NAGEL-Redaktion – Die 1970-er Jahre

In der 1970-er Jahren gab es zahlreiche Versuche, Jugendarbeit neu zu definieren. So war Giesecke der Auffassung, Jugendarbeit bezeichne „diejenigen von der Gesellschaft Jugendlichen und Heranwachsenden angebotenen Lern- und Sozialisationshilfen, die außerhalb von Schule und Beruf erfolgen, die Jugendliche unmittelbar, also nicht auf dem Umweg über die Eltern, ansprechen und von ihnen freiwillig wahrgenommen werden.“(1)


Grenzenlose Freiheit – begrenztes Leben (Filmfoto. Quelle: Deutsches Filminstitut – Sozialgeschichte des bundesrepublikanischen Films)

Weitere Kriterien sind der „Verzicht auf Leistungskontrollen, Altersheterogenität, Flexibilität der Angebote, Methoden und Kommunikationsformen, Orientierung an den Bedürfnissen der Jugendlichen, erfahrungsbezogene Lernfelder mit Offenheit zur Aktion (und) Gruppenorientierung.“ (2) (3)


Disco in den 1970er-Jahren (Das Foto entstammt der Internetrezension von Katja Preissner zum Buch „Die 70er – einmal Zukunft und zurück“ von Markus Caspers, Ostfildern 1999)

Die 1970er Jahre waren für die Weiterentwicklung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eine wesentliche Periode. Sie ermöglichten sowohl ein enges zeitliches Aufeinanderfolgen von fortschrittlichen Entwicklungen – auch in wissenschaftlicher Hinsicht – als auch das Ende dieser Ideen und Bewegungen. Bauer (4) dokumentiert die Arbeitsansätze dieser Episode. Hier seien sie schlagwortartig wiedergegeben: „Sozialintegrative Jugendarbeit“, die kompensatorische Erfahrungen in der Gruppe durch Kommunikation und Interaktion, begleitet durch einen partnerschaftlichen Erziehungsstil, ermöglicht. (5)

Ferner werden unter der Begrifflichkeit „Emanzipation“ der individualkritische Aspekt, der ideologiekritische Aspekt und der systemkritische Aspekt thematisiert. Darüber hinaus definiert Bauer die Ansätze „antikapitalistische“ und „progressive“ Jugendarbeit.

In dem Bändchen „Die Geschichte der Offenen Arbeit“ (6), herausgegeben 2003 von der ELAGOT NRW, liefert Ralf-Erik Posselt eine hilfreiche Übersicht der diversen Ansätze. (7)


Trendig (Foto: cosmopolitan.de)

„1975 läuft die Jugendzentrumsbewegung aus.“ (8) So pragmatisch formulieren es Ortmann und Rohwedder. Die Universität Bielefeld konstatierte für den gleichen Zeitraum eine Stagnation der Abenteuerspielplatzbewegung. (9) Teil der Begründung war die „Kommunalisierung der Plätze“. Zunehmend hatten nämlich die Kommunen die Abenteuerspielplätze aus den Händen der Initiativen in eigene Trägerschaft übernommen oder sie gewährten neu gegründeten Trägern Zuschüsse. Teilweise gingen sie selbst daran, eigene Plätze zu installieren. Faktisch sind Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft (dies unterscheidet Abenteuerspielplätze nicht von Jugendzentren) Teil der Administrative und damit eingebettet in die fünf von Mayntz genannten Merkmale der Verwaltungshierarchie:

● „eine festgelegte Autoritätshierarchie
● ein System vertikaler Kommunikationslinien
● eine geregelte, klar umrissene Aufgabenteilung
● ein System von Regeln und Richtlinien, das die Rechte und Pflichten von Organisationsmitgliedern festlegt
● ein System von klar definierten Verfahrensweisen für die Aufgabenerfüllung“. (10)


Buchtitel (Götz Aly: Wofür wirst du eigentlich bezahlt? Möglichkeiten praktischer Erziehungsarbeit zwischen Ausflippen und Anpassen, Berlin 1977) (11)

Es soll nicht unterstellt werden, dass Kommunen Einrichtungen nur deshalb übernahmen oder gründeten, um auf sie lediglich eine Kontrolle auszuüben. Vielmehr gewann die Einsicht über den Nutzen von Einrichtungen der Offenen auch zunehmend Raum in der öffentlichen Verwaltung. Richard Münchmeier bestätigt, Offene Arbeit sei zu jener Zeit zu einem anerkannten, öffentlich finanzierten Regelangebot der kommunalen Jugendarbeit geworden. (12)


Abbildung aus Götz Aly: Wofür wirst Du eigentlich bezahlt? Berlin 1977

Dennoch sind kommunale Einrichtungen infolge ihrer zuvor skizzierten Merkmale in Abhängigkeiten eingebunden, die ihren Handlungsspielraum und ihre ursprünglichen Ziele entscheidend beeinträchtigten. Genau diese Abhängigkeit schafft selbstverständlich auch konzeptionelle Grenzen. Hinzu kam, dass es in den Einrichtungen – unvermeidbar – zu Generationswechseln beim Personal kam. Und Ideen sind immer auch mit Personen verknüpft, wie neue Personen neue Ideen (oder auch keine mehr) mitbringen. Große freie Träger – wie etwa die Kirchen oder die AWO – erlebten und erleben aufgrund gewisser Strukturparallelen ähnliche Effekte.


Im Jugendhaus der 70er-Jahre (Quelle: Götz Aly: Wofür wirst du eigentlich bezahlt?)

Ein weiterer Aspekt der 70-er Jahre soll aufgegriffen werden: neben dem Politisierungs- und dem kreativen Anspruch ist – zusammenhängend mit der zunehmenden Professionalisierung Offener Kinder- und Jugendarbeit – eine zunehmende „Sozialpädagogisierung“ feststellbar. „In jeweils lokal spezifizierbaren Mischformen, die sich teils aus dem Nachklang einer romantischen Randgruppenpolitisierung, teils aus einem humanitär-sozialarbeiterischen Hilfeverständnis speisten, bildete die Orientierung auf eine Arbeit mit Auffälligen, Gefährdeten und Benachteiligten … (ein weiteres) Element im Konzeptionsspektrum offener Jugendfreizeitstätten.“ (13)


Foto: Lienhard Wawrzyn in: Kursbuch 59 – Bilderbuch, Berlin 1980

Die Rolle der mehr und mehr ernüchterten zweiten und dritten Generation der MitarbeiterInnen „nach dem Aufbruch“ skizzierte Götz Aly: „Die Verworrenheit der sozialpädagogischen Diskussion hat dazu geführt, dass heute (Anm. R.D.: 1977) statt der bastelnden Fröbelkindergärtnerin, die die Mädchen Puppen spielen ließ und den Jungen das Weinen abgewöhnte, sehr junge Erzieher und Sozialpädagogen die Akademien und Schulen verlassen, die weder singen noch basteln können. Die davon auch nichts halten. Sie beschränken sich zwangsläufig auf philantropisch-sozialistische Sprüche über die beschissene Welt. Sie widerstehen dem Anpassungsdruck einer Behörde kaum ein halbes Jahr und meinen dann: ‚Unter diesen Umständen kann man eben nichts machen.’“ (14)


Foto: Lienhard Wawrzyn in: Kursbuch 59 – Bilderbuch, Berlin 1980

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Fußnoten

(1) Hermann Giesecke: Jugendarbeit und Emanzipation, in: Lothar Böhnisch: Jugendarbeit in der Diskussion. München 1973, S. 84 f.
(2) Erwin Jordan: Jugendarbeit, in: Dieter Kreft und Ingrid Mielenz: Wörterbuch Soziale Arbeit, Weinheim 1980, S. 234 f.
(3) Anm. R.D.: Mancherorts scheinen auch gegenwärtig noch  „Konzeptionen“ zu existieren, die die 70-er Jahre auf bisweile skurill anmuende Weise in ihrer Alltagspraxis widerspiegeln.
(4) vgl. Bauer, a.a.O., S. 35 ff.
(5) Dieser Ansatz hat nach wie vor einen erheblichen Anteil in der Jugendarbeit. Der Autor stimmt der Kritik Manfred Liebels (Bauer a.a.O., S. 36) zu, wenn dieser feststellt, dass sozialintegrative Jugendarbeit ein Instrumentarium sei, „das grundsätzlich die bestehende Herrschaftsordnung zu stabilisieren helfe“.
(6) Anm. R.D.: Wie problematisch es ist, zusammengestellte historische Dokumente und eine Auseinandersetzung mit ihnen als „die Geschichte“ zu titulieren, habe ich u.a. auch bei dieser Arbeit festgestellt. Deshalb haben die Leser(innen) es hier auch nicht mit „der Geschichte“ der Offenen Arbeit zu tun. Bewusst heißt der Titel hier „Zur Geschichte der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“. Dies berücksichtigt auch, dass bestimmte Blickwinkel bei der Dokumentierung nicht verhehlt werden können und sollen.
(7) Ralf-Erik Posselt: Die Geschichte der Offenen Arbeit, Schwerte 2003. Hier ist das Kapitel „Die Profis kommen …“ verlinkt. In dem Beitrag werden auch Ansätze berücksichtigt, die zu späteren Zeiten entwickelt und relevant wurden.
(8) Norbert Ortmann/Peter Rohwedder (Bearbeitung): Die Planung und Entwicklung der offenen Kinder- und Jugendarbeit in Oberhausen, Oberhausen (Stadt Oberhausen) 1994, S. 37
(9) vgl. Holger Grabbe et al.: Zur Situation der offenen Kinderarbeit in der BRD, in: Freizeitpädagogik – Zeitschrift für kritische Kulturarbeit, Freizeitpolitik und Tourismusforschung (FZP) 3-4, Frankfurt am Main 1981
(10) Renate Mayntz, zitiert nach Karl-Heinz Boeßenecker: Das Neue Steuerungsmodell, in DER NAGELKOPF Nr. 21 „Steuerungsmodelle – Verplanung des Marktes oder Vermarktung des Plans? Dortmund (ABA Fachverband) 1995 (11) Anm. R.D.: „Wofür wirst du eigentliche bezahlt!“ Eine vergleichbare Frage kennen Abenteuerspielplatzmitarbeiter(innen) aus jener Zeit auch noch: „Wo arbeitest du eigentlich, wenn du hier nicht spielst?“
(12) vgl.: Richard Münchmeier: Was ist Offene Jugendarbeit? – eine Standortbestimmung, in: Ulrich Deinet/Benedikt Sturzenhecker (Hg.): Handbuch Offene Jugendarbeit, Münster 1998, S. 13
(13) Treptow, a.a.O.
(14) Götz Aly: Wofür wirst du eigentliche bezahlt? Berlin 1977, S. 8

Weiterführende Links

Die 1970er-Jahre (Wikipedia)

Jugendarbeit (Wikipedia)

Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung (Wikipedia)

AGOT-NRW

Hinweise

Ulrich Deinet, Benedikt Sturzenhecker (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2005, 3., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, 668 Seiten, ISBN978-3-8100-4077-0, 59,90 Euro. Rezension lesen

Auch das waren die 1970er-Jahre

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