Das „problematische“ Kind in der Offenen Arbeit

Von Norbert Kohlmann

Erstveröffentlichung: DER NAGEL 54/1992

Mit der Einrichtung von pädagogisch betreuten Spielplätzen, Spielmobilen, Spielhäusern und Jugendzentren als offene Einrichtungen (auch als Anlaufstelle, Treffpunkt), ergibt sich zwangsläufig die Anforderung und Notwendigkeit, sich auch (und besonders) mit schwierigen und verhaltensauffälligen Kindern zu beschäftigen. Daraus darf sich allerdings nicht der Anspruch ergeben, quasi als „Beratungs- oder Therapieeinrichtung“ zu arbeiten. Trotzdem erfüllen offene Einrichtungen mit ihrem pädagogischen Auftrag eine wichtige Funktion im sozialen Netz eines Stadtteils. „Problemkinder“ machen Probleme und – davon können wir ausgehen – haben Probleme. Um diesen Kindern wirksam helfen zu können und um ihre Verhaltensweisen zu verändern, ist es unverzichtbar, sie auch einfühlsam zu verstehen. Dazu im folgenden einige Anmerkungen:

VERSTEHEN wird hier als Haltung, als grundsätzliches Prinzip verstanden, mit dem Ziel, sich in einem aktiven, gemeinsamen Prozess mit dem Kind eine größere Klarheit über sein Verhalten zu verschaffen.

  1. Wir versuchen, die Situation, das Verhalten aus der Sicht des Kindes zu sehen, nachzuvollziehen, sich in die Fußstapfen des Kindes zu stellen, mit den Augen des Kindes zu sehen … Wir versuchen, uns an ähnliche Situationen zu erinnern: verlassen zu werden, Angst zu haben, abgelehnt zu werden, etwas nicht zu schaffen, zu verlieren, sich minderwertig zu fühlen … Wir fragen uns: Wie müsste eine Situation beschaffen sein, dass wir uns so (wie das Kind) verhalten würden?
  2. Wir gehen davon aus, dass das Kind in der jeweiligen Situation überzeugt ist, z.Zt. nichts Besseres tun zu können (so naiv, unvernünftig, widersprüchlich usw. das Verhalten auch sein mag)! „Alles zu verstehen heißt alles zu verzeihen“ (franz. Sprichwort) bedeutet aber nicht, alles richtig zu finden oder zu gestatten. Zumindest erfahren aber die Kinder, in ihren Absichten und Gefühlen verstanden worden zu sein. Unser Verstehen ermöglicht uns, dem Kind mit seinen (nicht mit unseren) Begriffen klarzumachen, weshalb seine Methode/sein Verhalten ungeeignet ist, seine Ziele zu erreichen.
  3. Wir achten auch (oder mehr) auf die Gefühle des Kindes als auf das Verhalten (was „objektiv“ passiert). Wir verstehen das problematische Verhalten als Symptom, Signal oder in extremen Fällen als „Hilferuf“ des Kindes. Es ist für das Kind oft der einzig möglich erscheinende „Lösungsweg“, um mit den Belastungen in der Familie oder Lebenswelt fertig zu werden (Symptome als „Fenster“ zu den Gefühlen und Bedürfnissen der Kinder). Wir versuchen, die „hinter“ dem problematischen Verhalten liegenden wichtigen Bedürfnisse und Motive zu erkennen, das Verhalten zu „entschlüsseln“.
  4. „Verstehen“ betrachtet das Kind als grundsätzlich gleichwertig – besonders bezogen auf die Echtheit und die Wichtigkeit seiner Gefühle (nicht unbedingt bezogen auf Reife, Erfahrung).
  5. Janusz Korczak (polnischer Pädagoge) schreibt zum Verstehen von Kindern: „An den erwachsenen Leser: Ihr sagt: ‚Der Umgang mit den Kindern ermüdet uns.‘ Ihr habt recht. Ihr sagt: ‚Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, uns herabbeugen, kleiner machen.‘ Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern, dass wir uns zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“

Verstehen durch Beobachten

Wir erfahren die Kinder in Einzelkontakten, in verschiedenen Gruppensituationen, im Umgang mit ihren Eltern, Lehrern oder mit anderen Kindern und Erwachsenen. Durch unsere Beobachtungen versuchen wir, Antworten u.a. auf folgende Fragen zu finden:

  • welche Impulse und Motive vermuten wir hinter den jeweiligen Verhaltensweisen?
  • welches (Symptom-)Verhalten „wählt“ das Kind aus?
  • welche wiederkehrenden Muster sind zu erkennen?
  • wie geht es mit Regeln und Grenzen in der Gruppe um?
  • wie verhält es sich im Kontakt mit anderen Kindern?
  • welche Position hat es in der Gruppe?

Verstehen durch den gezielten Einsatz von Medien

Durch die Arbeit mit unterschiedlichen Medien (z.B. Theater-, Rollenspiel, Video, Musik) und Materialien (z.B. Malen, Ton-, Holzarbeiten) gewinnen wir Einblick darin, wie das Kind sich selbst, seine Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und anderen Kindern und Erwachsenen sieht.

Wiederkehrende Alltagssituationen in der Arbeit erhalten eine pädagogische Relevanz, wenn es uns gelingt, die dabei zum Ausdruck kommenden Gefühle und Bedürfnisse der Kinder zu entschlüsseln.

Ergänzt durch den Austausch zwischen den MitarbeiterInnen kann so ein „gemeinsames Bild“ (im Sinne einer Momentaufnahme) von dem jeweiligen Kind entstehen. Bevor wir zu den Überlegungen zum Verändern der Verhaltensweisen kommen, sollen noch einige „Vermutungen“ über die Verfassung dieser Kinder angestellt werden:

  • das natürliche Gleichgewicht des gesamten Organismus ist gestört (die Kinder ruhen nicht in sich selbst!)
  • es sind häufig entmutigte Kinder mit einem negativen Selbstbild als Ergebnis von negativen Kreisläufen und Zuschreibungen
  • häufigste Probleme/Symptome: Störung der Wahrnehmungs- und Kontaktfähigkeit, mangelnde Selbststeuerung von Bedürfnissen

Daraus lassen sich folgende Ziele für das VERÄNDERN der problematischen Verhaltensweisen ableiten. Wir versuchen

  • das kindliche Selbstbewusstsein (sich selbst bewusst sein!) zu entwickeln
  • das kindliche Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu stärken bzw. wiederherzustellen
  • die beeinträchtigten Wahrnehmungs- und Sinnesfunktionen zu unterstützen und wieder lebendig werden zu lassen (hierfür bieten die Arbeitsbereiche Spielplatz und Spielmobil hervorragende Möglichkeiten)
  • das selbstverantwortliche Handeln schrittweise zu erweitern und die eigene Kraft aufzubauen
  • und damit das natürliche Gleichgewicht des gesamten Organismus wieder aufzubauen und ein gesundes Wachstum zu ermöglichen.

Um diese Ziele zu erreichen, berücksichtigen wir zwei wichtige Prinzipien:

  • die ganzheitliche Sichtweise; das bedeutet: keine Reduzierung des Kindes auf das Problemverhalten (nicht ein aggressives Kind kommt zum Spielen, sondern ein Kind, das auch aggressive Verhaltensweisen zeigt) und – nach Möglichkeit – Einbeziehung des familiären Hintergrundes des Kindes
  • die positive Orientierung; das bedeutet: nicht gegen den „Fehler“ – aber alles für das Fehlende tun, Orientierung am Wachstum und an den Fähigkeiten und Stärken des Kindes.

Daraus ergeben sich für das konkrete Handeln drei sich ergänzende Ansätze:

1. Grundsätzliche Akzeptanz und Wertschätzung der Kinder (unabhängig vom jeweiligen Verhalten):

  • wir holen die Kinder dort ab, wo sie stehen (Verzicht auf „Vorleistungen“, Erfüllen von Bedingungen);
  • wir unterstützen und fördern ihre Fähigkeiten und Stärken (viel Lob und Zuwendung);
  • wir ermöglichen ihnen vielfältige sensorische Erfahrungen, um ihre Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten zu stärken;
  • wir vermitteln ihnen vielfältige, differenzierte Spielerfahrungen.

2. Wir richten unsere Aufmerksamkeit stärker auf die „verdeckten“ und „verschlüsselten“ Gefühle und Bedürfnisse:

  • wir helfen den Kindern, ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen und auszudrücken (Verbalisieren von Gefühlen);
  • wir unterstützen die Kinder, sich ihren Bedürfnissen entsprechend zu verhalten bzw. alternative Verhaltensweisen zu finden.

3. Wir lassen Konsequenzen eintreten

  • wir steuern und dosieren die Konsequenz, um eine Balance zwischen Unterstützung und Anforderung zu finden;
  • wir setzen Grenzen und achten auf die Einhaltung von Regeln.

(Hier kann es leicht zu einem Zielkonflikt kommen zwischen dem Erfüllen der Bedürfnisse der Kinder einerseits und dem Einhalten von Regeln andererseits. Es schließt sich aber z.B. nicht aus, ein konkretes Verhalten zu untersagen bzw. zu verurteilen, dem Kind aber trotzdem akzeptable Motive zuzugestehen).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für die Arbeit auf pädagogisch betreuten Spielplätzen, in Spielmobilen und anderen Feldern offener Arbeit mit Kindern keine „Minitherapeuten“ erwartet werden, aber einfühlsame Erwachsene, die versuchen,

  • Kinder zu verstehen,
  • ein alternatives Modell für die Kinder zu bieten,
  • verlässlich und kontinuierlich für sie da zu sein,
  • ein attraktives und differenziertes Spielangebot für verschiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten zu entwickeln und
  • Zeit für die Kinder zu haben.

Um eine in diesem Sinne wirkungsvolle Arbeit zu leisten und die dargestellten Ziele erreichen zu können, darf es keine Isolation der pädagogischen Mitarbeiter geben. Deshalb sollten

  • die Einrichtungen grundsätzlich mit (mindestens) zwei MitarbeiterInnen besetzt sein,
  • die MitarbeiterInnen regelmäßige Supervision erhalten,
  • eine Zusammenarbeit (Vernetzung) mit anderen sozialen Diensten im Stadtteil angestrebt werden.

Norbert Kohlmann ist Psychotherapeut in Münster

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