Was haben Abenteuerspielplätze mit Abenteuer zu tun?

Foto: Rainer Deimel

Von Rainer Deimel

Abenteuer auf einem Abenteuerspielplatz hat immer etwas mit

● einem angemessenen fachlich-professionellen Verständnis und
● der Fähigkeit der Mitarbeiter, vom „Kind her zu denken“,

zu tun.

Was also ist „Abenteuer“?

Wolfgang Bergmann, bekannter Kindertherapeut, den meisten von uns über seine vielen hilfreichen Publikationen bekannt, vertrat im April 2008 in einer beachtlichen Serie im „Kölner Stadtanzeiger“ die Auffassung, ein Abenteuerspielplatz sei kein Abenteuer – weil man den Zaun sehen könne. Seiner Meinung nach hat „Abenteuer“ etwas mit „Unendlichkeit“ zu tun. Nach der Veröffentlichung habe ich das Gespräch mit Wolfgang Bergmann gesucht.

Wir konstatieren zunächst, dass er aus seinem Lebensumfeld heraus Vorstellungen über die Konzepte von Abenteuerspielplätzen entwickelt haben musste. Leider hatte er dabei wohl das Pech, „ent-abenteuerte Abenteuerspielplätze“ kennengelernt zu haben. Nicht überall, wo „Abenteuerspielplatz“ drauf steht, ist auch „Abenteuerspielplatz“ drin!

Der Zaun wurde von ihm als Metapher benutzt, um eine potenziell entwicklungshemmende Endlichkeit einer künstlich geschaffenen Welt zu verdeutlichen. Jedenfalls konnten Wolfgang Bergmann und ich im Gespräch feststellen, dass wir eine durchaus vergleichbare Definition von „Abenteuer“ vertreten. Bei mir hört es sich vielleicht nicht ganz so „griffig“ an wie bei dem Hannoveraner Kindertherapeuten. Für mich bedeutet „Abenteuer“, sich auf einen „Prozess mit vorläufig unbekanntem Ausgang“ einzulassen. In diesem Sinne spielt ein Zaun für mich eine eher untergeordnete Rolle – vor allem dann, wenn er den Kindern hilft, ihre „abenteuerlichen Prozesse“ nach außen hin stärker zu schützen und Störungen möglichst gering zu halten.


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Wir können uns vermutlich alle vorstellen, was es heißt: „Kinder verlieren sich im Spiel!“ Eine vergleichbare Beschreibung bietet das Englische, wenn das Gefühl von Verliebtheit beschrieben werden soll. Dort heißt es: „I fall in love!“ Diese gelungene metaphorische Formulierung lässt Empfindungen und Erleben durchaus plastisch werden.


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Der Chicagoer Psychologieprofessor Mihály Csíkszentmihályi entwickelte um 1975 die sogenannte Flow-Theorie. Der gängigen Definition nach ist „Flow“ eine Form von Glück, auf die man Einfluss hat. Bereits zuvor wurde ein solches Erleben zum Beispiel von Kurt Hahn mit „schöpferischer Leidenschaft“ und von Maria Montessori mit „Polarisation der Aufmerksamkeit“ beschrieben. Eckhard Schiffer – bekannter Quakenbrücker Psychotherapeut und Kinderchirurg – hat in einer jüngeren Arbeit, nämlich in seinem beachtlichen Buch „Der Kleine Prinz in Las Vegas“ (2001), die Phänomene „Thrill“ (Angstlust) und „Flow“ (Fließen) dargestellt. Das zweite Kapitel seines Buches leitet er mit Ausführungen von Astrid Lindgren ein, die für sich sprechen: “ … In unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten … Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche unterirdische Gänge entlang und wir schwommen im Fluss, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten … Ich kann mich auch nicht erinnern, dass unsere Mutter uns je Vorwürfe gemacht hätte, wenn wir mit zerrissenen oder verschmutzten Kleidern nach Hause kamen. Wahrscheinlich hielt sie solche Pannen, die im Eifer des Spiels passieren konnten, für das gute Recht eines Kindes. … Diese Freiheit zu haben hieß aber keineswegs, ständig frei zu haben. Dass wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache der Welt. Schon mit sechs Jahren mussten wir beim Rübenziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen.“


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Wenn Kinder sich im Spiel verlieren, produzieren sie Prozesse, die ihnen dabei helfen, in ihrer Welt Erfahrungen so zu integrieren, dass sie es nachhaltig schaffen, ihr Leben erfolgreich zu organisieren. Aufgabe professioneller Mitarbeiter auf einem Abenteuerspielplatz ist unter anderem, Optionen zu schaffen … noch einmal: Optionen, Optionen, Optionen …, Kindern Erfahrungsräume zu eröffnen, in denen sie sich verlieren dürfen, in denen sie in Gruppen oder allein handeln können.

Kinder erleben: Was funktioniert? Was funktioniert nicht? Und was kann ich tun, damit es funktioniert?


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Ein deutliches Merkmal beim Aufwachsen zahlreicher junger Menschen in der Gegenwart: Vermutlich nie zuvor wurden junge Menschen derart reglementiert, wie das zurzeit der Fall ist.

● „Lass das, du kannst das nicht!“
● „Pass auf!“
● „Geh da nicht dran!“

– Vielleicht „typisch Mutter“?!

Aber auch:

● „Stell dich nicht so an!“
● „Das wirst du doch wohl können!“
● „Gib mal her, ich zeig dir das (mach‘ das für dich!)!“

– Vielleicht „typisch Vater“?!

In „guter Absicht“ entsteht hierbei ein verhängnisvoller Effekt: Vermutlich nie zuvor mussten Kinder die unglückselige Botschaft hören: „Dir kann man nichts zutrauen! Du bist inkompetent!“ Tief wird sich dieser Sozialisationsblocker im Kind einprägen und von ihm internalisiert werden. Kinder sind prinzipiell unbelehrbar, aber sie sind begierig, pausenlos zu lernen. Wenn man ihnen Zutrauen entgegenbringt, wird sich dies entsprechend positiv auswirken. So gesehen müssen sie das Rad auch immer wieder neu erfinden.


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Der Autor, Familien- und Kommunikationsberater Jan-Uwe Rogge verglich „konventionelle“ Spielplätze kürzlich mit „Affenzoos“: „Drinnen die Affen – also die Kinder – und draußen die Mütter, die wie Hyänen bissig andere Mütter beäugen und überflüssige Ratschläge an ihre Kinder verteilen.“ Und weiter: „Während früher Kinder meistens unter sich in Wäldern und auf Wiesen spielten, spielen sie heute zunehmend auf Kinderspielplätzen. Dort gibt es zwar auch immer noch Büsche, aber hinter jedem Busch steckt eine Mutter. … Kinder brauchen heute sehr viel Kraft und Energie, um ihre Freiräume gegen ständig glotzende und analysierende Eltern, die es natürlich gut meinen, zu verteidigen. Und wenn Kinder nicht die Möglichkeit haben, unbeobachtet zu sein, dann werden sie auch ein Stück weit unselbstständig, weil Erwachsene da sind, die Probleme für sie lösen.“


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Jawohl, um „Problemlösungen“ geht es auf dem Abenteuerspielplatz! Es geht darum, festzustellen, dass vermeintliche Probleme lediglich Herausforderungen sind. Gern wird diese Feststellung als hohle Floskel abgetan. Und dennoch: Mit allem Neuen, mir also Unbekanntem, muss ich mich befassen dürfen, um zu entproblematisieren, um individuelle Kompetenzen entwickeln zu können: praktische Kompetenzen, Kompetenzen im Umgang miteinander, Risikokompetenz, Teamstärke und Lebenspraxis. Konkrete Erlebnisse benötige ich, um Phantasie entwickeln zu können – Phantasie wiederum ist die Grundvoraussetzung zur Entwicklung kreativer Potenziale, mit anderen Worten: zur Gestaltung eines erfolgreichen Lebens.

Dies geschieht in erster Linie, wenn ich meine Selbstwirksamkeit erfahren kann, wenn mir die Chance eingeräumt wird, feststellen zu können, dass vermeintliche Probleme lösbar sind, dass mir tagtägliche Realerfahrungen dabei helfen, lebenstüchtig zu werden: Prozesse mit vorläufig unbekanntem Ausgang, Abenteuer …


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In einem Artikel im „Mindener Tageblatt“ vom 6. November 2009 wurde Ulrich Stock aus Bielefeld zitiert, zuständig für Prävention bei der Bundespolizei. Titel des Beitrags: „Bahnanlagen sind keine Abenteuerspielplätze“. Nach besagtem Vorfall in Porta Westfalica im Jahr 2009 sprach er mit einer Gruppe von Kindern, die ihn mit ihrem Lehrer besuchten.

Den Beitrag findet man unter dem Titel „Bahnanlagen sind keine Abenteuerspielplätze“. Dieses Motto nutzt die Deutsche Bahn seit längerem, um zu verhindern, dass Kinder auf Schienen durch fahrende Züge zu Schaden kommen. Hintergrund war hier ein Beinaheunfall in Porta Westfalica. Der ABA Fachverband hat den Slogan der Bahn bereits nach seiner Kreierung kritisch aufgegriffen, um zwischen „Abenteuer“ – wie wir es im pädagogisch-konstruktiven Sinne definieren können – und einer möglicherweise tödlichen Gefahr präziser zu unterscheiden. Abenteuer in einem entwicklungsförderlichen Sinne hat nämlich mit unübersehbarer Gefahr mit vielleicht sogar tödlichen Folgen nichts zu tun. So nachvollziehbar die Intention dieses Mottos auch sein mag: Vor allem aber vermag es für Irritationen sorgen, wenn etwa fachlich Unkundige gefühlsmäßig auf eine falsche Fährte gelockt und somit unnötigerweise Vorurteile erzeugt werden.

Im Zeitungsbericht hieß es unter anderem: „‚Was könnte passieren, wenn Steine auf Gleisen liegen?‘, fragte Ulrich Stock. Die zersplitterten Steine könnten in die Scheiben des fahrenden Zugs fliegen und Fahrgäste verletzen. Die Splitter könnten aber auch die Kinder selbst treffen, wie Ulrich Stock in der Lebensgeschichte des Jungen Daniel vermittelte. Der hatte Steine auf Gleise gelegt, ein Splitter traf ihn am Kopf, das Sprachzentrum wurde zerstört. ‚Als junger Erwachsener lernt Daniel mit einem Sprachlehrer sprechen‘, lautete die abschreckende Botschaft.“


Präsentation der Düsseldorfer Abenteuerspielplätze auf dem Weltkindertag 2010 (Foto: Rainer Deimel)

Stellen wir uns vor, Daniel hätte die Chance gehabt, auf einem Abenteuerspielplatz Steine zu bearbeiten, aus Steinen etwas zu schaffen. Vielleicht hätte ihn auch dort ein abplatzender Steinsplitter treffen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem solch verheerenden Unfall gekommen wäre, tendiert allerdings gegen Null. Diese Erfahrung kann belegt werden, seit Abenteuerspielplätze existieren: Trotz oder gerade wegen ihrer erhöhten Risiken und Herausforderungen entwickeln Besucher von Abenteuerspielplätzen mehr Lebenstüchtigkeit und motorisches Geschick als Kinder, die diese Chance nicht haben. Die Schlussforderung „Abenteuerspielplätze sind ungefährlich, weil dort ‚nichts‘ passiert“, geht an der Realität vorbei. Das Gegenteil ist der Fall: Weil Abenteuerspielplätze recht „gefährliche“ Einrichtungen sind, gelingt die Einwicklung von Risikokompetenz bei Kindern innerhalb kurzer Zeit. Die Unfallquote ist niedriger als in jeder anderen Einrichtung, vor allem solchen, die besonders gut zu beschützen vorgeben. Diese Erfahrung kann weltweit bestätigt werden (wie etwa in Japan, Skandinavien und England). In einem solchen Umfeld ist es allerdings auch sinnvoll, immer auch pädagogisch kompetente, erwachsene Ansprechpartner zu haben, die einem hilfreich zur Seite stehen und im Falle eines Falles auch mal einschreiten können, wenn Risiken unüberschaubar werden sollten. Nicht ohne guten Grund gehört die Besetzung eines Abenteuerspielplatzes mit pädagogischem Fachpersonal zu den unabdingbaren Qualitätsstandards. Allerdings – dies noch einmal ganz deutlich: Ohne überschaubares Risiko kein Abenteuer! Ohne Abenteuer keine erfolgreiche Entwicklung zu einem kompetenten Menschen, der sein Leben erfolgreich leben kann!

Selbstwirksamkeit zu erleben, bedeutet: Ich kann etwas – ich bin in der Lage, meine Fähigkeiten dauerhaft zu erweitern. Auf dem Abenteuerspielplatz kommt mir noch zugute, dass ich anderen helfen kann und dass mir andere helfen können: gelebtes Team! Vergegenwärtigt man sich beispielsweise das Aufwachsen zahlreicher junger Menschen als Einzelkinder, ist eine solche Erfahrung unabdinglich.


Präsentation der Düsseldorfer Abenteuerspielplätze auf dem Weltkindertag 2010 (Foto: Rainer Deimel)

„Abenteuer“-Erleben ist in erster Linie Bildung, es ist Gesundheitsförderung – beides Leitziele des ABA Fachverbandes mit Blick auf ein zeitgemäßes pädagogisches Tätigwerden. Ein kleiner Blick auf die Prämisse „Gesundheitsförderung“ sei gestattet: Ein Abenteuerspielplatz fördert die Gesundheit nicht nur mit Hilfe des „freien Spiels im Freien“, wenn wir etwa an seine antiallergene Wirkung denken. Vor allem das Erlebnis der Selbstwirksamkeit wirkt im Sinne von Aaron Antonovsky salutogenetisch, mit anderen Worten: Mein Erleben auf einem Abenteuerspielplatz hilft mir dabei, mit mir selbst eins zu werden, einen sogenannten „Kohärenzsinn“ („Sense of Coherence“) zu entwickeln. Beschrieben wird hiermit die Fähigkeit eines Menschen, vorhandene Ressourcen zu nutzen, um sich gesund zu halten. Oder wie es der bereits erwähnte Eckhard Schiffer auf die prägnante Formel bringt: „Schatzsuche statt Fehlerfahndung!“

Keine andere Einrichtung (sic!) hat es bislang geschafft, ähnlich angemessene, entwicklungsförderliche Konzepte zu entwickeln, wie dies bei einem Abenteuerspielplatz der Fall ist. Der Abenteuerspielplatz fördert die Schatzsuche auf exklusive Weise, sofern er „Abenteuer“ bewusst integriert. Dies beispielsweise können weder der organisierte Karneval oder kommerzielle Einrichtungen wie der EuroEddy trotz anderslautender Bekundungen leisten. Beim Abenteuer haben wir es nämlich nicht mit einer organisierten Inszenierung zu tun – vielmehr handelt es sich eher um eine Gegeninszenierung, wie es der verstorbene Bielefelder Professor Dieter Baacke seinerzeit im Zusammenhang mit der Spielmobilarbeit einmal formulierte. Er sprach vor diesem Hintergrund von Begegnung von Pädagogen und Kindern, die versuche, „zwischen Gegenseitigkeit, Körperlichkeit, Ganzheitlichkeit (und) Rhythmus zu vermitteln und das Gefühl für Freiheit und Bewegung (…) wieder hineinzuholen in (die) … Angebote“ der Offenen Arbeit mit Kindern.


Foto: Rainer Deimel

Manche Erwachsene haben sich vielleicht zwischenzeitlich auf eine kleine Phantasiereise begeben. Wie war es denn eigentlich damals bei mir? Welche spannenden, aufregenden, gefährlichen Erlebnisse waren es, von denen ich auch heute noch profitieren kann? Was ist mir als persönliche Krönung aus meinem Kinder(er)leben in Erinnerung geblieben? Welche Verbote von Erwachsenen habe ich überschritten, ohne deshalb einen markanten Schaden erlitten zu haben? Was ist es, das ich mit Freunden gern heute noch einmal im Gespräch aufleben lassen möchte – vielleicht nach dem Motto „Weißt du noch …?“

Wer hat nicht seine Freude an Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf, Emil mit seinen Detektiven oder Huckleberry Finn? Diese Roman- und Filmkinder führen uns die Widersprüchlichkeit gegenwärtigen Aufwachsens deutlich vor Augen. Ich garantiere, dass keine dieser Phantasiefiguren – wären sie heutzutage Realität – ohne Ritalin davonkäme. Kreativität natürlich! Aber bitte möglichst geräuschlos und profillos: ein pädagogisch-psychologisches St.-Florians-Prinzip, das sich da entwickelt hat. Dieses wieder aufzulösen, ist Aufgabe vorbildlicher Abenteuerspielplatzarbeit.

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