NAGEL-Redaktion – Kinderarmut in einem reichen Land

Von Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Obwohl die Kinder hierzulande seit geraumer Zeit zu den Hauptbetroffenen von Armut gehören, wird diese in der Öffentlichkeit noch immer kaum wahr- und ernstgenommen, weil unser Armutsbild von absoluter Not und Elend in der sog. Dritten Welt geprägt ist, was viele BürgerInnen daran hindert, vergleichbare Erscheinungen „vor der eigenen Haustür“ zu erkennen bzw. als gesellschaftliches Problem anzuerkennen (vgl. hierzu: Butterwegge 2009). Dabei kann Armut in einem reichen Land sogar beschämender, bedrückender und bedrängender sein, weil vor allem Kinder und Jugendliche in einer Konsumgesellschaft massivem Druck von Seiten der Werbeindustrie wie auch ihrer Peergroup ausgeliefert sind, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“.

Umfang, Erscheinungsformen und Folgen der Kinderarmut

Begreift man den Sozialhilfe-/Sozialgeldbezug als Armutsindikator, erreichte die Kinderarmut ihren traurigen Rekordstand im März 2007, d.h. auf dem Höhepunkt des letzten Konjunkturaufschwungs. Nie zuvor und nie danach lebten ähnlich viele, nämlich fast 1,93 Millionen von 11,44 Millionen Kindern unter 15 Jahren, die es damals insgesamt gab, nach Daten der Bundesagentur für Arbeit in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt. Rechnet man die übrigen Betroffenen (Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ca. ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die keine Transferleistungen beantragen können) hinzu und berücksichtigt zudem die sog. Dunkelziffer (d.h. die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham, falschem Stolz oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen), lebten etwa 2,8 bis 3,0 Millionen Kinder, d.h. jedes vierte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.

Folgt man der Armutsdefinition, wie sie die Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Europäische Union (EU) und die Bundesregierung verwenden, wonach das Einkommensarmutsrisiko bei 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens beginnt, und legt Daten des regelmäßig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhobenen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zugrunde, waren im Jahr 2005 ca. 26 Prozent der Kinder bis 15 Jahre betroffen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008, S. 306). Auch nach neueren DIW-Daten finden sich bei Kindern weit überdurchschnittliche Armutsrisiken (vgl. Grabka/Frick 2010).

(Kinder-)Armut ist zweifellos mehr, als wenig Geld zu haben, denn sie bedeutet für davon Betroffene auch, persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, sozial benachteiligt und (etwa im Hinblick auf Bildung und Kultur, Wohlergehen und Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeit und Konsum) unterversorgt zu sein. Wenn man im Sinne des sog. Lebenslagenansatzes qualitative und nichtmonetäre Kriterien für das Armsein anlegt, steigt die Zahl armer Kinder sogar auf 3 bis 3,3 Millionen. Kinder sind in aller Regel arm, weil ihre Eltern arm oder verstorben sind. Alleinerziehende, Mehrkinder- und Migrantenfamilien (vgl. dazu: Butterwegge 2010) leiden besonders stark unter der sozialen Unsicherheit, Existenzangst und materiellen Not.

Ursachen der (Kinder-)Armut: Globalisierung, soziale Polarisierung und Prekarisierung

Kinder gehören zu den Hauptbetroffenen einer Entwicklung, welche die sog. Hartz-Gesetze eher noch verstärken; vor allem in Ostdeutschland, wo die Arbeitslosenquote und die Zahl der Alleinerziehenden besonders hoch sind (vgl. hierzu: Butterwegge u.a. 2008, S. 108 ff.). Untersucht man die Gründe für (Kinder-)Armut in Deutschland, verstärkt die Wiedervereinigung nur die negativen Auswirkungen der Globalisierung, neoliberalen Modernisierung bzw. Restrukturierung von Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild des Marktes, die man seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 beobachten kann (vgl. hierzu: Butterwegge 2006, S. 115 ff.; Butterwegge 2007, S. 195 ff.).

Auslöser einer Armutsentwicklung in Familien, deren am leichtesten verletzliche Mitglieder die Kinder bilden, sind häufig der Tod des Alleinernährers, die Erwerbslosigkeit von Eltern(teilen) und deren Trennung bzw. Scheidung. Die eigentlichen Ursachen für eine Prekarisierung der familiären Lebensbedingungen gründen aber tiefer: in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Macht man den als „Globalisierung“ bezeichneten Prozess einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach Markterfordernissen, einer Ökonomisierung und Kommerzialisierung für die Pauperisierung, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich, liegen die Wurzeln des vermehrten Auftretens von (Kinder-)Armut auf drei Ebenen:

Im Produktionsprozess löst sich das „Normalarbeitsverhältnis“ (Ulrich Mückenberger), von der Kapitalseite unter den Stichworten „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im vielbeschworenen „Zeitalter der Globalisierung“ erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.

Im Reproduktionsbereich büßt die „Normalfamilie“, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten Lebens- und Liebesformen, die tendenziell weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familien, „Patchwork-Familien“, hetero- und homosexuelle Partnerschaften usw.).

Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen „Wirtschaftsstandorten“ einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Kinder sind nicht zuletzt deshalb stark von Arbeitslosigkeit und/oder Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines „Umbaus“ des Wohlfahrtsstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger soziale Sicherheit als vorherige Generationen genießen.

(Kinder-)Armut kann nicht ohne ihr Pendant, den in wenigen Händen konzentrierten Reichtum, verstanden werden. Neben der Spaltung in Arm und Reich, die zu einer Gefahr für den sozialen Frieden wird, tritt eine Trennlinie deutlicher hervor, die innerhalb der Armutspopulation selbst verläuft. Stark zugenommen hat die Zahl jener Personen, deren Einkommen trotz Lohnarbeit in Form eines oder mehrerer Arbeitsverhältnisse nicht oder nur knapp über der Armutsgrenze liegt („working poor“). Andererseits verfestigt sich die perforierte, Langzeit- bzw. Mehrfacharbeitslosigkeit älterer und/oder gering qualifizierter Personen zur Dauerarbeitslosigkeit, wodurch eine Schicht total Deklassierter, vom Arbeitsmarkt wie auch von der gesellschaftlichen Teilhabe Ausgeschlossener („underclass“), entsteht. Während die Dauerarbeitslosen quasi den „sozialen Bodensatz“ bilden, verkörpern Niedriglohnempfänger/innen, oftmals Migrant(inn)en und ethnischen Minderheiten entstammend, das „Treibgut“ des Globalisierungsprozesses (vgl. hierzu: Butterwegge/Hentges 2009).

Interventions- und Präventionsmaßnahmen gegen Kinderarmut

Nötig wäre ein Paradigmawechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat. Denn gute Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen sind für eine gedeihliche Entwicklung und freie Entfaltung der Persönlichkeit sozial benachteiligter Kinder unentbehrlich, weshalb sie nicht – dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend – privatisiert, sondern weiterhin öffentlich finanziert und ausgebaut werden sollten. Karl August Chassé, Margherita Zander und Konstanze Rasch (2007, S. 342) fordern daher eine stärkere Zusammenarbeit bzw. Verzahnung von Schule und Jugendhilfe: „Öffnungen der Schule gegenüber dem Stadtteil bzw. dem Freizeitbereich könnten einerseits zu einer gemeinwesenorientierten Schule führen. Auf der anderen Seite müssten die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe – sicherlich oft in Kooperation mit den Schulen, vor allem im Kontext von Ganztagsschulen – lebensweltnahe attraktive Freizeit-, Förder- und Bildungsangebote entwickeln, mit denen die Kinder erreicht werden können, die von herkömmlichen Vereinen und kommerziellen Angeboten keinen Gebrauch machen können.“

Angesichts der durch Kinderarmut verstärkten Chancenungleichheit in der Gesellschaft bildet sie eine zentrale Herausforderung für die Schule. Da jene Infrastruktur weitgehend fehlt, die es auch Alleinerziehenden erlaubt, neben der Familien- noch Erwerbsarbeit zu leisten, liegt hier – neben der notwendigen Erhöhung monetärer Transfers zu Gunsten sozial benachteiligter Kinder – ein wichtiger Ansatzpunkt für Gegenmaßnahmen. Ganztagsschulen, die (preisgünstige oder unentgeltliche) Kindergarten-, Krippen- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen pädagogisch-sozialen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert als bisher, andererseits könnten ihre Mütter leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme besser meistern ließe. Ergänzend dazu müssten (größere) Unternehmen für Alleinerziehende günstige Arbeitszeitmodelle und/oder Betriebskindergärten anbieten. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich soziale Handikaps insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Unterstützung vor allem leistungsschwächerer SchülerInnen bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der Freizeit möglich wären (vgl. dazu: Hammer 2010).

Die deutschen Städte und Gemeinden sind aus finanziellen Gründen (sinkende Steuereinnahmen bei steigenden Sozialausgaben) immer weniger in der Lage, ihre Regelaufgaben im Kinder- und Jugendhilfebereich zu erfüllen, von freiwilligen Leistungen ganz zu schweigen. Gleichwohl sind Schule und Jugendhilfe gleichermaßen gefordert, im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten für alle jungen Menschen befriedigende Lebensverhältnisse und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zu schaffen. Wenn ihr mehr Mittel zur Verfügung stünden, könnte die Jugend- und Sozialarbeit ein Stützpfeiler im Kampf gegen die Armut sein. Die kommunale Sozialpolitik dürfte nicht zulassen, dass Beratungs- und Betreuungsangebote aufgrund staatlicher Sparmaßnahmen und leerer öffentlicher Kassen verringert werden.

 

 

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn

Butterwegge, Carolin (2010): Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsformen und Ursachen, Wiesbaden

Butterwegge, Christoph (2006): Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3. Aufl. Wiesbaden

Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (2007): Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden

Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias (2008): Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2. Aufl. Wiesbaden

Butterwegge, Christoph (2009): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt am Main/New York

Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.) (2009): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, 4. Aufl. Wiesbaden

Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (2007): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grunschulalter Armut erleben und bewältigen, 3. Aufl. Wiesbaden

Grabka, Markus M./Frick, Joachim R. (2010): Weiterhin hohes Armutsrisiko in Deutschland: Kinder und junge Erwachsene sind besonders betroffen, in: Wochenbericht des DIW 7, S. 2-11

Hammer, Veronika (2010): Bildungspolitik mit dem Ziel verbesserter Partizipation von armen Kindern, in: Ronald Lutz/Veronika Hammer (Hrsg.), Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze, Weinheim/München, S. 22-39

 

 

Vignettenvorschläge

● (Kinder-)Armut kann nicht ohne ihr Pendant, den in wenigen Händen konzentrierten Reichtum, verstanden werden.

● Die deutschen Städte und Gemeinden sind immer weniger in der Lage, ihre Regelaufgaben im Kinder- und Jugendhilfebereich zu erfüllen, von freiwilligen Leistungen ganz zu schweigen.

● Wenn man im Sinne des sog. Lebenslagenansatzes qualitative und nichtmonetäre Kriterien für das Armsein anlegt, steigt die Zahl armer Kinder sogar auf 3 bis 3,3 Millionen.

● Nötig wäre ein Paradigmawechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

● Öffnungen der Schule gegenüber dem Stadtteil bzw. dem Freizeitbereich könnten zu einer gemeinwesenorientierten Schule führen.

● Auf der anderen Seite müssten die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe mit den Schulen lebensweltnahe attraktive Freizeit-, Förder- und Bildungsangebote entwickeln …

● … mit denen Kinder erreicht werden können, die von herkömmlichen Vereinen und kommerziellen Angeboten keinen Gebrauch machen können.

● Wenn ihr mehr Mittel zur Verfügung stünden, könnte die Jugend- und Sozialarbeit ein Stützpfeiler im Kampf gegen die Armut sein.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Vorstehenden Beitrag von Prof. Dr. Christoph Butterwegge haben wir dem FORUM FÜR KINDER- UND JUGENDARBEIT 3. Quartal, September 2010, entnommen (Hrsg.: Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg). Wir danken dem Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg für die freundliche Genehmigung, den Beitrag verwenden zu dürfen.

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