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NAGEL-Redaktion – Grazyna Gintner

Grazyna Gintner hat als Journalistin in Polen gearbeitet. Seit etlichen Jahren lebt sie in Hannover. Zu lesen sind ihre Texte auf „suite101“, dem größten Autorennetzwerk im deutschsprachigen Raum.. Unter dem Pseudonym Lydia Sanojar hat sie ihren Roman „In einem Atemzug“ im BoD-Verlag veröffentlicht.

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NAGEL-Redaktion – Die Crux mit der Betreuung

(Kolumne aus: DER NAGEL 63/2001)

Von Rainer Deimel

„Soviel Aufsicht war nie. Vom Babyfon bis zum Juniorhandy, vom ersten Zucken im Mutterleib bis zum ersten Pickel wird unser Nachwuchs sorgfältig überwacht und qualitätskontrolliert. Und während die äußeren Freiräume schrumpfen, kümmert sich eine machtvolle Industrie um die Usurpation der inneren Räume eines jeden einzelnen Kindes.“ So skizziert Irene Stratenwerth die augenblickliche Situation von Kindern (DIE WOCHE Nr. 32/2001). Statt Kindern müssten Erwachsenen Grenzen in ihrem Mobilitätswahn, ihrer Zerstörungswut, ihrer Habgier, ihrem Ehrgeiz und ihrer Eitelkeit gesetzt werden, postuliert sie weiter. Leider seien sie – die Erwachsenen – schwer erziehbar, sonst gelänge es, sie in ihre Schranken zu verweisen und Kinder könnten neue Freiräume gewinnen.
Unsere postmoderne Gegenwart schillert zwischen scheinbarer Beliebigkeit, der „völligen“ Individualität bis hin zum normierten Massenmenschen, der „Menschenschwärze“ (Peter Sloterdijk). Offensichtlich haben gesellschaftliche Veränderungen, die rasante Entwicklung hin zum Turbokapitalismus, dazu geführt, Menschen stark zu verunsichern. Huckleberry Finn und Pippi Langstrumpf verbleiben im Märchen. Die Eltern der jetzt heranwachsenden Kindergeneration kennen diese Figuren auch nur noch aus dem Buch oder aus Filmen. Selbst im Wald gespielt (zum Beispiel) haben sie nur noch vereinzelt. Sich einmal – welch sinnliche Erfahrung! – am Feuer die Finger verbrannt? Wie sollte sich jemand am Feuer die Finger verbrennen, wenn er kaum noch in der Lage ist, ein Streichholz anzuzünden? Die weltlichen Gefahren, Bedrohungspotenziale durch unbekannte Effekte und Wesen wie Sittenstrolche, scheinen nie gekannte Dimensionen angenommen zu haben. Wer kennt es nicht, das Pädagogenkind, das zum Schutz seiner besorgten Eltern in der Wohnung mit einem Fahrradhelm herumläuft, da es die Möbelindustrie immer noch nicht hinbekommen hat, ihre Produkte kantenfrei zu produzieren? Vielleicht kennt man dieses Kind auch deshalb nicht, weil es beim Spielen auf dem Spielplatz von einem Klettergerüst gefallen und unglücklicherweise wegen des zu breiten Helms zwischen zwei Balken hängen geblieben ist und sich dort stranguliert hat. Und Richter in den diversen Gerichten plagen sich zunehmend mit Leuten herum, die in ihrer Vollkaskomentalität etwa regelmäßig Parterrebewohner misstrauisch beäugen, um sie gegebenenfalls für herabfallende Schneeflocken oder für das sich bei Kälte bildende Eis zu belangen. Nein, trotz aller Individualität sind Unterschiede eher verpönt. Es scheint nicht eine wunderbare Leistung der Natur zu sein, dass es mal Sommer und mal Winter gibt, ganz abgesehen davon, dass die Natur ihre Leistungen auch nicht mehr in der Qualität erbringt, wie es einige von uns noch  kennen gelernt haben. Ob dies möglicherweise mit der oben zitierten Habgier, dem Mobilitätswahns und dem Erwachsenenehrgeiz zu tun hat?
Wir wollen alles „sicher“ machen. Spannende Diskussionen erlebe ich bisweilen in meinen Seminaren, in denen ich versuche, pädagogische Vorgänge in einem rechtlichen Kontext zu konturieren. Da erlebe ich die risikofreudigen Kolleginnen und Kollegen, die rückmelden, endlich mal jemanden „gefunden“ zu haben, der ihre eigene pädagogische Haltung unterstützt und bestätigt. Ich erlebe auch Leute, die rezeptheischend gekommen sind und deren Vorstellungen zerplatzen. Diese melden mir, „das Seminar“ sei „schlecht“ gewesen insofern, als es sie nicht sicherer gemacht habe, sondern vielleicht noch weiter verunsichere, da eben keine Verhaltensmaßregeln vermittelt wurden. Zur Erinnerung: Augenblicklich reden wir über professionelles Handeln. Die Rechtsprechung verhandelt immer jeden Einzelfall, um zu einem Urteil zu gelangen. Grundvoraussetzung für professionelles Handeln ist fachliches Reflexionsvermögen. Ferner erwarte ich von pädagogischen Profis eine mehr oder weniger „gestandene Persönlichkeit“ sowie eine wertschätzende Grundhaltung. Vor diesem Hintergrund habe ich Freude an dem Zitat von Joachim Ringelnatz: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Und das ist nicht sicher.“ Sicher ist allerdings, dass diejenigen in ihrer Arbeit ängstlich sein müssen, die nicht professionell arbeiten; sie sind am ehesten davon bedroht, in die Fänge der Justiz zu geraten. Das betrifft den sexuellen Missbraucher genauso wie die Erzieherin, die sich „nichts dabei gedacht“ hat.
Selbst die Rechtsprechung geht seit langem von der Prämisse aus „Soviel Erziehung wie möglich, so wenig Aufsicht wie nötig!“ An dieser Stelle sei unterstellt, dass „Erziehung“ in diesem Kontext durchaus als positiver Vorgang interpretiert werden kann. Der gegenwärtige „typische Erwachsene“ fällt hinter diesen Status zurück. Das Böse lauert immer und überall. Deshalb müssen wir auf der Hut sein und uns und vor allem unsere Kinder beschützen. Und wie kann es sein, dass Kinder regelmäßig dort am ehesten zu Schaden kommen, wo sie „am besten beschützt“ werden? Betreuung im „klassischen“ Sinne schützt Kinder vor sich selbst, behindert ihre Entwicklung und verhindert ihre Emanzipation. Auf alle Fälle sorgt man so für eine einigermaßen sichere Arbeitsgrundlage für SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen und PsychotherapeutInnen; dies, obwohl „der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt“ (Rolf Degen). In einem so „verstandenen“ Konzept ist es hilfreich, möglichst viele doofe Eltern um sich zu scharen. Die „Profis“ betreuen, weil die Eltern dies erwarten. Die Eltern erwarten „Betreuung“, weil sie ihnen versprochen wird. Es ist wie mit der Henne und dem Ei. 
Professionalität hingegen würde versuchen, sich dahingehend zu engagieren, aufzuklären: Wann kann ein Kind wie am ehesten im Sinne einer gelingenden Sozialisation wovon profitieren? Gefahren (Herausforderungen), „gefährliches Spielen“ gehören dazu, wenn ein Kind sicherer werden soll. Spätestens seit Jean Liedloffs Veröffentlichung „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ (München 1980) kann sich niemand mehr herausreden, er wüsste nicht, wie was miteinander wirkt, dass Kinder fit oder unfähig werden. Ich habe meine Zweifel daran, ob die Pflege der Dummheit der Eltern die alleinige Strategie zur Sicherung pädagogischer und ähnlich intendierter Arbeitsplätze sein kann. Auf unabsehbare Zeit werden Generationen von Eltern der Postmoderne auf jene Dienstleistungen angewiesen sein.
In diesen Tagen schreckt die „Pisa-Studie“ die Fachwelt. „Wir waren es nicht“, hört man die KollegInnen LehrerInnen rufen. Die Politik war es natürlich auch nicht, die die Verantwortung für die Dummheit der Kinder der dummen Eltern übernehmen müsste. „Handlungsorientierte Pädagogik“ braucht es, hört man von der Kultusminister-Konferenz. Bei mir könnte sich so etwas wie ein „Pilatus-Effekt“ einstellen: Jener Mensch wusch seine Hände in Unschuld. Seit Jahren „predige“ ich handlungsorientierte Ansätze, komme mir nicht selten wie ein „Rufer in der Wüste“ vor. Wir kennen sie, die Konzeptionen, die Kinder Bildung angedeihen lassen, eine Bildung, die dazu beiträgt, dass sie Emanzipationserfolge integrieren können, die ihnen in vielerlei Hinsicht Entwicklungschancen eröffnen, die obendrein noch zu ihrer leiblichen wie psychischen Gesundheit beitragen. Wieso sollten derartige Konzeptionen ausschließlich in der Offenen Arbeit bleiben? Und selbst dort befinden sie sich noch in einer Nischenposition, während der größte Teil der Freizeitarbeit nicht selten wenig kindgerecht konzipiert ist. Vielmehr hat man mehr und mehr den Eindruck, dass Kinder nicht nur hinter Mauern „gefangen gehalten“ werden, sondern sich das „Programm“ immer mehr dem annähert, was die Schule offensichtlich erfolglos hingelegt hat.
Es geht hier nicht darum, bestimmte Formen der Arbeit mit Kindern, etwa die zunehmende „Übermittag-Betreuung“ (nomen est omen, oder?) in Bausch und Bogen zu verurteilen. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass bestimmte Vorgänge, die man früher etwa eher in eine familiäre Zuständigkeit gebracht hätte, von anderen Instanzen übernommen werden müssen. Dazu gehört auch, dass Kinder eine vernünftige Mahlzeit in den Bauch bekommen. Ob der „Nürnberger Trichter“ – z.B. in Form von Schulaufgabenhilfe – dazu gehört, scheint zweifelhaft, zumindest, wenn man zur Kenntnis genommen hat, dass Kinder unbelehrbar sind, sie nur lernen können (Gerold Scholz, Universität Frankfurt). Es geht darum, für Kinder und mit Kindern Entwicklungschancen zu organisieren, Milieus zu kreieren, die sich diesen spannend und erlebnisreich präsentieren. Dazu gehören vielfältige Optionen, der Umgang mit interessantem Material, dazu gehört ein Gelände, das phantasieanregend und veränderbar sein muss; dazu gehören nach Möglichkeit auch Tiere, mit denen man lernen kann, was Verantwortung ist; dazu gehören andere Menschen, die verschiedenartig sind, mit denen ich lernen kann, dass unsere Unterschiedlichkeit ein Gewinn ist. Früher hätte man in diesem Zusammenhang vielleicht den Begriff „Multikulti“ verwandt. Ich möchte diesen Ansatz lieber als integrationsfördernd bezeichnen. All dies, eine solche pädagogische Praxis, setzt ein hohes Maß an eigener Lernfähigkeit voraus; es setzt voraus, dass ich Lust auf Experimente habe, dass ich Fehler als Lernquellen erfahren kann und nicht als „mangelhafte“, „ausreichende“ oder wie sonst auch immer bewertete (Fehl-)Leistungen. Derartige Bewertungen behindern nicht nur kindliche Entwicklungen, sie sagen – bei genauer Betrachtung – eher etwas über die Bewerter als über die zu Bewertenden aus.
Kinder „süß“ zu finden oder auch eine eigene Elternschaft reichen nicht aus, professionell zu handeln. Es müssen nicht immer pädagogisch ausgebildete Menschen sein, die die Arbeit gut machen. Manchmal tun Leute mit anderen Berufen, die kindgerechte Konzeptionen internalisiert und sich gleichzeitig die Befähigung erhalten haben, zu ihrem eigenen Handeln eine kritische Distanz zu bewahren, ihre Arbeit besser als ausgebildete PädagogInnen. Diese These vermittelt zu Recht Kritik an der Ausbildungsorientierung pädagogischer Berufe. Nicht nur die Bildung der Kinder muss verbessert werden, auch die Ausbildung für pädagogische Berufe. Hierbei wird einerseits die reflektorische Seite wie auch die handlungsorientierte angesprochen. Leider kann man niemanden zum Denken zwingen, schon gar nicht in eine bestimmte Richtung. Für die Praxis möchte ich noch einmal sehr deutlich sagen: Wer Kinder betreut, dies als Grundverständnis begreift, hat nichts begriffen und wird weiterhin die Kinder in ihrer Entwicklung behindern. Eine nächste Pisa-Studie wird dann vielleicht noch miserabler ausfallen.

Datteln 2001

Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und Systemischer Berater DGSF.

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NAGEL-Redaktion – Mehr Selbstbewusstsein – bitte schön!

(Kolumne aus: DER NAGEL 60/1998)

Von Rainer Deimel

Worüber wird nicht schwadroniert in den Verwaltungen und Verbänden: Neue Steuerung, Eigenbetriebe, Privatisierung, Outsourcing, Kennziffern, Qualitätssicherung, Evaluation, Markt- und Wirkungsanalysen. Die Litanei ließe sich seitenweise fortsetzen. Gedruckte und als Bücher gebundene Dokumentationen zu diesem Themenkomplex erfahren die Weihe einer Bibel. Dies war z.B. über den 280 Seiten starken Band „Wozu Kulturarbeit? Wirkungen von Kunst und Kulturpolitik und ihre Evaluierung“ der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung1 (hinter vorgehaltener Hand, versteht sich) zu erfahren. Karl Hans Fluhr erinnert sich, dass bereits 1971 eine Kommission zur Reform des öffentlichen Dienstes eingesetzt wurde. Niemand wüsste mehr so richtig, was dabei herausgekommen sei. Die jungen Beamten wären damals lediglich an der Anhebung der Eingangsbesoldung für eine bestimmte Laufbahn interessiert gewesen.2 Trotz des auf den ersten Blick provokativen Titels ist Karl Hans Fluhr, Leiter des Hauptamtes einer Mittelstadt in Rheinland-Pfalz, über jeden Verdacht erhaben, das eigene Nest zu beschmutzen. Vielmehr zeichnet er einfühlsam die Grenzen des „Systems Verwaltung“ auf; es gehe nicht darum, die Menschen in der Verwaltung zu reformieren, sondern ihr Umfeld. Die Diskussion um die Privatisierung öffentlicher Leistungen empfindet er überdies als „ideologisch“ und äußert in diesem Zusammenhang Zweifel an der höheren Effizienz und Effektivität privater Dienstleister. Seinen Vorstellungen, die auf die Übernahme erhöhter Verantwortlichkeit innerhalb des öffentlichen Dienstes abzielen, vermag ich durchaus zu folgen, und ich glaube, dass der öffentliche Dienst und vergleichbar strukturierte Organe, wie etwa die Kirchen, Wohlfahrtsverbände usw., nur über eine deutlich Zunahme der jeweiligen Verantwortlichkeit an Attraktivität nach außen gewinnen können. Dies gälte auch für das Binnen, wenn wir es nicht zusätzlich noch mit einer weiteren Spezifik zu tun hätten, nämlich dem Status der tätigen Subjekte als Beamte bzw. Quasi-Beamte. Keinesfalls will ich weiterer Arbeitsplatzvernichtung das Wort reden. Im Gegenteil bin ich überzeugt, dass Kundenfreundlichkeit, allerdings nicht eine im Crash-Kurs aufgepfropfte, und klare Verantwortung für das jeweilige Tätigwerden die Arbeitsplatzsituation im öffentlichen Dienst bzw. bei anderen Dienstleistern sichern helfen könnten.
Rhetorisch scheint dies – wie zahlreiche Unternehmensberatungen, Gutachten usw. dokumentieren – durchaus gewollt zu sein, wären da nicht die gleichsam mit dem Berufsbeamtentum kreierten und offenbar manifestierten Faktoren. Diese Faktoren waren analog dazu angetan, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst und artverwandten Betrieben in eine Art „Quasi-Berufsbeamtentum“ zu „befördern“. Eine der ersten bekannten Abhandlungen dazu lieferte C. Northcote Parkinson3 mit seinem Gesetz – Parkinsons Gesetz -, das belegt, wie Beamtentum im Sinne von Berufstätigkeit unbeschadet der vorhandenen Arbeit linear weiteren Bedarf an neuen Beamten – vergleichbar einer Zellteilung einfacher Mikroben – erzeugt.4 Ein weiterer Faktor wurde von Laurence J. Peter und Raymond Hull ausgemacht, bekannt geworden als das „Peter-Prinzip“,. welches belegt, dass der Beförderungs-Automatismus dazu führt, dass unbeschadet einer persönlichen und beruflichen Qualifikation die in der Hierarchie Beteiligten jeweils soweit „nach oben“ befördert würden, bis sie das Höchstmaß an Inkompetenz erreicht hätten.5 Das Phänomen beschreibt der kanadische Professor L. J. Peter in seinem später erschienenen und mit diesem so betitelten Buch als die „Peter-Pyramide“6; diese „steht auf dem Kopf, unten ist der Punkt, wo die eigentlich produktive Arbeit geleistet wird, darüber dehnt sich nach allen Seiten die wuchernde Hierarchie der Schmarotzer, Faulenzer und Wichtigtuer,“ so die drastische Kurzbeschreibung im Klappentext. Die Diskussion um eine Verwaltungsstrukturreform scheint u.a. die Faktoren „Parkinson“ und „Peter“ zu fokussieren und sich zum Ziel gesetzt zu haben, Zäsuren zu bewirken. Leider lässt sich das Gefühl, dass wir es möglicherweise mit Schein-Zäsuren zu tun haben, nicht verhehlen.
Möglicherweise aus der Synergie der Faktoren „Parkinson“ und „Peter“ haben wir es nämlich auch noch mit dem Faktor „Mentalität“, der infolge eines bestimmten Soseins gedeihen kann und entsprechend herangebildet wird, zu tun. Daran werden vermutlich auch die eingefallenen Horden von Unternehmensberatern, von McKinsey bis Kienbaum, wenig ändern; diese beschwören eine ökonomische Strategie, die sich weitgehend an der Privatwirtschaft orientiert und deren Basis eine „Ökonomie-Wissenschaft“ ist, die so tut, als sei sie eine Naturwissenschaft. Entsprechend dieser von Karl-Heinz-Brodbeck als „fragwürdig“ bezeichneten Grundlagen7 wird in nicht unerheblichem Maße ausgeblendet, dass Wirtschaft alles andere als konstant und berechenbar ist. Sie ist im Gegenteil auf fatale Weise abhängig von den oft kuriosesten Geschehnissen, was etwa der Einfluss von Bettgeschichten irgendwelcher Präsidenten auf die Wechselkurse belegen könnte. Vor allem missachtet sie die Wechselwirkung menschlichen Verhaltens, des Tuns und Unterlassens, in ihrem Kontext. Sie ignoriert weitere beeinflussende Faktoren, etwa ökologische und soziologische. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Dementsprechend haben wir es bei der Ökonomie zunächst mit einer als Wissenschaft getarnten Ideologie zu tun. Diese These wird u.a. durch die kürzlich getroffene Aussage der sogenannten „fünf Weisen“ (der Wirtschaft) untermauert, die Unternehmen profitierten zu spät. Wem nützt also Unternehmensberatung? Auf alle Fälle kann festgestellt werden, dass sie den Unternehmensberatern nützt. Hiermit möchte ich mir keine Wertung über die Qualität einzelner Beratungsprozesse erlauben. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass die Ergebnisse und Erkenntnisse einer Unternehmensberatung im Moment ihrer Publikation unmöglich noch aktuell sein können. Gefragt scheinen demgegenüber vielmehr Organisationsberatungskonzepte, die die Selbstorganisationskräfte eines Betriebes fördern und stärken.
Das mittlerweile in zahlreichen Dienstleistungsbetrieben vorzufindende Chaos, die Verunsicherung der beschäftigten Individuen möchte ich gern als ein Moment konstruktiver Potentiale verorten. Erneut auf K. H. Fluhr bezugnehmend, befürchte ich, dass diese geplante Verwaltungsreform einmal wieder in ihrem Vorhaben stecken bleiben wird, zumal einige Anzeichen genau dafür sprechen, dass wir es mit einer Umstrukturierung der Bürokratie zu tun haben, nicht aber mit einer Entbürokratisierung, was einer Übernahme von Verantwortung gleichkäme. 
Was hat das nun alles mit der Offenen Arbeit mit Kindern und anderen pädagogischen Feldern zu tun? Pädagogische Arbeit ist unmittelbar abhängig vom öffentlichen Dienst, dieser hat immerhin als Administrator die jugendpolitischen Beschlüsse durchzuführen – und die Bewilligung der Finanzen obliegt ihm nicht unmaßgeblich. Pädagogische Arbeit ist demnach entweder existentiell auf seinen Goodwill, sein fachliches Verständnis und seine politische Durchsetzungsfähigkeit angewiesen oder sie ist Teil desselben; dann geht es ihr nicht anders. Möglicherweise haben die pädagogischen MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes die genannte Quasi-Beamtenmentalität selbst für sich angenommen. Dieses Eindrucks kann man sich, sieht man sich einmal in manchen Einrichtungen um, nicht erwehren. Ich möchte darauf verzichten, eventuell so oder ähnlich entstandene Blockaden mit dem Hinweis auf Resignation zu entschuldigen. Allzu lange gab es die Gelegenheit, professionelle Unzulänglichkeiten mit den hemmenden Rahmenbedingungen und der Struktur des öffentlichen Dienstes als solchem zu rechtfertigen, sich mehr oder weniger gemütlich hinter vermeintlichen Hürden einzurichten. Die „Grenzen“ des öffentlichen Dienstes anzuerkennen, hieße allerdings, sich gegenüber Veränderungen im Sinne der pädagogischen Professionalität zu sperren.
Keineswegs sollen deshalb die angedeuteten Unzulänglichkeiten und die damit verbundenen beruflichen Belastungen angezweifelt werden. Es soll hier auch nicht etwaigen Einsparungen das Wort geredet werden. Im Gegenteil würde ich den meisten Einrichtungen vermutlich bescheinigen, dass sie in der Tat sowohl strukturell-finanziell als auch personell deutlich unterversorgt sind. Solange dies der Fall ist, kann sich allerdings auch keine Einrichtung auf Dauer damit legitimieren, dass sie vorgibt, sie sei in der Lage, alle von Politik und Verwaltung als (pädagogisch) lösbar dargestellten Probleme tatsächlich auch nur annähernd „regeln“ zu können. Es ist auch keine Schande, wenn sich Einrichtungen der Hilfe außenstehender BeraterInnen bedienen. Ferner könnten Supervision und andere Reflexionshilfen Mittel sein, Ziele wieder klarer fassen zu können, Selbstbeschränkung zu üben und das jeweilige Konzept fortzuentwickeln. Dazu gehört auch, sich den zum Teil als provokativ erlebten „neuen Anforderungen“ bezüglich einer Qualitätsentwicklung und -sicherung (und was sonst noch damit zusammenhängt) zu stellen, sich – und dies hoffentlich kritisch im professionellen Sinne – auf sie einzulassen. Das wiederum bedingt auch das Erlernen eine veränderten Sprache.
Gut vorstellbar, dass „gute“ PädagogInnen dies als geradezu blasphemisch empfinden, dass Unsicherheiten auftreten; Unsicherheiten z.B. dergestalt, ob man mit anderen Vokabeln nun hochstaple, Augenwischerei betreibe usw. Wir sollten uns darüber klar werden, dass eine Portion Schlitzohrigkeit und Selbstbewusstsein zu einem Nominalwechsel dazugehören. Ein sich ändernder Nominalismus ist noch kein Paradigmenwechsel, und das betrifft sowohl die Pädagogik als auch Ökonomie und Verwaltung. Wenn wir also davon ausgehen, dass Begriffe zunächst einmal nur Namen sind und nichts über die Qualität ihrer Inhalte aussagen, dürfte pädagogisch intendierte Professionalität nichts zu verlieren haben, es sei denn, die politisch Verantwortlichen entzögen ihr ihre Existenzgrundlage. In der Regel sind unsere Konzepte und unser berufliches Tätigwerden ausreichend gut, um z.B. das, was wir überkommenerweise als „Vor- und Nachbereitung“ bezeichnen, unter dem Begriff „Management“ zu subsumieren. Allerdings gehört zu einem gebührlichen Management auch dessen Planungshoheit. Wir sehen an diesem Beispiel einen deutlichen – eben auch praktischen – Veränderungsbedarf innerhalb der Hierarchie des öffentlichen Dienstes.
Schulen bezeichnen ihre Dienstbesprechungen als „Konferenzen“. Sind Teamberatungen und Dienstgespräche in anderen pädagogischen Einrichtungen nicht ebenso „hochwertig“, dass sie Konferenzcharakter annehmen? Wieso nennen wir unsere Jahres- und anderen Erfahrungsberichte nicht selbstbewusst „Dokumentationen“? Was unterscheidet unser „Tagesprotokoll“ von einem „Evaluationsbogen“? Und schließlich sollten wir „den öffentlichen Dienst“ fragen, wieso Dienstanweisungen nicht längst durch Zielvereinbarungen ersetzt worden sind. Oder sollte „der öffentliche Dienst“ am Ende doch leichtfertig bei der Besetzung von Stellen pädagogischen Fachpersonals vorgegangen sein? Sollte es ihm nicht gelungen sein, keine „Flaschen“ auf Stellen „gesetzt“ zu haben, die einer hochwertigen Qualifikation bedürfen? Oder könnte es sein, dass mit Zielvereinbarungen, ergo einem erhöhten Maß an Übernahme von Autonomie und Verantwortung, sich andere Hierarchieetagen auf ihre Abschaffung gefasst machen müssen?
Ein Paradigmenwechsel in der Verwaltung, dem öffentlichen Dienst, kann erst dann stattfinden, wenn sie sich radikal von ihrer bisher wohl behüteten legalistischen Haltung8 verabschiedete und vielmehr ihre künftigen Aufgaben auf der Ebene fachlichen Beistands und professioneller Beratung wahrnehmen würde. „Außenstehenden“ BeobachterInnen scheint sie davon oft noch weit entfernt zu sein. Vielleicht könnte sie von Aristoteles9 lernen: In seinem 6. Buch der „Nikomachischen Ethik“ führt er aus, dass Klugheit nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Einzelne kenne; Klugheit sei handelnd und nicht nur wissend. Bereits im 5. Buch der „Nikomachischen Ethik“ erklärt er, dass immer, wenn Gesetze blind befolgt würden, Ungerechtigkeit daraus folge. Gesetze seien allgemein und daher notwendigerweise unvollkommen in ihrer Anwendung; sie müssten durch Nachsicht10 korrigiert werden. Demzufolge ist ein Nachsichtiger – gestattet sei mir hier die Analogie zum öffentlichen Dienst – einer, der handelt, wie es der Gesetzgeber täte, wäre er an Ort und Stelle: er strebt danach, dass der Buchstabe des Gesetzes dessen Geist nicht erstickt. „Moderner“ ausgedrückt, ließe sich feststellen, dass vermeintlich „korrektes Verhalten“ häufig nicht das passende, geschweige denn ein fehlerloses Verhalten ist.
Partizipation entwickelt sich, folgt man der Fachdebatte, zu einem Dreh- und Angelpunkt der inhaltlichen und methodischen Grundlagen der Arbeit mit Kindern. Hier wird gleichermaßen ein Barometer der Legitimation installiert, dem dann das Wie, Wann und Wo abzulesen sein müsste. Die Frage, wie adäquate Finanzierung und Existenzsicherung erreicht werden können, muss zunächst einmal nicht von der Pädagogik beantwortet werden. Vielmehr ergibt sich diese aus mehr oder weniger konkreten Vorgaben, z.B. aus dem KJHG. Das Land Nordrhein-Westfalen plant in Zukunft eine Entbürokratisierung mit Hilfe sogenannter Wirksamkeitsdialoge. Es ist völlig legitim, dass die Politik – zumal die Fachpolitik – im Gemeinwesen darüber befindet, welche Wirkungen sie verfolgen möchte. Wenn ein Träger sich an den formulierten Zielsetzungen beteiligen kann, sollte er dies auch tun; die Entscheidung über die Qualität seiner Arbeit obliegt ihm selbst, zumal, wenn er sie von seiner Klientel empfohlen bekommt, sie ergo vor einem partizipativen Hintergrund – gepaart mit fachlicher Kompetenz – zustande gekommen ist.
Schließen möchte ich mit einer erweiterten Kritik, die der 10. Kinder- und Jugendbericht in Bezug auf die meisten Jugendverbände formuliert. Ob die Offene Arbeit mit Kindern nicht betroffen ist (in jenem Zusammenhang wurde eine solche Kritik nicht formuliert), scheint zumindest in manchen Fällen zweifelhaft: „Kinder können in überwiegend von Erwachsenen entwickelten und festgelegten Strukturen keinen echten Einfluss auf Entscheidungsprozesse ausüben; sie bleiben auf Projekte und demokratische Spielwiesen beschränkt.“11 Analog dazu möchte ich den Kreislauf weiterverfolgen. Solange Administratoren, einengende, daher wenig fachliche und nicht selten unsinnige Dienstverordnungen, Verfügungen und Anweisungen das Verhältnis zwischen Praxis und Administrative bestimmen, solange werden wir es hier ebenfalls mit einem Tummelplatz – zumeist unter dem Teppich gehaltener – Konflikte zu tun haben. Solange nicht tatsächlich über klare (Ziel-)Vereinbarungen und eine gesicherte Förderung der Bestand organisierter Einrichtungen abgesichert und bedarfsgerecht ausgebaut wird, solange werden wir es mit einer unterentwickelten Verantwortlichkeit, unausgegorener Professionalität und letztlich „demokratischen Spielwiesen“ zu tun haben. Wobei als Nebenwirkungen Bauchschmerzen und Nervenzerrüttung nicht ausgeschlossen sein dürften. Bezüglich ihrer Konzepte und Methoden, zumal der Abenteuerspielplätze, Kinderbauernhöfe und Spielmobile, denen der 10. Kinder- und Jugendbericht die am „ehesten originären kinderspezifischen Ansätze“12 bescheinigt, haben wir „Pfunde“, mit denen wir „wuchern“ können, brauchen wir uns weder zu fürchten, noch zu verstecken. Warum also – bitte schön! – nicht mehr Selbstbewusstsein?

Anmerkungen:
1 Remscheid 1995
2  vgl. K H. Fluhr: Auch ohne Bürger sind wir sehr beschäftigt. Von der Schwierigkeit, die Verwaltung zu modernisieren. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 163
3  1957
4  vgl. C.N. Parkinson: Parkinsons Gesetz und andere Studien über die Verwaltung. ECON-Verlag, Neuausgabe, 2. Auflage, Düsseldorf 1997
5  vgl. L.J. Peter & R. Hull: Das Peter-Prinzip oder Die Hierarchie der Unfähigen. Rowohlt Verlag, Reinbek 1970
6  vgl. L. J. Peter: Die Peter-Pyramide. EBGO: Die Einheitlich Bürokratische GrundOrdnung. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990
7  vgl. K.-H. Brodbeck: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1998, s. hierzu auch MEDIENMAGAZIN in dieser Ausgabe
8  nach dem Motto: Gesetze und Verordnungen sind dafür da, dass sie eingehalten werden, und wir wachen darüber und … – vgl. Parkinsons Gesetz und das Peter-Prinzip
9  384-322 v. Chr.
10  „epieichia“ – engl. „equitiy“ = Gerechtigkeit
11  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): 10. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland, Bonn 1998, S. 230
12  ebd., S. 223 und S. IX

Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband und Systemischer Berater DGSF.

Eingestellt in das Internet im Juni 2003.

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NAGEL-Redaktion – Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Bettina Lischewski

Vor wenigen Tagen berichtete mir ein Jugendlicher, dass er eine ältere Dame auf der Straße nach der Uhrzeit fragte. Diese drehte sich erschrocken um, hielt ihre Handtasche fest mit beiden Händen und begann, um Hilfe zu rufen. Wie gut für den Jugendlichen, dass keine Polizei in der Nähe war.

Die Schlagzeilen in den Zeitungen, gerade vor der Wahl: „Jugendkriminalität steigt“,. „Jugend immer gewaltbereiter“ oder „Mit 14 schon ein schwerer Junge“. Die Botschaft: Sie werden immer jünger, lassen alte Damen um Hilfe schreien und geben vor, nach der Uhrzeit zu fragen. Für die Medien sind derartige Nachrichten Waren, die anschaulich und mit dramatischen Überschriften verziert sein sollen, damit sie gelesen und die Blätter verkauft werden. Diese vorgebliche Lebendigkeit scheint das Leben spannender, die alltäglichen Dramen kleiner zu machen. Das Resultat ist Angst und Unsicherheit der älteren Generation.

Mit Angst hat sich immer schon gut Politik machen lassen. Der Ruf dieser Art von Politik geht in Richtung nach mehr Polizei, nach Stärkung der Inneren Sicherheit, nach sofortigem Handeln, nach dem Ende des angeblichen „Immer-nur-Reden“. Mit härteren Strafen bekäme man die kriminelle Jugend schon in den Griff. Ein guter Weg, von den eigentlichen Problemen abzulenken: Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und damit verbundene Gefühle von Ohnmacht und fehlender Anerkennung. Die Polizei hat mit höheren Präsenzanforderungen genug zu tun und muss sich um Stellenstreichungen nicht kümmern. In Zeiten der hohen Arbeitslosigkeit eine dankbare Angelegenheit. Hätten die Jugendlichen die Möglichkeit, etwas zu sagen, dann würde man vielleicht wissen, dass sich viele vergessen und nicht verstanden fühlen.

Die Beweise der dramatischen Realität liefert die Polizei mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Besonders aussagekräftig ist diese nicht: vergegenwärtigt man sich, dass circa 90 Prozent der Delikte auf Anzeigen aus der Bevölkerung zurückgehen, wird klar, dass für Anstieg und Fallen der Kriminalitätszahlen besonders die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung eine größere Rolle spielt als das wirkliche Geschehen. Nicht richterliche Verurteilungen, sondern vermeintliche Kriminalitätswahrnehmungen werden in der PKS abgebildet. Ganz abgesehen davon, dass auch Kinder erfasst werden, die nicht strafmündig sind.

Mehr als die „wirkliche“ Entwicklung der Kriminalität scheint die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung von der Vorstellung über Umfang und Schwere sozialer Probleme abzuhängen. Damit setzt das Dauerthema „Innere Sicherheit“ erst die Probleme, die es zu lösen vorgibt, in die Welt. Nicht die objektive Bedrohung älterer Menschen ist das Problem, sondern deren Bedrohtheitsgefühl und die gleichzeitige Senkung der Hemmschwelle zur Anzeigenerstattung.

Die Konsumgesellschaft lebt es den Jugendlichen vor: Nur wer Arbeit hat und Geld, sitzt vorne in der Reihe. Was da eigentlich zählt, unterstrich der ehemalige Bürgermeister Hamburgs in diesem Jahr bei einem Besuch des Jugendklubs Burgwedel. Neben guten Ratschlägen an die jungen Leute („Hört auf zu rauchen!“ oder „Ernährt euch gesund!“) gab er ihnen mit auf den Weg, sie müssten sich nur viel Mühe geben, dann würde auch bei ihnen bald ein Mercedes vor der Tür stehen. Welche Mühen er damit gemeint hat, liegt auf der Hand, aber: unter den gegenwärtigen Bedingungen dürfte es nachvollziehbar sein, daß Jugendliche schneller mit fünf geklauten Autoradios ans Ziel kommen als mit der Hoffnung auf ein Taschengeld oder auch 480 Mark Ausbildungsvergütung.

Es geht im Rahmen der Kriminalitätsdiskussion um alle Jugendlichen, auch um die „einfachen“ Normabweichler. Dass für junge Menschen vielleicht andere Normen und Werte existieren als für Erwachsene, wird kaum mehr berücksichtigt. Es ist schon klar, daß Bürgerschafts-Spitzenkandidaten einen anderen Geschmack als die Kids haben, wenn sie sich im Wahlkampf aufmachen, Hamburg von Tags und Graffitis zu befreien. Wo Jugendliche ihre Art moderner Kunst im öffentlichen Raum ausleben, mit sogenannten „Schmierereien“ ihre Duftmarke nach dem Motto „Mich gibt es! Vergesst mich nicht!“ setzen wollen, wird kriminalisiert und verfolgt. Den Kick, den Jugendliche bei ihren Aktionen brauchen, mit dem sie ihre Grenzen und Möglichkeiten austesten, ist ein Bedürfnis, das ohne Sanktionen anscheinend nicht mehr auskommen darf.

Statt die gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt zu stellen, an ihnen etwas zu ändern, wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Mehr Einsatz von Polizei wird nur mehr Unsicherheit schaffen. Bei derartigen Stammtischparolen werden sich Jugendliche wohl bald nicht mehr auf die Straße trauen dürfen.

Die Autorin war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im NAGEL Mitarbeiterin im Jugendclub Burgwedel des Verband Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg.

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NAGEL-Redaktion – Vom Gejaule, vom Zorn und vom aufrechten Gang

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Rainer Deimel

Gejaule bringt uns überhaupt nicht weiter. Uns? Die Pädagogik, die Fachwelt und die, für die, mit denen wir aktiv werden: Kinder, Jugendliche, Familien. Aufhänger meines Beitrags soll hier das Lamento über die Zunahme kindlicher und jugendlicher Kriminalität sein. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin fährt nach New York, um sich dort zu informieren, wie es die harte New Yorker Hand geschafft hat, das ehedem überdimensioniert kriminelle Gemeinwesen anscheinend wieder zu befrieden. Petra Roth muss feststellen, dass die Rigidität, mit der in der US-Metropole mit dem Drahtbesen die Habenichtse, Organisierer und „andere Elemente“ auf den Kehricht verbracht werden, zwar auf gewisse Weise eindrucksvoll, aber auf westeuropäische Verhältnisse kaum übertragbar ist.

Zum Thema Kinder- und Jugendkriminalität gibt es inzwischen zahlreiche Verlautbarungen. Ich möchte mir ein weiteres Eingehen darauf deshalb hier sparen, als Resümee aber folgende Thesen aufstellen:

  • Kriminelle Handlungen junger Menschen gegenüber älteren Menschen stagnieren.
  • Gewalttätige Handlungen zwischen nahezu Gleichaltrigen nehmen beunruhigend zu.
  • Die Verantwortlichen für möglicherweise zunehmende Verwahrlosungserscheinungen sind nicht bzw. selten in den Institutionen zu finden, die sich mit jungen Menschen beschäftigen (ergo Familie, Schule, Jugendarbeit usw.). Verantwortlich für Verwahrlosungserscheinungen, Kriminalität, Gewalt, Gewaltbereitschaft usw. ist das System der skrupellosen Marktwirtschaft, das es mittlerweile soweit gebracht hat, daß 80 Prozent der Weltbevölkerung überflüssig geworden sind.

Letztgenannte These provoziert möglicherweise Zorn; soll sie auch. Mein Anliegen dabei ist allerdings, die Richtung des Zorns klar zu bestimmen. Jeremy Rifkin, amerikanischer Wirtschaftskritiker, stellt in seinem Buch „Das Ende der Arbeit – und ihre Zukunft“1 fest, dass uns am „Ausgang der modernen Welt“ eine „neue Barbarei“ erwarte. Es gäbe die Alternative zwischen fundamentalen Reformen oder sozialer Katastrophe. Hans-Peter Martin und Harald Schumann2 kommen zu der Erkenntnis, dass für das Funktionieren der Weltwirtschaft nur noch 20 Prozent der arbeitsfähigen Weltbevölkerung benötigt werden. Amerikanische Manager vertreten die Auffassung, dass man die restlichen 80 Prozent durch eine Mischung aus Mindestsicherung und Entertainment durch die permanent gegenwärtige Unterhaltungsindustrie bei Laune halten müsse, vermutlich, um durch sie nicht weiter behelligt zu werden. Viviane Forrester3   glaubt, dass es sich in einer Demokratie (noch) niemand wagen würde, zu erklären, „das Leben sei kein Recht an sich und eine Vielzahl von Menschen sei einfach überflüssig“.4 Forrester macht die Verantwortlichen für den Niedergang, den wir augenblicklich erleben und gegen den wir tagtäglich zu kämpfen haben, in den Wirtschaftsmächtigen aus, die den gesamten Globus mit ihrem Terror des profitablen Wirtschaftens überziehen. Gleichzeitig bescheinigt sie der Politik deren Unfähigkeit, sich diesem zu widersetzen.

Am Beispiel junger Leute in französischen Vorstädten zeichnet Forrester ein bedrohliches Szenario, die ständig die Schmach ihrer Existenz und Hoffnungslosigkeit erleben. Und „nichts schwächt und lähmt derart wie die Schmach. Sie greift an der Wurzel an und untergräbt jede Tatkraft, sie degradiert Menschen zu beliebig beeinflußbaren Objekten und reduziert alle, die unter ihr leiden, zur wehrlosen Beute. Daher ihr Reiz für die Mächtigen, sich ihrer (Anmerkung: der Schmach) zu bedienen und sie zu verbreiten; sie erlaubt es, Gesetze aufzustellen, ohne auf Gegner zu stoßen, und sie dann zu übertreten, ohne Protest befürchten zu müssen. Die Schmach führt in eine ausweglose Situation, sie verhindert jeglichen Widerstand, führt dazu, dass jegliche Bekämpfung, jegliche rationale Beschäftigung, jegliche Auseinandersetzung mit dem Problem aufgegeben wird. Sie lenkt von allem ab, was ermöglichen würde, sich der Erniedrigung zu verweigern und eine Analyse der politischen Verhältnisse zu fordern. Und sie ermöglicht auch die Ausnutzung der Resignation und der virulenten Panik, ihrem Nebenprodukt.“5 Folgt man diesen Gedanken, ergeben sich aus meiner Sicht über den Zorn hinaus Anforderungen pädagogischen Tätigwerdens. Pädagogik ist Stimulans. Sie bringt denjenigen, die sie erreicht, Wertschätzung und Akzeptanz entgegen, eine Grundlage, gegen Hoffnungslosigkeit aktiv zu werden. Pädagogik stimuliert ferner das Denken, also die Grundlage, Zusammenhänge transparent zu machen. „Nichts mobilisiert so wie das Denken. Denken ist alles andere als ein trübsinniges Verharren, es ist vielmehr die Quintessenz des Tätigseins. Es gibt keine subversivere, keine gefürchtetere Tätigkeit. Es gibt auch nichts, was stärker verleumdet würde, und das ist weder zufällig noch harmlos: Denken ist politisch. Und zwar nicht nur das politische Denken. … Die bloße Tatsache zu denken ist politisch. Deshalb der heimtückische und dadurch um so effizientere Kampf, der heute so heftig gegen das Denken geführt wird, gegen die Fähigkeit zu denken.“6 Pädagogik muss sich als Tugend den aufrechten Gang bewahren; da, wo sie gebeugt geht, ihn sich wieder erobern.

Unseren Beobachtungen zufolge, auch unter Berücksichtigung von Aussagen renommierter Wissenschaftler, wird dies vermutlich nicht leicht. Das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und das Psychologische Institut der Universität Leipzig bilanzieren für Deutschland erschreckende Folgen zunehmender Deklassierung durch Arbeitslosigkeit. So wird festgestellt, dass Arme weniger die Chance hätten, das Rentenalter zu erreichen als solche mit ausreichendem Einkommen. „Die Feststellung krasser sozialer Ungerechtigkeit, die einen Teil der Gesellschaftsmitglieder wesentlicher Grundrechte beraubt, wirft … die Frage nach der Legitimität einer solchen Gesellschaft auf. Die liberal-kapitalistische Gesellschaft hat sich bislang mit einem Trick beholfen: Sie preist zwar – mit größter Berechtigung – die ´allgemeinen Menschenrechte´ wie Religions-, Versammlungs- oder Meinungsfreiheit, spricht aber den sozialen Menschenrechten – Recht auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnung, auf gleiche Gesundheitschancen – die Verbindlichkeit ab. Sie kommen in unserer Verfassung nicht vor. Paradoxerweise gilt, wer auch die sozialen Menschenrechte einfordert, als Gleichmacher, als wenig liberal. Als ob auf dem Gebiet der Menschenrechte weniger mehr sein könnte.“7   

Verwahrlosung und Kriminalität sind konsequente Folge von Deklassierung und menschlicher Entwürdigung. Wer nichts mehr zu verlieren hat, hat eben Nichts mehr zu verlieren. Nicht ohne guten Grund beschreibt Stephen King in seinem Roman „The Green Mile“ die Breite der Gänge in den Zellen der zum Tode Verurteilten. Denen ist „egal“, was in ihrem Leben noch geschieht. Der breite Gang soll die Wärter davor schützen, zu nahe an die Zellengitter zu geraten. Aus dem „modernen“ Amerika ist bekannt, dass Besitzende immer häufiger ihre Kinder mit Hubschraubern aus ihren schlossartigen Ghettos in ihre Nobel-Konsum-Burgen fliegen lassen, quasi damit ausreichend Abstand zu den Gittern gehalten werden kann.

Pädagogik und Kinderlobby sind aufgefordert, über das Gejaule hinaus, zornig zu sein, nicht depressiv. Der Zorn hilft mit, aufrecht zu gehen. Wir haben immer wieder betont, Pädagogik könne Machtverhältnisse nicht verändern. Dieses Denken halte ich inzwischen für einschränkend linear-kausal. Natürlich taugen pädagogische Mittel nicht dazu, materielle – sprich: finanzielle – private Ressourcen im Sinne gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu verteilen. Aber, wie gesagt, Pädagogik ist Stimulans. Indem sie sich selbst den aufrechten Gang bewahrt, indem sie denjenigen gegenüber Wertschätzung und Akzeptanz aufbringt, die qua System zum lebensunwerten – ich benutze dieses vielgeschmähte Wort ganz bewußt – Leben degradiert werden, hilft sie gerade auch diesen, ihren aufrechten Gang zu erlernen. Und dies ist allemal eine politische Kraft, die ihre Wirkung zeitigen wird. Die Formel der sechziger und siebziger Jahre „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ greift zu kurz. Erst einmal muss der aufrechte Gang erlernt werden. Danach gibt es kaum mehr einen Grund, etwas zu zerstören.

Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband und Systemischer Berater DGSF.

Eingestellt in das Internet im Juli 2003.

Anmerkungen:

1 Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1995

2 Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996

3 Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie, Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997

4 ebenda, S. 38

5 ebenda, S. 14

6 ebenda, S. 98

7 Anton-Andreas Guha: Die kranke Gesellschaft, in: Frankfurter Rundschau v. 2.1.1998

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