ABA-BLOG

NAGEL-Redaktion – Recht auf Bildung statt Schulpflicht

 

Wagen wir einmal das Gedankenexperiment, dass es keine Schulpflicht mehr gibt, sondern ein Recht auf Bildung. Erste, spontane Antwort: Keiner geht mehr zur Schule, weil sie ja nicht verpflichtend ist. Mag sein, dass keiner mehr in diese Schule geht; das spricht aber nicht gegen die Schüler/innen, sondern in erster Linie gegen die Schule. Weil so, wie sich Schule derzeit gibt, ist sie eine Qualifizierungsmaschine und keine Bildungswerkstatt.

Und da kommt dann die zweite Antwort, die nach längerem Nachdenken logisch erscheint: Wenn Bildung ein Recht ist, wird sich unser Bildungssystem verändern, weil alle Beteiligten mit einer anderen Perspektive bzw. einer anderen Einstellung an die Sache herangehen. Und da ist nicht einmal sicher, dass es Schule noch geben wird. Ivan Illich, Naturwissenchafter, Philosoph und Theologe, hat diesen Gedanken in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch „Entschulung der Gesellschaft“ (es ist nach seinem Tod im Jahr 2003 in der 5. Auflage erschienen und auch online einblickbar) (1) aufgegriffen und ist zu interessanten Schlussfolgerungen gekommen: Für ihn ist die weltweite Verfügbarkeit des ganzen Wissens, das derzeit existiert, für alle Menschen wichtig; also Inklusion statt Exklusion. Das Internet machte dieses sicher möglich. Und dann ging es noch darum, Lernzirkel zu gründen, in denen dieses Wissen im Austausch miteinander erarbeitet bzw. weiterentwickelt wird.

Nun: Ob jeder auf genau diese Gedanken kommen würde, sei dahingestellt. Aber: Ein Recht auf Bildung würde unsere Lernkultur nachhaltig verändern, und lebenslanges Lernen wäre dann keine Drohung mehr, sondern ein Gebot der Stunde. Zumal der Mensch ja als neugieriges, lernfreudiges Wesen geboren wird (siehe die ersten Lebenswochen, -monate und -jahre, in denen eine Fülle an Synapsen durch eine Menge an Lernprozessen entstehen). Und – wie Wissenschafter sagen – unser Gehirn nützen wir ja nur zu einem Bruchteil. Daher: weg mit der Schulpflicht und der Schule in der heutigen Form, hin zu einem Recht auf Bildung für alle! (20. Februar 2012)

Schulpflicht, die Zweite 

Mein vorwöchiger Beitrag mit dem Titel „Recht auf Bildung statt Schulpflicht“ hat hinter den Kulissen teils heftige Reaktionen hervorgerufen. Das freut mich, denn dann liege ich bei diesem Thema offenbar ganz richtig. In den Diskussionen wurde sogar bis auf Maria Theresia zurückgegriffen, deren große Leistung es war, die Schulpflicht in Österreich einzuführen – und zwar nicht als Folterinstrument für die Kinder und Jugendlichen ihres Landes, sondern als Schritt in die Emanzipation und gegen die Kinderarbeit.

Da ich es in meinem Blog nicht angeführt habe, möchte ich nun diese Sichtweise gerne bestätigen. Denn das ist ja nicht das Problem mit der Schule in der Gegenwart. Sehr bald schon nämlich zeigte sich, was man alles mit der Schule und vor allem mit den SchülerInnen im Rahmen von Schule machen kann. Und da sind wir durchaus noch in den theresianischen Zeiten, in denen Drill und Vorbereitung auf die zukünftige Rolle in der Gesellschaft (2) sowie das Funktionieren im heutigen Wirtschafssystem zentrale Inhalte sind. Nur: Es klappt nicht mehr so richtig, es gibt immer mehr „schwierige“ SchülerInnen. Aus meiner Sicht sind das Kinder und Jugendliche in und mit Schwierigkeiten und solche, die uns knallhart vor Augen führen, was „unser“ Problem ist.

So kann weder Bildung vermittelt werden noch Ausbildung stattfinden. Und da geht es leider nicht nur um Strukturreformen im Schulsystem, sondern um einen grundlegenden Bewusstseinswandel aller Beteiligten, vor allem der PolitikerInnen und LehrerInnen.

Darum wage ich meine Forderung zu erneuern: Wenn wir ein Recht auf Bildung postulieren, dann brauchen wir die Schulpflicht nicht mehr. Denn dann sind ohnehin alle in der Pflicht, einerseits wirkliche Bildung zu bieten und dieses Angebot auch anzunehmen. Denn jedes Recht ergibt auch Pflichten. Nur werden sie dann als Selbstverständlichkeit gesehen. Und das ist gut so!

Michael Karjalainen-Dräger (c) 2011 – Mit freundlicher Genehmigung (Quelle: karjalainen-draeger.jimdo.com)

Übernommen in i-Punkt 4/2012 (Informationsdienst des ABA Fachverbandes)

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Fußnoten:

(2) siehe meinen Männer-Blog vom 2. März 2012 „Rollenbilder der Gegenwart“

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NAGEL-Redaktion – Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetz (KiWaBez) – Eine Satire

Von Detlef Träbert

 

Als Ergänzung zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), in Abstimmung mit Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Maßnahmen zur Förderung des Wachstums von Kindern und ihrer Bildung beschlossen. Der Entwurf eines Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetzes (KiWaBez) soll dem Kabinett gleich nach der Sommerpause vorgelegt werden.

 

In Anerkennung der Tatsache, dass die Kinder aufgrund ihres immer jüngeren Einschulungsalters am ersten Schultag immer kleiner sind, empfiehlt das Bundesbildungsministerium, dass sie im Vorschulalter schneller wachsen müssten. Dies entlaste nicht zuletzt die Gemeinden als Schulträger, die ansonsten zusätzliche kleinere Schulmöbel anschaffen müssten. Zu diesem Zweck sollen vorschulische Betreuung und Bildung von Kindern effizienter betrieben werden.

Es werde künftig zum Aufgabenbereich der Kindertagesstätten gehören, Wachstumsförderung zu betreiben durch ein verbessertes Essensangebot mit Kraftfutterbeimischung, tägliche Spezialgymnastik mit Streckübungen sowie Elternschulung. „Eltern müssen sich wieder ihrer Rolle besinnen und den Auftrag ernst nehmen, die Kinder großzuziehen“, erläuterte Bildungsministerin Schavan. Kindern täglich die Hammelbeine lang zu ziehen sei eine gute Vorbereitung auf den Schulstart, wenn es auf liebevolle Weise erfolge. Ziel sei, dass alle I-Dötzchen wenigstens 1,29 m und alle Schulkinder beim Übergang auf die weiterführende Schule mindestens 1,56 m groß sein sollten.

 

Zur Förderung des Bildungswachstums seien zusätzlich intelligenzfördernde Maßnahmen beabsichtigt, um einen Mindest-IQ von 120 bei der Einschulung für jedes Kind zu gewährleisten. Dafür sollen ehrenamtliche Senior-Intelligenztrainer aus den Reihen pensionierter Akademiker gewonnen werden. Darüber hinaus werde ein Qualitätssiegel entwickelt, um besonders intelligenzförderndes Spielzeug damit auszuzeichnen. „Das Siegel ‚Genius Plus’ wird Eltern die heutzutage schwierige Kaufentscheidung bei Spielsachen erleichtern“, ist Schavans Kabinettskollegin Schröder vom Familienministerium überzeugt. Um das Bildungswachstum auch während der Grundschulzeit zu beschleunigen, werde es laut Schavan künftig ab dem 2. Schuljahr bundesweit einheitliche halbjährliche VerA (Vergleichsarbeiten) geben.

 

In einem ersten Kommentar begrüßte der Bundesverband der Nachhilfewirtschaft die geplanten Maßnahmen. Man werde sie mit einem bedarfsorientierten Angebot an VerA-Vorbereitungskursen flankierend begleiten und dafür nötigenfalls das Filialnetz ausweiten. Auch die Pharmaindustrie äußerte sich zuversichtlich und sieht Wachstumspotenzial bei den Umsätzen für Wachstumshormone. Während der Bundesverband der Kinderärzte vorsichtige Kritik an den geplanten Maßnahmen äußerte, freut sich die Vereinigung der Kurkliniken auf ein Wachstum ihrer Belegungsquoten. Ihr Sprecher sagte: „Neben dem jetzt schon sicheren Geschäft mit Burnout bei Lehrkräften und Erzieherinnen rechnen wir mit einer wachsenden Zahl von Nervenzusammenbrüchen bei Eltern.“ Unterdessen sehen sich Bildungs- und Familienministerium mit ihrer ganzheitlichen Interpretation des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes auf einem guten, zukunftsweisenden Weg.

 

Detlef Träbert, Dipl.-Päd. aus Niederkassel betreibt den Schulberatungsservice. Beste Empfehlung!

 

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NAGEL-Redaktion – Arbeitszwang: Sklavenmarktgeschrei aus dem Hause von der Leyen

 

Von Lotar Martin Kamm

 

Jeder von uns kennt aus der Beobachtung, was geschieht, wenn bei der Drehbewegung des Schraubstocks unaufhörlich die Backen das festzuklemmende Werkstück sehr kräftig zusammenpressen. Diesem Druck sind tatsächlich all jene ausgesetzt, die, mittels Erpressbarkeit in Arbeitslosigkeit gekommen, sich gefälligst der Bundesanstalt für Arbeit und den Jobcentern bzw. Argen zur Verfügung zu stellen haben.

Nach kurzer Phase der Arbeitslosengeldzahlung mit halbwegs gesichertem Schutz der Menschenwürde folgt die Entrechtung auf dem Hartz-IV-Tablett, wo die „gestrauchelten, unfähigen Versager“, schließlich waren sie nicht in der Lage, einen Job zu ergattern, Zwangsmaßnahmen, Bewerbertrainings, Ein-Euro-Jobs und Bürgerarbeit widerstandslos ausüben müssen.

Schlecker-Angestellte, die ohnehin bereits dem Martyrium einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik seitens des inzwischen pleite gegangenen Familienkonzerns sich unterziehen mussten (denken wir nur an interne Videoüberwachung, Dumpinglöhne, die etlichen Raubüberfälle und das Hin- und Her eines möglichen Jobverlusts) befinden sich nunmehr im Visier. Aus dem Hause von der Leyen wird Arbeitszwang per Sklavenmarktgeschrei mit einer neuen Idee salonfähig gemacht. Da auf der einen Seite in strukturschwachen Regionen Erzieher- und Altenpflegerinnen fehlen, benutzt man doch einfach ähnlich wie auf einem Verschiebebahnhof die just arbeitslos gewordenen Schlecker-Frauen, um diese Lücken zu füllen.

Freie Berufswahlentscheidung steht nicht zur Diskussion

Wunderbar einfach schnappt die Falle zu. Die unheimliche Saat der Agenda 2010 scheint in Gänze aufzugehen Gut neun Jahre nach ihrer Verkündung durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder in der bezeichnenden Regierungserklärung verhandeln heute öffentlich fast schon „prangerähnlich“ Regierung und die Gewerkschaften über das Schicksal der Schlecker-Frauen. Die Gewerkschaften haben sich ohnehin längst einer Wirtschaftspolitik untergeordnet, in der nicht die Interessen der Menschen, also der Arbeitnehmer zählen, sondern die Belange der Arbeitgeber bzw. die Finanzinteressen des Großkapitals und der Konzerne.

Müssen wir davon ausgehen, dass sämtliche sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte endgültig zu Grabe getragen werden? Und nicht nur das? Selbst ganz selbstverständliche Grundrechte wie die Menschenwürde (Art. 1 GG) und die freie Berufswahl (Art. 12 GG) werden einfach ausgehebelt, da über die vorgeschobene Gefälligkeit einer Auszahlung des Existenzminimums bei „Verweigerung“ eine Sanktionierung folgt, die sogar den Hungertod der Betroffenen in Kauf nimmt, wie längst schon vorgekommen. Sicherlich werden sich die Schlecker-Frauen breitschlagen lassen und den Vorschlägen willenlos zustimmen, weil die wenigsten den Kampf mit den Zwangsbehörden aufnehmen und durchstehen können und wollen. Das wird von einer ohnehin hämisch gaffenden Bevölkerungsschicht vorausgesetzt, die das Instrument der Hartz-IV-Gesetzgebung eher gutheißen, als die Missachtung der Menschenwürde zu erkennen.

Erzieher und Altenpfleger – keine Berufung per Crashkurs

Möchten Sie Ihre Kinder in die Obhut geben lassen von unfreiwillig und hektisch geschulten Erzieherinnen? Oder die Fortsetzung einer ohnehin dramatisch menschenverachtenden Altenpflege mitverantworten, wenn ehemalige Verkäuferinnen nach einem Crashkurs plötzlich eine Berufung erlangen? Beide Berufe bedingen vor allem eines: Sie können nur dann wirklich erfolgreich ausgeübt werden, wenn dies mit viel Herz und Liebe, starkem Nervenkostüm, der Voraussetzung zur physischen Belastung und mit entsprechender Freude und Elan geschieht. Im übrigen gilt das sowieso für sämtliche Berufe, nicht zufällig gibt es den Artikel 12. Das scheint aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, eines Pflegenotstandes und einem Mangel an Erzieherinnen irrelevant zu sein, Hauptsache, sensenartiger Pragmatismus führt zum Erfolg. Es fragt sich nur: für wen? Die Schlecker-Frauen ordnen sich unter, Kinder und Alte werden gleich gar nicht gefragt, und schon geht die Rechnung auf?

Nach Schleckerpleite ein Tor sperrangelweit aufgerissen

Denken wir doch mal weiter und spielen die Möglichkeiten durch, die da noch vor sich hinschlummern. Jetzt war die Schleckerpleite, und Tausende Arbeitslose haben sich zu fügen, wer keinen Job kriegt, wird einfach mal Erzieher oder Altenpfleger. Wenn morgen aber zwei oder drei heftige Weltkonflikte einen Nachschub an Soldaten brauchen, weil die BRD ohnehin zunehmend den Kurs einer Verteidigungsarmee verlassen hat, werden dann in der Logik einer Mangelsituation aus dem Hause von der Leyen mal eben per Crashkurs zumindest Sanitäter und Bereiche in der Logistik ausgebildet, um auszuhelfen? Das einmal sperrangelweit geöffnete Tor dieser sozialrassistischen Politik lässt sich unschwer schließen in einer Erwartungshaltung von Gehorsam, Arbeitszwang und Sanktionierung. Da bedarf es unbedingt einer grundlegenden Änderung der Wirtschaft selbst, die per Lohndumping, neoliberaler Konzernpolitik und Überreichtum die Schere zwischen Armut und Reichtum zu verantworten hat. Solange die gewählten Politiker sich ihr unterordnen und das Volk missachten, sollten wir mit einer Fortsetzung und Steigerung der dramatischen Arbeitszwangpolitik rechnen.

Lotar Martin Kamm ist Lektor, Übersetzer und Journalist bei der Buergerstimme sowie 1. Vorsitzender Vereins Buergerstimme.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Lotar Martin Kamm hat seinen Beitrag zunächst in der Internet-Zeitschrift „BUERGERSTIMME – Zeit für Veränderungen“ veröffentlicht. Er uns ihn uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür wir ihm herzlich danken. Das engagierte Team der „Buergerstimme“ ist hier zu finden.

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NAGEL-Redaktion – Schnipp-Schnapp – Beschneidung der Religionsfreiheit?

Von Heinrich Schmitz  

 

Der SPIEGEL tut’s, die Zeit, die FAS, die FAZ – alle tun es. Alle kommentieren das Urteil des Kölner Landgerichts und dessen angebliche Folgen für die Gesellschaft. Im aktuellen SPIEGEL treten Matthias Matussek und Maximilian Stehr an, ihre jeweiligen Positionen zu vertreten, in der Zeit war es Robert Spaemann, der einen beispiellosen „Angriff auf die Identität religiöser Familien“ sah. Überall mehr oder weniger eifernde oder aufgeregte Kommentare.

Das jedenfalls Gute, das die Urteilsbegründung des LG Köln ausgelöst hat, ist die nun laufende gesellschaftliche Diskussion. Was weniger gut ist, dass kaum ein Kommentar sich mit der wirklichen Problematik befasst bzw. immer nur Teilaspekte der Gesamtproblematik angesprochen werden und großenteils mit flauen Argumenten für oder gegen ein Beschneidungsrecht der jüdischen und muslimischen Eltern gekämpft wird.

Die Fürsprecher aller Religionen fürchten offenbar eine Beschneidung der Religionsfreiheit im allgemeinen, wenn die Justiz die Beschneidung der Vorhaut von Säuglingen und Kleinkindern auf Wunsch ihrer Eltern als rechtswidrige Körperverletzung behandeln würde. Die Fürsprecher der körperlichen Unversehrtheit von unmündigen Kindern fürchten offenbar massive Gesundheits- und Entwicklungsschäden, wenn die Beschneidung weiterhin nicht bestraft würde.

Dazwischen fürchten die Juden einen erstarkenden Antisemitismus, die Muslime eine deutsche Islamophobie und die Atheisten einen staatlich unterstützen religiösen Angriff auf die Vernunft. Dabei ist ernstlich nichts von alledem zu befürchten, wenn nicht Regierung und Bundestag aus Furcht davor, eine Komikernation zu führen, überreagieren. (Wobei ich Komiker eigentlich immer dafür geschätzt habe, dass sie unliebsame Wahrheiten auf unterhaltsame Weise an ihr Publikum bringen.)

Zu dem Urteil und seiner Begründung hatte ich mich bereits in meiner ersten Notiz geäußert, zu der unsinnigen Resolution des Bundestages in meiner zweiten.

Mit dieser dritten und hoffentlich letzten Notiz zu diesem Thema möchte ich nochmals versuchen, zur Versachlichung und Entschärfung beizutragen.

1) Eine Berufungskammer eines Landgerichts ist weder der originäre Sitz der juristischen Weisheit noch spricht sie absolute Wahrheiten aus. Das hat das Gericht aber auch selbst so gesehen und bereits im Urteil festgestellt. „Die Frage der Rechtmäßigkeit von Knabenbeschneidungen aufgrund Einwilligung der Eltern wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Es liegen, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, Gerichtsentscheidungen vor, die, wenn auch ohne nähere Erörterung der wesentlichen Fragen, inzident von der Zulässigkeit fachgerechter, von einem Arzt ausgeführter Beschneidungen ausgehen, ferner Literaturstimmen, die sicher nicht unvertretbar die Frage anders als die Kammer beantworten.“ Das Gericht hat also die notwendige Demut an den Tag gelegt und – anders als mancher Kommentator – gar nicht behauptet, die Frage der Rechtswidrigkeit der durch die Beschneidung begangenen Körperverletzung sei durch sein Urteil abschließend und rechtskräftig beantwortet. Ein Landgericht ist nicht unfehlbar und hält sich meistens auch nicht dafür.

2) Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen! Das wird leider immer wieder übersehen. Es hätte die Sache theoretisch auch dem Bundesverfassungsgericht vorlegen können, was den Vorteil gehabt hätte, dass dieses die angesprochene Grundrechtsproblematik in der ihm eigenen entspannten Sachlichkeit entschieden hätte, was allerdings den Nachteil gehabt hätte, dass die jetzt laufende, wichtige Diskussion vermutlich nicht stattgefunden hätte.

3) Das Landgericht hat einen ohne jeden Zweifel bestehenden Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechten des Kindes und seiner Eltern in einer bestimmten Weise, nämlich zugunsten der körperlichen Unversehrtheit des Kindes bewertet.

4) Wie Spaemann in der Zeit richtig festgestellt hat, sind Grundrechte nie absolut. Sie finden ihre innere Begrenzung an anderen Grundrechten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Grundrechte nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander stehen, dass also nicht ein Grundrecht grundsätzlich höherwertiger als das andere ist. Wenn Spaemann also meint: „Angesichts der fundamentalen Bedeutung der Beschneidung für religiöse Gemeinschaften fallen die damit verbundenen Körperverletzungen gar nicht ins Gewicht, sodass, falls man die Sache überhaupt zu einem Grundrechtskonflikt hinaufsteigern will, die Abwägung nur zugunsten der Freiheit der Eltern ausfallen kann, es sei denn, der Richter hielte die Eltern aufgrund ihres Festhaltens an diesem Ritus für unzurechnungsfähig.“ – so ist das ein netter Versuch, das Grundrecht der Religionsfreiheit der Eltern und deren Erziehungsrecht über das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zu stellen, der mit dieser Argumentation jedenfalls nicht verfangen wird. Möglicherweise allerdings mit einer anderen.

5) Der von den vehementen Verteidigern der Beschneidung immer wieder ins Feld geführte Vergleich mit Impfungen ist ebenfalls ein äußerst schiefer Vergleich. Natürlich sind Impfungen ebenso standardmäßige Körperverletzungen wie Beschneidungen, aber sie unterscheiden sich in zweifacher Hinsicht deutlich.

Impfungen werden – soweit mir bekannt – von keiner Religionsgemeinschaft als Voraussetzung für die vollständige Religionszugehörigkeit gefordert, d.h. wenn Eltern sich für oder gegen eine Impfung ihrer Kinder entscheiden, dann tun sie das ausschließlich im Sinne von deren Gesundheit. Und zwar sowohl für als auch gegen die Impfung. Bei den fundamental bedeutsamen Beschneidungen entscheidet aber eher die Religionszugehörigkeit der Eltern über das Dafür oder Dagegen und weniger eine individuelle Elternentscheidung. Der zweite Unterschied besteht darin, dass es zwar auch bei einer Impfung zu einem Gesundheitsschaden kommen kann, die Körpersubstanz aber nicht verändert wird. Man sieht einem Kind später nicht an, ob es geimpft wurde oder nicht.

6) Selbst wenn die Beschneidung immer medizinisch ungefährlich und harmlos wäre, was von Ärzten bestritten wird, bleibt sie ein Eingriff in den Körper und damit eine Körperverletzung.

7) Die Überschneidungsfreier ihrerseits seien daran erinnert, dass auch das Grundrecht aus Art. 2. Abs. 2 GG kein Kreuzbube des Grundrechtsskats ist, sondern dass auch in die körperliche Unversehrtheit aufgrund eines verfassungsgemäßen Gesetzes eingegriffen werden kann, wie z.B. bei einer Blutentnahme nach einer Trunkenheitsfahrt.

8) Es ist nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes, das mit der Religionsfreiheit der Eltern konkurriert, es ist auch die eigene Religionsfreiheit des Kindes und das Erziehungsrecht der Eltern, die grundsätzlich auch über die religiöse Erziehung ihrer Kinder entscheiden dürfen. Da nach der Logik der Religionen und auch der Atheisten jeder sich im Besitz der einen, reinen Wahrheit befindet, beinhaltet dieses Recht auf religiöse Erziehung durch die Eltern zwangsläufig auch das Recht der Eltern, ihre Kinder in einer falschen Weise religiös zu erziehen. Es ist weder möglich noch Sache des Staates zu entscheiden, welche religiöse Erziehung einschließlich der damit vermittelten Glaubensinhalte richtig oder falsch ist. Das Wächteramt des Staates aus Art. 6 GG beschränkt sich auf kindeswohlgefährdende Ausübung des Elternrechts.

9) Auch verfassungsrechtliche Problemstellungen unterliegen einem langsamen, aber stetigen Wandel. Was vor 50 Jahren als sicher galt, ist es heute nicht mehr. Über die Verfassung wacht in bisher überwiegend bewährter Weise das Bundesverfassungsgericht. Seine originäre Aufgabe ist es, Grundrechtskonflikte durch Auslegung der Verfassung wohlerwogen und wohlbegründet, nach Anhörung aller möglichen beteiligten staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen, medizinischen, pädagogischen und theologischen Sachverständigen zu entscheiden. Es gibt keinen Grund, aus Gruppeninteressen heraus an diesem Procedere irgendetwas zu ändern und hier auf Zuruf der Kanzlerin eine politisch erwünschte Lösung durchzuprügeln, die vermutlich ohnehin in Karlsruhe auf den Prüfstand käme.

10) Respekt vor dem Nächsten aus innerer Überzeugung, der Verzicht auf „dümmliche Verhöhnung Gottes“ (Matthias Matussek im SPIEGEL), aber auch der Respekt der Gläubigen vor den Andersgläubigen, den Nichtgläubigen oder den Agnostikern, Toleranz im gegenseitigen Umgang wäre ein wünschenswertes Ergebnis dieser aktuellen Diskussion. Wenn dieser Respekt allerdings nicht aus innerer Überzeugung kommt – was, wie die Vergangenheit leider zeigt, gerade bei Diskussionen um religiöse Inhalte selten erreicht wird –, dann muss ein offener, freiheitlicher Rechtsstaat das gemeinsame Zusammenleben aller eben mit Hilfe seiner Gesetze regeln, damit alle zu ihrem Recht kommen. Ohne Recht gibt es keinen Frieden.

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt. Die Kanzlei Rechtsanwälte Heinrich Schmitz & Peter Heimbach befindet sich in Euskirchen.

Heinrich Schmitz auf seiner Facebook-Präsenz am 23. Juli 2012 

Veröffentlicht anschließend in: i-Punkt 9/2012

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Dank an Heinrich Schmitz für die freundliche Zustimmung, seinen Beitrag zu verwenden.

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NAGEL-Redaktion – Kindheit damals: Ein klein wenig wehmütig

Von Ria Garcia (Mettmann)

Kindheit – geboren 1961 – sah anders aus:

Ich besuchte nie einen Kindergarten. Wir wohnten direkt am Wald und ein „klein wenig abgelegen“. Ich habe nie einen Kindergarten vermisst oder hätte sagen können, dass es mir leid tat keinen besucht zu haben. Mit etwa 10-12 Kindern unterschiedlichen Alters in der Nachbarschaft gab es eigentlich keine Langeweile, und die Kleinen lernten von den Größeren. Wir haben uns noch als Gemeinschaft verstanden, unabhängig von den Altersunterschieden.

Mit stolzen 4 Jahren erkundete ich mit meiner Nachbarsfreundin den Ja- und den Sandberg, während unsere Eltern schon sorgenvoll nach uns suchten. Das hat nichts daran geändert, dass es Wiederholungstouren gab. Mit 5 trug ich Lederhosen und kletterte leidenschaftlich gern auf die Weidenbäume bei den Nachbarn oder sammelte auf sumpfigen Wiesen nahe der Itter riesige Sträuße mit Wiesenschaumkraut oder wilden Margariten, aus denen wir Kränze geflochten haben.

Der kürzeste Weg zum nächsten Schwimmbad ging quer durch den Wald. Wir gingen immer im Verbund hin. Große und Kleine. In der nahe gelegenen Waldkaserne waren noch Engländer stationiert, die uns quer über das Kasernengelände laufen ließen, weil der Weg sicherer und kürzer war und vielleicht einfach auch, weil Kinderlachen eine so herzliche Abwechslung war. Mit 6 hatte ich mein erstes richtiges Taschenmesser, um zu schnitzen, und mein erstes Fahrrad, mit dem ich auch häufig den etwa zwei Kilometer langen Schulweg über eine kleine Landstraße vorbei an Bauernhöfen bewältigte.

Mit 7 befestigte ich die alten Rollschuhe meiner großen Schwester mit Einmachgummis an meinen Schuhen, weil die Riemen gerissen waren, und raste mutig geteerte Garagenabfahrten an einem Hügel herunter. Ich watete barfuß im Naturschutzgebiet durchs Wasser, dass etwa 20 cm hoch zwischen den Bäumen, die dort auf kleinen Inseln wuchsen, stand und erfreute mich an meinem „Märchenwald“, in dem ich oft für mich allein sein konnte. Es war offiziell nicht erlaubt, aber der „Wächter der Vogelskau“ drückte für mich immer beide Augen zu.

Ich durfte sein, wie ich war: Manchmal ein wenig wild und ungebändigt, freiheitsliebend mit Forscherdrang, mal mehr der kleine Junge, mal ganz das kleine Mädchen. Ich durfte alles sein, was ich wollte. Ich durfte Fußball spielen oder Puppenkleider nähen. Ich durfte mir selbst etwas kochen, wenn meine Kreationen meist auch nur für mich essbar waren.

Mit 10 durfte ich mich ein wenig auf der Geburtstagsparty meiner fünf Jahre älteren Schwester tummeln und mich „groß“ fühlen. Mit den älteren Brüdern meiner Freundin entdeckten wir eines Tages eine alte Holzhütte in einem unzugänglichen Waldstück. Wir nahmen uns Vorräte mit und entzündeten den alten Ofen, um uns Brot zu rösten. Mit 12 besuchte ich die Sonntagsdisco im Jugendheim der nahegelegenen Stadt (ohne Mamataxi). Ich war so „angstfrei“, dass ich oft im Dunkeln sogar die Abkürzung über einen Waldweg nach Hause nahm.

Es ist nur ein Erinnerungsausschnitt und es gäbe viel mehr abenteuerliche, kleine Geschichten. Ich war bzw. wir waren weitaus weniger angepasst, als es unsere Kinder heute sind und wir hatten etwas wertvolles: ZEIT. Verglichen mit dem Artikel in der „Zeit“ oder auch mit der Altersspanne bei meinen Kindern, denen ich kaum Termine „aufgedrückt“ habe, die sie aber dennoch innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung hatten, hatte ich ungeheuer viel Freiheit und eine sehr glückliche Kindheit. Kein Wunder, dass die Anzahl psychischer Erkrankungen zunimmt. Ein Kind kann sich heute kaum noch frei entfalten.

Quelle: Facebook-Seite „Spielplatzpaten Mettmann“ vom 20. September 2012

Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Zustimmung der Autorin.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Die Autorin nimmt Bezug auf den Artikel Kindererziehung Ich will doch nur spielen aus der ZEIT vom 5. September 2012. Die hier angegebenen Örtlichkeiten befinden sich in bzw. in der Nähe von Hilden (Kreis Mettmann). Die NAGEL-Redaktion warnt davor, leichtfertig den Begriff „Nostalgie“ zu verwenden. Gestattet sei ferner ein Hinweis auf unser Internetportal DRAUSSENKINDER.

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