(Kolumne aus: DER NAGEL 63/2001)
Von Rainer Deimel
„Soviel Aufsicht war nie. Vom Babyfon bis zum Juniorhandy, vom ersten Zucken im Mutterleib bis zum ersten Pickel wird unser Nachwuchs sorgfältig überwacht und qualitätskontrolliert. Und während die äußeren Freiräume schrumpfen, kümmert sich eine machtvolle Industrie um die Usurpation der inneren Räume eines jeden einzelnen Kindes.“ So skizziert Irene Stratenwerth die augenblickliche Situation von Kindern (DIE WOCHE Nr. 32/2001). Statt Kindern müssten Erwachsenen Grenzen in ihrem Mobilitätswahn, ihrer Zerstörungswut, ihrer Habgier, ihrem Ehrgeiz und ihrer Eitelkeit gesetzt werden, postuliert sie weiter. Leider seien sie – die Erwachsenen – schwer erziehbar, sonst gelänge es, sie in ihre Schranken zu verweisen und Kinder könnten neue Freiräume gewinnen.
Unsere postmoderne Gegenwart schillert zwischen scheinbarer Beliebigkeit, der „völligen“ Individualität bis hin zum normierten Massenmenschen, der „Menschenschwärze“ (Peter Sloterdijk). Offensichtlich haben gesellschaftliche Veränderungen, die rasante Entwicklung hin zum Turbokapitalismus, dazu geführt, Menschen stark zu verunsichern. Huckleberry Finn und Pippi Langstrumpf verbleiben im Märchen. Die Eltern der jetzt heranwachsenden Kindergeneration kennen diese Figuren auch nur noch aus dem Buch oder aus Filmen. Selbst im Wald gespielt (zum Beispiel) haben sie nur noch vereinzelt. Sich einmal – welch sinnliche Erfahrung! – am Feuer die Finger verbrannt? Wie sollte sich jemand am Feuer die Finger verbrennen, wenn er kaum noch in der Lage ist, ein Streichholz anzuzünden? Die weltlichen Gefahren, Bedrohungspotenziale durch unbekannte Effekte und Wesen wie Sittenstrolche, scheinen nie gekannte Dimensionen angenommen zu haben. Wer kennt es nicht, das Pädagogenkind, das zum Schutz seiner besorgten Eltern in der Wohnung mit einem Fahrradhelm herumläuft, da es die Möbelindustrie immer noch nicht hinbekommen hat, ihre Produkte kantenfrei zu produzieren? Vielleicht kennt man dieses Kind auch deshalb nicht, weil es beim Spielen auf dem Spielplatz von einem Klettergerüst gefallen und unglücklicherweise wegen des zu breiten Helms zwischen zwei Balken hängen geblieben ist und sich dort stranguliert hat. Und Richter in den diversen Gerichten plagen sich zunehmend mit Leuten herum, die in ihrer Vollkaskomentalität etwa regelmäßig Parterrebewohner misstrauisch beäugen, um sie gegebenenfalls für herabfallende Schneeflocken oder für das sich bei Kälte bildende Eis zu belangen. Nein, trotz aller Individualität sind Unterschiede eher verpönt. Es scheint nicht eine wunderbare Leistung der Natur zu sein, dass es mal Sommer und mal Winter gibt, ganz abgesehen davon, dass die Natur ihre Leistungen auch nicht mehr in der Qualität erbringt, wie es einige von uns noch kennen gelernt haben. Ob dies möglicherweise mit der oben zitierten Habgier, dem Mobilitätswahns und dem Erwachsenenehrgeiz zu tun hat?
Wir wollen alles „sicher“ machen. Spannende Diskussionen erlebe ich bisweilen in meinen Seminaren, in denen ich versuche, pädagogische Vorgänge in einem rechtlichen Kontext zu konturieren. Da erlebe ich die risikofreudigen Kolleginnen und Kollegen, die rückmelden, endlich mal jemanden „gefunden“ zu haben, der ihre eigene pädagogische Haltung unterstützt und bestätigt. Ich erlebe auch Leute, die rezeptheischend gekommen sind und deren Vorstellungen zerplatzen. Diese melden mir, „das Seminar“ sei „schlecht“ gewesen insofern, als es sie nicht sicherer gemacht habe, sondern vielleicht noch weiter verunsichere, da eben keine Verhaltensmaßregeln vermittelt wurden. Zur Erinnerung: Augenblicklich reden wir über professionelles Handeln. Die Rechtsprechung verhandelt immer jeden Einzelfall, um zu einem Urteil zu gelangen. Grundvoraussetzung für professionelles Handeln ist fachliches Reflexionsvermögen. Ferner erwarte ich von pädagogischen Profis eine mehr oder weniger „gestandene Persönlichkeit“ sowie eine wertschätzende Grundhaltung. Vor diesem Hintergrund habe ich Freude an dem Zitat von Joachim Ringelnatz: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Und das ist nicht sicher.“ Sicher ist allerdings, dass diejenigen in ihrer Arbeit ängstlich sein müssen, die nicht professionell arbeiten; sie sind am ehesten davon bedroht, in die Fänge der Justiz zu geraten. Das betrifft den sexuellen Missbraucher genauso wie die Erzieherin, die sich „nichts dabei gedacht“ hat.
Selbst die Rechtsprechung geht seit langem von der Prämisse aus „Soviel Erziehung wie möglich, so wenig Aufsicht wie nötig!“ An dieser Stelle sei unterstellt, dass „Erziehung“ in diesem Kontext durchaus als positiver Vorgang interpretiert werden kann. Der gegenwärtige „typische Erwachsene“ fällt hinter diesen Status zurück. Das Böse lauert immer und überall. Deshalb müssen wir auf der Hut sein und uns und vor allem unsere Kinder beschützen. Und wie kann es sein, dass Kinder regelmäßig dort am ehesten zu Schaden kommen, wo sie „am besten beschützt“ werden? Betreuung im „klassischen“ Sinne schützt Kinder vor sich selbst, behindert ihre Entwicklung und verhindert ihre Emanzipation. Auf alle Fälle sorgt man so für eine einigermaßen sichere Arbeitsgrundlage für SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen und PsychotherapeutInnen; dies, obwohl „der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt“ (Rolf Degen). In einem so „verstandenen“ Konzept ist es hilfreich, möglichst viele doofe Eltern um sich zu scharen. Die „Profis“ betreuen, weil die Eltern dies erwarten. Die Eltern erwarten „Betreuung“, weil sie ihnen versprochen wird. Es ist wie mit der Henne und dem Ei.
Professionalität hingegen würde versuchen, sich dahingehend zu engagieren, aufzuklären: Wann kann ein Kind wie am ehesten im Sinne einer gelingenden Sozialisation wovon profitieren? Gefahren (Herausforderungen), „gefährliches Spielen“ gehören dazu, wenn ein Kind sicherer werden soll. Spätestens seit Jean Liedloffs Veröffentlichung „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ (München 1980) kann sich niemand mehr herausreden, er wüsste nicht, wie was miteinander wirkt, dass Kinder fit oder unfähig werden. Ich habe meine Zweifel daran, ob die Pflege der Dummheit der Eltern die alleinige Strategie zur Sicherung pädagogischer und ähnlich intendierter Arbeitsplätze sein kann. Auf unabsehbare Zeit werden Generationen von Eltern der Postmoderne auf jene Dienstleistungen angewiesen sein.
In diesen Tagen schreckt die „Pisa-Studie“ die Fachwelt. „Wir waren es nicht“, hört man die KollegInnen LehrerInnen rufen. Die Politik war es natürlich auch nicht, die die Verantwortung für die Dummheit der Kinder der dummen Eltern übernehmen müsste. „Handlungsorientierte Pädagogik“ braucht es, hört man von der Kultusminister-Konferenz. Bei mir könnte sich so etwas wie ein „Pilatus-Effekt“ einstellen: Jener Mensch wusch seine Hände in Unschuld. Seit Jahren „predige“ ich handlungsorientierte Ansätze, komme mir nicht selten wie ein „Rufer in der Wüste“ vor. Wir kennen sie, die Konzeptionen, die Kinder Bildung angedeihen lassen, eine Bildung, die dazu beiträgt, dass sie Emanzipationserfolge integrieren können, die ihnen in vielerlei Hinsicht Entwicklungschancen eröffnen, die obendrein noch zu ihrer leiblichen wie psychischen Gesundheit beitragen. Wieso sollten derartige Konzeptionen ausschließlich in der Offenen Arbeit bleiben? Und selbst dort befinden sie sich noch in einer Nischenposition, während der größte Teil der Freizeitarbeit nicht selten wenig kindgerecht konzipiert ist. Vielmehr hat man mehr und mehr den Eindruck, dass Kinder nicht nur hinter Mauern „gefangen gehalten“ werden, sondern sich das „Programm“ immer mehr dem annähert, was die Schule offensichtlich erfolglos hingelegt hat.
Es geht hier nicht darum, bestimmte Formen der Arbeit mit Kindern, etwa die zunehmende „Übermittag-Betreuung“ (nomen est omen, oder?) in Bausch und Bogen zu verurteilen. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass bestimmte Vorgänge, die man früher etwa eher in eine familiäre Zuständigkeit gebracht hätte, von anderen Instanzen übernommen werden müssen. Dazu gehört auch, dass Kinder eine vernünftige Mahlzeit in den Bauch bekommen. Ob der „Nürnberger Trichter“ – z.B. in Form von Schulaufgabenhilfe – dazu gehört, scheint zweifelhaft, zumindest, wenn man zur Kenntnis genommen hat, dass Kinder unbelehrbar sind, sie nur lernen können (Gerold Scholz, Universität Frankfurt). Es geht darum, für Kinder und mit Kindern Entwicklungschancen zu organisieren, Milieus zu kreieren, die sich diesen spannend und erlebnisreich präsentieren. Dazu gehören vielfältige Optionen, der Umgang mit interessantem Material, dazu gehört ein Gelände, das phantasieanregend und veränderbar sein muss; dazu gehören nach Möglichkeit auch Tiere, mit denen man lernen kann, was Verantwortung ist; dazu gehören andere Menschen, die verschiedenartig sind, mit denen ich lernen kann, dass unsere Unterschiedlichkeit ein Gewinn ist. Früher hätte man in diesem Zusammenhang vielleicht den Begriff „Multikulti“ verwandt. Ich möchte diesen Ansatz lieber als integrationsfördernd bezeichnen. All dies, eine solche pädagogische Praxis, setzt ein hohes Maß an eigener Lernfähigkeit voraus; es setzt voraus, dass ich Lust auf Experimente habe, dass ich Fehler als Lernquellen erfahren kann und nicht als „mangelhafte“, „ausreichende“ oder wie sonst auch immer bewertete (Fehl-)Leistungen. Derartige Bewertungen behindern nicht nur kindliche Entwicklungen, sie sagen – bei genauer Betrachtung – eher etwas über die Bewerter als über die zu Bewertenden aus.
Kinder „süß“ zu finden oder auch eine eigene Elternschaft reichen nicht aus, professionell zu handeln. Es müssen nicht immer pädagogisch ausgebildete Menschen sein, die die Arbeit gut machen. Manchmal tun Leute mit anderen Berufen, die kindgerechte Konzeptionen internalisiert und sich gleichzeitig die Befähigung erhalten haben, zu ihrem eigenen Handeln eine kritische Distanz zu bewahren, ihre Arbeit besser als ausgebildete PädagogInnen. Diese These vermittelt zu Recht Kritik an der Ausbildungsorientierung pädagogischer Berufe. Nicht nur die Bildung der Kinder muss verbessert werden, auch die Ausbildung für pädagogische Berufe. Hierbei wird einerseits die reflektorische Seite wie auch die handlungsorientierte angesprochen. Leider kann man niemanden zum Denken zwingen, schon gar nicht in eine bestimmte Richtung. Für die Praxis möchte ich noch einmal sehr deutlich sagen: Wer Kinder betreut, dies als Grundverständnis begreift, hat nichts begriffen und wird weiterhin die Kinder in ihrer Entwicklung behindern. Eine nächste Pisa-Studie wird dann vielleicht noch miserabler ausfallen.
Datteln 2001
Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und Systemischer Berater DGSF.