ABA-BLOG

NAGEL-Redaktion – „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund bringt“ oder Warum ein Fachverband Zustände nicht gesundbeten darf

(Kolumne aus: DER NAGEL 57/1995)

Von Rainer Deimel

Meine eigene Rolle innerhalb des Verbandes erscheint mir als ein günstiger, weil praktischer Aufhänger, einmal mehr verbandliches Handeln zwischen Theorie und Praxis zu reflektieren; eine Rolle, die breit interpretierbar ist: Experte für alles und nichts, Politiker und Neutrum, versehen mit Leidenschaft und immer hart an der Grenze zum „Ausgepowertsein“. Eine solche Reflexion ist keine Nabelschau; dient sie doch vielmehr dazu, Zusammenhänge zwischen dem Verband als solchem und denen, die sich ihm als Mitglieder und MitstreiterInnen angeschlossen haben, zu hinterfragen, Perspektiven für die nächsten Jahre zu beleuchten und eventuell eine Diskussion in Richtung „Strategien für die Zukunft“ anzuregen.
Nachdenken über die Pädagogik der neunziger Jahre provoziert, wie Nachdenken über Handeln mit Menschen immer provoziert hat. Ich komme dabei auf einige provokante Thesen.
Pädagogik ist immer geneigt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und sich dabei gleichzeitig zu glorifizieren. Seinen Ausdruck findet dies zum Beispiel in der Funktionalisierung von Pädagogik und Jugendarbeit durch die Politik: Politik ist augenscheinlich nicht in der Lage, Probleme menschengerecht zu lösen; Politik hat es vornehmlich in den letzten zehn Jahren geschafft, die Gesellschaft weitgehend zu entsolidarisieren. In der Folge treten konsequenterweise Probleme auf: zunehmende Ausgrenzung von Arbeitslosen, alleinerziehenden Müttern und anderen. Die Kluft zwischen arm und reich wird immer breiter. Der „private Ellbogen“ übernimmt das Zepter (Selbstverwirklichungs-Raserei). Hier und da spitzen sich Problemsituationen dramatisch zu: vermehrte Suchttendenzen, steigende Kriminalität, zunehmende Gewalt, Ausweitung rechtsradikaler Tendenzen. Ich bin davon überzeugt, dass Albert Scherr recht hat, wenn er der Auffassung widerspricht, dass Gewalt nicht automatisch „mitten aus der Gesellschaft“ kommt (wie Politik gern glauben machen will), sondern im Zuge von Deklassierung entsteht. Bei nicht zu übersehendem Handlungsbedarf ist Politik dann geneigt, sich Pädagogik als Handlangerin zu bestellen. Und Pädagogik ist gern bereit, sich derart funktionalisieren zu lassen. Dementsprechend bescheinigt Hartmut M. Griese aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Pädagogik eine (inzwischen) eher reaktionäre Rolle (vgl. Hartmut M. Griese: Wider die Re-Pädagogisierung …, in: Deutsche Jugend 7/8, 42 Jg. 1994, S. 310 ff.). Griese sieht Versäumnisse in Politik, Wirtschaft, Ökologie usw., wobei die Pädagogik sie sich zu eigen macht und mit Lösungen prahlt, die zu erbringen sie nicht imstande ist.
Pädagogik kann in ihrer Umgebung günstige Einflüsse entwickeln; Machtverhältnisse kann sie nicht verändern. „Eine Gesellschaft, in der humane Lebensbedingungen und damit sinnvolle Zukunftsperspektiven vorliegen, braucht sich um eine Pädagogik junger Menschen wenig Gedanken zu machen.“ (Griese, a.a.O., S. 311) Pädagogik blendet Wirklichkeit aus und gibt sich in Bezug auf politische Realitäten Illusionen hin. Wie anders ließe sich sonst der Versuch interpretieren, mithilfe immer wieder neuer Konzepte die Disziplin zunehmend verschleiert zu atomisieren? Griese hat eine Auflistung vorgenommen, aus der ich nur einige „Konzepte“ benennen will: Friedenserziehung, Umwelterziehung, Kulturerziehung, Anti-Rassismus-Erziehung usw. Das Kurioseste, was mir kürzlich untergekommen ist, war der Begriff „Gaumenpädagogik“. Geht es hierbei darum, Kinder zu „kritischen und reflektierten EsserInnen“ zu erziehen. M.E. haben alle Ansätze ihre Berechtigung. Allerdings kann kein Ansatz für sich reklamieren, bestehende Formen und Methoden zu ersetzen. Eine ähnliche Diskussion gab es bereits vor über zehn Jahren im Zusammenhang mit Sozial- und Kulturpädagogik. Alle Ansätze gehören in eine einheitliche Disziplin, sind konstitutive Teile einer pädagogischen Konzeption, von der geschlechtsspezifischen Arbeit angefangen, über Erlebnispädagogik bis hin zu Schule und Freizeit. Dieses Bewusstsein müssen sich PädagogInnen zunehmend zu eigen machen und beginnen, entsprechend ihr Profil zu entwickeln.
Eine Basisanforderung professionellen Handelns in der Pädagogik ist der Verzicht auf Erziehung. Der Widerspruch, der sich aufgrund der Nähe der Begriffe ergibt, scheint mir auflösbar: der griechische Begriff „paid-agogós“ impliziert den Erwachsenen, der jungen Menschen zur Verfügung steht, um sie bei Unsicherheiten zu schützen und zu leiten. Schließt „Pädagogik“ das Partizipationsprinzip mit ein, wird dieses bei Verwendung des Begriffs „Erziehung“ ausgeschlossen: Erziehung meint die außengeleitete Formung der Persönlichkeit junger Menschen nach bestimmten Vorstellungen und Motiven. Erziehung kann nie professionell sein, Pädagogik hat dazu gute Chancen.
Pädagogik hat die Aufgabe, junge Menschen und ihre Motivlage zu verstehen, ihnen gegenüber empathisch zu sein, Zusammenhänge herauszuarbeiten und mit ihnen Lösungsansätze zu entwickeln. Pädagogik bietet Orientierungshilfen sowie Raumaneignungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Pädagogik grenzt nicht aus. Besondere Chancen erblicke ich dabei in der bestehenden Offenen Arbeit. Pädagogik hat einen Bildungsanspruch. Der Begriff „Bildung“ ist seit Ende der sechziger Jahre zunehmend der Schule überlassen worden, wobei selbst diese sich inzwischen mit diesem Idiom abmüht. Dabei ist leicht belegbar, dass professionelle Pädagogik Aneignungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle bieten kann: Aneignung von sozialen und kulturellen Kompetenzen sowie Aneignung von ansonsten vorenthaltenen Räumen. Diese Bildungsarbeit integriert Experimente und Innovation.
Pädagogik hat sich gegenüber der Konsum- und Leistungsgesellschaft abzugrenzen. Es geht ihr nicht um Beschäftigung, Betreuung und Unterhaltung auf niedrigstem Niveau. Das leistet die Unterhaltungsindustrie besser. Pädagogik nimmt gesellschaftliche Veränderungsprozesse zur Kenntnis. „Eine (…) Pädagogik, die … die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens und die Zukunftsperspektiven der Heranwachsenden negiert, die weiter an einem irrelevanten und idealistischen Erziehungsbegriff festhält oder eine Re-Pädagogisierung fordert, die sich angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen weiter ausdifferenziert und atomisiert und damit pädagogisierend und entpolitisierend, d.h. ideologisch wirkt und gesellschaftliche Ursachen der aktuellen Probleme verschleiert, die ihre Bemühungen um einen allgemeinen Bildungsbegriff als Herzstück jeder Pädagogik zugunsten des Erziehungs-, Lern- und Qualifikationsbegriffs aufgibt, die sich als empirische Wissenschaft forschungsethisch wenig Gedanken macht um die Thematik ‚Verstehen oder Kolonialisieren?‘ und damit die Folgen ihrer Forschung für die Praxis und die Betroffenen ausklammert, ist als theoretische Wissenschaft, als Forschungsdisziplin und als auf Handeln abzielende Sozialtechnik ‚am Ende‘.“ (Griese, a.a.O., S. 316)
Die pädagogische Praxis und mithin ihre Zusammenschlüsse, die Fachverbände, haben ihre Kolonialisierungstendenzen zu überprüfen, ggf. ihre Rolle als innergesellschaftliche Entwicklungshelfer aufzugeben. Die Fachverbände wirken wie ein Katalysator, stützen Autonomiebestrebungen, helfen mit, nachdenklich und selbstkritisch zu machen, die Dinge in Bewegung zu halten; sie halten sich von dem gegenwärtigen „Betroffenheits-Kult“, dem offensichtlich die „professionelle“ Politik zum Opfer gefallen ist, fern, was nicht bedeutet, dass sie ihre soziale und gesellschaftliche Kompetenz nicht permanent reflektieren und weiterentwickeln. Sie erkennen ihre Rolle (im Sinne von Paulo Freire) als „Politiker und Künstler“. Diese Rolle impliziert eben, Zustände nicht gesundzubeten, äußerst sensibel für gesellschaftliche Vorgänge zu sein, aber auch Gelassenheit zu üben, Grenzen zu erkennen (Hermann Giesecke: „‚Ganzheitlichkeit‘ und Professionalität schließen sich aus.“) und Funktionalisierungstendenzen wahrzunehmen. Um weiterhin für Bewegung zu sorgen, halte ich es für unumgänglich, dass Fachverbände nicht aufhören, zu ketzern und gemeine und hinterhältige Fragen zu stellen. „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund führt,“ hätte Adorno zu ergänzen gehabt. Wer versucht, Positives zu sagen, sollte sich eventuell einmal Gedanken über die Rente machen. Die Zukunft gehört den Ketzern und Narren.

NAGEL-Redaktion – „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund bringt“ oder Warum ein Fachverband Zustände nicht gesundbeten darf Read More »

NAGEL-Redaktion – „Der Krieg der Schimpansen“ oder „Erziehung zur Gewalt“

Konservative Tendenzen in der gegenwärtigen Diskussion um

Gewalt, Erziehung, Jugend und Rechtsradikalismus

(Kolumne aus: DER NAGEL 56/1994)

Von Steffen Moderau

In der Absicht eine gewisse „Tiefendimension“ in die Diskussion um die Entstehungsbedingungen von Gewaltformen zu bringen, auch verstanden als Gegenthese zu den Gesellschaftstheoretikern à la HEITMEYER, kolportiert der SPIEGEL jene evolutionsbiologischen Axiome erneut, die einen genetischen Zusammenhang von menschlicher Aggression und Zivilisation behaupten. Der sozialdarwinistische Verweis auf jenen „genetischen Eigennutz“ (Richard DAWKINS), der der aggressiven Potenziale bedarf, um seine überlegene Genstruktur seinen Nachkommen weiterzugeben, gerät, da er bewusst in den Zusammenhang des Gewaltdiskurses  gestellt wird, schnell in das Fahrwasser rechtsradikalen Rassismustheorien. 
Vollends abstrus werden solche reduktionistischen „Theorien“, wenn sie ihren Geltungsbereich in die Zivilisations- und Gesellschaftskritik hinein ausweiten. Sie enden dann in schöner Regelmäßigkeit in ordnungspolitischen Diskursen autoritärer Provenienz, in denen dem Menschen dann jedwede Zivilisierung abgesprochen wird oder nur im Kontext autokratischer Institutionen und rigider Moral von Herrschaft und Unterwerfung. Diese monokausalen und eindimensionalen Erklärungsversuche haben gewissermaßen einen „anti-demokratischen“ Strukturdefekt schon innerhalb dessen, was ihre Theorien politisch implizieren.
Nicht nur Gewalt, sondern auch Fremdenfeindlichkeit solle sich im Rahmen solcher Theorieansätze begründen lassen (vgl. EIBL-EIBESFELD). Damit wird rassistisches Verhalten gleichsam zum „Normalzustand“ erhoben. Alle nicht-rassistischen Reaktionen bekommen so quasi „pathologische“ Züge, werden „entmenschlicht“, da sie ja eigentlich nicht der „Natur der Menschen“ entsprechen.
Solche deterministische Konstruktionen bringen lediglich Mythologien hervor, die die „Ethnie“ zur „imaginierten Gemeinschaft“ (Benedict ANDERSON) erheben, angefüllt mit nationalem Pathos. „Das Böse lässt sich weder erklären noch ändern, sondern nur zähmen, bekämpfen, ausgrenzen“ 
(1), könnte man das Programm der Anhänger solcher Theoreme zusammenfassen. „Was wir brauchen, ist nicht die Illusion der Gewaltlosigkeit, sondern eine Erziehung zur Gewalt, die das Böse nicht leugnet, sondern den Umgang mit ihm übt“. (2) SPIEGEL Essayist Dietmar PIEPER begreift „Gewalt (als) menschliche Konstante“ (3), deren Formen mal mehr, „mal weniger gesellschaftsschädigend sind. In der Differenz liegt das ganze Potenzial erzieherischer Wirkung… Deshalb erleben wir derzeit gesellschaftlich weniger einen Zuwachs von Gewalt als einen ersatzlosen Abbau von Illusionen christlich-abendländisch-kommunistischer Art“(4). Damit werden die Einfallstore für jene zeitgenössische konservative „Kritik“ geöffnet; erstens: Jedwede kritische Gesellschaftstheorie soll durch Ethik und Moral ersetzt werden (5); zweitens: Die Idee der Veränderung (nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit), d.h. die Abschaffung der Ursachen gesellschaftlicher Widersprüche wird mit der Behauptung des „Endes aller Utopien“ gleichsam mit verabschiedet.
„Wo nach dem Krieg die moralisierenden Konservativen zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft auf die vormodernen Prinzipien der Gemeinschaft, der Religion und des starken Staates zurückgreifen, da entdecken die Neukonservativen seit Mitte der 50er Jahre, dass die kapitalistische Industrialisierung wider alle Erwartungen selber in der Lage ist, haltbare Integrationsmedien auszubilden. Über Arbeit und Konsum gelingt es, den ´Aufstand der Massen´ zu beenden“ 
(6).
Schon die konservative Massenkritik beklagte das entwurzelte Individuum und die „Kräfte der Selbstzerstörung“ der Gesellschaft. An die Stelle „seelenloser Kollektive“ (GLASER, 1956) sollte wieder „echte“ Gemeinschaft treten. Aber das „Pathos der natürlichen Gemeinschaft schlägt um in die Apologie autoritärer Herrschaft. Es nimmt damit eben die Züge an, die man seinem Gegenteil: der Masse, zugeschrieben hatte. Es huldigt dem Affekt gegen das Fremde, tabuisiert Differenz, wettert gegen Autonomie, desavouiert Subjektivität, grenzt Abweichungen aus, erhebt den Durchschnitt zur Norm, fordert Führer-Autorität. Das moralisierende Gemeinschaftspathos, dieser Inbegriff des kollektiven Narzissmus, endet totalitär …“ 
(7).
In der Dekade zwischen 1950 und 1960 etabliert sich in Deutschland jene „neukonservative Theorie der integrierten Masse“ 
(8), dessen wichtigste Protagonisten u.a. die Soziologen GEHLEN und SCHELSKY waren. Aus Amerika wird der Begriff des „außengeleiteten Menschen‘ (David RIESMAN) in deutsche Diskussion eingeführt. RIESMAN’s Buch „The lonely crowd“, dessen deutsche Ausgabe 1956 erscheint, beschreibt die kulturellen Umformungen der amerikanischen Konsumkultur, die deutsche Konservative eher als Kulturverfall identifizieren: nach RIESMAN eine „Epoche, in der die Menschen die Wünsche der anderen zum Maßstab erheben, aus Politik eine Show machen, aus dem Beruf den Job, aus der Muße das week-end, aus der mütterlichen Sorge um die Familie das joy of cooking, aus der Familie die peer-group, aus der Liebe den Sex:“ (9).
Doch SCHELSKY sieht in diesen Veränderungen auch neue Strukturen entstehen, in der die „‚außen-geleitete(n) Gesellschaft eine Epoche neuer sozialer Stabilisierung“ (SCHELSKY, 1956) erreicht. „Stabilität“ wird fortan zum „konservativen Zauberwort“ 
(10).
GEHLEN hält der Moderne vor, dass aus dem „allgemeinen Wettrennen nach Wohlleben“ keine „neue Sinngebung des Lebens“ (GEHLEN, 1952) hervorgehen kann. „Die Orientierung am Konsum bedeute am Ende nur Sinnentleerung und Persönlichkeitsverlust. Der Reichtum der Konsumgüter verpflichte zu nichts. Ohne Verpflichtung aber sei das Leben unmöglich. – Auch die Gruppe bietet da keinen Schutz“, fasst Helmut KÖNIG 
(11) GEHLENS Vorbehalte zusammen.
Dennoch wird die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, ihre technisch-industrielle „Rationalität“ sowie die institutionelle Absicherung zur unhinterfragten Norm erhoben (vgl. Helmut KÖNIG 
(12) ), eine Norm, die moralisierende Verhaltensimperative vorgibt, denen sich das Individuum in nichtreflexiver Form zu beugen hat. Dies macht den konservativen Kern der Soziologie und Kulturkritik à la GEHLEN und SCHELSKY aus.
Die zeitgenössische konservative Theorie oder die „‚postmoderne‘ konservative Theorie der individualisierten Gesellschaft“ 
(13) teilt mit ihren Vorgängern nicht mehr die Angst vor der wurzel- und heimatlosen Masse, die als „revolutionäre Masse“ die bürgerliche „Ordnung“ hinwegfegt. Die Masse ist heute nur noch als Summe „individualisierter“ Einzelsubjekte präsent. „Schon in den Anfängen der bürgerlichen Sozialpolitik war Individualisierung ein favorisiertes Mittel gegen die Vermassung. … Aber wo mit Individualisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Verwurzelung, Familialisierung und Verhäuslichung gemeint war, da verbinden wir heute mit ihr das Gegenteil: Der Individualisierte ist nicht der, der Wurzeln geschlagen hat, sondern der vollmobile, flexible, der boden-, familien- und heimatlose Einzelne“ (14).
Nun behaupten die Anhänger eines radikalen ökonomischen Liberalismus immer noch, dass „die desintegrativen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft … nicht dem Marktprinzip anzulasten (seien), sondern umgekehrt seiner künstlichen Einschränkung“ 
(15). Alle destruktiven Kräfte einer entfesselten Konkurrenz und Universalisierung des Marktes werden verleugnet. Doch der Konservatismus „der Gegenwart ist überzeugt davon, dass die einzige Chance für die Erneuerung der Industriegesellschaft in ihrer weiteren Modernisierung – in der Universalisierung des Marktes – liegt“ (16).
Im ordnungspolitischen Diskurs des Konservatismus soll sich der Staat, als Inbegriff des Politischen, wieder seinen eigentlichen Aufgaben zuwenden. Sozial- und wohlfahrtsstaatliche Strukturen sollen zurückgebaut werden und in den Mittelpunkt rückt das staatliche Entscheidungs- und Gewaltmonopol als das „Zentrum der sozialen Integration“ 
(17). Eine prinzipiell funktionalistische (18) Sichtweise ersetzt das vormals geschlossene Weltbild des gegenwärtigen Konservatismus. Es geht darum, „nach Kompensationen für die negativen Folgen der unvermeidlichen Modernisierung zu suchen“ (19). Nicht der Gegensatz „‚wahr'“ oder „falsch“ dient mehr dazu, einen Seinszusammenhang zu konstituieren, sondern „Funktionserfüllungen praktischer Art“ (Hermann LÜBBE) werden „zweckmäßig oder unzweckmäßig“ (LÜBBE) genannt. „Nicht um Wahrheit geht es Ihnen, sondern um Wirkung, nicht um Kultur, sondern ums Spektakel, nicht um Werte, sondern um Berechnung der Interessen und Machtchancen“ (20).
Wenn es dennoch immer wieder auch Rückfälle in konservative Werte-Debatten gibt, so liegt das daran, dass ihre Protagonisten den entscheidenden Widerspruch gesellschaftlicher Entwicklung nicht sehen: es sind ja nicht die „individualisierten Individuen“, die die Moralimperative untergraben, sondern es sind die Struktureffekte der technisch-wissenschaftlichen Modernisierung, die die Konservativen kritiklos forcieren, und die den Moralaposteln den Boden unter den Füßen wegziehen.
So ist es eigentlich verwunderlich, dass gerade im Zuge der Auseinandersetzung mit Gewalt, Jugend und Rechtsradikalismus auch liberale und linke Wortmeldungen sich zunehmend einem Moraldiskurs verschreiben. Während Karl Otto HONDRICH 
(21) im Zuge der Individualisierungsschübe noch ein „chronisches Defizit an kollektivorientierter … Moral“ (22) sieht, so beklagen Jörg BERGMANN und Claus LEGGEWIE (23) das Fehlen jedweder individueller Moralität bzw. das Zerfallen von Moral in einzelne Teile, „die von ihrem Träger nicht mehr zusammengesetzt werden können“ (24).
An den Bruchstellen zwischen sozialer Desintegration und Individualisierung einerseits und den Ebenen sozialer Milieus anderseits sollen nun jene destruktiven Kräfte sich dynamisch Bahn brechen, die nicht nur jede, noch so geringe moralische „Reziprozität“ (Hauke BRUNKHORST) 
(25) absorbieren, sondern Gewalthandeln als eine „punktuelle“ Form der Selbst-Versicherung des Individuums im steigenden Maße wahrscheinlicher macht. Die allgemeine Orientierungslosigkeit der jungen Generation, ihre „egoistisch“ und narzisstisch überhöhte Selbstbezogenheit, solle zu jener Auflösung jeder gemeinschaftsverpflichtenden Moralität führen, die sich dann auch in menschenverachtenden Mord- und Brandanschlägen äußert.
Damit stellen sich die beiden Kursbuch-Autoren in die Tradition jener konservativen Kultur- und Gesellschaftskritik, die hartnäckig Ursache und Wirkung verwechselt. Sie sprechen jenen von ihnen beschriebenen „Tätern“ jede Ratio ab und beklagen das „Fehlen der grenzensetzenden Instanz“ 
(26) einer „kraftlos gewordenen Konsumgesellschaft“ (27). Noch einen drauf setzt Peter SCHNEIDER (28) im gleichen Kursbuch. „Diese Halbwüchsigen ‚verachten‘ die elementarsten Regeln der Fairness nicht etwa, sie kennen sie gar nicht und haben sie nie, nach den Gesetzen von Lohn und Strafe erlernt. Sie sind entmenscht und zu Bestien geworden, sie wurden erst gar nicht zu Menschen gemacht“ (29).
Nicht nur, dass das Gewaltproblem erneut – wie schon Anfang der 80er Jahre im Zuge der sogenannten Jugendunruhen in europäischen Metropolen – auf eine „Teil- bzw. Randgruppe“ der Gesellschaft eingegrenzt werden soll, sondern als Mitverantwortliche werden jene identifiziert, die sich der Erziehungsaufgabe widmen: Lehrer, Eltern, Erzieher. Auch damals lautete die Parole: „Mut zur Erziehung“. Was Aufgabe der Politik der „Zivilgesellschaft'“ wäre, eben nicht einen dogmatischen Tugendkanon „abzuarbeiten“, sondern rationale Verfahrens- und Kommunikationsstrukturen gesellschaftlich zu etablieren, die auch die ökologischen und ökonomischen „Verteilungskämpfe“ regulieren, kann nicht ausschließlich auf dem engen Feld der Pädagogik eingelöst werden. Hier wird die Illusion – auch von Teilen der (Sozial-)Pädagogik selbst – genährt, die Lösung liege in der Bereitstellung entsprechender (nicht nur finanzieller) Mittel. Die Moralisierung sozialer Konflikte blendet die Systemwidersprüche weitgehend aus und installiert die Suche nach einer „staatlichen Autorität“, die jeden Dissens als antikonstituiv verwirft.
Augenfällig offenbart sich ein unhistorisches Geschichtsverständnis. Manchmal kann man den Eindruck haben, einige Protagonisten dieser konservativen Erziehungsdogmatik wünschten sich die stupiden Autoritarismus der Adenauer-Ära zurück, als Inbegriff einer „stabilen Ordnung“, die sich gegen die zeitgenössische „Unübersichtlichkeit“ abhebt. Doch, „Identitäten, die zu einer demokratischen Verfassung passen, lassen nicht mehr zu  e i n e m  Kollektivbewusstsein bündeln“ 
(30). Da sich die gesellschaftliche Integration in den „Bereich alltäglicher Lebensführung vorverlagert“ (31), sich ein „privater Sinnbegriff“ (32)entwickelt hat, kann auch eine intersubjektiv verbindliche Moral die Verhältnisse nicht mehr rückgängig machen.
„An die Stelle einer Zähmung von Individualinteressen durch eine übergeordnete Moral tritt die Abspaltung eines privaten Lebensbereichs. Dort geht es um das ‚konkrete Individuum‘, seine Neigungen und Interessen, was in diesem Lebensbereich der Disziplinierung Grenzen setzt“ 
(33). Der Erziehungsoptimismus, dem auch linke Pädagogen anhängen, der ein „Bild einer unbegrenzten Erziehbarkeit zum Besseren“ (Benno HAFENEGER) postuliert, findet in der Familialisierung und Pädagogisierung sozialer Konflikte bzw. deren Umdeutung in jugendsoziologische oder jugendpolitische Problemfelder ihren sinnlichen Ausdruck. Die aus dem vorrevolutionären Vormärz stammende „romantische“ Angst, Jugend könne eine Gesellschaft aus den „Fugen“ heben, bildet offenbar immer noch den Hintergrund konservativer Gefahrenszenarien.
Dass die „Gesellschaftliche Mitte“ (vgl. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ à la SCHELSKY) nun über das Aufbrechen von Gewaltstrukturen aus ihrer ‚Mitte‘ heraus so erschrocken ist, ist eher ein blinder Fleck in der Ideologie des Konservatismus, als wirkliche moralische Empörung. Der konservative Kernbestand der Gesellschaft bekommt heute einen Spiegel vorgehalten. Die politische Zuordnung von Gewaltaktionen der jüngsten Vergangenheit fast ausschließlich in das rechtsradikale Lager verdeckt eher die Querverbindungen zum Konservatismus. Es soll hier keiner Relativierung rechtsradikaler oder rassistischer Gewalt das Wort geredet werden. Doch die Deregulierungspolitik der regierenden Koalition 
(34) hat jene Entsolidarisierungsprozesse mit begünstigt und jede reflexive Regulierung ungehemmter Marktinteressen blockiert, die nun im Rahmen der Prozessen der Individualisierung und Desintegration als dynamische Gewaltphänomene an die Oberfläche gelangen. Es lässt sich kein „steuerndes Zentrum der Gewalt mehr angeben“ (35), doch damit wird sie weder beliebig oder zufällig, noch vervielfältigt sie sich quasi aus sich selbst heraus.
Waren früher die marginalisierten Bevölkerungsgruppen relativ resistent gegen konservative Moralisierungskampagnen, so hat heute der funktionalistische Konservatismus nicht nur das Vokabular der Aufklärung übernommen, sondern auch erkannt, dass eine gewisse Sorte von Aufmüpfigkeit durchaus innovativ für das System sein kann. „Es sind immer nur Minderheiten, die sich öffentlich äußern. Die Mehrheit, jede Mehrheit schweigt“ (Hans Magnus ENZENSBERGER). Was ehedem Herd des Aufruhrs und des Widerstands war, verwandelt sich zusehends in „moderne Normalität“.
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“ Diesen schönen Satz von Theodor W. ADORNO könnte heute auch jeder konservative Intellektuelle unterschreiben, auch wenn er ihn inhaltlich umdeutet. „Man muss also zu einer Idee und Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist“. (LYOTARD) Hier versagt der Konservative noch jede Zustimmung. Angesichts der stets beschriebenen Labilität, geringeren Verlässlichkeit sozialer Beziehungen und unklarer Entwicklungsperspektiven des Individuums trägt das Beharren auf den Konsens fast „freundlich alternative“ Züge. Doch wenn immer noch von der Grundthese ausgegangen wird, dass die Vermehrung des persönlichen Eigennutzes zugleich die Wohlfahrt aller mehre, so bedeutet dieser Satz im Zeichen gesellschaftlicher Krisen: Nicht das ökonomische oder politische System als Ganzes ist in der Krise, sondern es gerät in Schwierigkeiten durch die „überzogenen“ Ansprüche und Erwartungen des Einzelnen oder in unserem Zusammenhang, durch die Gewaltexzesse einzelner, die das Zusammenleben aller stören. In einer solchen Perspektive verweist Gewalt stets auf individuelles „Gewalthandeln“, das zum einen immer auf ein subjektives „Scheitern“ an den gesellschaftlichen Herausforderungen hindeutet, zugleich aber die Sanktionen des staatlichen Gewaltmonopols in Gang setzt, die den „schon Gescheiterten“ nochmals treffen.
Die damit direkte Etablierung und  Problematisierung des „Einzelfalls“ konstituiert eine Gewaltvorstellung als „singuläres'“ Ereignis gleichsam mit. In der Vervielfältigung solcher, nicht zuletzt medial vermittelten, singulären Gewalttätigkeiten, die zunächst zusammenhangslos nebeneinander stehen, wird über ihre bloße Addition plötzlich ein Grad an Eskalation unterschwellig mit formuliert. In ihrer „Verdichtung“ und dem Hinweis auf ihren „kriminellen Charakter“ kann nur die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Betroffenen vollendet werden.
Die Pädagogik insgesamt muss sich die Frage stellen, ob und wie sie sich an solchen Diskursen beteiligen will. Die Frage nach den Interventionsstrategien, so wie sie z.B. LEGGEWIE oder SCHNEIDER im Kursbuch vorschlagen, könnte den Verdacht nahe legen, dass das Prinzip der Gewaltfreiheit pädagogischen Handelns zumindest relativiert werden soll. Vielleicht provozieren sie aber auch bewusst Missverständlichkeiten, um das bisher stets indifferente Verhältnis von gewollter Autonomie und Selbstentfaltung einerseits und sozialer Kontrolle und Disziplinierung innerhalb pädagogischer Verhältnisse andererseits zur Sprache zu bringen. Der schon heute vorhandenen enge „Konnex zu Instanzen der Kontrolle und Sanktionierung“ 
(36), die institutionelle Abhängigkeit und die Tendenzen zu einer „Normalisierungsarbeit“ sozialer Arbeit, müssen dabei gleichzeitig mit thematisiert werden.
Das Projekt der Emanzipation, mit dem die Moderne stets gleichgesetzt wird, sieht noch seiner Verwirklichung entgegen. Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen „Roll-back“ sollte man sich gelegentlich daran erinnern.

Der Autor Steffen Moderau war viele Jahre beim ABA Fachverband tätig und lebt in Dortmund.
Der Beitrag wurde im August 2002 ins Internet gestellt.

Anmerkungen:
1 Klaus GÜNTHER, „Gegenwärtige Beschwörung des Bösen“, FR vom 16./17.11.1993
2 DER SPIEGEL Nr. 7, 1994, S.47
3 ebenda
4 ebenda
5 vgl. Heinz SÜNKER, „Politik und Moral oder: Wider die Moralisierung des Politischen“ in: Widersprüche Nr. 33, 1989, S.21-29
6 Helmut KÖNIG, „Von der Masse zur Individualisierung. Die Modernisierung des Konservatismus in der Bundesrepublik“ in: Leviathan, 16. Jg., 1988, Heft 2, S.261
7 ebenda, S. 260
8 ebenda, S. 261
9 ebenda, S. 262
10 ebenda
11 ebenda, S. 254
12 ebenda, S. 264
13 ebenda, S. 265
14 ebenda, S. 266
15 ebenda S.267; vgl.: „Das höhere Maß an Vielfalt, Pluralität und Dezentralisation stellt höhere Ansprüche an die Autorität der Gesamtordnung“ (Kurt BIEDENKOPF)
16 ebenda, S. 268; vgl.: die neuen elitetheoretischen Diskurse
17 ebenda, S. 271
18 ebenda
19 ebenda, S.270
20 ebenda
21 Karl Otto HONDRICH, „Der Wert der Gleichheit und der Bedeutungswandel der Ungleichheit“ in: Soziale Welt, 35. Jg., 1984, Heft 3, S.267-293
22 ebenda, S. 290
23 Jörg BERGMANN/Claus LEGGEWIE, „Die Täter sind unter uns – Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands“ in: Kursbuch 113, 1993, S.7-37
24 ebenda, S. 24
25 Hauke BRUNKHORST, „Krise der Demokratie ?“, FR 05.02.1994
26 BERGMANN/LEGGEWIE,  S. 21
27 ebenda, S. 35
28 Peter SCHNEIDER, „Erziehung nach Mölln“ in: Kursbuch 113, 1993, S.131-141
29 ebenda, S. 141
30 BRUNKHORST, s. Fußnote 25
31 Dietmar BROCK „Wiederkehr der Klassen? Über Mechanismen der Integration und der Ausgrenzung in entwickelten Industriegesellschaften“ in: Soziale Welt, 44 Jg., 1993, Heft 2, S.181
32 ebenda S.181; vgl.: Privatisierter Sinnbegriff: „Sinn ergibt sich als Selektion aus der jeweils zugänglichen materiellen Kultur.“ (S.181)
33 ebenda, S. 184
34 Anm. d. Red.: Seinerzeit regierte eine CDU-FDP-Koalition. Nach dem rot-grünen Regierungswechsel wurde aber weiterhin eine Politik der „gesellschaftlichen Mitte“ fortgesetzt.
35 Ulrich BIELEFELD, FR vom 16.06.1993
36 Albert SCHERR, „Anforderungen an professionelle Jugendarbeit mit ausländischen und gewaltbereiten Jugendlichen“ in: neue praxis, 22. Jg. 1992, Heft 5, S.390

NAGEL-Redaktion – „Der Krieg der Schimpansen“ oder „Erziehung zur Gewalt“ Read More »

NAGEL-Redaktion – Mölln ist überall.

Von Rolf Winter

Es widert mich an, wie diese Republik mit ihren jungen Neonazis umgeht. Mich widert eine Gesellschaft an, die in bauchiger Sattheit nach rechts sieht und Zeter und Mordio schreit, als wäre nicht in ihrem Schoß entstanden, was sie so lauthals beklagt. Das fraktionsübergreifende Entsetzen in Bonn, die Resolution des Kreistages von Goch an der Goche, die ökumenischen Notgebete. Widert mich an.
Denn ich war einmal da, wo heute die jungen Neonazis sind. Ich bin, wenn Sie so wollen, einer von ihnen. Ich habe einmal am rechten Rand gelebt und den Staat gehasst, der sich aber um uns nicht kümmerte. Er ließ unsere Eltern in Arbeitslosigkeit verkommen. Es interessierte ihn einen Dreck, dass wir hungerten. Er sah kalt zu, wie wir am „sozialen Rand“ vor dem Hauswirt zitterten, der eine Miete – 19 Mark 50 – einforderte, die wir nicht zahlen konnten. Es war ihm gleichgültig, ob wir obdachlos werden würden oder nicht. Er ließ uns allein, grenzte uns aus.
Das liegt sechzig Jahre zurück. Man weiß, was geschah. Wesentlich mit Hilfe derer, die nichts zu verlieren hatten, kam der Halunke an die Macht, mit dem wir dann alles verloren, vor allem unseren Anstand. Das Armengebiet rund um die Lübecker Dankwartsgrube, in der ich damals lebte, gehörte, obschon traditionell kommunistisch oder doch mindestens sozialdemokratisch, zu Hitlers Wegbereitern. Nicht, weil sie Nazi-Programme lasen und gut fanden. Auch nicht, weil sie nach langem Bedenken dem Vorkommnis aus Braunau glaubten. Sie liefen in der Lübecker Dankwartsgrube massenhaft zu den Braunen über, weil sie sich vom Staat verraten und verkauft und vergessen wussten, denn, Ihr bürgerlichen Schreier: Unter Ausgegrenzten wird nicht kühl politisch gedacht, sondern nur noch gehasst, und dieser Hass war damals schrecklich begründet, und er ist es heute ebenso.
Dankwartsgruben gibt es längst wieder. Es gibt sogar, wie uns Kommunalpolitiker besorgt wissen lassen, in den großen Städten Armutsgettos, in denen – lügt Euch nicht in die eigenen Taschen! – nicht nur Ausländer hausen. Es gibt in dieser Wohlstandsgesellschaft, und zwar beschämend massenhaft, Quartiere, in denen Hoffnungslosigkeit daheim ist, Dauerarbeitslosigkeit, Sozialhilfeexistenz und Tristesse als treuester Lebensbegleiter. Den mählichen Verfall der Würde gibt es, die Auflösung von Familien, den Verzweiflungssuff, die Leere des Tages.
In der früheren DDR, die heimgeholt zu haben Herr Dr. Kohl so stolz ist, leben Millionen, die sich von eben diesem Herrn Dr. Kohl mit verdammt guten Gründen belogen und betrogen fühlen. Wo er ihnen ein „blühendes Land“ verhieß, in dem es „niemandem schlechter und vielen besser gehen“ würde, müssen sie nun froh sein, getarnte ABM-Arbeitslose zu sein, oder sie wurden bei null Arbeitszeit auf Kurzarbeit gesetzt, oder sie müssen damit rechnen, von der kaltblütigen Marktpolitikerin Breuel abgewickelt zu werden, oder sie wurden schon abgewickelt und hocken nun in ihrer Plattenbauwohnung, die ihnen – mein Gott, wie zynisch darf man in der deutschen Politik sein? – von Herrn Waigel zum Kauf angeboten wird.
Wenn die da unten von der Absicht des Herrn Dr. Kohl und seines famosen Finanzministers hören, „Einschnitte in das soziale Netz“ vorzunehmen, weil wir ja nun in Ansehung der problembeladenen Wiedervereinigung „alle Opfer bringen“ müssten – welche politischen Gedanken werden wohl da unten gedacht?
Ich kenne diese Gedanken, denn noch einmal und mit Scham: Ich war einmal da unten und Nazikind. Meine Mutter, die sich als Putzfrau zuschanden arbeitete, hatte keinen anderen Wunsch als den, dass Hitler kommen möge, um „kurz und klein zu schlagen“, was sie nicht mehr ertrug – so sehr hasste sie den Reichskanzler von Papen, der, feiner Herr, allmorgendlich durch den Tiergarten in Berlin ritt, aber sie hasste auch die Sozis, die Liberalen und das Zentrum und die Fortschrittlichen, denn sie hasste den Staat, der aufgehört hatte, ein Fürsorger zu sein.
So wurde damals da unten empfunden, und heute ist das nicht anders, und so ist es logisch, denn jede Gesellschaft hat den sozialen Rand, den sie verdient. Wer ausgrenzt, vergisst oder vernachlässigt, zu dem kommen die Ausgegrenzten und Vergessenen und Vernachlässigten hassend und rächend zurück. Wer sich einbildet, die Dauerarbeitslosen und die von Herrn Dr. Kohl infam Betrogenen in der früheren DDR hätten bei Wahlen gefälligst wie wir zwischen CDU und SPD und FDP zu entscheiden und loyale und gesetzestreue und für Radikalisierung immune Staatsbürger zu sein, ist ein politischer Idiot.
Radikalisierung ist das legitime Kind staatlichen Versagens. Nein, um Gottes willen, nein, man darf sie nicht billigen, aber man muss ihre Herkunft begreifen. Nein, nicht eine Sekunde lang dürfen wir Nachsicht mit einem haben, der zuerst Sieg Heil schreit und dann einen Molotowcocktail in das Zimmer wirft, in dem Ausländer schlafen, aber wir haben uns zu fragen, wie er wurde, was er ist. Das ist, was mich anwidert: Dass lauter selbstgerechte Mainstream-Bürger leugnen, den Boden bereitet zu haben, auf dem Radikalisierung möglich war.
Was wir den sozialen Rand nennen, wächst, und, weiß Gott, er wächst rascher als irgend etwas in der Volkswirtschaft. Aber täuscht Euch nicht, Ihr bürgerlichen Ignoranten: Dieser soziale Rand ist Dynamit. Er ist vom Staat hausgemachte Destabilisierung. Macht Euch nichts vor, Ihr bürgerlichen Heuchler: Was da rechts brodelt – das habt Ihr angerichtet!
Denn es ist Wort für Wort wahr, was der Sozialwissenschaftler Professor Ernst-Ulrich Huster konstatiert: „Der wachsende Reichtum unserer Gesellschaft gerät in einen immer stärkeren Kontrast zur ebenfalls zunehmenden Armut.“ Dies ist spätestens seit der Zeit des versehentlichen Sozialdemokraten Helmut Schmidt ein gefühlloser, ein kalter, ein krude neo-kapitalistischer Staat geworden, ein Laisser-faire-Staat, der sich hinter der Verniedlichung „soziale Marktwirtschaft“ bloß noch tarnt. Dies ist ein Raffer-Staat geworden, ein Egoisten-Staat.
Damals, in der Dankwartsgrube in Lübeck, haben sie unsere Eltern verrotten lassen, bis sie folgerichtig nur mehr politische Verrottung im Sinn haben konnten und Vernunft nicht mehr kannten. Sie hassten und zahlten heim.
Wir sind wieder soweit. In den Dankwartsgruben von heute wird wieder gehasst. „Die da oben“ werden wieder verachtet. Die Demokratie ist wieder „Scheiße“. Herr Dr. Kohl ist Herr von Papen, und Herr Engholm ist bloß eine etwas andere Verkörperung des Herrn Dr. Kohl, und das Parlament ist wieder eine „Quasselbude“, und die staatlichen Würdenträger sind wieder „Bonzen“, und in Plattenbauwohnungen in Rostock und in Behausungen von Dauerarbeitslosen wird wieder ersehnt, „alles kurz und klein zu schlagen“.
Es kommen hassvoll-verschlüsselte Notsignale vom sozialen Rand. Es kommen Rufe der Verzweiflung, auch Gesten der Verzweiflung, es geschehen auch schreckliche Taten der Verzweiflung. Aber niemand dechiffriert diese Hilferufe.
Statt dessen fordert die Gesellschaft, Herr Dr. Kohl voran, die Gerichte und die Polizei zu hartem Vorgehen auf, und jedermann ist voll von Abscheu und Empörung.
Ich kann mir nicht helfen: Widert mich an.

Rolf Winter lebt als freier Schriftsteller in Braderup/Sylt. Der Text wurde zuerst in der Zeitschrift TEMPO 1/93 (S. 99 f.) veröffentlicht. Wir danken der TEMPO-Redaktion und Rolf Winter für die freundliche Nachdruckerlaubnis.

NAGEL-Redaktion – Mölln ist überall. Read More »

NAGEL-Redaktion – Kinder und Gewalt

Von Rainer Deimel

Ich fahre in meiner Wohnung vom Stuhl hoch. Ich habe das Gefühl, meine Nackenhaare sträuben sich. Ich könnte aus meiner Haut fahren, an’s Fenster stürzen, fluchen, schreien, schießen… Vor dem Haus hat ein Verkehrsrowdy mal wieder sein Bestes gegeben. Automatisch habe ich ein Bild von dem Rowdy im Kopf.
Nachts wache ich auf. Diesmal war es nicht ein Erdbeben. Aus dem Schlaf gerissen, fühle ich mich in einer ähnlichen Situation. Ein „potenter“ Jungmann donnert in seinem aufgemotzten BMW vorbei, seine 500-Watt-HiFi-Anlage bis zum Anschlag hochgezogen. Die Bässe dröhnen durch die schlaftrunkene Nacht, lassen ihr dumpfes Hämmern durch geschlossene Fenster dringen. Ich habe ein Bild desjenigen im Kopf, der hier durch die Nacht donnert und mich aus dem Schlaf reißt.
Ich gehe über die Straße, sehe dabei rudelweise junge – vor allem „ausländische“ – Männer am Straßenrand stehen. Sie kommunizieren in einer mich „abstoßenden“ Art und Weise miteinander. Ihr chauvinistisches Gehabe beeinflusst weit mehr als die Bürgersteigzonen, die sie belegen. Sie pfeifen Leuten hinterher, starren geil auf Frauenärsche, grabschen, wenn sie können. Mir ist zum Kotzen zumute. Dies prägt ein Bild. Alle Männergruppen an Straßenrändern werden mir zunehmend zuwider.
Tausend Bilder in tausend Situationen. Ich rede von Gewalt. Ich fühle mich durch beschriebene Situationen in meiner Sphäre empfindlich beeinträchtigt, erlebe die Vorgänge als gewalttätig. Dies provoziert bei mir Aggressionen, ich spüre meine eigene Gewalt, oft nur als Ohnmacht.
Wir schalten den Fernseher ein. Sabine Christiansen berichtet aufgeregt und mit verschmierter Schminke über die ersten Angriffe der US-Amerikaner auf Bagdad. Die Nachrichten- und Magazinsendungen berichten permanent über die Kriege in Armenien, Aserbaidschan, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, über die Gewalt an Menschen auf den Philippinen und anderswo auf der Welt. Kinder sind live dabei. Ich halte Informationen über derartige Auseinandersetzungen für unbedingt erforderlich. Gleichzeitig müssen wir uns allerdings darüber im Klaren sein, dass die servierte Gewalt Realitäten und Gefühle verändert. Kinder nehmen daran teil. Neil Postman problematisierte dieses Phänomen in seinem Buch „Das Verschwinden der Kindheit“. Kinder erleben diese Gewalt am Bildschirm. Mir ist oft nicht klar, ob es Kindern gelingt, Nachrichteninformationen und „Spiel“-Film-Szenen auseinander zu halten. Kürzlich wurde darüber berichtet, dass zu Sendezeiten, die vornehmlich von Kindern frequentiert werden, die meisten brutalen Gewaltszenen über die Bildschirme gehen. Besonders die großen Privatsender leisten hier angeblich Pionierarbeit. Abhanden gekommene Schutz- und Schonräume für Kinder werden möglicherweise weiter reduziert. An zahlreichen pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten wird gegenwärtig über Gewaltphänomene geforscht. Die Aussagen sind unterschiedlich. Ich denke gewiss, dass die „ständige“ Konfrontation mit audiovisueller Gewalt Hemmschwellen niedriger werden lässt, möglicherweise den emotionalen Zugang zur Gewalt vereinfacht und einzelne Kinder auch in der Realität gewalttätiger werden lässt. Bereits vor etlichen Jahren wurde seitens des Pentagons untersucht, wie man die Hemmschwelle bei Menschen herabsenken kann. In der Tat ist es so, dass Menschen leichter bereit sind, zu töten, wenn sie das Töten unter Zuhilfenahme von Computern am Bildschirm „gelernt“ haben. Der Realitätsbezug verkümmert. Kürzlich sagte ein Polizist im Radio seine Einschätzung, die ich sehr interessant fand. Befragt auf die These, dass Gewalt in den Medien Menschen in ihrem Verhalten nicht verändere, gab er zu bedenken, dass dann auch jegliche Reklame unsinnig sei und die Millionen, die für Reklamezwecke seitens der Wirtschaft aufgewendet würden, aus dem Fenster geworfen wären, wenn dauernde Konfrontation auf Dauer bei den Menschen nicht auch etwas bewirke. Dem würde ich mich anschließen. Allerdings glaube ich nicht, dass Schuldzuweisungen in eine bestimmte Richtung sinnvoll sind. Weder Gewaltfilme im Fernsehen, noch Computerspiele oder andere gewaltverherrlichenden Phänomene allein verändern den Menschen zum Monster.
Wir müssen uns zwangsläufig noch mit anderen Zusammenhängen befassen. Wir müssen über unsere eigenen Aggressionen, über Erziehung – unsere eigene und den Stellenwert von Erziehung in dieser Gesellschaft – nachdenken. Wir müssen uns ebenfalls mit struktureller Gewalt befassen. In ihrem Aufsatz „Warum brauchen wir unbedingt ein gesetzliches Verbot der Kinderzüchtigung“ (Anm. d. Red.: Dieser Beitrag war ebenfalls im NAGEL 54/1992 veröffentlicht.), zitiert Alice Miller aus dem Leserbrief eines Theologen. Dieser Brief gibt insofern gesellschaftliche Einstellungen treffend wieder, als da selten unsere hinterlistigen Denkstrukturen so deutlich gemacht werden wie in diesem Fall. Unreflektierte Sprüche wie „Prügel haben noch keinem geschadet, sehen Sie mich doch an!“ kennen wir wahrscheinlich alle. Aber dieser Theologe bezieht seine Heilslehre aus dem jahrtausende alten „Alten Testament“ und sieht im Prügeln „ein von Gott gegebenes vorstaatliches Recht“, das christlichen Eltern unbedingt vorbehalten sein müsse. Dieser Theologe fühlt sich befähigt, zwischen Misshandlung und Bestrafung klar zu differenzieren. Aus meiner Warte halte ich jede (ich wiederhole: jede!) Form von Strafe für unsinnig, schädlich und menschenverachtend. Demnach gehöre ich in den Augen dieses Theologen auch zu denjenigen, die „den pädagogisch fundamentalen Unterschied zwischen Kindesmisshandlung und einer von klaren erzieherischen Grundsätzen geleiteten maßvollen körperlichen Züchtigung, die auf das Beste des Kindes zielt (Hervorhebung des Autors) und nicht vom Affekt bestimmt ist“, nivellieren wollen. Genau! Gewalt gegen Kinder im Affekt, eine weitverbreitete Form in dieser Gesellschaft, wird mittlerweile als Hilfsbedürftigkeit interpretiert. Geplante Gewalt gehört nach Auffassung dieses Theologen zu den christlich-ethisch-vorstaatlichen Grundrechten. Sollte dies tatsächlich so sein, kann ich nur dringend dazu raten, sich vom Christentum zu distanzieren, und selbst einen Teil dazu beizutragen, den Kreislauf der Gewalt teilweise zu unterbrechen.  
LehrerInnen in den Schulen klagen über zunehmende Gewalt, die Polizei sieht sich in immer größerem Maße jugendlichen Gewalttätern gegenüber ausgesetzt. Kinderbanden treiben ihr Unwesen, begehen Einbrüche, häufen Diebesgut, werden zunehmend als Rauschgiftdealer aufgegriffen.
Kinder werden niemals von sich aus gewalttätig. Sie reagieren immer auf ihre erwachsenen Identitätsfiguren, auf ihre Vorbilder, ihre Bezugspersonen. Und sie reagieren auf das, was ihnen Staat und Gesellschaft an struktureller Gewalt zumuten. Wenn mir ständig vorgeführt wird, was mir alles zum Glücklichsein fehlt, will ich das auch haben; bekomme ich es nicht, muss ich es mir kaufen oder nehmen, wenn ich es mir nicht leisten kann. Stelle ich mir einmal die Schule vor: Kinder werden also in Schulen immer gewalttätiger. Ich behaupte, Schule ist zunächst einmal ein struktureller Apparat, der gewalttätig ist, der mit Hilfe seiner Instrumentarien über Existenzen befinden kann. Einfühlsame LehrerInnen leiden unter dieser strukturellen Gewalt ebenso wie die SchülerInnen. Kinder erleben also offene bzw. auch subtile Gewalt in der christlich-geprägten Familie (von der moslemischen wollen wir erst gar nicht sprechen), sie erleben offene und subtile Gewalt in der Schule, die von der Schule ausgeht. Kinder gehen nicht aus Spaß zum Rauschgift-Dealen (mit allen seinen – auch sekundären – gewalttätigen Begleiterscheinungen). Kinder werden z.B. zunehmend von Erwachsenen geschickt, da sie strafunmündig sind. Andere Phänomene – wie Hooligans, Glatzen usw. – sind ebenso Reaktionen auf strukturelle Gewalt, die infolge gewalttätiger primärer Sozialisationsformen fruchtbaren Boden finden können.
Von sich aus sind Kinder niemals gewalttätig. Kinder benötigen gar zu ihrer Entwicklung eine Auseinandersetzung mit Gewalt. Wichtige Erkenntnisse hat uns da Bruno Bettelheim zugänglich gemacht. Kinder brauchen Reibungspunkte, Spannung, und Erwachsene müssen ihnen behutsam dabei helfen, aushalten zu können, Konflikte ertragen zu können. Sie müssen ihnen aber vor allem auch Schutz- und Schonräume bieten, ihnen Zuneigung und Liebe geben. Sich in diesem Spannungsfeld halbwegs „vernünftig“ zu verhalten, fällt uns als Erwachsenen, die sich ebenfalls fast ausnahmslos in einer gewalttätigen Sozialisationssituation entwickelt haben, verdammt schwer. Wir müssen dies lernen. Dies bedeutet vor allem, Hinschauen zu lernen. Dies bedeutet einzusehen, dass Prügel sehr wohl schaden, dass andere Formen physischer und psychischer Unterdrückung gegenüber Kindern diese verkrüppeln und vermutlich selbst gewalttätig werden lassen. Die ihre Kinder anschreiende, verprügelnde Mutter im Supermarkt oder in der Sparkasse ist sicherlich überfordert. Aber sie ist auch unfähig, die Verantwortung zu übernehmen, die sie mit der Geburt ihrer Kinder zu übernehmen hat. Sie trägt aktiv dazu bei, ihr Kind zum Gewalttäter zu machen. Ein weiteres Symptom für die beschriebene Gratwanderung fällt mir ein, wenn ich über die „Friedensbewegung“ nachdenke und in diesem Zusammenhang an vermeintlich friedenspädagogische Ansätze. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, mit welcher Hysterie Kindern „“friedliches Verhalten“ beigebogen werden sollte: „Wenn ich bei dir eine Pistole finde, werde ich die sofort in die Mülltonne werfen!“ Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit. Wie meine Mutter bestätigt, war ich ein äußerst „friedliches“ (und ängstliches) Kind. Gleichwohl lösen mir die Erinnerungen an unsere Indianerspiele, die natürlich nicht friedlich im Sinne der beschriebenen Teile der Friedensbewegung waren, sehr angenehme Gefühle aus. Bettelheim bestätigt mit seinen Forschungen mein eigenes kindliches Erleben: Kinder brauchen Märchen. Wenn ich mit Kindern zaubere, finden sich eine Reihe „schauriger“ Elemente in der Vorstellung wieder. Und immer wieder erlebe ich, welche Freude Kinder bei diesem „Nervenkitzel“ entwickeln, ohne dass sie deshalb in ihrer Persönlichkeit geschädigt und gewalttätig werden. Eine Szene aus der Zeit des Höhepunktes der Friedensbewegung möchte ich noch beschreiben: Alltag in einer Kindertagesstätte. Die Kinder bauen mit Lego. Ein Junge hat sich einen pistolenähnlichen Gegenstand gebaut. Er nimmt ihn in die Hand und ruft: „Päng, päng, päng!“ Die Erzieherin sieht dies, kommt herbeigestürzt und schreit den Jungen hysterisch an: „Was machst du da?!“ Der Junge – ganz ruhig: „Wieso, ich habe doch nur eine Bohrmaschine!“ Er nimmt die Legopistole in beide Hände, richtet sie gegen die nächste Wand und macht: „Brr, brrrr, brrrmmm …“ Die geneigten LeserInnen mögen, wenn sie wollen, sich anhand dieser Geschichte selbst weitere Gedanken zu machen.
Wenn wir von Gewalt im Zusammenhang mit Kindern sprechen, müssen wir uns weitere Zusammenhänge vor Augen halten. Wie ist es mit meiner eigenen Gewalt? Verdeutlichen meine eingangs genannten Beispiele, wo in mir Aggression ausgelöst wird, wenn ich meine Bilder im Kopf habe, nicht auch, welches Gewaltpotential in mir selbst steckt? Inwieweit bin ich nicht selbst auch beispielsweise „ausländerfeindlich“? Inwieweit sorgen Klischees, die ich im Kopf habe, nicht auch dafür, dass ich selbst fast zur unberechenbaren Bestie werde? Wieso sollten meine Gedanken sonst um gewalttätige Abhilfe kreisen? Gut, ich fühle mehr Ohnmacht als umgesetzte blanke Gewalt. Aber was ist besser an dem Gefühl der Ohnmacht, verbunden mit blinder Wut und Zorn, als an anderen Ausdrucksformen von Gewalt? Natürlich weiß ich, dass ich mit meinem Zorn, mit meiner Wut und meiner Ohnmacht andere Menschen nicht körperlich schädige. Ich schlage halt nicht zu wie die Hooligans und die Glatzen. Aber sind das nicht nur graduelle Unterschiede? Müssen wir nicht möglicherweise radikaler denken, unsere eigenen Aggressions- und Gewaltpotentiale erkennen, deutlicher hinschauen, in welchen Zusammenhängen was passiert, um Erklärungen zu finden, Erklärungen, die unser Verhalten deutlich beeinflussen sollten? Alice Miller wirft den Menschen vor, dass sie oft Unwillens sind, sich zu informieren. Dem würde ich mich anschließen. In uns allen steckt eine Menge an Brutalitäten und Grausamkeiten; diese zu erkennen, zu durchschauen und daraus andere Standpunkte zu entwickeln und entsprechend zu agieren, wäre eine Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Nicht nur der offene Terror, die blanke Gewalt, „medienwürdige“ Vorfälle gilt es zu „problematisieren“. Es reicht nicht aus, Gewalt nur dort zu sehen, wo sie spektakulär ist, etwa im Nazi-Reich, im Çeaucescu-Rumänien, Folter in Latein-Amerika usw., sondern in uns selbst. Dazu gehört auch, unsere Angst zu erkennen, nicht nur die kurzfristige, oberflächliche Angst, sondern die, die tief in uns drin sitzt, die uns zu (mehr oder weniger heimlichen) Ausländerfeinden werden lässt. Dazu gehört auch, sich zu verdeutlichen, dass wir es hier immer noch mit Männerherrschaft zu tun haben, hinter der tagtägliche Gewalt steckt, Gewalt gegenüber Frauen, Gewalt gegenüber Kindern und Gewalt über andere Männer. Und wir müssen Standpunkte entwickeln, die Stellung und Partei beziehen gegenüber strukturellen Formen von Gewalt, gegenüber systemimmanenter Gewalt.
Augenblicklich wird vieles getan, Gewaltphänomene zu vertuschen oder aber falsche Bilder zu vermitteln. Die Metallarbeitgeber machen eine Kampagne mit einem Mann, der eine Handsäge vor sich trägt mit der Aufforderung, nicht an dem Ast zu sägen, auf dem wir alle sitzen. Nur, wenn ich darüber nachdenke, komme ich darauf, dass ich noch nie da oben gesessen habe. Über Jahre wurde uns im Zusammenhang mit Libyen ein Bild des Teufels vermittelt, das sich tief – auch in meinen Kopf – eingeprägt hat. Kürzlich hörte ich den Bericht einer deutschen Frau, die in Libyen gelebt hat. Dieser Bericht half mir, meine bisherige Meinung revidieren zu können. Unsere Medien verschweigen nämlich, dass Libyen eine hohen Bildungsstand, ausreichend zu essen und eine Reihe weiterer gesellschaftlicher Errungenschaften hat. In kaum einem anderen moslemischen Land sollen demnach so viele Rechte für Frauen realisiert worden sein wie in Libyen. Das Gesundheitssystem ist für alle kostenlos. Alle Libyer haben ihr eigenes Haus auf Kosten des Gemeinwesens, da Abhängigkeiten – in diesem Falle gegenüber einem Vermieter – weitgehend abgebaut werden sollen. Unser Bild davon freilich ist ein völlig anderes: eine Terrorgesellschaft mit einem verrückten Anführer, der pausenlos Anschläge auf Flugzeuge plant und Mordgedanken im Kopf hat. Dass dieses Land dann von den US-Amerikanern mal kurzerhand bombardiert wird, müssen wir infolgedessen richtig finden. Auch unsere fachliche Auseinandersetzung um Lebenswelten und Lebensbilder finde ich nicht unproblematisch. Liegt in der Lebensbilder-Theorie zumindest die Gefahr, den Blick zu verstellen. Muss ich dann plötzlich in Einrichtungen auch mit rechtsradikalen Jugendlichen arbeiten? Hebt dieses „kleinräumige“ Denken Klassenunterschiede auf? Gibt es nunmehr keine Ausgebeuteten und keine Ausbeuter mehr? „Das muss jeder für sich selbst ´verantworten´!“   Dieser Satz passt wie kaum ein anderer in diese Zeiten. Er ist genauso richtig wie der Spruch vom Ast, auf dem wir alle sitzen. Er ist Ausdruck einer unsäglichen, freundlichen Vertuschungsmentalität.
Und was macht das mit unseren Kindern? Ihnen gehen zunehmend die Orientierungen verloren, viele haben keine ausreichenden Zukunftsperspektiven, zu wenig Schutzräume, zu wenig Liebe. „Das muss jeder für sich selbst wissen“, bedeutet unter Umständen auch ein Sich-Verlieren im Privaten, ein Absterben kollektiven Miteinanders, das Ende der Solidarität. Kinder sind nicht allein für sich selbst verantwortlich. Kinder sind sehr wohl in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie es in einer solidarischen Gesellschaft gelernt haben. Verantwortung heißt nicht, auf einem Traum-Ast herumzusitzen. Mangelnde Orientierung im Zusammenhang mit struktureller Gewalt, im Zusammenhang mit gegenwärtiger Sozialisation und den anderen beschriebenen Phänomenen lässt die Hemmschwelle herabsinken und führt schließlich zu größerer Gewalt – auch bei Kindern. Dem müssen wir uns stellen. Dabei werden wir möglicherweise eine Menge (auch „moderner“) Einstellungen zu überprüfen und vieles über Bord zu werfen haben. Und wir müssen uns aktiv am Prozess einer „neuen Solidarität“ beteiligen.

NAGEL-Redaktion – Kinder und Gewalt Read More »

NAGEL-Redaktion – Von herzlichen Vernetzung oder Wie die soziale Pädagogik klammheimlich geopfert wird.

Von Rainer Deimel

Spürbar ist ein Unwohlsein, was oft nicht greifbar ist. Wir haben Phänomenales erlebt. Wir haben erlebt, wie der real existierende Sozialismus den Bach runter gegangen ist. Wir haben die deutsche Vereinigung erlebt. Wir erleben konsequenterweise ein Erstarken der westlichen Gesellschaftssysteme, und wir erleben, wie es sozial- und kulturpädagogischen Einrichtungen und Initiativen trotzdem nicht besser geht. Das Steueraufkommen stieg wieder. In Kommunen und in den Landeshaushalten wird gekürzt. Die Bundesregierung finanziert (Teile) der deutschen Vereinigung über „Solidarbeiträge“. Steuererhöhungen hatte sie ja vorher nicht für notwendig erachtet. Dank des Einsehens von Landespolitikern wurde im nordrhein-westfälischen Landeshaushalt nicht zu drastisch gekürzt. Nur, die Preissteigerungen, z.B. für Personalkosten werden nunmehr nicht mehr bezuschusst. Die Sachmittelzuschüsse sind schon seit Jahren festgefroren. Hoffnungen auf Änderungen haben sich inzwischen jäh zerschlagen. Somit wird der Tod auf Raten beschlossen.
Spürbar ist ein Unwohlsein. Wo wir doch alle anders miteinander umgehen. Wir überlegen uns zwar, wen wir duzen und von wem wir uns duzen lassen, aber irgendwie hat sich der Ton geändert. Wir sind freundlicher, ja herzlicher geworden. Dieter E. Zimmer dokumentiert in DER ZEIT vom 31.5.1991 einige treffliche Ausführungen unter dem Stichwort „Die Neue Herzlichkeit“. Er stellt fest, dass schroffe Lakonie ausgedient habe. Er ist der Auffassung, dass „wildfremde Menschen, die nur ein paar Auskünfte von mir haben wollen, …ihre Briefe mit Lieber Herr…“ anheben. „Der so angeredete bringt es nur noch schwer übers Herz, sich als … unlieb zu erweisen…“. Bei anhaltendem Trend müssten sich „die Partisanen der Herzlichkeit nach schärferem Zeug umsehen“ („mit heißen Küssen“). „Die Neue Herzlichkeit ist nicht auf einige wenige isolierte Formeln beschränkt. Sie weht allüberall. In dem bewussten Supermarkt brummelt die Kassiererin nur abwesend den Preis; aber in dem netten, da wünscht sie einem morgens noch einen schönen Tag, von der Mittagspause an einen schönen Abend und ab Donnerstagnachmittag ein schönes Wochenende, und wenn man den Umstand, dass sie einem tatsächlich einen Fünfzigmarkschein wechselt, mit einem das ist nett oder gar das ist lieb quittiert, tut sie es sogar in Form eines vollständigen Satzes: Dann wünsche ich Ihnen noch ein schönes Wochenende.
Dem Bahnreisenden selbst in der zweiten Klasse schallt alsbald schmeichelnd ein anderer vollständiger Satz ins Ohr: ‚Wir begrüßen Sie (das ‚wir‘ ist das sogenannte Team, eine andere sprachliche ‚Vermenschlichung‘ im Zuge der Neuen Herzlichkeit) im Intercityzug und wünschen Ihnen eine gute Reise. Der Herr, dem man eine aus seiner Zeitung gerutschte Werbebeilage aufhebt, sagt nicht etwa bloß danke oder danke sehr, sondern versichert freudestrahlend: Da bedanke ich mich aber. Die Firma, die die Skilifte betreibt, welche momentan wegen Nebels alle stillstehen, bittet auf der Anzeigetafel im Tal um Verständnis, das in diesem Fall auch nicht schwer fällt, tut aber ein Übriges: Die Luftseilbahnen wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt im Dorf. Wo früher kurz und bündig Rauchen verboten stand, hängt ein gestyltes Plakat: Liebe Raucherin Lieber Raucher Bitte rauchen Sie nicht… Der Radioansager (der Moderator) wünscht dem Schlagersänger (dem Interpreten), den er gerade nach seinem Pudel befragt hat, noch weiter viel Erfolg und alles Gute und Schöne im Leben und haut dann seinem ihm unbekannten und unsichtbaren Publikum krachend, aber herzlich auf die Schulter: Machen Sie noch was aus ihrem Tag. Wen meint er? Natürlich Sie und Sie und ganz besonders Sie. Und neulich hörte ich einen Sprecher des Postgiroamtes die Beschwerde, dass die Bearbeitungszeiten viel zu lang seien, wörtlich mit folgendem Satz antworten: Wir beim Postgiroamt haben alle die ganz, ganz sehnsüchtige Hoffnung… (dass es in Zukunft schneller geht). Kein kaltes Amt; wir, ein Team, ein ganz hervorragendes Team sogar, denn kein einziger schert da aus, wir hoffen, und zwar nicht, wie Ämter zu hoffen pflegten (‚wir hoffen auf baldige Erledigung‘), sondern jeder von uns spürt höchstpersönlich den Funken der Hoffnung in seinem Herzen, geradezu ein banges und doch auch frohes Ziehen, das er als Sehnsucht identifiziert und vor dem er wieder (ganz, ganz) klein wird. Das ganze Postgiroamt eine Kinderschar in Erwartung des Christkinds.“
Diese Neue Herzlichkeit täuscht über vieles hinweg. Diese Neue Herzlichkeit lässt sich einordnen in die Reihe von unmerklichem Identitätsverlust. In diese Reihe des Identitätsverlusts gehören symptomatisch Begriffe wie „Senioren“ und eben nicht mehr „Alte“, „Partnerschaft“ („Sozialpartnerschaft“, „Unfallpartner“), aber auch gewiss scheußliche Begriffe, die dem Index zum Opfer gefallen sind wie „Irrenhaus“, „Hilfsschule“ usw.. Ich fühle mich gewiss von dem Beamten verprellt, der mich spüren lässt, dass er „der starke, anonyme“ und möglicherweise obendrein intellektuell gesehen etwas minderbemittelte Staat ad personam ist. Diese Figur hätte meines Erachtens bereits vor Ihrer Kreierung ausgedient haben müssen. Lange Zeit haben wir als PädagogInnen – zumindest in Bereichen der Offenen Arbeit – Autorität abgelehnt. Infolge des Gefühls, von den Jugendlichen und Kindern, ja auch von deren Eltern nicht ernst genommen zu werden, besinnen sich einige von uns wieder auf Autorität, um verlorenes Terrain – in aller Hoffnungslosigkeit – zurückzuerobern. Dies kann nicht der richtige Weg sein. Ein solche Autorität ist durch nichts begründet, weder durch hohes Einkommen, noch durch hochwertige Markentextilen („Kleider machen Leute“), nicht einmal durch intellektuelle Überlegenheit. Wir wissen doch, noch von früher: Doof gebor’n ist keiner, doof wird man gemacht. Gleichwohl ist nachvollziehbar, dass wir es irgendwann leid sind, nicht nur schlecht bezahlt zu sein, obendrein in der Prestigeskala unter fernerliefen herumzuturnen und last not least wenig Möglichkeiten hinsichtlich Jobs außerhalb „der Brandung“ zu haben. LehrerInnen sind insofern etwas besser dran, da sie zumindest pekuniär, temporär und hinsichtlich ihrer Reproduktionschancen ein gutes Stück mehr Luft haben. Ich gebe mittlerweile gar zu, dass es qualitative Unterschiede zwischen PädagogInnen gibt.
Aber was ist mit den Bedingungen? Was hilft uns die Schimäre einer Autoritätsrückgewinnung? Was ist mit den Bedingungen, die mittlerweile in fast allen Bereichen pädagogischer Arbeitsfelder, die von Zuschüssen und Geldleistungen abhängig sind, zu beobachten sind? Ein „Zauberwort“ ist „Vernetzung“. Wir vernetzen uns derartig, dass wir nicht mehr wissen, wo oben und unten und rechts und links ist. Vernetzung, wenn sie möglichst laut und verkaufsträchtig ist. Bevor ich in den Verdacht gerate, ein Gegner einer vernünftigen Vernetzung zu sein, will ich ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Vor knapp fünfzehn Jahren, fingen wir (d.h. unser damaliges Team) in dem Stadtteil, in dem wir arbeiteten, damit an, uns zu vernetzen. Es war eine verdammt schwere Geburt. Nach dreijährigen Wehen gab es eine Arbeitsgemeinschaft, die bis heute noch existiert. Wir waren schlicht davon überzeugt, dass es wichtig ist, zu wissen, was im Stadtteil „läuft“ bzw. wo „angepackt“, wo was verändert werden müsste. So sind wir losgezogen, „Klinkenputzen“. Wir waren beim Pfarrer, stellten uns im Textilgeschäft vor, kauften bevorzugt im Stadtteil ein, zählten die Telefonzellen und merkten uns, wo sie standen, wir sprachen mit Ärzten und all denen, mit denen wir auch nur im geringsten zu tun hatten. So konnten wir beispielsweise auch einmal – vom Optiker spendiert – mit den Kindern einen Planetariumsbesuch machen. Wir gingen auf die Eltern zu, sprachen mit LehrerInnen, organisierten regelmäßige Elterntreffen in der Kindereinrichtung, standen Menschen auch – und vor allem – in persönlichen Notlagen bei, z.B. wenn es um Zwangsräumungen ging. Und wir schlossen uns kurz, etwa mit dem Sozialdienst, der ebenfalls zur Arbeitsgemeinschaft dazukam. Unsere Absicht war, Bescheid zu wissen, über die Menschen, mit denen wir arbeiteten, Zusammenhänge herzustellen und zu begreifen. Und schließlich gab es einmal im Jahr ein gemeinsames spektakuläres Kulturfest. Jetzt werden viele sagen: Ein oller Hut! Gewiss, gewiss, wenn man bedenkt, dass sich dies vor zehn bis 15 Jahren zutrug. Ganz abgesehen von den internen Geburtswehen (Vertrauensbildung, Offenheit, Konkurrenzabbau usw.) waren derartige Aktivitäten außerhalb der üblichen Norm. So verlangte der öffentliche Träger der Jugendhilfe, dass schriftlich zu begründen sei, um welche Kontakte es sich denn da handele und was dort getrieben würde, denn „selbst der Kontakt zum Pfarrer um die Ecke“ sei genehmigungspflichtig.
Dann plötzlich schwabberten die ersten kleinen Wellen aus dem Meer der Neuen Herzlichkeit herüber. Einige TheoretikerInnen propagierten – wie ich meine zu Recht – die Vernetzung, Stadtteilarbeit, soziokulturelle Ansätze usw. Und wie die Zeitgeistironie will, wurden uns plötzlich keine Steine mehr in den Weg gelegt (jedenfalls nicht in diesen), wir waren eher Beispiel. Und in den Stadtteilen, wo derartige Strukturen nicht gewachsen waren, sollte dem urplötzlich nachgeeifert werden.
Wie dem auch sei, Vernetzung ist das Zauberwort. Je nach Webart können Netze das Auge trüben, Zustände verdecken, und Netze können auch dazu geeignet sein, Fische zunächst aus dem Meer und später aus dem „Verkehr“ zu ziehen. Netze können Kontrolle verstärken. Was nicht heißt, es solle nicht kontrolliert werden. Ich wäre der letzte, der Einrichtungen die Stange halten würde, deren Funktion sich beispielsweise darin erschöpft, dass MitarbeiterInnen sie als „private“ Einrichtung für ihre jeweiligen mehr oder weniger kreativen oder kulturellen Bedürfnisse pflegen, der Jugendhilfebedarf im Stadtteil nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Gerade in dieser Beziehung halte ich eine Kontrolle für unumgänglich. Eine Kontrolle allerdings muss fachlichen Gesichtspunkten entsprechen. Es kann hierbei nicht um Größen wie Quadratmeternutzungszahl gehen. Die Erfolgskriterien müssen sich am Jugendhilfebedarf messen. Und hierbei kann Vernetzung ein willkommenes Instrumentarium sein. Vernetzung kann der Evaluation auf größerer Ebene gute Chancen geben mit dem Ziel, die pädagogische Arbeit im Stadtteil effektiv zu verbessern.
Vernetzung ist kein Instrument der Marktwirtschaft. Und ohne ausreichende Subventionen der Jugendhilfe ist Vernetzung nicht möglich. Sie bleibt Augenwischerei. Es läuft darauf hinaus, dass nicht diejenigen Überleben werden, deren wesentliches Interesse die Jugendhilfe ist, die sie oftmals „im Stillen“, aber mit „Tiefgang“ betreiben, sondern die, die viel Geschrei um „Oberflächliches“ veranstalten, die sich gut „verkaufen“ können, deren Feste am besten besucht sind, wo möglicherweise das meiste Bier verkauft wird (Vorsicht: Sarkasmus!), die Zirkusparaden veranstalten, Hauptsache: laut und Hauptsache: bunt. Und währenddessen wird munter gespart, gekürzt und hier und da Karriere gemacht. Mit pseudokommerziellen Rummel wird in der Fußgängerzone der dankbaren Öffentlichkeit einmal wieder ein Wipppferdchen übergeben. Vielleicht steht’s vor der Pommesbude, die für Kinderfeste auch lustige Clowns zu vermieten hat mit vielen, vielen Burger-Überraschungen. Man könnte es dann gleich mit der Rutsche vor dem Kaufhaus, was im Zuge des kinderfreundlichen Politklimas gute Geschäfte mit den lieben Kleinen wittert, vernetzen. Daraus lassen sich dann ganze Spiellinien bauen, kunstvoller als Spinnennetze. Kostenbeteiligung ist nahezu eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht etwas platte Beispiele angesichts des steigenden und steigenden Einnahmebooms von Wirtschaft und Handel in den letzten Jahren in Westdeutschland. Die meisten Unternehmen haben eine gute Mark gemacht und die öffentlichen Hände kürzen und kürzen, weil ihnen zunehmend Scheibchen für Scheibchen abgeschnitten wird. Über Prunk-Theater- und andere Bauten will ich mich jetzt nicht auslassen. JedeR von uns muss sich manchmal auch einen netten und teueren Fummel leisten. 
Und jetzt spüren wir wieder dieses dubiose Unwohlsein. Wie ist denn das möglich? Es wird gekürzt und gekürzt. Was tun wir tagtäglich? Wir reißen die besten Projekte auf und ab. Wir hecheln der Presse hinterher. „Öffentlichkeitsarbeit“, nicht in dem Sinne, dass wir für unseren Stadtteil transparent werden, sondern dass wir möglichst oft in der Zeitung stehen, im Lokalradio oder -fernsehn erscheinen: „Kids, tigert zum Jugendzentrum, hier produzieren die SozialarbeiterInnen die besten Pommes, gleich nach der Frittenschmiede ‚Zum Plastikdreizack‘ auf der Bahnhofstraße!“
Es ließe sich noch weiter auf die Spitze treiben. Aber darauf kommt es nicht an. Es kommt vielmehr darauf an, Aufträge des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ernst zu nehmen, eine ordentliche Jugendhilfeplanung durchzuführen und danach zu handeln. Es kommt darauf an, dass Kommunen und Länder endlich einmal ganz massiv deutlich machen, dass Jugendhilfe nicht nach Prinzipien der Marktwirtschaft funktioniert, sondern dass sie ein unumgängliches „Subventionsgeschäft“ in einer Gesellschaft darstellt, die Sozialstaatlichkeit für sich reklamiert. Es kommt auch darauf an, deutlicher zu machen, dass das Argument von der unterschätzt teueren DDR auf unabsehbare Zeit nicht dazu herhalten kann, direkte und indirekte Kürzungen, zu legitimieren. Es kommt auch darauf an, dass diejenigen, die ihren Jugendhilfeauftrag ernst nehmen, deutlich machen, dass sie „die Schnauze voll“ haben. Es kommt weniger darauf an, dass der moderateste Vernetzer irgendwann karrieremäßig mit dem Amt eines Kinderbeauftragten abgefunden wird. Auch gegen dieses Amt will ich nicht unisono anstänkern. Ich halte es gar für ein wichtiges Amt, solange es unabhängig – sprich im Sinne der Kinder – wahrgenommen werden kann. Überflüssig ist es, wenn es lediglich der Profilierung bestimmter Leute dient. Und darüber hinaus sollten Profilneurosen eher etwas für die Psychiatrie sein. Wenn Kinderinteressen nur sekundär, tertiär oder peripher eine Rolle spielen, brauchen die Kinder dieses Amt nicht.
Man kann Kinder- und Jugendinteressen nicht mit einem Amt in der Administrative dienen, wenn diese nicht unmittelbar und unabhängig Einflüsse gewinnen können. Kinder sind unmittelbar, demokratisch, mündig zu beteiligen. Kinderfreundlichkeit qua verbum gleich auch als Kinderfreundlichkeit hinzunehmen, ist möglicherweise ein Irrtum. Da halte ich es lieber mit den AntipädagogInnen, die fordern, Kinder von vornherein vorbehaltlos zu beteiligen, auch wenn es für uns als Erwachsene oft bis an die „Schmerzgrenze“ geht. Ich erlebe allerdings – auch ohne autoritäres Gehabe – , dass Kinder diese Schmerzgrenze begreifen lernen, selbst wenn ich ihnen dabei manchmal sagen muss, dass sie mir jetzt „den Buckel runterrutschen“ oder mich sonst wo können…
Nur, ernst nehmen muss ich sie. Ich muss sie, genauso wenig wie die Jugendlichen, ein- und volllullen, sondern ihnen zum Beispiel sehr deutlich machen, dass ich keinen Bock mehr habe, Einsparungen, Vernetzungen und Verblendereien auf ihre Kosten widerspruchslos hinzunehmen.

NAGEL-Redaktion – Von herzlichen Vernetzung oder Wie die soziale Pädagogik klammheimlich geopfert wird. Read More »

Mitglied werden

ABA-Mitglieder begreifen sich als Solidargemeinschaft. Sie setzen sich in besonderer Weise für die Belange der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein.

Mehr …

Aktuelle Projekte

Was macht der ABA Fachverband eigentlich? Hier stehts´s! Besuchen Sie die derzeitigen ABA-Baustellen.

Mehr …

Der i-Punkt Informationsdienst: handverlesene Infos aus der ABA-Welt, regelmäßig und kostenlos, direkt in Ihr Postfach.
Hinweis: Ihre E-Mail Adresse wird gespeichert und verarbeitet, damit wir Ihnen eine Bestätigungsmail schicken können. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Nach oben scrollen