. Ein Beispiel, wie sich übertriebene Hygiene auswirken kann: Nehmen wir eine Wohnung mit Teppichbodenbelag an. Um die Gesundheit der Familie nicht zu gefährden, wird regelmäßig gründlich Staub gesaugt. Der Staubsauger schafft es mühelos, Raubmilben zu entfernen. Die kleineren Haustaubmilben bleiben übrig und können sich beliebig vermehren, da ihre natürlichen Feinde vernichtet wurden. Ein hausgemachtes Problem? Einiges spricht dafür. Einerseits werden Faktoren, die das Immunsystem schwächen, durch den Versuch Sauberkeit herzustellen, überhaupt erst erzeugt. Andererseits nimmt mit zunehmendem Hygienestandard die Fähigkeit des Immunsystems ab, körpereigene Widerstände zu erzeugen. Zimmermann führt an, dass Kinder mit regelmäßigen Tierkontakten und Kinder von Bauernhöfen deutlich weniger erkranken als Kinder in der typischen Stadtwohnung, ebenso seien Kinder aus der früheren DDR und Polen – gerade wegen der niedrigeren hygienischen Standards – weniger betroffen als westdeutsche und schwedische Kinder. Er vertritt die Auffassung, ein ausgewogenes Maß an Umweltkontakten sei für die optimale Entwicklung des kindlichen Immunsystems wesentlich.45 Krögel ergänzt, das menschliche Immunsystem müsse genau wie das Gehirn trainiert werden, um mit allergenen Stoffen umgehen zu können.46 Diese Informationen würden nach Erich Wichmann die menschlichen Abwehrkräfte derart stärken, dass der Effekt ein Leben lang vorhielte.47
Auch hinsichtlich der früher bei Kindern üblichen Krankheiten wie Erkältungen und anderen Infektionskrankheiten hat es offenbar eine Verhaltensänderung bei den Eltern gegeben. Sechs bis acht derartiger Infektionskrankheiten jährlich hält Zimmermann bei Vorschulkindern für normal. Er glaubt, dass die Kinder um so häufiger erkrankten, je stärker sie mit Antibiotika behandelt würden. Und Krögel kommt schließlich zu der Erkenntnis, Kinder, die sich beim Spielen eine Erkältungskrankheit zuzögen, würden dadurch abgehärtet. Diese Erfahrung können Waldkindergärten genauso bestätigen, wie sie von Kindern, die regelmäßig einen Abenteuerspielplatz besuchen, berichtet werden können.
Den Themenbereich Allergien und Infektionskrankheiten abschließend sei noch auf eine neue medizinische Vorgehensweise verwiesen, die besagte britische Ärzte in Southampton praktizieren. Dort werden allergiekranke Menschen mit einer Bazille, dem Mycobacterium vaccae, behandelt. „Diese Bakterien finden sich überall im Schmutz und bilden auch die fiesen Beläge, die sich am Wasserhahn festsetzen. Wir töten sie ab und spritzen sie Asthmatikern unter die Haut,“ so der Allergologe Ratko Djukanovic.
48 Nicht umsonst übertitelte DER SPIEGEL seinen Beitrag mit „Heilkraft aus dem Misthaufen“. Gegen Heuschnupfen und Neurodermitis, die bei Kindern auch auf dem unübersehbaren Vorstoß sind, sollen bald ebenfalls Impfstoffe aus Erdmikroben und Darmbazillen zur Verfügung stehen.
Das Stichwort „biologische Medikation“ gibt mir eine gute Gelegenheit, zum Phänomen „chemische Medikation“ überzuleiten. Eine immer größer gewordene Anzahl sogenannter hyperaktiver Kinder macht dies deutlich: Immer schneller und immer häufiger wird zu Pillen gegriffen, die das Problem – im wahrsten Sinne des Wortes – ruhig stellen sollen. Die Hamburger Gesundheitsstudie sprach von immerhin 40 Prozent hyperaktiver Kinder. An ADHS (Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom), an dem schätzungsweise zwei bis sechs Prozent der Jungen und Mädchen in Deutschland leiden, wird dies besonders deutlich.
49 Bei ADHS, dessen Diagnose häufig voreilig von Ärzten getroffen wird, handelt es sich um eine neurobiologische Störung der Hirnfunktion, die möglicherweise genetisch bedingt ist. Die Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin werden im Gehirn nur unzureichend zwischen den Zellen übertragen werden. Die betroffenen Kinder fallen auf durch Konzentrationsstörungen, allgemeine Unruhe, Vergesslichkeit und erhöhte Aggressivität. Die Kinder werden häufig mit Amphetaminen „stillgestellt“. Häufig gilt dies auch für solche Kinder, die aus anderen Gründen unruhig sind. Auch kann beobachtet werden, dass Eltern nicht selten solche Medikamente verlangen. Das bekanntesten ist vermutlich Ritalin. 
Die drastische Steigerung des Konsums von Ritalin und vergleichbaren Präparaten verdeutlicht Professor Dietrich Hofmann, früher an der Kinderklinik der Universität Frankfurt am Main beschäftigt. Unter Berufung eines Berichts im Deutschen Ärzteblatt verweist er darauf, dass die noch 1990 verordneten Mengen für 1500 Kinder gereicht hätten. Die 1999 verschriebene Menge reichte aus, um damit 42 000 Kinder zu behandeln. Wie zuvor im Zusammenhang mit ADHS schon ausgeführt, kommt Hofmann ebenfalls zu der Auffassung, derartige Präparate würden häufig nach unzureichender Diagnose und ohne psychotherapeutische Begleitung verordnet. Eine rein medikamentöse Behandlung zur Alltagsbewältigung sei abzulehnen; allenfalls könnten Medikamente zur Unterstützung anderer Therapieformen hinzugezogen werden. Hofmann betont, die Gewöhnung an Medikamente sei dazu angetan, die Schwelle hinsichtlich des Erlernens eigener Lösungen zu Ungunsten des alltäglichen Pillenkonsums zu verschieben. Er vermutet in diesem Zusammenhang auch eine größer werdende Toleranz z.B. gegenüber Party- und anderen Drogen.
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Generell kann bezüglich des Tablettenkonsums bei jungen Leuten festgestellt werden, dass im Alter von 15 Jahren 15 Prozent Schmerzmittel einnehmen; diese Quote steigert sich auf 22 Prozent im Alter von 18 Jahren. Psychopharmaka werden von 0,5 Prozent der 15-Jährigen konsumiert; 18-Jährige sind bereits mit vier Prozent dabei. Mittel gegen niedrigen Blutdruck werden von fünf Prozent der 15- und von sieben Prozent der 18-Jährigen benutzt. Mit 18 Jahren nehmen immerhin drei Prozent Schlafmittel.
51 Erwähnenswert scheint, dass fast 80 Prozent aller Arzneimittel, die von Kindern und Jugendlichen verwandt werden, nicht für sie zugelassen sind; er handelt sich fast regelmäßig um Präparate für Erwachsene, die nicht auf die Eignung bei Kindern klinisch geprüft sind.52
Kürzlich sprach ich mit dem Quakenbrücker Arzt und Psychotherapeuten Eckhard Schiffer über dieses Thema. Er berichtete ebenso über die genannte, Tendenz, immer früher zu den Pillen zu greifen. Er ist augenblicklich dabei, gemeinsam mit seiner Frau ein Buch zum Thema „Hyperaktive Kinder/Medikation“ zu verfassen, was vermutlich bereits jetzt empfohlen werden kann. Gemeinsam mit Eckhardt Schiffer bin ich der Auffassung, dass im Zweifelsfalle die rechtzeitige Einrichtung eines Abenteuerspielplatzes bzw. vergleichbarer Möglichkeiten sowohl im präventiven als auch im begleitenden bzw. nachsorgenden Sinne hilfreicher sein dürften, als der allzu rasche Griff zur Tablette. Auf Schiffer werde ich in meinem perspektivischen Teil noch einmal zurück kommen.
Vor einiger Zeit hatte ich selbst im Rahmen meiner Weiterbildungsarbeit ein beeindruckendes Erlebnis. Die Gruppe, die sich in der Fortbildung befand, hatte von mir Aufgaben bekommen. Eine junge Kollegin erklärte sich bereit, zum Thema „Aggressionsabbau bei Kindern und Jugendlichen“ zu arbeiten. Nach einer kleinen theoretischen Einführung über Aggressionen präsentierte sie einen biographischen Teil. Dort führte sie u.a. aus, sie selbst sei nach einem Umzug vom Land in die Stadt ein hyperaktives Kind geworden. Sie schilderte die Leiden, die für sie selbst damit verbunden waren und welche Schritte sie ausprobierte, in der Großstadt „heimisch“ zu werden. Schließlich gelang es ihr, sich als Schlagzeugerin in einer Punk-Band zu etablieren. Dieses sei für sie die „beste Medizin“ gewesen. In der Zwischenzeit spielt sie in mehreren Bands mit. In einem weiteren Teil des Seminars hatten alle TeilnehmerInnen Gelegenheit, selbst Schlagzeugerfahrungen zu machen; alle konnten nachvollziehen, was gemeint war: Rhythmus und „Krachmachen“ konnten als probate Mittel entdeckt werden, Aggressionspotentiale zu kanalisieren. Vergleichbares kann auch aus anderen Zusammenhängen berichtet werden; denken wir etwa an Kinder, die sich im Hüttenbaubereich eines Abenteuerspielplatzes mit Hammer und anderen Werkzeugen austoben können.
Das Szenario abschließend möchte ich noch einen Blick auf Kinderunfälle werfen. Da wir hierzu – auch bei uns im Verband – an etlichen Stellen gearbeitet haben
53, möchte ich es hier kurz halten. Je stärker Kinder behütet und beschützt werden, um so größer wird die Gefahr, dass sie an Erfahrungen gehindert werden, die sie sicher und reif werden lassen.54 Diese Erfahrung machen Abenteuerspielplätze im Laufe ihrer jahrzehnte alten Erfahrung immer wieder; dies übrigens weltweit, sofern der Einrichtungstypus existiert. Es gibt nur eine einzige abenteuerspielplatztypische Verletzung, den Nagelstich. Fälschlicherweise wurde bisweilen darauf hingewiesen, dieser Einrichtungstypus sei ungefährlich, was dann mit der unbedeutenden Unfallquote in einen Zusammenhang gebracht wurde. Eine solche Aussage verkehrt den tatsächlichen Effekt, den der Abenteuerspielplatz zur Folge hat: Durch das bewusst integrierte Risiko reduziert sich die tatsächliche Gefahr für die Benutzerkinder. Sie wachsen konkret mit den Aufgaben, die sie nach und nach zu bewältigen lernen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Erlebnispädagogik. Bereits 1978 vertrat der Bundesgerichtshof die Auffassung, ein Abenteuerspielplatz solle nicht nur ein die Phantasie anregendes, schöpferisches Spiel ermöglichen. Vielmehr sei sein Zweck auch, „in besonderer Weise die Freude am Abenteuer und am Bestehen eines Risikos zu vermitteln, um seine Benutzer so aus moderner pädagogischer Sicht frühzeitig auf die Gefahren des täglichen Lebens einzustellen und sie lernen lassen, diese zwar zu wagen, sie aber auch zu beherrschen.“55 Ein vollkommen behütetes Milieu würde den Zweck der Körper- und Persönlichkeitserziehung vereiteln.
Der Psychologe Torsten Kunz fand gegen Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einer Untersuchung der Eigenunfallversicherung der Stadt Frankfurt am Main heraus, dass Kinder in Kindergärten und Grundschulen deshalb am meisten verunglückten, weil ErzieherInnen und LehrerInnen primär damit beschäftigt waren, diese zu beschützen, will sagen, sie möglichst an ihrer Bewegung zu behindern, damit ihnen nicht zustieße. Das Gegenteil allerdings wurde hiermit erreicht: Die Unfallquote war beachtlich hoch; sie sank ab dem Zeitpunkt, wo vermehrt grobmotorische Angebote eingeführt wurden.
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Diese – für viele Erwachsene scheinbar paradoxe – Sichtweise müsste im Sinne von Gesundheitsförderung tatsächlich von Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen usw. integriert werden. Der Widerspruch bzw. die divergierenden Einschätzungen zu dieser Thematik wird auch in der Broschüre „Giftpflanzen – Beschauen, nicht kauen“ deutlich. In der Broschüre wird einerseits das Bemühen skizziert, Kinder möglichst dadurch zu schützen, indem man alle giftigen Pflanzen vorenthält. Andererseits wird aufgezeigt – und diese Einschätzung halte ich für die verantwortlichere -, das Vorhandensein giftiger Pflanzen im Umfeld von Kindern sei nicht nur dazu dienlich, eine ökologische Vielfalt zu pflegen; vielmehr hülfen sie auch bei einer Erziehung zur Vorsicht und damit zu einem Mehr an Erfahrungen.
57 Die Konferenz der Gartenbauamtsleiter sowie der Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau vertreten denn auch die Auffassung, bestehende reglementierende Erlasse der Bundesländer gehörten aufgehoben. Erlasse würden nur für Verwirrung und Ängste sorgen. Lediglich vier besonders giftige Gehölze hätten nichts in der Welt von Kindern zu suchen, nämlich der Goldregen, das Pfaffenhütchen, die Stechpalme und der Seidelbast.58

Perspektiven

Erfreulicherweise „bescheinigt“ die Wissenschaft den „am ehesten originär kinderspezifisch entwickelten Ansätzen“59 nicht nur, sie fristeten ein Schattendasein, sondern auch, dass deren „offensivste Interessenvertretung“ in der Bundesrepublik Deutschland, der ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie der Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze, über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus fachliche Anerkennung erlangt habe.60 Bleibt zu hoffen, dass diese Auseinandersetzung ebenso zu dieser „Offensivstrategie“ einen Beitrag zu leisten imstande ist. Der 10. Kinder- und Jugendbericht führt in der Kommentierung der Bundesregierung vor dem Hintergrund zuvor genannter Feststellung der Sachverständigenkommission aus, sie sähe es als wünschenswert an, „die kinderbezogenen Angebote wie … Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze, musikalische Früherziehung, Kinder- und Jugendkunstschulen, Kinder- und Jugendtheater, Kinderkinos, Kindermuseen, Spielmobile flächendeckend zu verstärken“.61 62
Ich wünsche mir, dass die Argumente dieses Beitrags der Praxis nicht nur Anregungen bezüglich ihrer konzeptionellen Fortentwicklungen aufzeigen; darüber hinaus verfolge ich die Intention, der Politik gegenüber zu verdeutlichen, in welcher Weise sie Kindern gegenüber mehr Verantwortlichkeit aufbringen kann. Die in Rede stehenden Konzepte setze ich bei den meisten LeserInnen als bekannt voraus. Sie hier im Einzelnen erneut zu beschreiben, würde den Rahmen dieser Auseinandersetzung sprengen. Sachunkundigen sei der Kontakt zum ABA Fachverband empfohlen.
Anstelle konzeptioneller Beschreibungen möchte ich im Anschluss an die „Schreckensbilanz“ im vorhergehenden Teil dieser Arbeit nunmehr mit Fachleuten argumentieren, die gewissermaßen für lösungsorientierte Konzepte stehen. Bewusst orientiere ich mich nicht nur an Inhalten und Methoden, die in der Offenen Arbeit entwickelt wurden, sondern versuche, auch darüber hinaus gehende, in anderen Feldern entwickelte gesundheitsförderliche Ansätze – selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zu berücksichtigen.
Beginnen wir mit Kurt Hahn (* 1886 – + 1974).
63 Der als Reformpädagoge populär gewordene Brite deutscher Herkunft war von 1920 – 1933 Leiter der Internatsschule Salem in der Nähe des Bodensees. Er gründete diese Schule, die bis heute weit über ihr Einzugsgebiet hinaus bekannt ist, im Auftrag des letzten kaiserlichen Reichkanzlers, Prinz Max von Baden (* 1867 – + 1929). „Herausforderung“ (challenge) sollte und soll sie sein. Es ginge nicht um „pädagogische Sandkastenspiele“, vielmehr um die praktische Organisation des Lebens, Bildung von Verantwortung, Mitgefühl, politische Mündigkeit, Partizipation, Innovation, Engagement und Phantasie.64 Hildegard Hamm-Brücher tritt der Meinung entgegen, Salem sei eine Eliteschule für die Kinder reicher Familien; vielmehr berichtet sie, bei steigender Tendenz seien über ein Drittel der SchülerInnen Stipendiaten. Unterstellen wir, dass diese Feststellung schlimmstenfalls eine Schutzbehauptung ist, so können wir mithin feststellen, dass für die Kinder reicher Leute unzweifelhaft ist, wofür andere möglicherweise kämpfen müssten: Gibt es im Internat Schloss Salem wie selbstverständlich einen Abenteuerspielplatz und eine Jugendfarm wie auch andere erlebnispädagogische Betätigungen in den Alltag integriert sind. Das Schloss Salem zählt zu seien Zielen eben nicht nur das Abitur, vielmehr gehe es um Selbstdisziplin, politisches Handeln, die Bereitschaft und die Fähigkeit zu helfen, rücksichtsvoll und aufmerksam auf andere zu reagieren, sich für Musik, Kunst und Theater zu begeistern, seinen Körper gesund erhalten zu lernen, Sport, praktische und handwerkliche Fähigkeiten u.a.m. Salem beruft sich hinsichtlich seiner Auffassung zum politischen Handeln auf Kurt Hahn. Es gehe darum, seine Erkenntnisse umzusetzen „gegen Unbequemlichkeit, gegen Gefahren, gegen Langeweile, gegen Eingebungen des Augenblicks, gegen Strapazen, gegen Hohn der Umwelt, gegen Skepsis“.65 Die jungen Leute lernten die Regeln der Demokratie kennen und mit ihnen umzugehen, bei Enttäuschung nicht zu resignieren und die Verantwortung jedes Einzelnen auch ohne führende Hand. Nebenbei erwähnt, ist Kurt Hahn der „Erfinder“ der Erlebnispädagogik.
Das „Urgestein“ der Psychoanalyse, Wilhelm Reich (* 1897 – + 1957), dokumentierte bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Erkenntnisse über die gesundheitsförderlichen Aspekte der „originär kinderspezifischen Ansätze“. Er verdeutlicht dies u.a. am Beispiel der Moskauer Kulturparks, aus denen die m.E. frühesten Bauspielplätze bekannt geworden sind, und der Arbeit der Moskauer Psychoanalytikerin Wera Schmidt.
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Unabhängig von der von Reich beschriebenen Entwicklung beobachtete der Kopenhagener Landschaftsarchitekt Carl Theodor Sörensen (* 1893 – + 19XX), der ab 1940 Professor an der Kunstakademie Kopenhagen war, das Spiel von Kindern und stellte fest, dass diese sich vorwiegend dort aufhielten, wo sie kreativ konstruieren konnten. In der Folge entstanden in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in Skandinavien die ersten originär kinderspezifischen Einrichtungen (Gerümpelspielplätze, Bauspielplätze, Konstruktionsspielplätze). Bevor wir uns den zeitgenössischen „Mit- und VordenkerInnen“ für ganzheitliche, gesundheitsfördernde Konzeptionen zuwenden, sei mir gestattet, einige Pädagogen u.a., die ebenfalls für die „richtige Richtung“ stehen, zu nennen. M.E. bleiben erwähnenswert der beachtliche Kinderpsychologe und Professor für Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie an der Universität Chicago, Bruno Bettelheim (* 1903 – + 1990), für den zu jeder Zeit seines Schaffens klar war, zu einer gesunden Sozialisation von Kindern gehöre das Abenteuer unbedingt dazu.
67 Bettelheim verzeichnete in seiner kindertherapeutischen Klinik weltweit beachtete Erfolge selbst bei „schwer gestörten“ Kindern und Jugendlichen68, weiterhin Janusz Korczak (* 1878 – + 1942), der polnische Arzt und Pädagoge, der in Achtung und Liebe gegenüber Kindern zentrale gesundheitsfördernde Faktoren sah69; der französische Reformpädagoge und Lehrer Célestin Freinet (* 1896 – + 1966), für den die Natur, die Kunst und das Experimentieren zentrale Medien und Methoden der Arbeit, die Verantwortlichkeit und gesunde Entwicklung von Kindern beförderten, darstellten. Der Pädagoge Alexander S. Neill (* 1883 – + 1973), der Gründer des Internats in Summerhill, sollte m.E. hier nicht fehlen. Allzu gern wird Neill von denjenigen, die gegenwärtig lauthals nach „neuer Erziehung“ und „Autorität“ schreien, als einer derjenigen verunglimpft, die den eingangs erwähnten „Erziehungsnotstand“ mit zu verantworten hätten. Nach wie vor existiert Summerhill unter der Leitung von Neills Tochter Zoe Readhead. Immer wieder wird es durch die britischen Schulbehörden in seiner Arbeit behindert. Gleichwohl bringt es Kinder hervor, die nicht weniger gut gebildet sind wie SchulabgängerInnen anderer Schulen auch. Vor allem kommt es entscheidend dem Auftrag nach Ganzheitlichkeit nach.70 
Eine grundlegende Systematik für eine ökologische Sozialisationstheorie hat der 1917 geborene amerikanische Psychologe russischer Herkunft, Urie Bronfenbrenner, entwickelt. Er bestätigt die hier vertretene und geforderte „Ganzheitlichkeit“, indem er klar stellt, dass sich „alles miteinander in Verbindung“ befindet und Entwicklung immer Wechselwirkung sei. Er schließt sich der Systemtheorie an, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass Veränderungen, auch kleinste Störungen, die Gesamtstruktur eines Systems veränderten, diese eben nicht nur vom Individuum als Beeinträchtigung aufgefasst würden. Diese Erkenntnis kann sich eine gesundheitsförderliche, wohl reflektierte Pädagogik sehr zunutze machen.
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„Was uns erschöpft, ist die Nichtinanspruchnahme der Möglichkeiten unserer Organe und unserer Sinne, ist ihre Ausschaltung, Unterdrückung … Was uns aufbaut, ist Entfaltung. Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit einer mich im Ganzen herausfordernden Welt.“
72 Ich denke, dass Hugo Kükelhaus73(*1900 – + 1984) mit Fug und Recht als einer der wichtigsten Protagonisten einer ganzheitlichen Lebens- und Sichtweise gesehen werden kann. Kükelhaussche Elemente in die Arbeit mit jungen Leuten zu integrieren, könnte ein nicht unerheblicher Schritt zur Gesundheitsförderung sein. Sein Lebenswerk steht quasi unter dem Motto „Mit den Sinnen leben!“ „Die Entwicklung des Menschen wird von derjenigen Umwelt optimal gefördert, die eine Mannigfaltigkeit wohldosierter Reize gewährleistet. Ungeachtet der Frage, ob diese Reizwelt von physischen oder sozialen Verhältnissen und Faktoren aufgebaut ist – die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist Lebensbedingung.“74 Um der Praxis Einblick in die Arbeit von Kükelhaus zu geben und daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, werden beim ABA Fachverband entsprechende Seminare angeboten.
Bezüglich einer Gesundung unter Extremsituationen können wir von dem österreichischen Psychiater, KZ-Häftling und späteren Professor für Neurologie und Psychiatrie, Viktor E. Frankl (* 1905 – + 1997), lernen. Er zeigt – wie später Ernst Bloch – vor allem auf, wie wichtig das „Prinzip Hoffnung“ zur Gesundung und möglicherweise zum Überleben des Menschen ist. Vor allem die zitierte Hamburger Repräsentativstudie (2001) sowie das Symposion für Dynamische Psychiatrie in München (2001) haben aufgezeigt, wie dramatisch Depressionen und Hoffnungslosigkeit bei Kindern gestiegen sind. Frankl belegt vor allem mit seinem Bericht über das Konzentrationslager Auschwitz, welche Mechanismen, Aktivitäten, Sichtweisen usw. das Leben selbst in extremen Situationen „lebenswerter“ machen.
75 Frankl war es auch, der später deutlich herausstellte, dass seiner Auffassung nach im Rahmen der Psychotherapie am allerwenigsten Methodik und Technik wirksam seien. Die größte Heilkraft sieht er in der menschlichen Beziehung zwischen Arzt und Patienten76, eine Erkenntnis, die sich auch die Pädagogik zunutze machen kann.
Wie bereits erwähnt lieferte der Frankfurt Psychologe Torsten Kunz einen bedeutenden Beitrag zur Gesundheitsförderung bei Kindern durch seine Erkenntnis, ihnen müsste gezielt eine Portion von Risiko eingeräumt werden (vgl. hierzu Fußnote 54). Über die Schlussfolgerungen von Kunz hinaus gehen die freie Autorin Elisabeth C. Gründler und der Landschaftsarchitekt Norbert Schäfer. Während sie betonen, dass selbst bei den Unfallkassen durch die Arbeiten von Kunz ein Umdenken eingesetzt habe, vertreten sie die Auffassung, mehr organisierte Bewegungsspiele seien nicht die Konsequenz, vielmehr müsse dafür gesorgt werden, dass Kindern ein nachhaltiges und abenteuerliches Freispiel ermöglicht würde. Gründler und Schäfer haben ein beachtliches Buch vorgelegt, das m.E. „Pflichtlektüre“ in jeder pädagogischen Einrichtung sein müsste.
77 Das Buch orientiert sich auf einer systemischen Grundlage. Es beschreibt in seinem Theorieteil eingängig, wie sich z.B. menschliche Intelligenz entfaltet, führt eine Reihe praktischer Beispiele auf, wie Gelände kindgerecht und gesundheitsfördernd umgestaltet werden kann. Schließlich wird das Buch durch einen Anhang „Fehlende Freiräume machen Kinder krank!“ von Gerd Glaeske und Ruth Rumke ergänzt.78
Freies und naturnahes Spielen – auch im Sinne kindlicher Gesundheit – zu fördern, ist Ziel eines bundesweiten, interdisziplinär besetzten Arbeitskreises „Städtische Naturerfahrungsräume“ unter der Leitung des Landschaftsplaners Hans-Joachim Schemel,
79 der interdisziplinär von Umwelt- und Kinderexperten wie Vertretern der Pädagogik besetzt ist. Dem Arbeitskreis ist über seine fachliche Arbeit hinaus auch an politischer Einflussnahme gelegen. Hierbei geht es u.a. um die Durchsetzung einer neuen Flächenkategorie „Naturerfahrungsräume“.
Dass die Integration weiterer Naturelemente in die Arbeit mit Kindern gesundheitsförderliche Komponenten aufweist, belegt z.B. auch die Arbeit von Kinderbauernhöfen (Jugendfarmen) und Abenteuerspielplätzen mit Tierhaltung. Einerseits haben Tiere antiallergene Wirkung. Auf diese Erkenntnis wies das Deutsche Grüne Kreuz unter Berufung auf eine amerikanische Studie hin. Demnach sinkt das Risiko, eine Allergie zu entwickeln bei Kindern, die regelmäßigen Kontakt zu Tieren haben, um die Hälfte, wobei dieser möglichst frühzeitig ermöglicht werden sollte.
80 Der Nutzen einer allgemeinen Gesundheitsförderung von Tieren wurde unter dem Titel „Tiere als Therapeuten“ eingehend dokumentiert.81 Sogenannte „Bausteine zur Tierhaltung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“ wurden vom ABA Fachverband entwickelt.82 In diesen Bausteinen beschäftigen sich Irene Tilly, Rainer Deimel und Petra Elbers mit den verschiedenen Aspekten zu einer umsetzbaren Konzeption. Sie befassen sich mit Grundlagen, veröffentlichen eine Prioritätenliste (welche Tiere?), mit der Wirkung von Tieren auf Kinder, Ökologie und schließlich auch mit dem Tod.
„Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde – Vom gesunden Eigensinn“, „Der Kleine Prinz in Las Vegas – Spielerische Intelligenz gegen Krankheit und Resignation“, „Warum Hieronymus B. keine Hexe verbrannte“, „Wie Gesundheit entsteht – Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung.“ Die Titel seiner Bücher sind quasi das Programm des bereits erwähnten Quakenbrücker Arztes und Psychotherapeuten Eckhard Schiffer. Zur primären Vertiefung sei hier vor allem „Der Kleine Prinz in Las Vegas“ empfohlen. Mit den Augen des Kleinen Prinzen will er die unsichtbaren Qualitäten sichtbar machen. Er begreift seine Ausführungen als Gegenentwurf zum zunehmenden Konkurrenzdruck und Leistungsdenken. Eine spielerische Intelligenz ist es, so Schiffer, die Menschen in die Lage versetzt, Krankheit, Resignation und emotionaler Leere zu entgehen.
83Schiffer erwähnte mir gegenüber in einem Gespräch, in Niedersachsen habe man einen Abenteuerspielplatz als „Huckleberry-Finn-Platz“ eröffnet. In seinem bislang letzten Buch beschreibt er, wie Gesundheit entsteht.84Eine geänderte Sichtweise, nämlich nicht mehr daran festzuhalten, was uns für uns riskant ist und uns krank macht, sondern zu schauen, wie wir es schaffen, mit den Herausforderungen und Belastungen des Alltags umzugehen und uns gleichzeitig vor ihnen zu schützen, ist die Grundlage dieser Auseinandersetzung. Schiffer beruft sich dabei auf Erkenntnisse des israelischamerikanischen Medizinsoziologen, Aaron Antonovsky (* 1923 – + 1994), der davon ausging, dass Gesundheit entsteht durch die Entwicklung eines sogenannten Kohärenzgefühls, eines Gefühls für Zusammenhänge, ergo eines ganzheitlichen Lebensentwurfs. Spiel und Dialog sind demnach grundlegend für die Entwicklung des Kohärenzgefühls und damit für die Gesundheit, eine These, die einmal mehr bestätigt, dass Spiel niemals zweckfrei ist, wie früher häufig angeführt wurde.
Von der gleichen Grundlage aus argumentiert die Osnabrücker Professorin und Sportwissenschaftlerin Renate Zimmer. Auch sie belegt die verschiedenen Risiko- und Schutzfaktoren. Unter Berufung auf die bekannteste 30 Jahre dauernde Längsschnittstudie, die Kauai-Studie,
85 zeigt Zimmer auf, dass trotz erheblicher Risikofaktoren „nur“ zwei Drittel der untersuchten Kinder Symptome von Krankheit oder Störung aufwiesen, eine Feststellung, die gewiss auch manche Pädagogen und Psychotherapeuten überraschen könnte. Als Risikofaktoren, von denen mindestens vier festgestellt werden mussten, wurden angeführt: Armut, dauernde Konflikte der Eltern, Alkoholprobleme,, psychische Krankheiten bei den Eltern oder mindestens einem Elternteil, Geburtskomplikationen und schwere Erkrankungen während des ersten Lebensjahres. Vor allem interessierte die Studie sich für die „unauffälligen“, ergo gesunden Kinder („resilient children“). Hier konnte eine besondere Bindungsfähigkeit, Kontakt zu einem oder mehreren Erwachsenen, zu Freunden, Erziehern usw. festgestellt werden. Diese Kontaktfreudigkeit war manifest. Auch später verfügten die Betroffenen über einen großen Freundeskreis.. Ferner wurde herausgefunden, dass diese Kinder schon von klein auf ein sehr aktiv waren, auffallend selbstständig, aufgeweckt, fröhlich und selbstbewusst und sich imstande zeigten, Probleme selbst zu lösen. Sie waren in der Lage, sich, wenn erforderlich, anderer Ressourcen zu bedienen, sprich sich selbstbewusst nach Hilfe umzusehen. Dadurch konnte sich ihr eigenes Kompetenzgefühl gut entwickeln und sie erlebten, dass man etwas verändern kann. Auch im Jugendalter verfügten die Untersuchten über ein positives Selbstkonzept, eine höhere Leistungsmotivation und waren davon überzeugt, dass man dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sei, sondern vielmehr Einflüsse auf sein Leben habe. Selbst unter chaotischen Verhältnissen waren sie in der Lage, ihr Leben zu strukturieren. So konnte die Studie festhalten, dass die besagte Gruppe „problemfrei zu kompetenten, selbstbewussten jungen Erwachsenen“86 heranwuchs.
Zimmer betont, das derartige Erkenntnisse nicht bedeuten könnten, „man könne Kinder im Vertrauen auf deren Widerstandskräfte ruhig sich selbst überlassen“.
87 Im Gegensatz zu anderen Fachleuten, die inzwischen deutlich vermehrt an „die Macht der Gene“ glauben88, geht Zimmer nicht von genetischen Persönlichkeitsdispositionen aus, sondern von Eigenschaften und Verhaltensmerkmalen, die in der frühen Kindheit erworben wurden. Am Beispiel des Kindergartens führt sie weiter aus, der Aufbau von Selbstwertgefühl, Selbstständigkeit und aktives Lösungsverhalten seien vereinbar mit einer Erziehung zur Selbstständigkeit89, quasi eines Auftrages pädagogischen Tätigwerdens.
Zimmer verwendet sich wie Schiffer für eine aktive Ressourcensuche, die kindliche Widerstandsfähigkeit stärken würden. Gesundheitsressourcen sind demnach körperliche – wie Fitness, Stärkung bzw. Intaktheit des Immunsystems, Herz-Kreislauf-Leistungsfähigkeit -, personale – wie Zuversicht, Optimismus, positives Selbstkonzept und Selbstvertrauen – sowie soziale – wie Akzeptanz und Unterstützung in der Bezugsgruppe. Des weiteren stellt sie einen Maßnahmenkatalog zusammen, der die Bildung eines positiven Selbstkonzepts bei Kindern unterstützt:

  • eigene Stärken erkennen helfen, bewusst machen;
  • Situationen bereitstellen, in denen Kinder das Selbstkonzept erfahren können;
  • Eigenaktivität und Selbsttätigsein fördern;
  • vorschnelle Hilfeleistung vermeiden;
  • Kinder unabhängig von ihrer Leistung wertschätzen;
  • Vergleiche mit anderen vermeiden, individuelle Bezugsnormen setzen.90

Zimmer sieht auch die Gefahren, die mit Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten verbunden sind. Sie argumentiert, dem Kindergarten käme in bildungspolitischer Hinsicht immer noch nicht die ihm relevante Bedeutung zu. Dies kann aus Sicht der Offenen Arbeit vergleichsweise attestiert werden. Wenn Zimmer dies für den Kindergarten konstatiert, der immerhin einen gesetzlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag hat, ist dieser für die Kinder- und Jugendarbeit nirgendwo verankert. Vor dem Hintergrund ihrer  – zumindest bei den „am ehesten originär kinderspezifisch entwickelten Ansätzen“ – ganzheitlichen Konzepte leistet meines Dafürhaltens die Offene Arbeit nicht selten eine höherwertigere Bildungsarbeit und Gesundheitsförderung als die klassischen Bildungsinstitutionen.91 Dass Teile der Politik diesen Bildungsauftrag wahrnehmen, belegt eine entsprechende Aussage der nordrhein-westfälischen Jugendministerin während einer Tagung am 23.10.2000 in Essen. Zimmer betont die höhere Wirksamkeit des Kindergartens in gesundheitspolitischer Hinsicht. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass sich aufgrund eines immer höher werdenden finanziellen Druck die Leistungen eher verschlechterten denn verbesserten. „Wenn Kinder in ihrem Lebensalltag schon immer größeren Belastungen ausgesetzt werden, dann sollten wenigsten für familienergänzende Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen optimale Voraussetzungen geschaffen werden. Die Risiken werden in der modernen Gesellschaft für Kinder kaum einzudämmen sein. Im Zentrum des pädagogischen Interesses müssen daher zunehmend die Potenziale und Möglichkeiten stehen, die die kindliche Entwicklung schützen und stärken.“92 Dieser positive Denkansatz der Risikominimierung, der Stützung der personalen, körperlichen und sozialen Ressourcen der Kinder, das Entdecken eigener Stärken wie auch der Umgang mit Schwächen und die Förderung einer bejahenden Lebenseinstellung sei von Erwachsenen, wo immer es in ihrem Verantwortungsbereich liege – dies schließt m.E. vor allem die Politik und die Wirtschaft ein – zu fördern. Dies bedeutet vor allem auch, die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.
Salutogenese bestätigt einmal mehr die Erkenntnisse, die die britisch-amerikanische Anthropologin Jean Liedloff bereits 1977 dokumentierte. Liedloff, die über zwei Jahre bei venezuelanischen Yequana-Indianern lebte, berichtet von der Entstehung des „Urkontinuums“, vom Aufwachsen der Kinder und vom Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern. Sie weist auch an diesem Beispiel deutlich nach, wie Gesundheit entsteht. U.a. führt sie aus, wie die Selbstverantwortung von Kindern respektiert wird. Gleichzeitig belegt sie, welche Risiken möglicherweise durch das Verhalten von Eltern und anderen Erwachsenen in der sogenannten westlichen Welt überhaupt erst produziert werden.
93
Meine Ausführungen können – wie bereits betont – die Thematik nur ansatzweise „aufreißen“. Viele Komplexe – wie Karies u.a. – blieben unerwähnt. Auch auf das Phänomen der zunehmenden Lärmbelastungen (das im Zusammenhang mit den Erkenntnissen Werner Schmidts in der Statistik zur Vergleichsstudie auftauchte) – ein nicht unerheblicher Stressor, der das vegetative Nervensystem aufruft, über die Produktion entsprechender Hormone in Abwehr zu gehen und am Ende zu Bluthochdruck, Herz-, Magen und Darmerkrankungen führen kann, kann hier nur noch erwähnt werden. Gleichzeitig denke ich dabei auch an Eindrücke, die ich bisweilen in Einrichtungen machen kann, in denen Kinder und Jugendliche pausenlos mit Musik oder anderen Geräuschen geplant belästigt bzw. berieselt werden. Vielleicht sei mir noch der Hinweis darauf gestattet, dass zur fachlich qualifizierten Arbeit immer auch eine Menge Fachwissen und Reflexionsvermögen gehören. Ins Grübeln gerate ich ferner, wenn ich in der Zeitung lesen, dass der Paderborner Professor Wolf Brettschneider herausgefunden hat, dass junge Leute, die in Sportvereinen aktiv sind, zwar weniger an Schlafstörungen und Kopfschmerzen litten als ihre nicht sportlich aktiven Altersgenossen. Brettschneider untersuchte das Drogenverhalten Jugendlicher, die in Vereinen Mitglied sind und kam zu der Erkenntnis, dass z.B. Vereinsfußballer beim Konsum von Bier und Zigaretten „Spitze sind“. Die Werbung, Sportvereine machten stark gegen Drogenkonsum, entpuppt sich offenbar als Schimäre. Es konnten weder beim Konsum legaler noch illegaler Drogen Unterschiede zwischen Jugendlichen in Sportvereinen mit anderen festgestellt werden. „Die optimistische Annahme, Sportvereine wirkten positiv auf die Entwicklung junger Menschen, muss relativiert werden,“ sagt Brettschneider.
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Unter der Leitung des renommierten Jugend- und Gesundheitsforschers, Professor Klaus Hurrelmann, beschäftigte sich ein Initiativkreis, an dem auch der ABA Fachverband beteiligt war, im März 2000 in einem Workshop an der Universität Bielefeld mit der Weiterentwicklung von gesundheitsförderlichen Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. Teile des erarbeiteten Konzepts, das Vorschlag zu einem Modellprojekt war, sollen im Folgenden als Anregung wiedergegeben werden. Hierbei gilt es zu bedenken, dass als Jugendliche hier im wesentlichen die Alterskohorte der 10- bis 15-Jährigen angesprochen ist. Die Ergebnisse des Workshops wurden von Klaus Hurrelmann zusammengefasst und an die TeilnehmerInnen versandt.
95 Der Workshop kommt zu der Auffassung, dass es für Jugendliche kaum öffentliche Plätze gibt, die frei zugänglich sind und Spaß und Anregung geben. Die meisten Jugendlichen seien auf ihr häusliches Umfeld und die Plätze im Geschäftsviertel der Innenstadt angewiesen. Frei zugängliche Aktionsplätze, die den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen entsprächen, gebe es kaum. Ein solcher Mangel an öffentlichen Freizeittreffs wirke sich auf die Entwicklung von Jugendlichen nicht günstig aus. Gerade Jugendliche brauchten Räume, die sie sich aneignen, besetzen, gestalten und verändern könnten. Sie benötigten den öffentlichen Raum, um sich darzustellen, denn sie befänden sich in einer Entwicklungsphase, in der sie sich mit sich selbst und mit ihrer sozialen Umwelt auseinander setzten. Würden Jugendlichen in den Städten und Gemeinden keine öffentlichen Plätze gegeben, dann könne das zu Rückzug, Isolation, sozialer Inkompetenz, mangelnder Konfliktfähigkeit und fehlendem Meinungsaustausch führen und dem Gefühl, ausgegrenzt zu sein, Vorschub leisten. Viele der gegenwärtigen gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten Jugendlicher seien so zu begründen. Wissenschaftliche Studien hätten deutlich gemacht, dass auch Aggressionen und Gewalt, die in der Öffentlichkeit beklagt würden, darauf zurückzuführen seien, dass keine Freiräume für natürliche und gesunde Aggressionen zur Verfügung stünden.
Jugendlichen würden gegenwärtig zumeist Räume in einem pädagogisch gesteuerten Umfeld – wie Schule und Sportverein – bzw. im kommerziellen Bereich – Einkaufspassage, Kaufhaus – angeboten. Zudem seien diese in der Regel standardisierte, perfekte und nicht veränderbare Räume. Demgegenüber müssten Jugendliche Räume aber nach eigenem Gusto erfahren und erkunden. Dabei ginge es um die Stimulation von Sinnen, das Erleben von öffentlichem Handeln mit der typischen Erfahrung von Unbekanntem und Anonymität, die vielen Jugendlichen, besonders auch Mädchen Schwierigkeiten bereiteten. Ziel sei das Überwinden der Angst, sich im öffentlichen Raum zu präsentieren, also um eine Form der Behauptung und der Selbstbehauptung. An einem öffentlichen Raum könnten immer auch fremde und unbekannte Menschen sein, es stellten sich neuartige und irritierende Situationen ein. Zugleich könne hier Zugehörigkeit und Ortsverbundenheit erfahren werden. Sollten diese Erfahrungen möglich werden, müsse es sich um Räume handeln, die gestaltet und verändert werden könnten. Sie dürften nicht perfekt und fertig sein. Fertige Lösungen produzierten Zurückhaltung oder Ablehnung, oft sogar Zerstörung oder Vandalismus. Jugendlich bräuchten Räume, in denen sie sich einnisten könnten. Dabei müssten sie auf Unbekanntes, Fremdes, Neues und Spannendes treffen. Betreute und beaufsichtige Räume in Schulen, „klassische“ Jugendzentren, Einkaufszentren und Kinos könnten diese Qualität nicht oder nur zum Teil bieten.
Ferner, fasst Hurrelmann die weiteren Ergebnisse des Workshops zusammen, seien die Bedürfnisse von Mädchen und Jungen verschieden. Deshalb sollten sie in Jugendtreffs und auf den hier beschriebenen Aktionsplätzen besonders berücksichtigt werden. Berücksichtigt man noch lebensweltliche Hintergründe – wie Wohnsituation, Kultur, Bildung und ethnische Besonderheiten – käme man zu der Auffassung, dass es nicht möglich sei, Einrichtungen für alle Jugendlichen gleichermaßen attraktiv zu gestalten. Diese Selektion führe allerdings zu einem größeren Maß an Partizipationsmöglichkeiten und zu einer höheren Identifikation der Gruppe mit ihrer Einrichtung.
Bei der Planung wird hinsichtlich der Architektur und der räumlichen Voraussetzung Flexibilität groß geschrieben. Der Workshop spricht sich für eine Architektur mit möglichst geringem Aufwand und vielfältigen Veränderungsmöglichkeiten aus. So könnten die sich wandelnden Bedürfnisse zeitnah berücksichtigt werden. Geschaffen werden sollten Möglichkeiten für Sport, Bewegung (z.B. Skate-Anlagen) und Konstruktionsmöglichkeiten, aber auch für Ruhe, Kommunikation, die leibliche Versorgung u.a.m. Ein derartiges Planungsmodell deckt sich mit den Vorstellung Jugendlicher, wenn sie dazu befragt werden, und ist durchaus mit Elementen vergleichbar, wie sie auch auf Abenteuerspielplätzen entwickelt wurden. Darüber hinaus, so Ergebnis des Bielefelder Workshops, sollten die Jugendlichen von Anfang an in die konkrete Planung und Umsetzung einbezogen werden, ihre Selbstverantwortung und Selbstorganisation sei gefragt. Ein Vorschlag ist z.B. eine Vereinsstruktur, in der sich die jungen Leute Regeln für den Betrieb, die Umgangsformen, Reinigung und Instandhaltung der Anlage usw. geben. Pädagogische Intervention sollte auf ein Minimum reduziert bleiben. 
Meines Erachtens könnten die hier unterbreiteten Vorschläge auch schrittweise in der „klassischen“ Offenen Arbeit in Jugendfreizeitstätten „ausprobiert“ werden. Gehen wir von der These aus, dass niemand wirklich von außen gesteuert werden kann, kommt es – auch im Sinne von Gesundheitsförderung – entscheidend darauf an, Übungsfelder für Selbstverantwortung und soziales Miteinander zu initiieren. Eine konstruktive Arbeit in der Jugendfreizeitstätte, sollte sich daran messen lassen, wie stark sie das Ziel der Emanzipation verfolgt und welche hilfreichen Elemente sie dazu organisiert.

Anmerkungen:

1 Petra Gerster und Christian Nürnberger: Der Erziehungsnotstand – Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten, Rowohlt Verlag, Berlin Rowohlt 2001
2 ABA Fachverband, Dortmund 1999, S. 107. In derselben Ausgabe ist ebenso ein Artikel „Systemische Pädagogik – Mit Blick aufs System – vom Problem zur Lösung!“ von Christiane Bauer zu finden (S. 11 ff.).
3 vgl. DER SPIEGEL 35/2001, S. 61
4 Der komplette Ordner enthält neben einem Ideenhandbuch für Jugendreisen, Offene Arbeit, Schule und Sportverein für jeden der genannten Bereich jeweils ein Praxisheft mit zahlreichen Anregungen, weiter je eine Aktionsbox „Entspannung und Stressbewältigung“, „Gesunde Ernährung“, „Bewegung und Aktion“ sowie – quasi als Kochbücher – zwei Handbücher „Essenfeste“ und schließlich einige Kopiervorlagen. Der Ordner, der inzwischen als Neuauflage wieder zu beziehen ist, kann bestellt werden bei der BZgA, Ostmerheimer Straße 220, 51109 Köln.
5 Elisabeth Pott: „Alles hängt mit allem zusammen“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 17
6 vgl. ebenda
7 vgl. Inge Seiffge-Krenke: Gesundheitspsychologie des Jugendalters, Göttingen 1994, S. 1 ff.
8 Klaus Hurrelmann: Sozialisation und Gesundheit. Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren  im Lebenslauf, Weinheim 1988, S. 17
9 vgl. Päd. Blick, 3. Jahrgang, Heft 1, S. 46
10 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
11 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 34
12 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 69
13 vgl. Ruhr Nachrichten vom 21.12.1995
14 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 32
15 vgl. Ruhr Nachrichten vom 15.1.1996
16 vgl. Norbert Kozicki: Armut von Kindern und Jugendlichen (Hg. SJD – Die Falken UB Dortmund), Dortmund 1994, S. 1 f.
17 vgl. Norbert Kozicki: Reiches Land – arme Kinder (Hg. SJD – Die Falken Landesverband NRW), Gelsenkirchen 1998, S. 3
18 vgl. ebenda, S. 2
19 vgl. Norbert Kozicki: Armut von Kindern und Jugendlichen, a.a.O.
20 vgl. ebenda, S. 7
21 vgl. ebenda, S. 2
22 ebenda
23 ebenda, S. 7
24 vgl. Ruhr Nachrichten vom 18.1.1996
25 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
26 vgl. Ruhr Nachrichten – Dortmunder Zeitung vom 9.2.1996
27 Jean Harvey-Berino, in: Westfälische Rundschau vom 10. Juni 2000
28 Westfälische Rundschau vom 10. Juni 2000
29 ebenda
30 vgl. „Was Kinder krank macht“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, S. 16
31 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
32 vgl. „Was Kinder krank macht“, a.a.O. S. 16
33 vgl. Baldo Blinkert: Kinder wollen draußen spielen, in: DER NAGEL 57 (Hg.: ABA Fachverband), Dortmund 1995. Die Untersuchung ist auch als umfassendes Buch erschienen: Baldo Blinkert: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1996
34 vgl. Internet-Archiv der Bertelsmann Stiftung, 3. Quartal 2001 vom 1. August 2001
35 Schmidts Erkenntnissen zufolge sind analog dazu die Verkehrsflächen um das Achtfache gewachsen. Information in der WAZ vom 27.4.2001
36 vgl. Pressemitteilung 171 der Universität Essen (Essener Sportwissenschaftler wissen: Kinder brauchen im Alltag mehr Bewegung) vom 21. Juni 2001
37 vgl. Werner Schmidt: Veränderte Kindheit. Manuskript einer Skizze. Essen, o.J., S. 3
38 vgl. Neue Ruhr Zeitung (Ausgabe Essen) vom 24.7.2001: Wissenschaftler will Kinder auf die Straße schicken
39 vgl. „Arzneimittel als Alltagsdroge?“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 15
40 Alle Angaben zur Gesundheitsstudie sind einer Pressemitteilung des „stern“ vom 4.7.2001 entnommen.
41 Ulrike Moser: Unter Barbaren -Wie sollen Kinder erzogen werden?, in: Die Woche vom 3.8.2001, S. 30
42 Institut für soziale Arbeit e.V., in: www.Familie.de/erziehung/news vom 15.8.2001
43 vgl. WAZ vom 10. 4.2001
44 WAZ vom 2.4.2001
45 WAZ vom 14.98.2001 – Die Ergebnisse von Erika von Mutius, Sabina Illi und Erich Wichmann sind nahezu identisch und können nachgelesen werden in: DER SPIEGEL 19/2001, S. 222 ff.
46 WAZ vom 2.4.2001
47 DER SPIEGEL 19/2001, S. 224
48 ebenda, S. 222
49 vgl. Oliver Lanner: Psychopillen für Zappelphilipp“, in: NetDoktor.de, September 2001
50 vgl. Dietrich Hofmann: Kinder und Arzneimittel, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 18
51 vgl. ebenda
52 vgl. „Arzneimittel als Alltagsdroge?“, a.a.O., S. 15
53 U.a. können zu diesem Thema auch Seminare über den ABA Fachverband organisiert werden.
54 vgl. zu dieser Thematik: u.a.: ABA Fachverband (Hg.): Risiko als Spielwert, in: DER NAGELKOPF 22, Dortmund 1997, sowie: Rainer Deimel: Stichwort „Risiko“, in: stichWort 1 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1995
55 Urteil zur Verkehrssicherungspflicht: Ein Abenteuerspielplatz darf gefährlich sein, in: ABA Texte-Dienst 1, 6. Auflage, Dortmund 1996, S. 15
56 vgl. hierzu u.a.: Torsten Kunz: Weniger Unfälle durch Bewegung, in: DER NAGELKOPF 22, a.a.O., S. 32 ff. und: Torsten Kunz: Mit Bewegungsspielen gegen Unfälle und Gesundheitsschäden bei Kindern, in: DER NAGEL 54 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1992
57 vgl. Bundesverband der Unfallkassen (Hg.): Giftpflanzen – Beschauen , nicht kauen, 18. Auflage, München 2001, S. 4 f.
58 vgl. ebenda, S. 5 f.
59 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Bonn 1998, S. 223
60 Werner Thole: Kinder- und Jugendarbeit. Eine Einführung. Juventa Verlag, Weinheim und München 2000, S. 121
61 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, a.a.O., S. IX
62 Ausführungen zu den Themen „Abenteuerspielplatz“ und „Spielmobil“ gibt es in: Ulrich Deinet/Benedikt Sturzenhecker: Handbuch Offene Jugendarbeit, Votum-Verlag, Münster 1998, dort: Rainer Deimel: Abenteuerspielplätze, S. 328 ff. und Rainer Deimel: Spielmobile, S. 336 ff. In erweiterter Fassung können diese Beiträge auch als Broschüren in der Reihe stichWort des ABA Fachverband bezogen werden. 
63 Zur besseren Orientierung werden bei den nicht zeitgenössischen Personen Geburts- und Todesdaten angegeben.
64 vgl. Hildegard Hamm-Brücher, in: Otto Seydel: Zum Lernen herausfordern. Das reformpädagogische Modell Salem. Klett-Cotta, Stuttgart 1995, S. 17 ff.
65 Schule Schloss Salem e.V.: Salem, Salem in Baden 1991 (ohne Seitenangabe)
66 vgl. Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution, Sexpol-Verlag, Kopenhagen 1936. Das Buch gibt es als Neuauflage im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. Meinen Recherchen zufolge gibt es von Wera Schmidt selbst keine Publikationen mehr. Mir selbst liegt ein Nachdruck aus den 20-Jahren vor, den sich Interessierte ggf. als Kopie anfordern könnten.
67 Einen kleinen, aber gelungen Querschnitt über die Arbeiten Bettelsheim gibt das Buch: Bruno Bettelheim: Zeiten mit Kindern. Herder Verlag, Freiburg 1994
68 vgl. Faktum Lexikoninstitut (Hg.): Lexikon der Psychologie. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh und München 1995. Autorisierte Sonderausgabe im Bassermann Verlag, S. 47
69 Hauptwerke: „Wie man ein Kind lieben soll“ (1926) und „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1928). Korczak, der 1942 gemeinsam mit einer Gruppe von Kindern aus seinem Warschauer Waisenhaus im Vernichtungslager Treblinka von den Nazis ermordet wurde, erhielt 1972 posthum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
70 Eine kritische Bilanz, jenseits ideologischer Voreingenommenheit, zieht folgendes Buch: Peter Ludwig (Hg.): Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert?, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1997
71 vgl. Faktum Lexikoninstitut, a.a.O., S. 336 ff.
72 Hugo Kükelhaus, in: Internet-Seiten der Hugo Kükelhaus Gesellschaft e.V. Soest (www.uni-leipzig.de/?angl/kuekelhaus): Hugo Kükelhaus kennelernen
73 Pädagoge, Handwerker, Philosoph, Künstler, Forscher, Schriftsteller
74 Hugo Kükelhaus, in: Internetseiten, a.a.O.
75 vgl. Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel-Verlag, 6. Auflage, München 1994. Mit Kindern und deren Überlebensstrategien befasst sich das Buch „Spielen im Schatten des Todes – Kinder und Holocaust“ des ungarischstämmigen amerikanischen Professors für Soziologie des Spiels und des Sports an kalifornischen Universität in Pomona, George Eisen. Piper Verlag, München 1993
76 Viktor E. Frankl: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn. Hippokrates Verlag, Stuttgart 1959, S. 49
77 vgl. Elisabeth C. Gründler und Norbert Schäfer: Naturnahe Spiel- und Erlebnisräume. Planen * bauen * gestalten. Luchterhand Verlag, Neuwied/Kriftel/Berlin 2000.
78 Dieser Beitrag bestätigt zahlreiche Argumente meines Beitrages. Dr. Gerd Glaeske war Leiter der Abteilung für medizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfragen bei der BARMER Ersatzkasse, Ruth Rumke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda.
79 Büro für Umweltforschung und Umweltplanung, Dr. Ing. Hans-Joachim Schemel, Altostrasse 111, 81249 München, www.umweltbuero-schemel.de
80 vgl. WAZ vom 1.10.2001. Eine Broschüre „Allergien bei Kindern – Auf die Früherkennung kommt es an“ kann bestellt werden bei: Deutsches Grünes Kreuz, Schuhmarkt 4, 35037 Marburg. Bitte einen mit 1,50 DM adressierten DIN-C-5-Rückumschlag beifügen.
81 vgl. Hanne Tügel: Tiere als Therapeuten, in GEO 3/2001, S. 86 ff.
82 vgl. DER NAGEL 59 (Hg.: ABA Fachverband), Dortmund 1997, S. 79 ff. und DER NAGEL 60 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1998, S. 79 ff.
83 vgl. Eckhard Schiffer: Der Kleine Prinz in Las Vergas, Beltz Quadriga Verlag, Weinheim und Berlin 1997
84 vgl. Eckhard Schiffer: Wie Gesundheit entsteht – Salutogenese statt Fehlerfahndung. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2001
85 Kauai-Studie von Emmy E. Werner, in: Renate Zimmer: Hauptsache gesund – aber wie?, in: KITA NEWS 2/2001 (Hg.: GEW Landesverband NRW), S. 15 f.
86 Renate Zimmer, a.a.O., S. 15′
87 ebenda, S. 16
88 vgl. z.B. Rolf Degen: Lexikon der Psychoirrtümer – Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt, Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg 2001. Dort heißt es u.a. auf S. 81, der genetisch bedingte Einfluss auf das menschliche Verhalten betrüge immerhin zwischen 40 und 50 Prozent.
89  vgl. Renate Zimmer, a.a.O., S. 16 
90 vgl. ebenda, S. 18 ff.
91 vgl. „Welche Bildung leistet die Offene Arbeit?“, in: ABA Fachverband: Der Verband stellt sich vor, Dortmund 2001. Der Text dieses Positionspapiers ist auch als Merkblatt beim ABA Fachverband erhältlich.
92 Renate Zimmer, a.a.O., S. 20 f.
93 vgl. Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. C.H.Beck´sche Verlagsbuchhandlung, München 1980.
94 WAZ vom 6.3.2001
95 Schreiben von Klaus Hurrelmann vom 13. April 2000

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NAGEL-Redaktion – Reflektierte Jungenarbeit

Zur geschlechtsspezifischen Arbeit mit Jungen

Von Rainer Deimel

Wie es anfing

Anfangs, in den siebziger Jahren, konnte ich bei mir eine stille, aber – wie ich glaubte – deutliche Sympathie für Forderungen der Frauenbewegung verspüren. Die Forderungen schienen mir zum größten Teil plausibel, ich fühlte mich an vielen Stellen gar „solidarisch“, wenn ich das in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann. Ein Umstand, der mir damals nicht klar war: In jener Zeit war meine Lebenslage derart gestaltet, dass es ohne irgendwelche Komplikationen möglich war, mich „solidarisch“ zu fühlen. Ich hatte meinen festen Job, den ich gern tat, mein geregeltes Einkommen, eine feste Beziehung, also trotz aller politisch fortschrittlicher Gedanken, eine Situation, aus der eine Menge Sicherheitsgefühl „gesaugt“ werden konnte.
Spätestens ab Anfang der achtziger Jahre, als sich meine erste Tochter „ankündigte“, geriet einiges ins Wanken. Ich spürte überdeutlich, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit Welten lagen. Und bis heute habe ich das Gefühl, ständig Ansprüchen hinterher zu jagen. Ich wollte mich mit dieser Situation nicht abfinden, war vor 1983 Jahren mit dabei, einen Vätergesprächskreis zu gründen, der viele Jahre „arbeitete“ und auch gegenwärtig noch als offener Männerkreis existiert 
(1). Im Rahmen dieses Gesprächskreises gingen die Konturen immer weiter in Richtung reiner „Männerthemen“ (selbstverständlich unter Einbeziehung väterspezifischer Fragestellungen). Lange Zeit wurde in diesem Gesprächskreis darauf geachtet, dass nur Väter Zugang hatten; dies genau aus dem Grund, den ich so überdeutlich an mir selbst erfahren hatte: Es macht einen Riesenunterschied, ob ein Mann Kinder hat oder nicht. Solange eine eigene Betroffenheit, etwa in Form einer Vaterschaft, nicht realisiert wird, ist es einfach, verbal mit Frauenbewegung zu sympathisieren und umgekehrt wird erlebbar, wie schwer es im Falle von Betroffenheit ist, sich in Richtung geschlechtlicher Gleichberechtigung zu entwickeln.
Seit längerem ist mir deutlich, dass es die vielbeschworene „Männerbewegung“ nicht gibt. Es gibt allenfalls einige „männerbewegte“ Männer, die ich allerdings nicht als „Bewegung“ quantifizieren möchte. Vermutlich hat Frauenbewegung einiges damit zu tun, dass vereinzelt Männer angefangen haben, sich Gedanken zu machen, Gruppen zu gründen, Veränderungsversuche ausprobierten, teilweise Rollen tauschten (z.B. Hausmann-Sein) und anderes mehr. Mittlerweile beobachte und erlebe ich allerdings, dass Frauenbewegung, wenn überhaupt, bei Männern allenfalls noch eine Art „Kick“ auslöst, um männerspezifisch aktiv zu werden. Ich denke vor allem, dass es normalerweise der eigene, zum Teil immens gestiegene oder spürbar gewordene Leidensdruck bei Männern ist, die diese veranlasst, sich etwa mit anderen Männern zusammenzutun, etwas verändern zu wollen. Dort, wo Männer aktiv sind, haben diese Aktivitäten mittlerweile überall ihre eigenen Konturen gewonnen. Und leider sind es immer noch herzlich wenig Männer, die überhaupt „aus ihrer Haut heraus“ kommen 
(2).

Das Dilemma der Jungen

Jungen sind schwer zu verstehen. In Einrichtungen werden sie immer wieder als „ätzend“ und störend begriffen, was sie zweifelsohne häufig sind. Besonders Mitarbeiterinnen haben oft keine Lust mehr, sich mit ihnen zu konfrontieren. Einrichtungen sind in erster Linie an den Interessen von Jungen ausgerichtet; Mädchen wird der Zugang durch strukturelle, inhaltliche und atmosphärische Einschränkungen erschwert. Die Jungen dominieren mit Macho-Gehabe, Mädchen werden oft zu bloßen Anhängseln der Jungen degradiert. Stimmt! Aber halt, was ist mit den Jungen, die nicht dominieren, die selbst von ihresgleichen unterdrückt, benutzt und ausgebeutet werden? Was ist mit den Jungen, die unter einer Art hypnotischer Gruppendynamik für sich gar keine andere Überlebenschance sehen, als sich in irgendeiner Form – und sei es als „blöder“ Handlanger eines Rädelsführers – einzuklinken? Warum überhaupt dominieren Jungen?
Wir müssen – als Männer zumindest – unseren Blick schärfen für die konkrete Situation von Jungen. Erwiesenermaßen werden Jungen anders erzogen als Mädchen. Ich möchte mich nicht beim – wie ich mittlerweile glaube – Märchen vom Ödipus-(Komplex) aufhalten. Festzustellen bleibt, dass Jungen häufig seitens der Mutter – zunächst – eine besondere Form der Zuwendung erfahren (bis – wie sich mittlerweile immer deutlicher abzeichnet – hin zu sexuellem oder anderem Missbrauch) 
(3). Es können gar Unterschiede in der Art und Weise festgestellt werden, wie Jungen und Mädchen von ihren Müttern als Baby getragen werden. Früher als Mädchen werden Jungen in die „feindliche Welt“ geschickt. Der Schutz, den kleine Jungen bitter nötig haben, wird ihnen allzu früh entzogen, ihre Gefühlsregungen werden unterdrückt („Ein Indianer weint nicht!“). Ihren Vater, der ebenfalls einmal Junge war, erleben bislang die meisten Jungen als abwesend. Damit meine ich nicht eine unverhältnismäßig große lokale Abwesenheit, z.B. wegen Arbeit, sondern ich spreche in erster Linie von emotionaler Abwesenheit, der Unfähigkeit des ehemaligen Jungen, seinem Sohn Zuwendung zu geben und Stärke vorzuleben. Nicht Stärke in Form von brachialer oder anderer patriarchaler Gewalt, Ausbeutung seiner selbst und Ausbeutung seiner Frau und seiner Kinder, nicht Stärke, die sich als Erguss einer tumben, stupiden Bestrafungs- und Bedrohungsmaschinerie austobt, oft zur Kompensation der Probleme, die ihn selbst betreffen, die er am Arbeitsplatz, in seiner Beziehung oder sonst wo erlebt. Ich meine die Stärke, die dem Sohn Identifikation mit einer „richtig verstandenen“ Männlichkeit ermöglicht, ein Ernstnehmen, Verständnis, Empathie, Liebe und erlebbare Solidarität mit seinem gleichgeschlechtlichen Kind. Dem Sohn entgeht also in der Regel „der große Freund“, der Partner, an dem er sich messen, dem er vertrauen, mit dem er sich solidarisieren kann, der ihm Vorbild sein kann. „Vorbild“ ist er ihm trotzdem, Teil des Jungen-Dilemmas. Bereits früh verinnerlicht der Junge solches männliches Verhalten und kann nicht anders, als es richtig zu finden und dieses „verhasste“ Verhalten bei sich selbst unbewusst zu verinnerlichen. Verstärkt wird die Katastrophe normalerweise durch die „gutmeinende“ Mutter, die eine gleichgeschlechtliche Vorbildfunktion ohnehin nie übernehmen könnte, indem sie alle möglichen „Tricks“ anwendet, den Jungen durch ihre Erziehung patriarchal anzupassen, ihn eigentlich gegen ihr eigenes Geschlecht erzieht. Ich will damit Mütter nicht verteufeln; sie erfüllen lediglich die ihnen in dieser patriarchalen Gesellschaft zugedacht Rolle und produzieren weiter – wie die Väter – „männliche Verhaltenskrüppel“. Dieser Teufelskreis wird an keiner Stelle im herkömmlichen Leben unterbrochen, weder im Kindergarten, noch in der Schule und schon gar nicht mehr am Arbeitsplatz, normalerweise nicht einmal im Jugendzentrum (4).
So nimmt es nicht wunder, dass Jungen bei fast allen Auffälligkeiten und Krankheiten – vor allem psychosomatischen – Spitzenreiter werden (Bettnässen, Stottern, organischen Erkrankungen usw.); ebenfalls „guinnessreif“ sind Jungen (und Männer) im Vergleich, wenn es um Selbstmord, Perversionen, Kriminalität und Süchte unterschiedlicher Art geht.
Richten wir unseren Blick noch einmal auf den „ätzenden“ Jungen in der Einrichtung. Wir stellen fest: Er ist laut, dominant, frauenfeindlich, sexistisch …  Wir müssten uns fragen, warum er so ist, ob sich hinter dem „Ätz-Stoff“ nicht ein verletztes, hilfsbedürftiges, nach Zuwendung schreiendes Wesen verbirgt. Gelegentlich ist zu hören, Jungen würden in der Regel übervorteilt. Ein Argument: Jungen drängen sich in den Vordergrund, sind dominant und … werden deshalb bevorzugt (im Verhältnis 70 Prozent Jungen zu 30 Prozent Mädchen) in die Hände von (Erziehungs-)Beratungsstellen gegeben. Ich möchte diesen Umstand nicht weiter kommentieren.

„Jungenarbeit“ – zum Scheitern verurteilt?

Geschlechtsspezifische Arbeit mit Mädchen ist ein großes Verdienst von Frauenbewegung. Quasi als Antwort darauf gab es in etlichen Einrichtungen Versuche, ebenfalls eine analoge Jungenarbeit  zu etablieren. In den meisten Fällen sind diese Versuche gescheitert. Oft wurden meines Erachtens dann „Jungen-Aktivitäten“ ausprobiert, weil Jungen sich durch Mädchenarbeit einfach benachteiligt fühlten. Eine Reflexion fand in der Regel nicht statt. Derartige Startvoraussetzungen lassen normalerweise eine authentische Jungenarbeit scheitern. So haben wir in der Praxis etliche Anläufe wahrnehmen können, in denen Jungenarbeit etwa in Form von Skatrunden, Kegeln oder ähnlichem stattfand und das häufig mit Mitarbeitern, die selbst über keinen Funken „Männerbewusstseins“ verfügten. Nachdem die Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille für eine „antisexistische Arbeit mit Jungen“ warb, löste dies in etlichen Einrichtungen erneut Initiativen aus, Jungenarbeit zu versuchen. (5) Meine eigene Lebensgeschichte als Junge und Mann, die Beschäftigung mit meiner eigenen Sozialisation und der gesellschaftliche Kontext, in dem ich lebe, der mir ein entsprechendes Feedback gibt, lässt mich zu der Überzeugung gelangen, dass eine eigenständige, lebendige, geschlechtsspezifisch orientierte Arbeit mit Jungen unabdingbar ist hinsichtlich einer – eben nicht nur verbal – angestrebten Gleichstellung von Frauen und Männern, von Mädchen und Jungen. Einen weiteren Beitrag zur Jungenarbeit leistete die AG Klub, eine evangelische Bundesarbeitsgemeinschaft (für Offene Jugendarbeit) mit einer Veröffentlichung der Übersetzung aus dem Englischen, nämlich der Broschüre „Junge, Junge – Work with Boys“ von Trefor Lloyd aus dem Jahre 1986. (6) Die seit längerem vergriffene Schrift wurde als durchgesehene und durch einen Anhang erweiterte Neuauflage vom bei ABA Fachverband neu veröffentlicht (7). Der Neuling Verlag bringt seit einiger Zeit ebenfalls Schriften für die Arbeit mit Jungen und Männern heraus, die sehr praxisnah sind. (8) Die meines Erachtens wichtigsten Basis-Schriften für eine gezielte Jungenarbeit sind die Bücher „Kleine Helden in Not“ von Dieter Schnack und Rainer Neutzling (9) und das „Praxishandbuch für die Jugendarbeit, Teil 2: „Jungenarbeit“ von Uwe Sielert. (10) Dieter Schnack und Rainer Neutzling haben erstmalig umfangreich und sehr einfühlsam aus männlicher Sicht die Sozialisation von Jungen aufgearbeitet. Dieses Buch halte ich für eine gute Empfehlung an jeden Mann, der beabsichtigt, mit Jungen zu arbeiten (11).
Nachdem ich zugesagt hatte, ein „paar Gedanken“ zur Jungenarbeit aufzuschreiben, war ich zunächst der Auffassung, es würde reichen, einfach ein bisschen „aus dem Nähkästchen“ zu plaudern. Als ich mich dann – einmal wieder – an das Thema herantastete, stellte ich fest, dass mir das erstens selbst nicht ausreichen würde und zweitens eine Chance vertan werden könnte, eine echte Werbung für eine gezielte Arbeit mit Jungen in Einrichtungen zu betreiben. So habe ich mir ein weiteres Mal das Praxishandbuch von Uwe Sielert vorgenommen, um das Fundament besser abstützen zu können. Einige seiner wichtigen und überzeugenden Aussagen möchte ich aufgreifen und damit konfrontieren.

Begriffe

Schauen wir zunächst auf die Begrifflichkeiten: Wir sprechen oft von „Geschlechtsspezifischer Arbeit“, ein Begriff, der mir nicht nur „lahm“ erscheint, sondern der auch nicht über genügend Aussagekraft verfügt. Möglicherweise ließe sich darunter auch die oben kritisierte Skatrunde, die in keinem reflektierten Zusammenhang stand, subsumieren. Zumindest würde ich dabei keine klaren Abgrenzungen gegenüber „klassischen“ Jungen- oder Mädchenaktivitäten machen können. Da höre ich z.B., dass eine „Arbeitsgemeinschaft Tanz“ keine „Defizite“ und keinen gezielten Handlungsbedarf – etwa in Richtung gezielter Mädchenarbeit (und umgekehrt) feststellen kann, da ohnehin 70 Prozent der TeilnehmerInnen Mädchen sind, also Problem gelöst? Ähnliches ist bisweilen von Jugendfarmen, auf denen Pferdehaltung eine besondere Rolle spielt, zu hören: 80 Prozent der BesucherInnen sind Mädchen, keine Probleme? Ein Jugendzentrum mit überwiegend männlicher Dominanz zieht den Schluss, vorwiegend geschlechtsspezifische Jungenarbeit zu leisten, alles klar?
Der Begriff „Antisexistische Arbeit“ mit Jungen ist – soweit ich weiß – vorwiegend von der Alten Molkerei Frille geprägt worden. Zum Teil ist er brauchbar, allerdings setzt er voraus, dass wir es unbedingt mit Sexismus zu tun haben, was möglicherweise doch zu sehr einschränkt. In einem anderen Zusammenhang bin ich vor einiger Zeit einmal über einen ähnlichen Begriff gestolpert und habe ihn mir abgewöhnt: Ich las in einem Kölner Prospekt, dass der dortige Verein „Männerbüro“ sonntags ein „antisexistisches Frühstück“ veranstaltet. Ich habe mir überlegt: Was tun die denn wohl da? Zumindest konnte ich mir vorstellen, dass dort keine Zoten gerissen werden und sonst…? Auf mich wirkt ein „antisexistisches Frühstück“ so einladend, dass ich als Morgenmuffel doch lieber weiter allein frühstücken oder Sonntagsvormittags im Bett bleiben möchte.
Uwe Sielert prägt den Begriff „reflektierte Jungenarbeit“. Meines Dafürhaltens wird hiermit am ehesten das getroffen, was gemeint ist, und deshalb möchte ich entweder schlicht von Arbeit mit Jungen, Jungenarbeit oder aber eben von „reflektierter Jungenarbeit“ sprechen.

Grundsätzliches

Uwe Sielert zeigt u.a. auf, dass Mädchen in Jungencliquen nichts zu suchen haben, dass Jungen sich gegenüber Mädchen abgrenzen zur Absicherung ihrer eigenen traditionellen Geschlechterrolle. (12)Gleichzeitig werden gegenwärtige männliche Irritationen deutlich gemacht, die eben auch vor Jungen nicht Halt machen, im Sinne einer reflektierten Arbeit mit Jungen auch nicht Halt machen sollten. Männer werden – in Anlehnung an Walter Hollstein (13) – typisiert als „Machos“ und „Chauvis“. Sielert „vervollständigt“ diese Aufzählung durch „Schwule“, „Neutralos“, „Opportunisten“, „Anpassungskünstler“, „Softis“ und vor allem durch die „Irritierten“ und „Desorientierten“ (14). Nach dem „traditionellen Rollenbild“ beinhaltet Männlichkeit vor allem „Teilen/Spalten/Abspalten“, während das Weibliche „Kontinuität, Ganzheitlichkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit“ zum Ausdruck bringt. Ein positives Männlichkeitsbild schließt weibliche Komponenten unbedingt mit ein, ebenso das Korrektiv, sich als Mann auch zurücknehmen zu können (15). Männer, die mit Jungen arbeiten wollen, haben verinnerlicht, dass hinter chauvinistischem Verhalten zumeist ein mangelndes Selbstbewusstsein steckt. Eine wesentliche Voraussetzung für eine reflektierte Arbeit mit Jungen sind Kenntnisse aus der Sozialisationsforschung. Die männliche Sozialisationsforschung steckt leider noch in den Kinderschuhen. Umso erfreulicher sind die erwähnten Erkenntnisse und Aufzeichnungen von Schnack und Neutzling in diesem Zusammenhang für die praktische Arbeit in Einrichtungen.
Bei einer reflektierten Jungenarbeit stehen Jungen im Brennpunkt „pädagogischer Aufmerksamkeit“ 
(16); sie bezieht in jedem Fall antisexistische, antichauvinistische und antifaschistische Intentionen (17) mit ein, verharrt aber nicht in diesen Positionen, um weder zu stigmatisieren, noch durch vorwiegenden Negativ-Touch abzuschrecken. Sie entwickelt eine eigene Moral, eine eigene Identität, lässt ausreichend Platz für neue „Erlebnis- und Gedeihräume“ (18) Schwierig dürfte es oft sein, eigene Vorbehalte – etwa hinsichtlich einer „akzeptierenden Arbeit“ z.B. mit „Glatzen“ – auszuräumen. Die Leitschnur dort festzulegen, wo man(n) den Eindruck hat, hier gälte es besonders viele Defizite bei Jungen „wegzuarbeiten“, ließe einen eher in Frustration, Resignation und letztlich ins Scheitern laufen.
Dass Jungen Schwächen haben (sollen, dürfen, müssen), muss Jungen deutlich werden. Sie können begreifen, dass Schwächen zugleich Stärken sind 
(19). Die Steigerung ihres Selbstwertgefühls in einer – „vorm Zug“ – positiven Intention ist ein Ziel und zugleich Weg einer erfolgversprechenden Arbeit mit Jungen. Jungen sollten Fähigkeiten erlangen, „Beziehungen“ eingehen und leben zu kön-nen, Gefühle von Schwäche ebenso wie Stärke, Freude, Trauer, Glück usw. zeigen und leben zu können.
Pädagogik kann sich in diesem Sinne nicht als „Trichter“ verstehen. Als „Antipädagoge“ 
(20) gestehe ich der Pädagogik in diesem Kontext die Rolle einer verständnisvollen Begleiterin zu. Pädagogik muss die Aufmerksamkeit und das Taktgefühl besitzen, zu erkennen, wann jemand überfordert oder entmündigt wird und dies verhindern. Pädagogik greift ein, wenn die Grenzen anderer – z.B. von Mädchen oder auch anderen Jungen – missachtet und verletzt werden. Pädagogik nimmt Erfahrungen, auch Grenzerfahrungen, ernst, duldet und fördert sie, wenn nötig.

Der Mitarbeiter

Die Schwierigkeiten, die Jungen bislang haben, sind nicht ihre Schwierigkeiten (allein). Es sind auch unsere eigenen Schwierig-keiten, die wir als Männer tagtäglich haben, wenn wir uns einmal kritisch hinterfragen. Dazu schreibt Uwe Sielert: „In Beziehungsdingen sind die meisten Jungen und Männer ziemlich sprachlos, oder sie entwickeln als Gewohnheitsredner eine Geschwätzigkeit, die in keiner Weise authentisch ist. Besonders Studenten und Sozialwissenschaftler reden ganz oft und sehr ausführlich über sich selbst und zwischenmenschliche Beziehungen. Es bleibt … beim ‚darüber-reden‘ und wird nirgends bedeutsam. Das ist nichts anderes als die Wortkargheit eines Handwerkers. Beide können unfähig sein, Gefühle und Beziehungs-Dinge auszudrücken.
Im gemeinsamen Tun kann eine Atmosphäre entstehen, die das Sprechen leichter macht, wenn es notwendig wird. Nicht immer ist es wichtig, zu reden, aber vieles lässt sich verbal verstärken, differenzieren, richtig stellen, vielschichtiger kommunizieren. Besonders im Austausch und in der Auseinandersetzung mit Mädchen ist die Fähigkeit wichtig, eigenes Erleben in Worte zu fassen. Jungen unter sich leben in einer ähnlichen Erlebniswelt, vieles ist dann ´selbstverständlich´ 
(21)  und muss nicht mitgeteilt werden. Einfühlung in eine fremde Psyche und Verständnis für die Besonderheit des Erlebens sind ohne Sprache nicht möglich.“ (22)
Männer, die reflektiert mit Jungen arbeiten wollen, haben bei sich bereits begonnen, sich selbst zu reflektieren. Sie dürfen keine „Star- oder Papstrolle“ einnehmen; das würde Jungen eher abschrecken. Sie begeben sich mit den Jungen auf einen gemeinsamen Weg des „Be-Greifens“ und Lernens. Aufgrund ihrer Erfahrungen und aufgrund ihres Status eines Erwachsenen würde ich bei ihnen die „Messlatte der Reflexion“ eine Portion höher ansetzen. Klarheit vor allem darüber, dass sie als „Autorität“ erlebt werden, dass sie Identifikationsobjekt sein können, in jedem Fall Vorbild sind, ist vonnöten, ebenso Sensibilität in Bezug auf Verletzungen und hinsichtlich ihres eigenen – oft verbrämtem sexistischen – Verhaltens. Klarheiten über ihre eigene Sozialisation gehören ebenso dazu wie das Abfragen eigener Vor- und Leitbilder. Ein Gespür dafür zu entwickeln, wo die Einrichtung „typisch männlich“ ist, wo Atmosphäre verändert werden muss, was die Mitarbeiter- und Organisationsstrukturen damit zu tun haben, die Programme, Angebote und Konzeptionen sind ebenso Bestandteil „männlichen Aufbruchs“.
Der einzelne – „gutwillige“ – Mann ist damit überfordert. Voraussetzung ist ein Hinterfragen der eigenen Geschlechterrolle. In der Regel gehört eine nachhaltige, wenn auch behutsame, die Interessen aller Beteiligter berücksichtigende „Klimaveränderung“ in einer Einrichtung dazu. Das Team – vor allem die männlichen Mitarbeiter – wird in einen intensiven kommunikativen Austausch treten, Konflikte, unterschiedliche Standpunkte werden deutlich gemacht. Eine Überzeugung von Kolleginnen, dass reflektierte Arbeit mit Jungen nicht dazu führen soll (wird), neue „Hintertürchen“ für ein – eventuell leicht modifiziertes – tradiertes männliches Verhalten zu öffnen, sondern dass man(n) tatsächlich auf Veränderung im langfristigen Sinne einer geschlechtlichen Gleichberechtigung aus ist, ist Teil des Prozesses. Manche Hürden – etwa in Richtung Team, Träger, bei den Jugendlichen usw. – scheinen auf den ersten Blick unüberwindbar. Überlegen wir mal, wo in unserer Arbeit auch immer wieder „Ecken und Nischen“ sind, die sich anbieten, die genutzt werden können. Überzeugungsarbeiten gehören zum „Geschäft“. Es reicht für den einzelnen Mann nicht aus, kiloweise Männerliteratur zu „fressen“, ohne deren unterstützende Wirkung in Abrede stellen zu wollen. Unterstützung von „außen“ kann angesagt sein, etwa in Form von Supervision oder Praxisreflexion, konzeptioneller inhaltlicher Beratung und/oder durch gezielte Seminare, Fachtagungen und dergleichen. Auch Rollenspiele im Team können eine Hilfestellung sein. Reflektierte Jungenarbeit kann „keine Berge versetzen“. Jungenarbeit kann – wenn sie auf Dauer angelegt sein soll – nur „realistisch“ beginnen, z.B. in einer kleinen Jungengruppe, in anderen kleinen Zusammenhängen. Die Ziele, die erreicht werden sollen, müssen erreichbar sein, dürfen nicht in „Atlantis“ liegen. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mann, der sich ein bisschen „anstecken“ lassen mag, beginnen kann. Sonst… (hier fällt mir das Bild von „Godot“ ein). Eine wichtige Hilfe dabei kann z.B. sein, „Selbstverständliches“ zu thematisieren (und zu reflektieren), „Unnormales“ zu tun, Hilfen, die dazu dienen, zu geänderten Wahrnehmungen kommen zu können, Alltäglichkeiten in einem anderen Licht erblicken zu können, neu bewerten und interpretieren zu können.

Input

Handelt es sich bei reflektierter Arbeit mit Jungen um einen Modetrend? Könnte sein. Bliebe es dabei, wäre das Ende möglicherweise bald absehbar, wäre sie nicht Teil einer prozesshaft gewollten Veränderung in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter. Bislang sind mir kaum Fälle bekannt geworden, wo Jungenarbeit „von oben verordnet“ wurde (23), wie das bei „Mädchenarbeit“ häufig geschehen ist. Aufgrund politischer Beschlüsse oder aufgrund von Legitimationszwängen von Amts- und Abteilungsleitern ist Einrichtungen Mädchenarbeit häufig „aufs Auge gedrückt“ worden (kurioser- bzw. typischerweise, nachdem die Bemühungen der Frauenbewegung um Mädchenarbeit von denselben Verantwortlichen über mindestens zehn Jahre blockiert wurden). Nicht immer ist deswegen verordnete Mädchenarbeit „schlecht“; die Gefahr allerdings, die bei Nicht-Vorhandensein von Überzeugungen, also beim bloßen Verordnen, immer wieder deutlich wird, ist, dass die Arbeit vordergründig, lediglich auf äußere Legitimation ausgerichtet bleibt und letztlich ineffektiv ist. Im Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, dass regelmäßig Amts- oder Abteilungsleiter mit einer derartigen Vehemenz reflektierte Jungenarbeit einfordern könnten, wie das in Sachen Mädchenarbeit geschehen ist (23). Dazu müssten sie ihre eigene „männliche“ Identität erst einmal in Zweifel ziehen, ihre eigenen Rollenbilder müssten gehörig ins Wanken geraten. Und das kann ich mir bei den meisten dieser männlichen „Funktionalisten“ – offen gestanden – nicht vorstellen. Mädchenarbeit hat ihre bisweiligen „Verordner“ nicht so stark tangiert, wie dies eine reflektierte Männer- und Jungenarbeit zwangsläufig tun müsste. Hierin erblicke ich eine Chance für Jungenarbeit: Sie kann wie ein zartes Pflänzchen von unten wachsen, realistisch bleiben und erfolgversprechend werden.
Ein gängiges Rezept für eine „einheitliche“ Form reflektierter Jungenarbeit gibt es nicht. Ein solches würde die Intention von Jungenarbeit meines Erachtens auch konterkarieren. Gleichwohl gibt es eine Menge Aspekte – außer den bisher genannten – zu beachten.

„Betroffenen-Arbeit“

Jungenarbeit ist „Betroffenen-Arbeit“. Betroffenen-Arbeit schafft „Aha-Erlebnisse“ und Solidarisierungseffekte. Sie räumt mit Mythen auf und bricht Tabus. Jungen (und Mitarbeiter) lernen zu begreifen, dass sie es nicht allein sind, die ihre individuellen Schwierigkeiten (z.B. in emotionaler und sexueller Hinsicht, bezogen auf „Leistungszwänge“ usw.) haben, sondern dass es sich um handfeste kollektive, individualisierte Probleme handelt. „Besonders Richter (24) hat darauf hingewiesen, dass in unserer Kultur vor allem Männer persönliche Leiden (‚Probleme haben‘) für unansehnlich halten und vor anderen – und vor sich selbst – zu verbergen trachten… Bei dem Verbergen innerer Zustände handelt es sich nicht nur um ein taktisches Manöver, bewusst oder schon automatisch eingesetzt. Vielfach sind die Gefühle auch in der Innenwelt nicht mehr spürbar. Wenn in der Kindheit bestimmte Gefühle (z.B. von Schmerz) nicht ausgedrückt werden durften, dann wurden diese Gefühle gleichsam fest verkorkt und abgespalten.“ (25)
Jungen erfahren etwas über „die gemeinsamen Ursachen“, entwickeln gemeinsam Lösungs- und/oder Akzeptierungswege, die dem einzelnen Jungen (und Mann) und letztlich vielen Jungen, Mädchen, Männern und Frauen zugute kommen können (26). Sie dürfen Schwächen zeigen, Schwächen gar als positiv erleben. Sie spüren, falls sie eine zuversichtliche Atmosphäre erleben dürfen, dass sie sich nicht unnötig zu schämen brauchen, dass sie auch mit Macken akzeptiert und als wichtig anerkannt werden.

Lebenswelten

Unterschiedliche Lebenswelten erfordern unterschiedliche Konzepte. Die Art der Sozialisation ist verschieden. In einem Dorf wachse ich anders auf, als in einem traditionellen urbanen Stadtteil, anders als in einer Beton-Satelliten-Stadt, anders als in einer Kleinstadt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur vermittelt mir bestimmte Werte, deren patriarchaler Zusammenhang sich zum Teil scheinbar erheblich voneinander unterscheidet. Bei näherem Hinschauen wird man feststellen, dass Unterscheidungen teilweise nur gradueller Natur sind. Gleichwohl gilt es, diese zu berücksichtigen. Jungen, die in besonders gewalttätigen Zusammenhängen (Familie, Schule, Stadtteil usw.) aufwachsen, brauchen andere (Re-)Aktionen als Jungen, die in ihrem Milieu besser behütet werden. So kann ich mir verstärktes Engagement in Richtung reflektierter Jungenarbeit etwa in Fan-Projekten von Fußballclubs, in der „Glatzen“-Arbeit und sogar in der Arbeit mit Rechtsradikalen (27) vorstellen. Voraussetzungen hierbei sind – wie in jeder anderen Form von Jungenarbeit – Hintergrundwissen (28) über die Jungen, ihre Lebenszusammenhänge und gefühlsmäßige Solidarität. Als „Papst“, der unfehlbar ist, der alles besser weiß, sollte ich die Jungen lieber in Ruhe lassen. Sie müssen merken, dass ich fehlbar bin, dass ich manchmal auch ratlos bin und ihre Hilfe ebenfalls benötige. Ich muss transparent und einfühlsam sein, muss mich und mein Verhalten ihnen gegenüber plausibel machen können. Rechtsradikale Organisationen haben oft früher als Pädagogen begriffen, wie wichtig es ist, Jungen Grenzerfahrungen des Sich-Erprobens und Sich-Austesten-Könnens machen zu lassen. Teilweise laufen ihnen die Jungen deshalb in erster Linie zu. Zu klären wäre darüber hinaus, inwieweit rechtsradikale Führernaturen nicht bereits zu sehr im Weltbild des Jungen etabliert sind. Dies würde eine Herangehensweise an derart „infizierte“ Jungen deutlich erschweren. Der Mitarbeiter wird auf jeden Fall provoziert, sich entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten zuzulegen, Möglichkeiten und Methoden zu erlernen, die geeignet sind, den Erfahrungshorizont von Jungen vergrößern zu helfen, sich erproben und in ihrer Entwicklung erweitern zu können. Der Kontext, in dem wir derartige Aktivitäten (z.B. Abenteuersport, Erlebnispädagogik, Mutproben anderer Art usw.) vollziehen, ist zudem eine potentielle Möglichkeit, das Abwandern zu rechtsradikalen „Rattenfängern“ zu verhindern.
Wenn – wie in manchen Einrichtungen häufig bedauert wird – fast ausschließlich Jungen als Besucher kommen, braucht dies nicht auf Dauer akzeptiert werden; jedoch könnten Mitarbeiter beginnen, diesen Umstand als Chance für den Beginn einer reflektierten Arbeit mit Jungen zu sehen. Uwe Sielert schlägt vor, „geschlechtshomogene Gruppen aller Art“ zu nutzen. 
(29) Er bezieht dies auf Vereine, deren Untergliederungen, Jugendhäuser, Interessensgruppen usw. „Reflektierte Jungenarbeit ist in solchen Gruppen durchaus machbar, vor allem dann, wenn sie gerade nicht unter diesem Vorzeichen praktiziert wird. Weil die Gruppendynamik und die selbstgewählten Inhalte in der Regel das traditionelle Männerverhalten verstärken, sind von Seiten der Jugendarbeiter bewusste Interventionen und Situationsarrangements erforderlich, damit Atmosphäre, Gesprächsinhalte und Aktivitäten einen anderen Charakter bekommen.
Schon die Verstärkung der ganz wenigen offensiven antisexistischen Bemerkungen und Handlungen einzelner Mitglieder kann wichtige Veränderung initiieren. In vielen Gesprächen haben mir Jungen davon erzählt, dass sie sich in ihren Cliquen oft zu Äußerungen und Handlungen hinreißen lassen, die sie eigentlich gar nicht wollen. In der Situation fällt ihnen das gar nicht auf, weil die Stimmung ganz selbstverständlich frauenfeindlich, die Atmosphäre rau und wenig herzlich ist.“ 
(30)

„Multikulti“ und Gewalt

Mir selbst ergeht es oft genug so: Ich lebe in einem Stadtviertel mit einem hohen Ausländeranteil (31). Die teilweise „südländisch“ anmutende Atmosphäre auf den Straßen bewirkt bei mir keine Urlaubsstimmung, im Gegenteil: Ich spüre immer wieder den „Schweinehund“ in mir. Die Horden von Machos, die die Bürgersteige füllen, hinter Frauen herglotzen und -pfeifen, lösen mir zunächst ungute bis abscheuliche Gefühle aus. Wenn ich dann einmal in mich „hineinhöre“, spüre ich, dass es auch und vor allem meine Ängste vor dem Fremden, dem Anders-Sein sind, die mir „die Nackenhaare hoch stehen“ lassen.
Machen wir uns bewusst, dass Cliquen z.B. türkischer Jungen eine stabilere homogene Struktur haben, als beispielsweise „normale deutsche“ Jungen (23). Auch hierin verbergen sich wiederum eine Unzahl sinnvoller Ansatzmöglichkeiten für eine reflektierte Jungenarbeit, möglicherweise zunächst im eigenen Kulturkreis. Dazu allerdings ist wichtig, die (andere) Kultur möglichst gut zu kennen. Und wer könnte in diesem Zusammenhang eine reflektierte Arbeit mit Jungen besser durchführen als ein türkischer Kollege mit entsprechendem Bewusstsein? Ist er nicht da, wächst die Lernaufgabe für den Mitarbeiter, der sich die Arbeit vornimmt, natürlich; braucht er doch einen einigermaßen stabilen Hintergrund.
Durch nichts mehr ist zu verhehlen, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, die unser Handeln erfordert, vor allem auf dem Hintergrund zunehmender Gewalt gegen Migranten. Für alle betroffenen Jungengruppen sind auf diesem Hintergrund entsprechende Konzeptionen zu entwickeln. Damit spreche ich nicht für Konzeptionen, die „in“ sind, die sich oberflächlich gut „verkaufen“ lassen. Tatsächlich umsetzbare Konzeptionen – unabhängig von ihren Zusammenhängen – können immer nur die Realität spiegeln. Sie untersuchen Fakten, Hintergründe des Stadtteils, der Zielgruppe(n), formulieren – erreichbare – Ziele, Methoden und Kapazitäten. Und sie basieren – nur so können sie mit Leben gefüllt werden – auf den Fähigkeiten, Fertigkeiten, der Einfühlsamkeit und Flexibilität der Mitarbeiter. Mitarbeiter sind somit wesentlicher Bestandteil einer Konzeption.

Schichtenunterschiede

Die Jugendzentrumsbewegung und die Abenteuerspielplatzbewegung versuchten – zumindest verbal – in den 1960er Jahren, „Proletarisches“ zu kultivieren und zum gesellschaftlichen Maßstab zu etablieren. Nachdem Mitte der 1970er Jahre „die große Stagnation“ eintrat, lebten diese Inhalte zum Teil nur noch als Mythen in zahlreichen Köpfen weiter. Es folgten Zeiten, in denen große „Bewegungen“ (z.B. die Frauenbewegung, die Friedensbewegung usw.) aufblühten. Weder einem proletarischen Bewusstsein, noch den meisten Bewegungen ist es gelungen, eine Annäherung der Geschlechter im Sinne von Gleichberechtigung einzuleiten. Die Schwerpunkte lagen anderswo. Sie klammerten die Geschlechterfrage aus. Sozialisten erklärten eine Gleichberechtigung „qua verbum“ als realisiert. Schauen wir einmal hinter die Kulissen des „ehemaligen Ostblocks“ können wir (erstaunt?) feststellen, dass die Ideen August Bebels (32) dort auch nur Mythos geblieben sind. Mit Ausnahme der Frauenbewegung hat keine Ideologie und keine Bewegung Bewegung in die Geschlechterfrage gebracht.
Gegenwärtig bestimmt in zunehmendem Maße die „Lebenslagen-Diskussion“ das Geschehen. Trotz einiger Widersprüchlichkeiten, die ich immer wieder ausmachen kann, bietet diese vergleichbar mehr Komponenten, emanzipatorische Bestrebungen aufzunehmen. Ich möchte mich allerdings davor hüten, den Blick fürs Kollektive vollständig zu verlieren, ganz im Gegenteil. Nicht jeder „muss das für sich selber wissen“! In der Regel sind Männer die Ausbeuter. In der Regel sind Männer aber auch Ausgebeutete. Und Jungen, die aus einer stärker ausgebeuteten Schicht kommen, benötigen (unter Umständen verstärkt) Hilfen, Verständnis und Unterstützung beim Erkennen ihrer Interessen und deren Realisierung. Wünschenswert ist in diesem Zusammenhang die Transparenz, das Nachvollziehen und nach Möglichkeit der Zugang zu anderen Lebensmodellen. Schließlich wollen wir tradiertes Rollendenken überwinden. Auch dies erfordert beim Mitarbeiter fundiertes Hintergrundwissen und Empathie. Eine Verklärung der Arbeiterbewegung hilft da ebenso wenig weiter wie eine Abgrenzung gegenüber harten „Unterschichts-Cracks“. Eine reflektierte Arbeit mit diesen kann nicht jeder Mann tun. Ich halte sie allerdings für möglich. Sie kann vielleicht auch ein Abwandern in rechtsradikale Kreise vermeiden helfen. Geleugnet werden darf allerdings nicht, dass für manchen Mitarbeiter eine reflektierte Jun-genarbeit mit Unterschichtsjungen schwieriger zu bewältigen ist, als etwa mit Gymnasiasten. Diesbezüglich halte ich es für besonders wichtig, wenn der Mitarbeiter seine verinnerlichte Vorstellung, seine kulturelle Welt, seine Gewohnheiten usw. seien das Maß aller Dinge, aufgeben könnte.

Voraussetzungen

Reflektierte Jungenarbeit ist in jedem Fall eine Form politischer Arbeit. Ich wünsche mir, dass dies in dieser Auseinandersetzung immer wieder deutlich geworden ist. Jeder Mann, der reflektierte Jungenarbeit anstrebt, benötigt zunächst erst einmal eine gehörige Portion Selbstreflexion und eine Produktivkraft, die sich bei ihm selbst daraus entwickeln kann. Austausch mit anderen Männern ist vonnöten, Klärungen, Hintergrundwissen, die zunehmende Schaffung einer eigenen männlichen Identität. Ziele müssen formuliert werden können. Fähigkeiten müssen erkannt werden. Bündnispartner und Bündnispartnerinnen müssen gefunden und angeworben werden. Ganz wichtig finde ich auch die Unterstützung einer reflektierten Jungenarbeit durch engagierte Frauen. Ihr Verständnis sollte eine wichtige Voraussetzung sein. Möglicherweise muss man(n) sein Vorhaben gegenüber Frauen auch immer wieder „unter Beweis“ stellen. Aufgrund Jahrhunderte alter Erfahrungen und Vorbehalte würde ich es nicht erstaunlich finden, wenn Frauen hinter einer geschlechtsspezifischen Arbeit mit Jungen eine weitere Manifestierung bestehender Verhältnisse wittern.
Männer fangen an, sich selbst, andere Männer, Jungen, Frauen und Mädchen ernst zu nehmen. Sie zweifeln nicht an der Glaubwürdigkeit derer, mit denen sie arbeiten wollen. Sie verhalten sich solidarisch, grenzen sich allerdings nötigenfalls auch ab 
(33); dies günstigenfalls in einer transparenten Art und Weise. Männer erwerben die Fähigkeit, zuhören zu können und, wenn erforderlich, sprechen zu können. Sie versetzen sich in die Lage, deutlicher als bisher, Körpersignale zu erkennen.
Schließlich benötigen sie „praktisches“ Handwerkszeug. Sie erlernen kreative Methoden, Erkenntnisse und Ziele in einer Art und Weise umzusetzen und anzugehen, dass Jungen angesteckt, begeistert werden können. Und Redenkönnen ist nur ein kleiner Teil zur Methodenergänzung. Denkbar sind alle möglichen Rollenspiele, Theaterstücke, ganz „normale“ Spiele, Ausflüge mit entsprechenden „Bonbons“ und vieles andere mehr. Uwe Sielert liefert in seinem Praxishandbuch eine ganze Reihe brauchbarer themenbezogener Möglichkeiten, die ich an dieser Stelle empfehlen möchte. 
(34) Auch der Griff zur – eventuell in der Einrichtung verstaubten – Spielekartei ist überlegenwert. Wir können einen Jungenraum anlegen, wenn die Einrichtung dies zulässt. Atmosphärische Veränderungen haben in manchen Einrichtungen „echte Wunder“ bewirkt.
Eine Auseinandersetzung mit der Thematik der Koedukation führt mir an dieser Stelle zu weit. Ich verweise erneut auf Uwe Sielert 
(35), der für eine „reformierte Koedukation“ plädiert, ein Ansatz, mit dem ich mich anfreunden könnte (36).
Ich selbst habe vor ein paar Jahren einmal folgende Sätze formuliert: „Wir wollen weder geschont noch bemitleidet werden, wir haben es aber auch nicht gerne, stellvertretend für die Männer, in denen wir selbst ein Feindbild sehen, unter die Gürtellinie getreten zu werden. Wir streben auch nicht die Erfüllung des Lebens als Hausmann und ‚männliche Mutter‘ an. Unser Ziel ist identisch mit dem der Frauenbewegung: die Selbstbestimmung von Mann und Frau. Die Wege sind zwangsläufig – unter Berücksichtigung der Geschichte und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation – getrennte.“ 
(37)

Dortmund, September 1992 – Für das Internet überarbeitet und mit zum Teil neuen Fußnoten versehen im September 2002. Zur Vertiefung und beim eigenen Aktivwerden sei der Kontakt zur LAG Jugendarbeit NRW, Fachstelle Jungenarbeit, Geschwister-Scholl-Straße 33-37, 44135 Dortmund, Telefon 0231/5342174 empfohlen. 

Anmerkungen:
1 Anm. 2002
2 Anm. 2002: Der Artikel wurde 1992 geschrieben mittlerweile sind zehn Jahre vergangen; dies nicht ohne zum Teil gewaltigen Veränderungen. Die folgenden Ausführungen über die Arbeit mit Jungen dürften für den einen oder anderen Leser nach wie vor von Interesse sein. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, den Beitrag auf die Web-Seiten des Verbandes zu stellen.
Die Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“ (Dirk Bange) befasste sich seinerzeit verstärkt mit diesem Phänomen. Zwischenzeitlich liegt auch entsprechende Literatur vor.
4 Anm. 2002: Dass sich in den letzten zehn Jahren hier und dort etwas verändert  hat, kann nicht übersehen und soll nicht abgestritten werden.
5 Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille: Parteiliche Mädchenarbeit & antisexistische Jungenarbeit – Abschlussbericht des Modellprojekts „Was Hänschen nicht lernt …. verändert Clara nimmer mehr!“, Petershagen o.J.
6 Trefor Lloyd: Junge, Junge – Work with Boys, Frankfurt am Main 1986, AG Klub
7 DER NAGELKOPF 18, ABA Fachverband, Dortmund 1992
8 Neuling Verlag, Schwäbisch Gmünd und Tübingen, z.B.: „…damit Du groß und stark wirst!“ – Beiträge zur männlichen Sozialisation, 1990, und „Was fehlt, sind Männer!“ – Ansätze praktischer Jungen- und Männerarbeit, 1991. Zum Thema gibt es ebenfalls eine Bibliographie aus dem Jahre 1992: Sonderausgabe des NAGELKOPF (ABA Fachverband, Dortmund)
9 Dieter Schnack/Rainer Neutzling: Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek 1990, Rowohlt
10 Uwe Sielert: Jungenarbeit. Praxishandbuch für die Jugendarbeit. Teil 2. Weinheim und München 1989, Juventa
11 Anm. d. Red. (2002): Dieter Schnack und Rainer Neutzling haben ein weiteres empfehlenswertes Buch verfasst, das Männern, die Jungenarbeit versuchen wollen, sehr hilfreich sein kann, nämlich: „Die Prinzenrolle. Über die männliche Sexualität.“ Reinbek 1993, Rowohl (als Taschenbuch bei Rowohlt 1995 erschienen).
12 vgl. Sielert, a.a.O., S. 16
13 Empfehlenswert: Walter Hollstein: Nicht Herrscher, aber kräftig. Die Zukunft der Männer. Hamburg 1988, Hoffmann und Campe und Reinbek 1991, Rowohlt
14 vgl. Sielert, a.a.O., S. 16 ff.
15 vgl. ebenda, S. 21
16 vgl. ebenda, S. 38 ff.
17 Anm. 2002: Aus heutiger Sicht erscheinen die vielen „Anti“-Positionen zumindest dahingehend zweifelhaft, dass damit eher Widerstände erzeugt, denn Lösungen gefunden werden. Vielleicht gelingt es dem erfolgreichen Praktiker, von vornherein lösungsorientiert vorzugehen; dies beinhaltet, jedes Verhalten erst einmal zu akzeptieren, damit es eine Chance zur Veränderung erfahren kann. 
18 vgl. Sielert, a.a.O., S. 42
19 vgl. ebenda, S. 40 f.
20 Anm. 2002: Als solcher begriff ich mich vor zehn Jahren. Und wieder haben wir es mit dem „Anti“ zu tun. Heute kommt es mir näher, mich als „professionellen Pädagogen“ wahrnehmen zu können. Die Verdienste der „Antipädagogik“ will ich damit auf keinen Fall schmälern.
21 Die Anführungszeichen sind von mir gesetzt worden; in dem Grundverständnis, dass es „Selbstverständlichkeiten“ aus heutiger Sicht (2002) nicht gibt. Wie Uwe Sielert zu Recht weiter ausführt, ist die Einfühlung in eine fremde Psyche usw. ohne Sprache nicht möglich. R.D.
22 Sielert, S. 43 f.
23 Diese Aussage wurde 1992 gemacht. Für die Gegenwart (2002) würde ich diese These nicht mehr aufstellen.
24 vgl. Richter, Horst Eberhard: Lernziel Solidarität. Reinbek 1974 (Rowohlt)
25 Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Band 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1991 (Rowohlt), S. 109 f.
26 Anm. 2002: Die „taz“ vom 28. August 2002 griff das Thema in einen Artikel von Marc Böhmann in der Folge von PISA- und 14. Shell-Studie unter der Überschrift „Das neue Missverständnis: Jungs als Prügelknaben – Der ´türkischstämmige Migrantensohn aus dem Ghetto´ hat das ´katholische Arbeitermädchen vom Lande´ abgelöst“ auf. Dort heißt es u.a.: „Die Diskussion darum, wie sich Jungen und Mädchen besser fördern ließen, muss weitergehen. Die feministische Forschung weiß: Mehr Förderung von Mädchen kommt Jungen zugute. Es ist zu vermuten, dass dies umgekehrt ähnlich ist.“
27 Anm. 2002: Soll die Arbeit mit rechten Jungen/Männern Erfolge zeitigen, gilt allerdings zu bedenken, dass eine „überzogen verständnisvolle“ Haltung leicht als „Schwäche“ des Mitarbeiters interpretiert werden könnte. Es muss sehr deutlich dokumentiert werden, dass der Junge/der Mann als Person akzeptiert wird, nicht aber seine Haltungen und sein mögliches Verhalten. 
28 Etliche Mitarbeiter verfügen meines Erachtens über Erfahrungen aus der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit, die auch für Jungenarbeit gut genutzt werden können.
29 vgl. Sielert, a.a.O., S. 61 f.
30 ebenda, S. 61
31 Anm. 2002: Zu jener Zeit, als ich den Aufsatz schrieb.
32 vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Berlin 1946.
33 Anm. 2002: Heute würde ich statt von „abgrenzen“ lieber von „sich unterscheiden“ sprechen.
34 vgl. Sielert, a.a.O., S. 95 ff
35 vgl. ebenda, S. 87 ff
36 Anm. 2002: In dem bereits erwähnten „taz“-Artikel von 28. August 2002 („Das neue Missverständnis: Jungs als ´Prügelknaben´…“) wird hierzu das Konzept der „Reflexiven Koedukation“ vorgestellt.
37 Deimel, Rainer, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (Hg.): Mann und Frau in Gesellschaft und Weiterbildung. Dokumentation des XIV. Soester Weiterbildungsforums. Soest 1988, S. 184

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NAGEL-Redaktion – Kindermuseen sind keine überdachten Abenteuerspielplätze

Unter diesem Titel veröffentlichte Frau Dr. Gabriele König vom Kindermuseum in Fulda, einer beachtlichen Einrichtung, am 8. November 2001 einen Beitrag in der Internet-Zeitung des „Forum Bildung“. Er kann nachgelesen werden unter www.forum-bildung.de unter der Rubrik „Themen“, Quartal 4/2001. Ihre Eingabe veranlasste uns zu folgender Reaktion, die in gekürzter Form ebenfalls beim „Forum Bildung“ unter „Freies Forum“ mit Datum vom 23. November 2001 nachgelesen werden kann.
Nachfolgend das Original-Schreiben an Frau König vom 13. November 2001, das leider unbeantwortet blieb.

Sehr geehrte Frau Dr. König,

seit geraumer Zeit nehmen wir – wenn auch aus der Ferne – interessiert Kenntnis von Ihren Aktivitäten im Kindermuseum Fulda. Vor allem die Veröffentlichungen von Donata Elschenbroich vom Deutschen Jugendinstitut haben uns einigermaßen plastisch mit Ihrer Arbeit vertraut gemacht. Wir, das ist der ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Einer unserer inhaltlichen Schwerpunkte ist die Organisation von Abenteuerspielplätzen; dies vorwiegend in Nordrhein-Westfalen, aber auch darüber hinaus, zumal in den meisten anderen Bundesländern (wie etwa Hessen) vergleichbare Strukturen überhaupt nicht existieren. Ich schreibe Ihnen aufgrund Ihres Interviews „Kindermuseen sind keine überdachten Abenteuerspielplätze“ im Internet-„Forum Bildung“.
Ganz nüchtern betrachtet vermag ich Ihnen zustimmen: Kindermuseen sind keine überdachten Abenteuerspielplätze. Betrachten wir das Ganze aber einmal aus einer fachlichen Sicht, ist dieser Vergleich, sind die Assoziationen, die Sie mit dieser Feststellung bewirken, in erheblicher Weise kontraproduktiv. Diese Aussage bestätigt leider, dass Ihnen, liebe Frau Dr. König, das Konzept des Abenteuerspielplatzes nicht vertraut sein dürfte. Sonst würde unmöglich ein solcher Vergleich angeführt werden.
Beim Abenteuerspielplatz handelt es sich um ein wohldurchdachtes Konzept, das Kindern in erheblichem Maße Sozialisations- und Lernhilfen einzuräumen imstande ist. Die Verbände der Offenen Arbeit mit Kindern haben mittlerweile Standards formuliert, die deutlich machen, wann ein sogenannter Abenteuerspielplatz auch tatsächlich ein Abenteuerspielplatz ist. Da dies offenbar in Fulda nicht bekannt ist, möchte ich Sie hier aufführen. Ein Abenteuerspielplatz verfügt über folgende Erfahrungsfelder (Bildungsfelder):

  • Sozialer Bereich
  • Handwerklich-technischer Bereich
  • Natur-/Umweltbereich
  • Landwirtschaftlich-gärtnerischer Bereich
  • Kreativ-schöpferischer Bereich
  • Senso-motorischer Bereich

 

Mindestens neun der folgenden Ausstattungsmerkmale werden von einem Abenteuerspielplatz erwartet:

 

  • Freiflächen und überdachte Aufenthaltsbereiche (mindestens zum Teil beheizbar)
  • Küche
  • Werkstätten mit Lagerräumen
  • Bauspielbereich
  • Wasserbereich/e
  • Feuerstelle/n
  • Grünflächen, Biotopen, Gärten und Gehölze
  • Tiergehege, Reitkoppel, Ställe
  • Bühne, Raum für Veranstaltungen
  • Spiel- und Sportflächen
  • Klettermöglichkeiten
  • Kleinkinderspielbereich

 

Ergänzend hinzufügen könnte man noch Kommunikationsbereiche für ältere Besucher (Eltern, Anwohner usw.).

In den letzten Jahren haben wir uns in unseren Veranstaltungen häufig gezielt damit beschäftigt, in welcher Weise gerade der Abenteuerspielplatz Bildungsarbeit leistet. Wir haben festgestellt – und scheinen uns damit z.B. mit Donata Elschenbroich und Otto Schweitzer im Einklang zu befinden -, dass Bildung keineswegs das Privileg von Schulen ist. Abenteuerspielplätze verfügen nicht selten über geeignetere Möglichkeiten und Methoden zum Bildungserwerb. Ein wesentliches Merkmal auf Abenteuerspielplätzen ist, dass Bildung im Transfer stattfindet. Damit berücksichtigen sie ganz konkret die Erkenntnis, die Professor Gerold Scholz von der Universität Frankfurt im Rahmen einer Ihrer Kinderakademien formuliert hat und die sich Donata Elschenbroich wie einen Leitfaden zueigen gemacht hat: Jedes Kind ist unbelehrbar. Kinder können nur lernen. Auf Abenteuerspielplätzen eignen sich junge Leute Erfahrungen und deren Reflexion durch aktive Auseinandersetzung und konkretes Handeln – im Sinne von Lösungen finden – an. Wie diese Prozesse stattfinden und welche Ergebnisse sie bewirken, wurde einmal mehr von Elisabeth C. Gründler und Norbert Schäfer in ihrem sehr hilfreichen Buch „Naturnahe Spiel- und Erlebnisräume“ (Luchterhand, Neuwied 2000) beschrieben. Hier möchte ich vor allem auf das 2. Kapitel „Nur im freien Spiel entfaltet sich menschliche Intelligenz“ verweisen.
Ihr Vergleich, liebe Frau Dr. König, ist geeignet Spiel als zweckfrei zu verorten, dem Spiel seine konkrete Funktion als hervorragend geeignete Bildungsmethode abzusprechen. Unserer Erkenntnis zufolge werden allerdings – gerade auf dem Abenteuerspielplatz – folgende Bildungskomplexe stimuliert:

 

  • Sensitive Bildung -> mit allen Sinnen lernen
  • Praktische Bildung -> manuelles, grob- wie feinmotorisches Lernen
  • Persönliche Bildung -> Erwerb von Kompetenz
  • Kognitive Bildung -> abstraktes Lernen -> Lösung von Problemen
  • Soziale Bildung/Kulturelle Bildung
  • Methodische Bildung -> Erwerb spezifischer Fähigkeiten
  • Emotionale Bildung -> Erwerb emotionaler Kompetenz
  • Politische Bildung -> Herstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge, Kinderrechte
  • Künstlerische Bildung -> Erwerb künstlerischer Kompetenzen

In einem solchen Kontext begreift sich professionelle Pädagogik als Rahmenkonstrukteur und Milieuschaffer. Sie nimmt eine Lobby-Rolle ein, sorgt ferner für Animation und vernachlässigt auch nicht den Aspekt der „Beziehungs-Arbeit“ (bei Interesse kann ich Ihnen hierzu gern weitere Ausführungen zukommen lassen).
Wenn Sie einmal in den 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Bonn 1998) hineinschauen, werden Sie feststellen, dass den Abenteuerspielplätzen (wie ihren Varianten Kinderbauernhöfen, Bauspielplätzen usw.) seitens der Sachverständigenkommission unter der Leitung von Professor Dr. Lothar Krappmann von der FU Berlin bestätigt wird, dort hätten sich am „ehesten originär kinderspezifische Ansätze entwickelt“ (S. 223). Die Bundesregierung greift dies in ihrer Kommentierung auf und empfiehlt eine flächendeckende Errichtung derartiger Plätze. Und genau in jedem Kontext werden auch Kindermuseen als „kinderbezogene Angebote“ genannt (S. IX, Ziffer 19).
M.E. könnte ein Kindermuseum eine hervorragende Ergänzung eines Abenteuerspielplatzes sein. Ebenso wäre denkbar, dass man eine sehr geeignete Kombinationseinrichtung kreieren könnte.
Wir fänden es sinnvoll, wenn Sie unsere kritischen Anmerkungen bewegen könnten, noch einmal deutlich zu machen, dass Sie einem der geeignetesten Konzepte für die Bildung junger Menschen nicht schaden wollten. Der Abenteuerspielplatz befindet sich – wie Kindermuseen – immer noch in einer Nischenposition. Dies muss geändert werden. Das könnten wir z.B. auch gemeinsam vorantreiben. Es führt aber zu keinem Erfolg, wenn durch schädliche Vergleiche Konkurrenzen – bewusst oder unbewusst – aufgebaut werden, die am Ende den Kindern, um die es erklärtermaßen geht, Bildungsmöglichkeiten eher vorenthalten als – wie von der Bundesregierung angeregt – flächendeckend zu verstärken.

Mit freundlichen Grüßen

Rainer Deimel

Referent für Bildung und Öffentlichkeitsarbeit
Systemischer Berater DGSF

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NAGEL-Redaktion – Kinder lernen VAKOG

Ganztagsschulen – ein Paradigmenwechsel?

Von Rainer Deimel

In der Folge von PISA stehen die bildungspolitischen Zeichen auf Veränderung. Hierin stecken Chan-ce und Gefahr zugleich. Gefahr vor allem deshalb, dass Reaktionen auf PISA schnellschussartig den Weg vom „mehr Desselben“ beschreiten. Plötzlich besinnt man sich in der Politik diverser Tugenden wie einer verstärkten Übernahme sozialer Aufgaben und Verantwortung (1). Dies ist um so erstaunli-cher, als in den letzten zwei Jahrzehnten nichts unversucht blieb, Kinder und Jugendliche einerseits systematisch zu entmündigen, was seine Entsprechung in der scheinbar allgegenwärtigen „Betreu-ungs-Situation“ findet, und andererseits der alltägliche „Über-Lebenskampf“ für junge Leute zuneh-mend dramatischer wurde; dies wird deutlich in einer bisher nicht erlebten Orientierungslosigkeit. Unübersehbar auch die Tendenzen in Richtung mehr „Paukerei“ und dies möglichst vom Kindergarten an. Diesen Weg zu beschreiten, hieße, die bislang offenkundig wenig erfolgreichen Bemühungen von Schule weiter zu manifestieren. Ein Beispiel: In jüngerer Zeit wird in Schulen vermehrt auf das „IT-Pferd“ gesetzt. Kinder sollen „von Anfang an“ elektroniktauglich gemacht werden, ohne dass sie zuvor „das echte Leben“ auch nur ansatzweise gelernt hätten. Dabei wird zudem übersehen, dass „das Wissen“, das Kinder in Sachen „Computer“ erwerben, bei der Schnelligkeit der Entwicklung moderner Medien bereits nach dem Verlassen der Grundschule wieder überaltert sein muss.
Bevor wir uns weiter mit möglichen unbefriedigenden Folgen aus PISA beschäftigen, sollten wir den Blick nach vorn werfen. Eine der Grundlagen für eine kindgerechte Bildungskonzeption stammt von niemand Geringerem als von Albert Einstein. Sein „Ansatz“ ließe sich in seinem Satz zusammenfassen: „Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich darin zurechtfinden.“ Er selbst schilderte seinen Weg zur Genialität dahingehend, dass er als Kind hinsichtlich seiner Entwicklung eher ein „Spätzünder“ gewesen sei. In der Schule war er gar ein „Sitzenbleiber“. Seiner Meinung nach aber war es gerade seine Langsamkeit, die ihm später nützlich war. Er schaffte es, in seine Arbeit zur Raum-Zeit-Beziehung (Relativitätstheorie) seine jugendliche Neugier und sein kindliches Staunen hinüber zu retten. Weiterhin war er der Auffassung, dass „früh Entwickelte“ im Erwachsenenalter be-reits derart geprägt und festgefahren sind, dass sie kaum noch Raum für Kreativität entwickeln können.
Kinder sind unbelehrbar. Sie können nur lernen. Lernen zu lernen, das ist ein Weg, den erwachsene PädagogInnen mit Kindern entdecken und entwickeln müssen. Kinder lernen VAKOG – ein Kunstbegriff aus dem NLP. Kinder lernen ganzheitlich, unter Beteiligung aller ihrer Sinne, nämlich visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch und gustatorisch. Schnell gelingt es der „überkommenen“ Schule, Schwergewichte so zu verlagern, dass Ganzheitlichkeit kaum noch eine Rolle spielt. Bei fast allen Menschen mit einer „durchschnittlichen Schulkarriere“ sind diese ungleich entwickelten Phänomene zu beobachten. 
Die Entwicklung einer Ganztags-Grundschul-Konzeption kann nicht bedeuten, den ganzen Tag „Schule“ zu haben. Im Gegenteil: Das, was jetzt Schule besonders ausmacht, müsste auf ein Minimum zurückgebracht werden. Kinder müssen sich entwickeln. Dazu hat beispielweise die Offene Ar-beit mit Kindern ganz hervorragend geeignete konzeptionelle Ansätze entwickelt. Die wohl originell-sten und konstruktivsten sind die des Abenteuerspielplatzes und des Kinderbauernhofes. Der 10. Kinder- und Jugendbericht (1998) bescheinigt diesen, dass sich dort „am ehesten originär kinderspezifische Ansätze“ entwickelt hätten. Demzufolge empfiehlt die Bundesregierung deren flächendeckende Ausweitung. Damit es keine neuen Missverständnisse gibt: Spielen ist nicht zweckfrei; Spielen ist die bewährteste Bildungsmethode, zumal dann, wenn Spielen in einem spannenden, abenteuerlichen und gleichsam entspannenden Kontext stattfindet. Die Konsequenz kann im Grunde nur die sein, aus bisherigen Grundschulen völlig neue Lern- und Begegnungseinrichtungen zu kreieren, in denen Abenteuerspielplätze integrierte Bildungsbestandteile sein werden. Für die Kinder und Jugendlichen, die das Nobel-Internat Schloss Salem besuchen, ist dies seit langem selbstverständlicher Lebens- und Lernalltag. Für den Auf- und Ausbau derartiger neuer Bildungseinrichtungen ist Geld, Platz, Material und vor allem qualifiziertes Personal erforderlich. 

Wenn wir uns vorstellen, dass es nicht darum geht, für den „Nürnberger Trichter“ wieder neue Löcher in die Köpfe der Kinder zu bohren und auch nicht darum, Spielen weiterhin als „zweckfrei“ zu verorten, kommen wir zu der Erkenntnis, dass sowohl auf Seiten der Schule als auch in der Jugendhilfe ein erheblicher Qualifizierungsbedarf besteht, dem es parallel mit dem Ausbau zur Ganztagsschule zu entsprechen gilt. In denjenigen Ländern, in denen die PISA-Studie nicht den fernöstlichen Drill als „Erfolgsgeheimnis“ aufgedeckt hat, sondern Zuwendung, Angebote (Optionen, Optionen, Optionen …)  und menschengerechte Förderung, können wir ebenfalls Ansätze finden, die den hier vorgeschlagen zumindest vergleichbar sind. Es spräche auch nichts dagegen, VAKOG (2) zum zentralen Bildungsansatz im Vorschulbereich zu entwickeln.

Datteln 2002

Anmerkungen:

1 Randbemerkung: Diese Ziele habe ich bislang während meiner beruflichen Tätigkeit zu keinem Zeitpunkt außer Acht gelassen.
2 Um an dieser Stelle nicht allzu tief in der Fachmaterie zu „versinken“, wird darauf verzichtet, das kinästhetische System um die Aspekte des vestibulären, propriozeptiven und taktilen Systems zu erweitern. Interessierte Einrichtungen können mich im Bedarfsfall gern ansprechen, etwa um ein passgerechtes Seminar zu organisieren.

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NAGEL-Redaktion – Kinderernährung

Stichprobe der Verbraucherzentrale belegt: Lebensmittel für Kinder oft zu süß, zu fett und teuer

Die Palette der Lebensmittel mit Spaßfaktor wird immer umfangreicher. Bärchenwurst, Fruchtzwerge und Knisterperlen im Joghurt sollen vor allem Kinder zum Konsum von Fun-Food animieren. Doch Ernährungsexperten und Verbraucherschützern vergeht bei der angeblich gesunden Kost häufig der Appetit. 

„Mama, ich will das Krokodil!“: Lautstark quengelt der kleine Georg im Supermarkt. Der Knirps besteht auf Fricos „Safari Käse“ mit dem knallgelben „Crrroco“-Kopf auf jeder Scheibe, auch wenn 100 Gramm Schmelzkäse 1,59 Euro kosten. Natürlich weiß Georg auch, wo er Geflügelmortadella in Bärchenform, wo er seine Fruchtzwerge findet.

Mit Comics und Stickern, mit Sammelfiguren und auffälliger Verpackung locken Lebensmittelhersteller junge Kunden. Klassiker der Kinderkost sind Milchprodukte, fruchtsafthaltige Getränke und Frühstücksflocken. Inzwischen gehören auch Tütensuppen, Fischkonserven und Nudeln zum Sortiment. 

Selbst die Fleischindustrie müht sich mittlerweile, ihren rückläufigen Wurstkonsum wieder anzukurbeln, beispielsweise mit einer „Bärchenwurst“ von Reinert, mit Schattenrissen der Comicfiguren von Tom und Jerry auf einer Brühwurstpastete der Fleischwarenfabrik Feldhues.

Selten fehlt der Hinweis für Eltern, dass Kinderlebensmittel gesund seien, dass sie den Nachwuchs mit der „Extraportion Calcium“ oder dem „Plus für eine ausgewogene Ernährung“ besonders Gutes angedeihen ließen. Der süße Mix der Danone-„Fruchtzwerge“ wird zum kleinen Steak, Brauseexperten werten einen Ehrmann-Fruchtgummi-Joghurt zum „Knister-Spaß“ auf. 

Ernüchternd ist dagegen das Ergebnis einer Stichprobe der Verbraucherzentrale. Zwölf Kinderlebensmittel sammelte deren Redaktion dazu in einem Supermarkt ein. Im Einkaufswagen landeten sowohl Joghurts von Rhöngold und Ehrmann, zwei Kindergetränke „Fruchttiger“ und „Qoo“, Bärchenwurst, Pastete und Käse als auch Schokolade „Kinder Prof. Rino“, Frühstücksflocken „Dailycer“ von Harrison´s, Kuchenmeisters „Kinder Hörnchen“ sowie die Klassiker Danone-„Fruchtzwerge“ und Ferreros „Kinder Country Riegel“. 

Keins dieser Produkte mag Ursula Tenberge-Weber für Kinder empfehlen. Die Kritikpunkte der Ernährungsexpertin der Verbraucherzentrale NRW: „Oft extra teuer und aufwendig verpackt, zu süß, zu fett.“ Auch mit Farb- und Aromastoffen geizten die Kinderlebensmittel selten. Dabei „brauchen Kinder keine Extrawurst“, versichert Tenberge-Weber, „weder eine fette noch eine süße.“ 

Gerade vor Zucker aber strotzen viele Produkte. In 100 Gramm „Rhöngold Happy Jogurt“ der Molkerei Fricke, mit einrührbaren „M&M´s Minis“ aus Schokolade fand schon die Zeitschrift Öko-Test mehr als 18 Gramm Zucker. Das sei vergleichbar mit einem Teetrinker, der sich eine kleine Tasse des Heißgetränks mit sieben Stück Würfelzucker versüße, weiß Tenberge-Weber. 

Zucker satt steckt auch in anderen Kinderlebensmitteln: im Ehrmann-Joghurt „Knister Spaß“, in Danone-„Fruchtzwergen“ wie im Mixgetränkt der Marke „Qoo“. Sogar Zuckeranteile bis zu 50 Prozent entdeckten Ernährungsexperten der Verbraucherzentrale abseits der aktuellen Stichprobe. In einer 30-Gramm-Portion sind somit 15 Gramm Zucker (rund sechs Stück Würfelzucker) enthalten. 

Dabei ist die Detektivarbeit nicht einfach. Oftmals fehlt der exakte Zuckergehalt auf dem Etikett. Dann können sich Konsumenten nur mit einer Eselsbrücke helfen. Ein Blick auf die Zutatenliste gibt einen Hinweis: Diese beginnt stets mit dem Hauptbestandteil des Produkts. Wenn in Schokocreme „36 Prozent gesunde Haselnüsse“ beworben werden, die Zutatenliste aber mit „Zucker“ beginnt, liegt dessen Anteil auf jeden Fall bei mehr als 36 Prozent. 

Zucker und Fett: Beide Kalorienbringer stecken en masse in Kinderlebensmitteln. Wenn etwa Crrroco“-Käsescheiben 48 Prozent Fett enthalten, dann ist das für Ernährungsexperten keine ausgesprochen kindgerechte Kost. Da wundert es nicht, dass statistisch mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als übergewichtig oder fettsüchtig gilt. Die gleiche Zahl, so schätzen Experten, müsse als gefährdet angesehen werden. 

Mittlerweile schlagen sich übergewichtige Kids bereits mit einer Reihe von Leiden herum: beispielsweise Störungen des Fettstoffwechsels und Bluthochdruck, Beeinträchtigungen des Stütz- und Halteapparates sowie „Altersdiabetes“. Prävention ist daher dringend geboten. Verbraucherschützer fordern ein Werbeverbot in den TV-Kinderprogrammen und die deutliche Kennzeichnung des Nährwerts aller Lebensmittel. 

Ärgerlich zudem: Die Produkte „sind in aller Regel teurer als ihre normalen Varianten“, rügt die Verbraucherschützerin Tenberge-Weber. So kosteten beim Verbraucher-Aktuell-Einkauf 80 Gramm Bärchenwurst 99 Cent. Nebendran lagen 200 Gramm Geflügelmortadella für 55 Cent: und das „mit Pistazienstücken“. 

Heftig attackieren Ernährungsexperten auch die Mär von der gesunden Extraportion Calcium, die in den vielen Kinderlebensmitteln steckt. Wer seinen Calciumbedarf mit Frischmilch deckt, lebe in der Regel gesünder als mit spezieller Kost. So enthalten sowohl ein Viertelliter Milch wie 100 Gramm Kinderschokolade jeweils 300 Milligramm Calcium, im ersten Fall aber mit 8,8, im zweiten mit 31,2 Gramm Fett angereichert. 

Charakteristisch für Kinderfänger ist außerdem die aufwendige Verpackung, oft verbrämt als „kindgerechte Einzelportionen“. In Minipacks stecken beispielsweise Frühstücksflocken von Harrison, Danone-„Fruchtzwerge“ wie „Prof. Rino“ und „Kinder Hörnchen“. Schon Kids würden damit hemmungslos zugemüllt und zum Weg-Werf-Verhalten verführt, kritisieren Verbraucherschützer. 

„Kinderlebensmittel nutzen vor allem den Vertreibern“, sagt Tenberge-Weber. Ein Beweis: Ungeniert versucht Coca Cola in der Zeitschrift Lebensmittelpraxis den Handel für „Qoo“ zu begeistern – für „das erste sympathische Kindergetränk, das Ihre Kasse klingeln lässt“. 

Abwechslung

„Eine abwechslungsreiche Kost versorgt Kinder mit allen Nährstoffen, die sie für ein gesundes, aktives Leben und Wachstum benötigen“, weiß Ursula Tenberge-Weber von der Verbraucherzentrale NRW. Abwechslungsreich heißt: Täglich fünf Portionen Obst und Gemüse, Milch und Milchprodukte sowie Brot, Bachwaren, Getreideflocken auf Vollkornbasis. Eine untergeordnete Rolle spielen dabei eher Fleisch, Fisch und Eier. (Pressemitteilung der Verbraucherzentralen Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg und NRW vom 24. Juni 2003)

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