„Ich bin wohl der Arzt“, betonte vor 20 Jahren das sechsjährige Mädchen beim Doktor-Spiel. „Ich bin wohl die kranke Lehrerin“, meinte der Junge und erhielt prompt die Antwort: „In meinem Schrank sitzt wohl der böse Löwe“. Das Adverb „wohl“ galt als klassischer Kinder-Konjunktiv. Mit „wohl“ war einfach alles möglich. Heute antworten Sechsjährige auf die Frage, ob sie Lust auf Spinat, Aufräumen oder Englischunterricht haben: „Nicht wirklich.“ Ob die Kinder sich mit der neuen Formel über uns lustig machen? Wohl nicht wirklich. Mit diesem sprachlichen Zwinkern ist eher Augenhöhe angesagt. Kinder, die „nicht wirklich“ statt „nein“ sagen, haben verstanden, dass Wahrnehmung und Wirklichkeit in jedem Lebensalter etwas ziemlich Subjektives sind. Vermutlich begreifen Kinder die Definitionsmacht der Erwachsenen besser, als Pädagogen es für möglich halten.
Dr. Eva-Maria Oehrens in „kulturarbeit aktuell – Pressedienst der Akademie Remscheid 7-8/2006
i-Punkt 9/2006