Kinder wollen draußen spielen

Die Bedeutung des Wohnumfeldes für das Heranwachsen junger Menschen – Städte brauchen außerhäusliche Aktionsräume

Von Baldo Blinkert

Eine Freiburger Studie¹ legt dar, dass Kinder in der Stadt immer weniger Möglichkeiten zum Spielen im Freien finden. Die Untersuchung zeigt aber auch, was kommunalpolitisch dagegen getan werden kann. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Neil Postman hat das “Ende der Kindheit” postuliert. Diese These ist missverständlich, denn es spricht viel für die Vermutung, dass sich Kindheit als soziale und ökonomisch verwertbare Institution erst richtig etabliert und immer mehr die Form einer “inszenierten Kindheit” annimmt.

Die in Großstädten lebenden Kinder verlieren immer mehr die Möglichkeit zum spontanen und unbeaufsichtigten Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld ihrer Wohnung. An die Stelle von unmittelbaren Erfahrungen treten immer mehr Erfahrungen aus zweiter Hand und mit Simulationen.

Kinder leben immer mehr in Reservaten, in Welten, die für sie inszeniert und simuliert werden: auf Spielplätzen, in Organisationen, in den künstlichen Welten der Medien. Immer mehr Kinder wachsen in einer Umwelt auf, die entweder gefährlich ist oder in der man nichts erleben kann. “Wirklichkeitsverlust” und “Erlebnismangel” werden für immer mehr Kinder zu zentralen Merkmalen ihrer Lebenswelt.

Wie man Kommunalpolitik für Kinder macht

In Freiburg im Breisgau wurde im Auftrag der Stadtverwaltung eine Untersuchung durchgeführt, um diese Probleme zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu entwickeln (in dieser Untersuchung wurden Informationen über die Spielmöglichkeiten von über 4.000 Kindern erhoben). Die folgenden Fragen standen im Vordergrund:

  • Über welche Aktionsräume können Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren verfügen?
  • Welche Konsequenzen hat eine schlechte Aktionsraumqualität für die Lebensqualität und für die Entwicklungschancen von Kindern?
  • Welche politisch veränderbaren Merkmale von städtischen Umwelten sind für die Aktionsraumqualität von Kindern verantwortlich?

In der Untersuchung ging es um praktische Fragen. Denn nicht alles, was wissenschaftlich interessant ist, ist auch unter politischen Gesichtspunkten wichtig. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass die Situation von Kindern durch Veränderung in Ehe und Familie beeinflusst wird oder durch das Bildungsmilieu der Eltern oder durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile, so sind das wertvolle Erkenntnisse – aber keine Kommunalverwaltung wird diese Verhältnisse ändern können. Wir haben uns also auf Bedingungen konzentriert, die sich auch kommunalpolitisch beeinflussen lassen. Und dazu gehört alles, was mit dem Begriff des Aktionsraumes beschrieben werden kann. Unter einem Aktionsraum verstehen wir ein Territorium, das Kindern zugänglich ist, das für Kinder dieser Altersgruppe gefahrlos ist, das den Gestaltungsmöglichkeiten dieser Altersgruppe entspricht und wo es Interaktionschancen mit Gleichaltrigen gibt.

Die Untersuchung zeigt, dass von allen berücksichtigten Bedingungen die Aktionsraumqualität den Kinderalltag am stärksten beeinflusst (siehe Kasten „Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie“). Das gilt besonders für die frei disponierbare Zeit am Nachmittag und frühen Abend. Die Merkmale der unmittelbaren Wohnumgebung haben auf die Zeitverwendung von Kindern einen erheblich größeren Einfluss als die Merkmale Alter, Geschlecht, Familienstatus, Erwerbstätigkeit und Bildungsmilieu der Eltern. Das ist ein außerordentlich bedeutsames Ergebnis, denn es zeigt, dass die wichtigste Determinante für den Kinderalltag kommunalpolitisch gestaltbar ist. Wenn man etwas verändern will, so ist das auch möglich.

Wie man Kindern zu Defiziten verhilft

Die Annahme scheint plausibel, dass die dauerhafte Erfahrung ungünstiger Aktionsraumbedingungen zu Autonomie- und Kreativitätsdefiziten bei Kindern führen kann. Drei Argumente sprechen dafür:

  • Eine dauerhaft schlechte Aktionsraumqualität im Wohnumfeld trägt vermutlich dazu bei, dass Kinder nur wenig Selbstständigkeit entwickeln. Es kommt zu einer Art „Bedürfnisfixierung“: eine unzureichende Lösung von Sicherheitsbedürfnissen und ein geringes Interesse am Ausprobieren, Entdecken und Problemlösen. Dieses Phänomen ist uns bei den Begehungen von Wohnquartieren mit Kindern begegnet. Auf die Frage, was sich denn auf einem Spielplatz ändern müsste, erhielten wir nicht selten die Antwort: noch eine Schaukel, eine Rutsche, eine Wippe, ein Wackeltier.
  • Von allen Fachleuten wird betont, wie wichtig für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter die Möglichkeit zum Herstellen ist – Herstellen von Dingen, aber auch soziales Herstellen von Regeln und Beziehungen. Kinder, die diese Möglichkeit besitzen, können Selbstbewusstsein, Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, aber auch Einsicht in die Grenzen ihres Handelns gewinnen. Anregende und offene Aktionsräume bieten Kindern vielfältige Möglichkeiten zum Herstellen, zum dinglichen und sozialen Herstellen. Das Fehlen von Aktionsräumen regt dagegen eher zum Konsumieren fertiger Dinge und Dienstleistungen an.
  • Eine dritte Vermutung bezieht sich auf die Kompetenz von Kindern. Kinder entwickeln möglicherweise unter dauerhaft ungünstigen Aktionsraumbedingungen ein Defizit, das eine Ähnlichkeit mit den Defiziten der künstlichen Intelligenz bei Computern hat: sie erwerben hochentwickelte formale Fähigkeiten, aber nur eine unterentwickelte Semantik. Sie können immer besser und differenzierter kommunizieren, aber sie wissen nicht, worüber – ihnen fehlen die Bedeutungen und Inhalte.²

Ein Symptom für dieses Defizit ist die Unfähigkeit zum Erzählen. Inhalte und Bedeutungen, also etwas Erzählenswertes, kann man nur erwerben, wenn man etwas erlebt. Viele Kinder leiden heute unter einem extremen Erlebnismangel. Welche Erlebnisse haben Kinder, worüber sollten sie sich den halben Nachmittag auf einem Spielplatz mit Rutschen, Wippen, Kriech- und Wackeltieren beschäftigt haben?

Hinter der Freiburger Untersuchung stand, wie erwähnt, eine praktische Fragestellung: Was kann eine Stadt tun, um die Situation von Kindern zu verbessern? Was also kann getan werden, wenn man nicht die Politik der 70er und 80er Jahre fortsetzen will, in der immer mehr Kinderreservate eingerichtet und immer mehr Therapien für Kinder angeboten wurden?

Eine sinnvolle Alternative ist die politische Gestaltung einer kinderfreundlichen städtischen Umwelt. Die von uns formulierten Vorschläge konzentrieren sich auf drei Bereiche:

  • auf die Gefährdung durch den Straßenverkehr
  • auf die Frage, wie sich soziale Risiken für Kinder verringern lassen
  • auf die Frage, wie sich gestaltbare Spielorte in erreichbarer Nähe einrichten lassen.
    Wie man die Gefahren des Straßenverkehrs verringert

Wichtig erscheint die Schaffung von bespielbaren und sicheren Übergangszonen zwischen Haustür und Straße. Dazu gibt es schon eine Reihe von guten Vorschlägen. In einigen Wohngebieten würde es sich anbieten, die Vorgärten stärker für Kinder zugänglich zu machen.

Wichtig ist ferner eine konsequente Fortsetzung der Politik umfassender Verkehrsberuhigungen. Unsere Untersuchung zeigt, dass die Lebensqualität von Kindern durch die Einrichtung von Spielstraßen erheblich verbessert werden kann. In Großstädten wie Freiburg gibt es noch viele Möglichkeiten, autofreie Straßenplätze und Spielstraßen zu schaffen. In den verdichteten Wohnquartieren wird das im übrigen die einzige Möglichkeit sein, wie man für Kinder mehr Freiräume schaffen kann. Baulücken für Spielplätze sind in diesen Gebieten kaum mehr vorhanden.

Die Befürchtung, dass Kinder beim Spielen draußen durch andere Menschen gefährdet sein könnten, spielt insgesamt eine geringere Rolle als die Furcht vor dem Straßenverkehr. Nur zehn Prozent der Eltern erwähnen soziale Risiken als Gründe für schlechte Spielmöglichkeiten. In einigen Stadtgebieten besitzen aber gerade diese Risiken eine erhebliche Bedeutung, und es wäre wichtig, dafür jeweils Lösungen zu finden. Im wesentlichen haben diese Risiken zwei Gründe:

  • In vielen Wohngebieten sind informelle soziale Kontrollen nicht mehr wirksam – „Quartierswächter“ fehlen.
  • In einigen Wohngebieten werden Probleme durch “zwielichtige Gestalten” befürchtet: Stadtstreicher, Alkoholiker, Drogenabhängige, die sich auf Spielplätzen aufhalten.

Da sich informelle Kontrollen kaum wieder beleben lassen werden, schlagen wir in der Studie zwei Lösungen vor: Zum einen sollte der Einsatz von “Quartierspolizisten” überprüft werden. Zum anderen erscheint eine Einrichtung interessant, die es in Australien gibt: “safety houses”. Das sind Häuser oder Wohnungen von Privatleuten, die Kinder anlaufen können, wenn sie sich bedroht fühlen.

Das Problem der “zwielichtigen Gestalten” lässt sich nicht durch mehr Kontrolle lösen. Wir empfehlen deshalb, für diesen Personenkreis Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen, damit sie nicht die Spielplätze von Kindern nutzen müssen.

Wie man gestaltbare Spielorte für Kinder schafft

Alle Spielorte für Kinder sollten erstens durch begeh- und bespielbare Wege miteinander verbunden sein. Zweitens ist es nicht ausreichend, wenn Kinder nur einen bestimmten Typ von Spielort regelmäßig nutzen können. In den verdichteten Innenstadtgebieten ist Vielfalt sicher nur möglich, wenn es zu einer weiteren Verkehrsberuhigung kommt. Große Bedeutung hat auch die Möglichkeit, noch mehr als bisher schon die Schulhöfe für Kinder am Nachmittag zu öffnen. Drittens sollten Spielorte den Kindern die Möglichkeit zur Gestaltung bieten. Die herkömmlichen Spielplätze können das nicht. In einem Experiment soll in Freiburg versucht werden, in einigen Wohngebieten die Spielplätze „zurückzubauen“ – mit verformbarer Erde, mit ein paar Hügeln aus Bauaushub, mit Vertiefungen, in denen sich Regenwasser sammeln und Matsch bilden kann, mit einer sich selbst überlassenen Vegetation – also keine Zierpflanzen und künstliche Biotope, und mit beweglichen Gegenständen: Bretter, Balken, Steine, nach Möglichkeit mit fließendem Wasser und als Zugabe ein Autowrack.

Ein Spielort dieses Typs wird vielleicht Protest hervorrufen – bei Eltern, aber auch bei Kindern, von denen einige den vertrauten Kriech- und Wackeltieren nachtrauern werden. Dennoch sollte solch ein Versuch gewagt werden. Und das nicht nur in Freiburg.

 

Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie

  1. Freies und unkontrolliertes Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld der Wohnung – also in einem Umkreis von 150 bis 200 Metern – ist für Kinder zwischen fünf und elf Jahren von herausragender Bedeutung und durch nichts zu ersetzen.
  2. Im Durchschnitt wenden Kinder für dieses Spielen nicht mehr als fünf Prozent ihres Alltags auf – rund 40 Minuten pro Tag.
  3. Von diesem Durchschnittswert gibt es beachtliche Abweichungen. Diese hängen stark von der Aktionsraumqualität im Wohnumfeld ab: Wenn die Bedingungen sehr schlecht sind, können Kinder nicht mehr als 20 Minuten draußen spielen. Unter guten Bedingungen dagegen nahezu eineinhalb Stunden.
  4. Auch andere Komponenten des Kinderalltags werden in deutlicher Weise von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Der Bedarf für eine organisierte Nachmittagsbetreuung hängt beispielsweise nicht allein vom Familienstatus oder vom Alter der Kinder ab, sondern auch davon, ob es im unmittelbaren Wohnumfeld zugängliche und gefahrlose Freiräume zum Spielen gibt.
  5. Auch der Medienkonsum von Kindern wird von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Ist das Wohnumfeld gefährlich oder erlebnisarm, sitzen diese Kinder sehr viel länger vor dem Fernseher oder an Computerspielen als unter günstigen Bedingungen.

Vorstehender Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 57/1995. Dr. Baldo Blinkert arbeitet an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Anmerkungen:

¹Anm. d. Red.: Inzwischen wird regelmäßig von d e r “Freiburger Studie” gesprochen.

²Anm. d. Red.: Wie weit dieser Prozess inzwischen vorangeschritten ist, konnte die PISA-Studie (2001) belegen.

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