NAGEL-Redaktion – Fernsehen: Der Kasten, der krank macht

Der Kasten, der krank macht

Niemanden wird sie glücklich machen, die Gesundheitsreform. Geschweige denn gesünder. Kanzlerin Angela Merkel hat uns längst gewarnt: Das „wichtigste Thema“ dieser Legislaturperiode, sagt sie, ist „so schwierig wie kaum ein anderes“. Klartext: Es wird in guter demokratischer Tradition nach viel Streit in einem enttäuschenden Kompromiss enden, weit entfernt von einer langfristigen Lösung der Krankenversicherungskrise. Dafür bekommt Deutschland bekanntlich auch viel zu wenige Kinder.

Doch die Deutschen könnten auf sehr einfache Weise glücklicher, gesünder und sogar zahlreicher werden. Auf Knopfdruck. Das ist zweifelsfrei erwiesen. Und dennoch ist die radikale Senkung der Gesundheitskosten durch den kollektiven Knopfdruck nicht durchsetzbar.

Denn Merkels Mahnung, dass es in der Gesundheitsdebatte keine „heiligen Kühe“ geben darf und „dass man auch ein Stück über den eigenen Schatten springen muss“, kommt gegen die gesundheitsschädlichste aller zivilen Maschinen nicht an. Nicht gegen jenes Gerät, das laut Wissenschaft unsportlich, faul, vergesslich, gedankenlos, gehemmt, überreizt, freudlos, wortkarg, scheu, ängstlich, gewaltbereit, kontaktarm, nervös, motorisch unterentwickelt, unausgeglichen, passiv, unsozial, depressiv, emotional abgestumpft, unkonzentriert, langweilig, sprachlich zurückgeblieben, fantasielos, aggressiv, unaufmerksam, unausgeschlafen, übergewichtig, verantwortungsscheu und einsam macht. All diese Adjektive vermitteln schon die oberflächliche Lektüre der einschlägigen Literatur über jene menschenfeindliche Maschine. Die Rede ist vom Fernseher. Bei übermäßigem Gebrauch wird der Zuschauer krank. Mit übermäßigem Gebrauch meinen Wissenschaftler bei Erwachsenen mehr als zwei Stunden täglich. Diese Marke hatten die Deutschen Mitte der 70er Jahre erreicht – als es den Krankenkassen, nebenbei bemerkt, noch gut ging. Mittlerweile liegt das deutsche Mittel bei sagenhaften dreieinhalb Stunden pro Tag. Der Durchschnittsdeutsche also belastet das Gesundheitssystem mit seiner liebsten Freizeitbeschäftigung beträchtlich. Am teuersten sind über 65 Jahre alte Frauen, die laut Statistik pro Tag fast fünf Stunden den Lichtblitzen auf ihrem Bildschirm folgen. Alte sind ohnehin die konsequentesten Glotzer. Selbst Jugendsendungen wie „Bravo TV“ im ZDF sitzen sie aus – angeblich ist mehr als die Hälfte der Zuschauer über 50 Jahre alt.

Auch sonst entspricht der Fernsehkonsum dem Gesundheitsgefälle im Lande: Im Norden wird länger ferngesehen als im gedeihlichen Süden, im kränkelnden Osten länger als im Westen. Arme gucken länger als Reiche. Besserverdiener und Hochschulabsolventen, die zudem dünner und sportlicher sind als der Rest der Bevölkerung, verbringen etwa eine Stunde weniger pro Tag im Hirnwellen verlangsamenden Trancezustand. Erwachsene sind selbst schuld, wenn sie das Lebenszeitvernichtungsgerät nicht ausschalten. Diese absurde Maschine, die dem modernen Menschen seine anderweitig ersparte Zeit tagtäglich wieder wegnimmt. Kinder jedoch können nichts dafür, wenn sie in krank machende Fernsehsucht hineinerzogen werden. Säuglinge können die Kiste nicht ausschalten, wenn ihre Eltern sie vor „Baby TV“ legen, ein Programm für Null- bis Dreijährige, das als Erziehungsinstrument vermarktet wird. Der Programmchef verspricht: „Wir achten streng darauf, unsere Zuschauer nicht zu überfordern.“ Dabei werden sie skandalös unterfordert: Kinder, die extrem viel fernsehen, landen zweimal wahrscheinlicher in der Hauptschule als andere. Schulleistungen sind, so eine gestern veröffentlichte Studie, noch stärker vom Fernsehkonsum abhängig als vom sozialen Hintergrund. Fast jeder vierte Sechsjährige hat ein eigenes Fernsehgerät – richtig sprechen können diese Kinder dagegen nicht.

Sie werden mit einem Sprachniveau von Dreijährigen eingeschult. Und dann für viel Geld zum Sprachtherapeuten geschickt. In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl sprachbehinderter Schüler innerhalb von sechs Jahren um fast 60 Prozent gestiegen. Kein Wunder: Der durchschnittlich deutsche Schüler verbringt übers Jahr gerechnet mehr Zeit vor dem Fernseher als im Unterricht.

Bildungspolitisch wäre es also genauso angebracht, den Fernsehkonsum einzuschränken, wie gesundheitspolitisch. Und noch ein wichtiges, gar lebenswichtiges Argument gibt es, das der indische Gesundheitsminister CP Thakur neulich im Umkehrschluss vorgetragen hat: das demografische. Thakur nämlich sorgt sich wegen Indiens Kinderreichtum. Deshalb will er Fernseher verteilen lassen. Je mehr die Menschen fernsehen, so Thakur, desto weniger Kinder zeugen sie. „Wir wollen, dass die Leute fernsehen.“

Besser kann die radikal utopische Idee, weniger fernzusehen, eigentlich nicht begründet werden. Auf Deutschland angewendet lautet das Argument: Macht den Fernseher aus und stattdessen Kinder. Doch für Utopien fehlt dem deutschen Zeitgeister, der schon mit Reformen so furchtbar hadert, leider die Kraft.

(aus: Financial Times Deutschland, von Eva Busse)

i-Punkt 10/2006

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