Konservative Tendenzen in der gegenwärtigen Diskussion um
Gewalt, Erziehung, Jugend und Rechtsradikalismus
(Kolumne aus: DER NAGEL 56/1994)
Von Steffen Moderau
In der Absicht eine gewisse „Tiefendimension“ in die Diskussion um die Entstehungsbedingungen von Gewaltformen zu bringen, auch verstanden als Gegenthese zu den Gesellschaftstheoretikern à la HEITMEYER, kolportiert der SPIEGEL jene evolutionsbiologischen Axiome erneut, die einen genetischen Zusammenhang von menschlicher Aggression und Zivilisation behaupten. Der sozialdarwinistische Verweis auf jenen „genetischen Eigennutz“ (Richard DAWKINS), der der aggressiven Potenziale bedarf, um seine überlegene Genstruktur seinen Nachkommen weiterzugeben, gerät, da er bewusst in den Zusammenhang des Gewaltdiskurses gestellt wird, schnell in das Fahrwasser rechtsradikalen Rassismustheorien.
Vollends abstrus werden solche reduktionistischen „Theorien“, wenn sie ihren Geltungsbereich in die Zivilisations- und Gesellschaftskritik hinein ausweiten. Sie enden dann in schöner Regelmäßigkeit in ordnungspolitischen Diskursen autoritärer Provenienz, in denen dem Menschen dann jedwede Zivilisierung abgesprochen wird oder nur im Kontext autokratischer Institutionen und rigider Moral von Herrschaft und Unterwerfung. Diese monokausalen und eindimensionalen Erklärungsversuche haben gewissermaßen einen „anti-demokratischen“ Strukturdefekt schon innerhalb dessen, was ihre Theorien politisch implizieren.
Nicht nur Gewalt, sondern auch Fremdenfeindlichkeit solle sich im Rahmen solcher Theorieansätze begründen lassen (vgl. EIBL-EIBESFELD). Damit wird rassistisches Verhalten gleichsam zum „Normalzustand“ erhoben. Alle nicht-rassistischen Reaktionen bekommen so quasi „pathologische“ Züge, werden „entmenschlicht“, da sie ja eigentlich nicht der „Natur der Menschen“ entsprechen.
Solche deterministische Konstruktionen bringen lediglich Mythologien hervor, die die „Ethnie“ zur „imaginierten Gemeinschaft“ (Benedict ANDERSON) erheben, angefüllt mit nationalem Pathos. „Das Böse lässt sich weder erklären noch ändern, sondern nur zähmen, bekämpfen, ausgrenzen“ (1), könnte man das Programm der Anhänger solcher Theoreme zusammenfassen. „Was wir brauchen, ist nicht die Illusion der Gewaltlosigkeit, sondern eine Erziehung zur Gewalt, die das Böse nicht leugnet, sondern den Umgang mit ihm übt“. (2) SPIEGEL Essayist Dietmar PIEPER begreift „Gewalt (als) menschliche Konstante“ (3), deren Formen mal mehr, „mal weniger gesellschaftsschädigend sind. In der Differenz liegt das ganze Potenzial erzieherischer Wirkung… Deshalb erleben wir derzeit gesellschaftlich weniger einen Zuwachs von Gewalt als einen ersatzlosen Abbau von Illusionen christlich-abendländisch-kommunistischer Art“(4). Damit werden die Einfallstore für jene zeitgenössische konservative „Kritik“ geöffnet; erstens: Jedwede kritische Gesellschaftstheorie soll durch Ethik und Moral ersetzt werden (5); zweitens: Die Idee der Veränderung (nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit), d.h. die Abschaffung der Ursachen gesellschaftlicher Widersprüche wird mit der Behauptung des „Endes aller Utopien“ gleichsam mit verabschiedet.
„Wo nach dem Krieg die moralisierenden Konservativen zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft auf die vormodernen Prinzipien der Gemeinschaft, der Religion und des starken Staates zurückgreifen, da entdecken die Neukonservativen seit Mitte der 50er Jahre, dass die kapitalistische Industrialisierung wider alle Erwartungen selber in der Lage ist, haltbare Integrationsmedien auszubilden. Über Arbeit und Konsum gelingt es, den ´Aufstand der Massen´ zu beenden“ (6).
Schon die konservative Massenkritik beklagte das entwurzelte Individuum und die „Kräfte der Selbstzerstörung“ der Gesellschaft. An die Stelle „seelenloser Kollektive“ (GLASER, 1956) sollte wieder „echte“ Gemeinschaft treten. Aber das „Pathos der natürlichen Gemeinschaft schlägt um in die Apologie autoritärer Herrschaft. Es nimmt damit eben die Züge an, die man seinem Gegenteil: der Masse, zugeschrieben hatte. Es huldigt dem Affekt gegen das Fremde, tabuisiert Differenz, wettert gegen Autonomie, desavouiert Subjektivität, grenzt Abweichungen aus, erhebt den Durchschnitt zur Norm, fordert Führer-Autorität. Das moralisierende Gemeinschaftspathos, dieser Inbegriff des kollektiven Narzissmus, endet totalitär …“ (7).
In der Dekade zwischen 1950 und 1960 etabliert sich in Deutschland jene „neukonservative Theorie der integrierten Masse“ (8), dessen wichtigste Protagonisten u.a. die Soziologen GEHLEN und SCHELSKY waren. Aus Amerika wird der Begriff des „außengeleiteten Menschen‘ (David RIESMAN) in deutsche Diskussion eingeführt. RIESMAN’s Buch „The lonely crowd“, dessen deutsche Ausgabe 1956 erscheint, beschreibt die kulturellen Umformungen der amerikanischen Konsumkultur, die deutsche Konservative eher als Kulturverfall identifizieren: nach RIESMAN eine „Epoche, in der die Menschen die Wünsche der anderen zum Maßstab erheben, aus Politik eine Show machen, aus dem Beruf den Job, aus der Muße das week-end, aus der mütterlichen Sorge um die Familie das joy of cooking, aus der Familie die peer-group, aus der Liebe den Sex:“ (9).
Doch SCHELSKY sieht in diesen Veränderungen auch neue Strukturen entstehen, in der die „‚außen-geleitete(n) Gesellschaft eine Epoche neuer sozialer Stabilisierung“ (SCHELSKY, 1956) erreicht. „Stabilität“ wird fortan zum „konservativen Zauberwort“ (10).
GEHLEN hält der Moderne vor, dass aus dem „allgemeinen Wettrennen nach Wohlleben“ keine „neue Sinngebung des Lebens“ (GEHLEN, 1952) hervorgehen kann. „Die Orientierung am Konsum bedeute am Ende nur Sinnentleerung und Persönlichkeitsverlust. Der Reichtum der Konsumgüter verpflichte zu nichts. Ohne Verpflichtung aber sei das Leben unmöglich. – Auch die Gruppe bietet da keinen Schutz“, fasst Helmut KÖNIG (11) GEHLENS Vorbehalte zusammen.
Dennoch wird die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, ihre technisch-industrielle „Rationalität“ sowie die institutionelle Absicherung zur unhinterfragten Norm erhoben (vgl. Helmut KÖNIG (12) ), eine Norm, die moralisierende Verhaltensimperative vorgibt, denen sich das Individuum in nichtreflexiver Form zu beugen hat. Dies macht den konservativen Kern der Soziologie und Kulturkritik à la GEHLEN und SCHELSKY aus.
Die zeitgenössische konservative Theorie oder die „‚postmoderne‘ konservative Theorie der individualisierten Gesellschaft“ (13) teilt mit ihren Vorgängern nicht mehr die Angst vor der wurzel- und heimatlosen Masse, die als „revolutionäre Masse“ die bürgerliche „Ordnung“ hinwegfegt. Die Masse ist heute nur noch als Summe „individualisierter“ Einzelsubjekte präsent. „Schon in den Anfängen der bürgerlichen Sozialpolitik war Individualisierung ein favorisiertes Mittel gegen die Vermassung. … Aber wo mit Individualisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Verwurzelung, Familialisierung und Verhäuslichung gemeint war, da verbinden wir heute mit ihr das Gegenteil: Der Individualisierte ist nicht der, der Wurzeln geschlagen hat, sondern der vollmobile, flexible, der boden-, familien- und heimatlose Einzelne“ (14).
Nun behaupten die Anhänger eines radikalen ökonomischen Liberalismus immer noch, dass „die desintegrativen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft … nicht dem Marktprinzip anzulasten (seien), sondern umgekehrt seiner künstlichen Einschränkung“ (15). Alle destruktiven Kräfte einer entfesselten Konkurrenz und Universalisierung des Marktes werden verleugnet. Doch der Konservatismus „der Gegenwart ist überzeugt davon, dass die einzige Chance für die Erneuerung der Industriegesellschaft in ihrer weiteren Modernisierung – in der Universalisierung des Marktes – liegt“ (16).
Im ordnungspolitischen Diskurs des Konservatismus soll sich der Staat, als Inbegriff des Politischen, wieder seinen eigentlichen Aufgaben zuwenden. Sozial- und wohlfahrtsstaatliche Strukturen sollen zurückgebaut werden und in den Mittelpunkt rückt das staatliche Entscheidungs- und Gewaltmonopol als das „Zentrum der sozialen Integration“ (17). Eine prinzipiell funktionalistische (18) Sichtweise ersetzt das vormals geschlossene Weltbild des gegenwärtigen Konservatismus. Es geht darum, „nach Kompensationen für die negativen Folgen der unvermeidlichen Modernisierung zu suchen“ (19). Nicht der Gegensatz „‚wahr'“ oder „falsch“ dient mehr dazu, einen Seinszusammenhang zu konstituieren, sondern „Funktionserfüllungen praktischer Art“ (Hermann LÜBBE) werden „zweckmäßig oder unzweckmäßig“ (LÜBBE) genannt. „Nicht um Wahrheit geht es Ihnen, sondern um Wirkung, nicht um Kultur, sondern ums Spektakel, nicht um Werte, sondern um Berechnung der Interessen und Machtchancen“ (20).
Wenn es dennoch immer wieder auch Rückfälle in konservative Werte-Debatten gibt, so liegt das daran, dass ihre Protagonisten den entscheidenden Widerspruch gesellschaftlicher Entwicklung nicht sehen: es sind ja nicht die „individualisierten Individuen“, die die Moralimperative untergraben, sondern es sind die Struktureffekte der technisch-wissenschaftlichen Modernisierung, die die Konservativen kritiklos forcieren, und die den Moralaposteln den Boden unter den Füßen wegziehen.
So ist es eigentlich verwunderlich, dass gerade im Zuge der Auseinandersetzung mit Gewalt, Jugend und Rechtsradikalismus auch liberale und linke Wortmeldungen sich zunehmend einem Moraldiskurs verschreiben. Während Karl Otto HONDRICH (21) im Zuge der Individualisierungsschübe noch ein „chronisches Defizit an kollektivorientierter … Moral“ (22) sieht, so beklagen Jörg BERGMANN und Claus LEGGEWIE (23) das Fehlen jedweder individueller Moralität bzw. das Zerfallen von Moral in einzelne Teile, „die von ihrem Träger nicht mehr zusammengesetzt werden können“ (24).
An den Bruchstellen zwischen sozialer Desintegration und Individualisierung einerseits und den Ebenen sozialer Milieus anderseits sollen nun jene destruktiven Kräfte sich dynamisch Bahn brechen, die nicht nur jede, noch so geringe moralische „Reziprozität“ (Hauke BRUNKHORST) (25) absorbieren, sondern Gewalthandeln als eine „punktuelle“ Form der Selbst-Versicherung des Individuums im steigenden Maße wahrscheinlicher macht. Die allgemeine Orientierungslosigkeit der jungen Generation, ihre „egoistisch“ und narzisstisch überhöhte Selbstbezogenheit, solle zu jener Auflösung jeder gemeinschaftsverpflichtenden Moralität führen, die sich dann auch in menschenverachtenden Mord- und Brandanschlägen äußert.
Damit stellen sich die beiden Kursbuch-Autoren in die Tradition jener konservativen Kultur- und Gesellschaftskritik, die hartnäckig Ursache und Wirkung verwechselt. Sie sprechen jenen von ihnen beschriebenen „Tätern“ jede Ratio ab und beklagen das „Fehlen der grenzensetzenden Instanz“ (26) einer „kraftlos gewordenen Konsumgesellschaft“ (27). Noch einen drauf setzt Peter SCHNEIDER (28) im gleichen Kursbuch. „Diese Halbwüchsigen ‚verachten‘ die elementarsten Regeln der Fairness nicht etwa, sie kennen sie gar nicht und haben sie nie, nach den Gesetzen von Lohn und Strafe erlernt. Sie sind entmenscht und zu Bestien geworden, sie wurden erst gar nicht zu Menschen gemacht“ (29).
Nicht nur, dass das Gewaltproblem erneut – wie schon Anfang der 80er Jahre im Zuge der sogenannten Jugendunruhen in europäischen Metropolen – auf eine „Teil- bzw. Randgruppe“ der Gesellschaft eingegrenzt werden soll, sondern als Mitverantwortliche werden jene identifiziert, die sich der Erziehungsaufgabe widmen: Lehrer, Eltern, Erzieher. Auch damals lautete die Parole: „Mut zur Erziehung“. Was Aufgabe der Politik der „Zivilgesellschaft'“ wäre, eben nicht einen dogmatischen Tugendkanon „abzuarbeiten“, sondern rationale Verfahrens- und Kommunikationsstrukturen gesellschaftlich zu etablieren, die auch die ökologischen und ökonomischen „Verteilungskämpfe“ regulieren, kann nicht ausschließlich auf dem engen Feld der Pädagogik eingelöst werden. Hier wird die Illusion – auch von Teilen der (Sozial-)Pädagogik selbst – genährt, die Lösung liege in der Bereitstellung entsprechender (nicht nur finanzieller) Mittel. Die Moralisierung sozialer Konflikte blendet die Systemwidersprüche weitgehend aus und installiert die Suche nach einer „staatlichen Autorität“, die jeden Dissens als antikonstituiv verwirft.
Augenfällig offenbart sich ein unhistorisches Geschichtsverständnis. Manchmal kann man den Eindruck haben, einige Protagonisten dieser konservativen Erziehungsdogmatik wünschten sich die stupiden Autoritarismus der Adenauer-Ära zurück, als Inbegriff einer „stabilen Ordnung“, die sich gegen die zeitgenössische „Unübersichtlichkeit“ abhebt. Doch, „Identitäten, die zu einer demokratischen Verfassung passen, lassen nicht mehr zu e i n e m Kollektivbewusstsein bündeln“ (30). Da sich die gesellschaftliche Integration in den „Bereich alltäglicher Lebensführung vorverlagert“ (31), sich ein „privater Sinnbegriff“ (32)entwickelt hat, kann auch eine intersubjektiv verbindliche Moral die Verhältnisse nicht mehr rückgängig machen.
„An die Stelle einer Zähmung von Individualinteressen durch eine übergeordnete Moral tritt die Abspaltung eines privaten Lebensbereichs. Dort geht es um das ‚konkrete Individuum‘, seine Neigungen und Interessen, was in diesem Lebensbereich der Disziplinierung Grenzen setzt“ (33). Der Erziehungsoptimismus, dem auch linke Pädagogen anhängen, der ein „Bild einer unbegrenzten Erziehbarkeit zum Besseren“ (Benno HAFENEGER) postuliert, findet in der Familialisierung und Pädagogisierung sozialer Konflikte bzw. deren Umdeutung in jugendsoziologische oder jugendpolitische Problemfelder ihren sinnlichen Ausdruck. Die aus dem vorrevolutionären Vormärz stammende „romantische“ Angst, Jugend könne eine Gesellschaft aus den „Fugen“ heben, bildet offenbar immer noch den Hintergrund konservativer Gefahrenszenarien.
Dass die „Gesellschaftliche Mitte“ (vgl. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ Ã la SCHELSKY) nun über das Aufbrechen von Gewaltstrukturen aus ihrer ‚Mitte‘ heraus so erschrocken ist, ist eher ein blinder Fleck in der Ideologie des Konservatismus, als wirkliche moralische Empörung. Der konservative Kernbestand der Gesellschaft bekommt heute einen Spiegel vorgehalten. Die politische Zuordnung von Gewaltaktionen der jüngsten Vergangenheit fast ausschließlich in das rechtsradikale Lager verdeckt eher die Querverbindungen zum Konservatismus. Es soll hier keiner Relativierung rechtsradikaler oder rassistischer Gewalt das Wort geredet werden. Doch die Deregulierungspolitik der regierenden Koalition (34) hat jene Entsolidarisierungsprozesse mit begünstigt und jede reflexive Regulierung ungehemmter Marktinteressen blockiert, die nun im Rahmen der Prozessen der Individualisierung und Desintegration als dynamische Gewaltphänomene an die Oberfläche gelangen. Es lässt sich kein „steuerndes Zentrum der Gewalt mehr angeben“ (35), doch damit wird sie weder beliebig oder zufällig, noch vervielfältigt sie sich quasi aus sich selbst heraus.
Waren früher die marginalisierten Bevölkerungsgruppen relativ resistent gegen konservative Moralisierungskampagnen, so hat heute der funktionalistische Konservatismus nicht nur das Vokabular der Aufklärung übernommen, sondern auch erkannt, dass eine gewisse Sorte von Aufmüpfigkeit durchaus innovativ für das System sein kann. „Es sind immer nur Minderheiten, die sich öffentlich äußern. Die Mehrheit, jede Mehrheit schweigt“ (Hans Magnus ENZENSBERGER). Was ehedem Herd des Aufruhrs und des Widerstands war, verwandelt sich zusehends in „moderne Normalität“.
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“ Diesen schönen Satz von Theodor W. ADORNO könnte heute auch jeder konservative Intellektuelle unterschreiben, auch wenn er ihn inhaltlich umdeutet. „Man muss also zu einer Idee und Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist“. (LYOTARD) Hier versagt der Konservative noch jede Zustimmung. Angesichts der stets beschriebenen Labilität, geringeren Verlässlichkeit sozialer Beziehungen und unklarer Entwicklungsperspektiven des Individuums trägt das Beharren auf den Konsens fast „freundlich alternative“ Züge. Doch wenn immer noch von der Grundthese ausgegangen wird, dass die Vermehrung des persönlichen Eigennutzes zugleich die Wohlfahrt aller mehre, so bedeutet dieser Satz im Zeichen gesellschaftlicher Krisen: Nicht das ökonomische oder politische System als Ganzes ist in der Krise, sondern es gerät in Schwierigkeiten durch die „überzogenen“ Ansprüche und Erwartungen des Einzelnen oder in unserem Zusammenhang, durch die Gewaltexzesse einzelner, die das Zusammenleben aller stören. In einer solchen Perspektive verweist Gewalt stets auf individuelles „Gewalthandeln“, das zum einen immer auf ein subjektives „Scheitern“ an den gesellschaftlichen Herausforderungen hindeutet, zugleich aber die Sanktionen des staatlichen Gewaltmonopols in Gang setzt, die den „schon Gescheiterten“ nochmals treffen.
Die damit direkte Etablierung und Problematisierung des „Einzelfalls“ konstituiert eine Gewaltvorstellung als „singuläres'“ Ereignis gleichsam mit. In der Vervielfältigung solcher, nicht zuletzt medial vermittelten, singulären Gewalttätigkeiten, die zunächst zusammenhangslos nebeneinander stehen, wird über ihre bloße Addition plötzlich ein Grad an Eskalation unterschwellig mit formuliert. In ihrer „Verdichtung“ und dem Hinweis auf ihren „kriminellen Charakter“ kann nur die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Betroffenen vollendet werden.
Die Pädagogik insgesamt muss sich die Frage stellen, ob und wie sie sich an solchen Diskursen beteiligen will. Die Frage nach den Interventionsstrategien, so wie sie z.B. LEGGEWIE oder SCHNEIDER im Kursbuch vorschlagen, könnte den Verdacht nahe legen, dass das Prinzip der Gewaltfreiheit pädagogischen Handelns zumindest relativiert werden soll. Vielleicht provozieren sie aber auch bewusst Missverständlichkeiten, um das bisher stets indifferente Verhältnis von gewollter Autonomie und Selbstentfaltung einerseits und sozialer Kontrolle und Disziplinierung innerhalb pädagogischer Verhältnisse andererseits zur Sprache zu bringen. Der schon heute vorhandenen enge „Konnex zu Instanzen der Kontrolle und Sanktionierung“ (36), die institutionelle Abhängigkeit und die Tendenzen zu einer „Normalisierungsarbeit“ sozialer Arbeit, müssen dabei gleichzeitig mit thematisiert werden.
Das Projekt der Emanzipation, mit dem die Moderne stets gleichgesetzt wird, sieht noch seiner Verwirklichung entgegen. Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen „Roll-back“ sollte man sich gelegentlich daran erinnern.
Der Autor Steffen Moderau war viele Jahre beim ABA Fachverband tätig und lebt in Dortmund.
Der Beitrag wurde im August 2002 ins Internet gestellt.
Anmerkungen:
1 Klaus GÜNTHER, „Gegenwärtige Beschwörung des Bösen“, FR vom 16./17.11.1993
2 DER SPIEGEL Nr. 7, 1994, S.47
3 ebenda
4 ebenda
5 vgl. Heinz SÜNKER, „Politik und Moral oder: Wider die Moralisierung des Politischen“ in: Widersprüche Nr. 33, 1989, S.21-29
6 Helmut KÖNIG, „Von der Masse zur Individualisierung. Die Modernisierung des Konservatismus in der Bundesrepublik“ in: Leviathan, 16. Jg., 1988, Heft 2, S.261
7 ebenda, S. 260
8 ebenda, S. 261
9 ebenda, S. 262
10 ebenda
11 ebenda, S. 254
12 ebenda, S. 264
13 ebenda, S. 265
14 ebenda, S. 266
15 ebenda S.267; vgl.: „Das höhere Maß an Vielfalt, Pluralität und Dezentralisation stellt höhere Ansprüche an die Autorität der Gesamtordnung“ (Kurt BIEDENKOPF)
16 ebenda, S. 268; vgl.: die neuen elitetheoretischen Diskurse
17 ebenda, S. 271
18 ebenda
19 ebenda, S.270
20 ebenda
21 Karl Otto HONDRICH, „Der Wert der Gleichheit und der Bedeutungswandel der Ungleichheit“ in: Soziale Welt, 35. Jg., 1984, Heft 3, S.267-293
22 ebenda, S. 290
23 Jörg BERGMANN/Claus LEGGEWIE, „Die Täter sind unter uns – Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands“ in: Kursbuch 113, 1993, S.7-37
24 ebenda, S. 24
25 Hauke BRUNKHORST, „Krise der Demokratie ?“, FR 05.02.1994
26 BERGMANN/LEGGEWIE, S. 21
27 ebenda, S. 35
28 Peter SCHNEIDER, „Erziehung nach Mölln“ in: Kursbuch 113, 1993, S.131-141
29 ebenda, S. 141
30 BRUNKHORST, s. Fußnote 25
31 Dietmar BROCK „Wiederkehr der Klassen? Über Mechanismen der Integration und der Ausgrenzung in entwickelten Industriegesellschaften“ in: Soziale Welt, 44 Jg., 1993, Heft 2, S.181
32 ebenda S.181; vgl.: Privatisierter Sinnbegriff: „Sinn ergibt sich als Selektion aus der jeweils zugänglichen materiellen Kultur.“ (S.181)
33 ebenda, S. 184
34 Anm. d. Red.: Seinerzeit regierte eine CDU-FDP-Koalition. Nach dem rot-grünen Regierungswechsel wurde aber weiterhin eine Politik der „gesellschaftlichen Mitte“ fortgesetzt.
35 Ulrich BIELEFELD, FR vom 16.06.1993
36 Albert SCHERR, „Anforderungen an professionelle Jugendarbeit mit ausländischen und gewaltbereiten Jugendlichen“ in: neue praxis, 22. Jg. 1992, Heft 5, S.390