Christopher Roch

NAGEL-Redaktion – Leichen pflastern ihren Weg

Kommunen in Not

Die Verschuldung der deutschen Kommunen wird durch die Regierungen verursacht. Mancherorts werden inzwischen Verstorbene, für die die Kommune zuständig ist, in anderen Bundesländern unter die Erde gebracht – um zu sparen. Jetzt werden die Bürger/innen aktiv


Von Werner Rügemer

Auf die deutschen Kommunen wird geschimpft wie auf die griechischen Schuldenmacher. Doch in beiden Fällen herrscht mehr Psychokrieg als Wahrheitsliebe. Griechenlands Statistik-Schummelei wäre nicht möglich ohne die Mithilfe US-amerikanischer Banken, französischer Rüstungsverkäufer und Schmiergeldzahler namens Siemens. Und ungleich mehr Schulden als die Kommunen machen in Deutschland die Bundesregierung und die Landesregierungen, die ohne Sinn und Verstand bankrotte Banken retten, die sich mit ihrer Hilfe verspekuliert haben.

Es ist richtig, dass in vielen Kommunen im Laufe des letzten Jahrzehnts auch dubiose, ja gesetzwidrige Wege gegangen wurden: Cross Border Leasing, Derivate und Zinswetten (Swap-Geschäfte) sollten auf scheinbar clevere Weise Geld in die Kasse bringen. Doch auch hier wird gern verschwiegen, dass die Berliner Regierungen dasselbe über die Bundesunternehmen Telekom, Deutsche Post, Deutsche Bahn und Deutsche Flugsicherung machten. Und es wird auch hier verschwiegen, dass die Banken, die diese „Finanzinnovationen“ den Stadtkämmerern andienten, vorher durch die Deregulierung des Finanzsektors aus Berlin die Freigabe erhalten hatten.

Bei aller möglichen Miss- und Klüngelwirtschaft in den Kommunen ist unbestreitbar: Ihre strukturelle Verschuldung wurde und wird durch die Bundesregierungen verursacht, in zweiter Linie durch die Landesregierungen. Beginnend mit der deutschen Vereinigung, dann insbesondere seit etwa dem Jahre 2000 folgten die Bundesregierungen dem neoliberalen Muster: Neben der Aufwertung der Großbanken und der Export- und Energiekonzerne gehört dazu die Abwertung des öffentlichen Dienstes und der Kommunen, während der Zentralstaat ausgebaut wurde.

Allein die Steuergesetzgebung der schwarz-roten Bundesregierung seit 2005 bringt den Kommunen bis 2013 einen Verlust von knapp 20 Milliarden Euro. Und allein die ersten Steuersenkungen der neuen schwarz-gelben Regierung seit Anfang 2010 („Wachstumsbeschleunigungsgesetz“) führen zu jährlichen Verlusten der Kommunen von 1,6 Milliarden Euro. Die Bundesländer tun das Ihrige dazu: So belastet die schwarz-gelbe Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Kommunen durch neue Kürzungen und Aufgaben allein im Jahr 2010 mit 375 Millionen Euro.

Die Bundesregierung schädigt die Kommunen noch ganz anders. Sie haben Milliarden Euro in umweltschonende und effektive Energie-Technologien investiert – im Vertrauen auf die Abschaltung der Atomkraftwerke. Die Regierung will nun aber deren Laufzeit verlängern. Durch den konkurrenzlos billigen Atomstrom aus den bereits abgeschriebenen Atommeilern der vier großen Energiekonzerne würden die kommunalen Investitionen weitgehend entwertet, Einnahmen fallen aus.

Bürger dürfen ihren Namen auf Parkbänke nageln

Gegenüber diesen strukturellen Maßnahmen mit Milliardeneffekt nehmen sich gegenwärtige Versuche zu fieberhaften Einsparungen und Erschließung neuer Geldquellen in den Kommunen wie absurdes Theater aus. Um ein paar Euro zu sparen, werden Öffnungszeiten von Bibliotheken um weitere Stunden verkürzt, in den Bädern wird die Wassertemperatur um ein paar Grad Celsius abgesenkt, die Straßenbeleuchtung in Außenbezirken wird ausgeschaltet; Preise für Schwimmbäder, Kindergärten und Volkshochschulkurse werden erhöht, Hotel- und Sexsteuern werden erhoben. Freundliche Bürger dürfen ihr Namensschildchen auf Parkbänke und Theaterstühle nageln, weil sie für 200 Euro den Bank- und Stuhl-Paten spielen. Und ein großer Versicherungskonzern übernimmt gnädigerweise für 15.000 Euro im Jahr die Kosten dafür, dass im Springbrunnen auf dem Marktplatz das Wasser weiter sprudeln kann. Makaber wird es, wenn etwa die Stadt Grevenbroich die Leichen ihrer armen Bürger, für die sie zuständig ist, in ein anderes Bundesland zur Verbrennung und Bestattung schickt, weil dies dort ein paar Euro billiger ist.


Verwüstungen in einem der reichsten Länder der Welt

Doch schon bei etwas größeren Routineaufgaben versagt diese Peanuts-Methode. Schulen, Bäder, Bürgerbüros, Jugendzentren werden geschlossen. Theatern droht die Schließung. Parks verwildern. Straßenlöcher bleiben Straßenlöcher. Ganztagsplätze in Kindergärten und Horten werden gestrichen. Freie Träger im sozialen und kulturellen Bereich erhalten keine Zuschüsse mehr. Welche Verwüstungen in einem der reichsten Länder der Welt! Das ist erst der Anfang – und die angeblich immer noch beliebte Bundeskanzlerin Merkel blicket stumm in der Wüstenei herum.

Alle bisherigen neuen Heilmittel sind gescheitert. Das betrifft nicht nur Cross Border Leasing und ähnliches. Auch nach dem (Teil-)Verkauf von Stadtwerken und anderen kommunalen Unternehmen sind die Kassen leerer und die Schulden höher als vorher. Bei den Berliner Wasserbetrieben BWB erhöhen RWE und Veolia die Preise auf europäische Rekordhöhe und kassieren die Gewinne ab. Städte wie Solingen und Kiel, die sich für ihre Stadtwerke einen gelobten „strategischen Partner“ ins Haus geholt haben, finden sich ausgepowert wieder: Der „strategische Partner“ hat vor allem für sich selbst gesorgt, hat Arbeitsplätze abgebaut und Dienstleistungen an eigene Tochterfirmen vergeben. Nach dem Verkauf von 48.000 kommunalen Wohnungen in Dresden explodieren dort die Mieten, und die städtischen Schulden wachsen schon wieder.

Aus solchen Erfahrungen haben so manche Stadtobere immer noch nichts gelernt. Gerade jetzt holen sie sich teure Berater. Rüsselsheim etwa will sich mit Hilfe der Bertelsmann-Stiftung selbst aus dem Sumpf ziehen: Die strukturellen Ursachen der Verschuldung werden nicht benannt. Bei der neuen Privatisierungsmethode Public Private Partnership (PPP) bahnt sich ein neues Desaster an.

Immer noch fällt es Stadtoberen schwer, sich aus der Kumpanei mit dubiosen Investoren zu lösen. Der Europäische Gerichtshof hat den PPP-Vertrag der Stadt Köln mit dem Investor Oppenheim zu den neuen Messehallen für unwirksam erklärt. Die Bank Oppenheim ging pleite, die Vorstände, mit denen der Vertrag unterschrieben wurde, sind wegen Unfähigkeit geschasst worden: Die Stadt könnte den Vertrag neu verhandeln, die Messehallen zum wirklichen Wert kaufen und dabei eine dreistellige Millionensumme sparen. Aber nichts dergleichen geschieht, lieber kürzt man in aufwändigen Auseinandersetzungen den freien Trägern dort 5.000 Euro, hier 2.000 Euro.

Die kommunale Infrastruktur ist eine elementare Voraussetzung für den Sozialstaat und den Zusammenhalt der Gesellschaft, für ein sicheres Leben der Bürger. In der Bevölkerung hat sich inzwischen die Meinung verfestigt, dass die Daseinsvorsorge in kommunale und öffentliche Hand gehört. Die kommunale Infrastruktur ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Die im Grundgesetz garantierte Selbstverwaltung der Kommunen erfordert dafür ausreichende Finanzen. Alles andere ist Verfassungsbruch.

In vielen Städten sind Bürgerinnen und Bürger längst selbst aktiv geworden. Sie bilden offene Foren, treffen sich wie „Köln kann auch anders“ jede Woche montags 18 Uhr vor dem Rathaus, laden Bürgerinitiativen und Experten zum Erfahrungsaustausch ein. Kritische Stadträte und städtische Personalräte koordinieren sich überregional. Die Vorschläge von vielen Seiten liegen auf dem Tisch: ein kurzfristiger staatlicher Rettungsschirm für die Kommunen, eine Gemeindewirtschaftssteuer unter Einschluss der freien Berufe, die Gründung neuer öffentlicher Energie- und Wohnungsunternehmen, Offenlegung und Rückabwicklung dubioser Privatisierungsverträge, Ausbau und Qualifizierung des öffentlichen Dienstes, Zinsmoratorium – es ist gar nicht so schwer, wenn wir der demokratischen Fantasie nur freien Lauf lassen.

Dr. Werner Rügemer arbeitet als Publizist und Lehrbeauftragter in Köln. Sein Beitrag „Leichen pflastern ihren Weg“ erschien zunächst in der Zeitung VER.DI PUBLIK 4/2010. Die Verwendung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie der Redaktion von VER.DI PUBLIK.

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NAGEL-Redaktion – Bildung statt Pillen

Von Birgit Taffertshofer

Kinder und Jugendliche brauchen keine Luxusmedizin für einen gesunden Start ins Leben, viel wichtiger sind gute Vorbilder und Lernmöglichkeiten. Vor allem bedürftige Familien können davon profitieren.

Statistisch gesehen geht es den Kindern in Deutschland blendend. Sie sind auffallend gut entwickelt und wachsen fast 20 Zentimeter höher als Kinder noch vor hundert Jahren. Denn im Unterschied zu jenen haben sie heute reichlich zu essen und müssen sich seltener mit Infektionskrankheiten herumschlagen. Doch größerer Wohlstand und eine bessere medizinische Versorgung garantieren noch lange nicht, dass jedem Kind ein guter Start ins Leben gelingt. Dies belegen die Ergebnisse des ersten Kinderberichts, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im September 2009 vorstellte.

Im Mittelpunkt der internationalen Studie stehen das Wohlbefinden und die Entwicklungschancen der Kinder und Jugendlichen in den 30 Mitgliedsstaaten der OECD. Die Daten deuten darauf hin, dass die hohen öffentlichen Ausgaben für Familien in Deutschland wenig darüber aussagen, wie gut es den Heranwachsenden hierzulande wirklich geht und ob das Geld bei ihnen ankommt. Obwohl die Bundesrepublik, je nach Altersgruppe, zehn bis 20 Prozent mehr Geld für Bildung, Dienstleistungen und direkte Finanztransfers ausgibt als die Mitgliedsstaaten im Schnitt, lebt hierzulande fast jedes sechste Kind in Armut. Im OECD-Schnitt ist es nur jedes achte. Die besten Werte erzielten nach den Kriterien der Organisation die skandinavischen Länder, in Dänemark gilt lediglich jedes 37. Kind als arm. 

Armut macht krank

Natürlich sind die Armen in einem reichen Land wie Deutschland nur relativ arm, die Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche sind aber nicht weniger dramatisch. Armut bedeutet für sie meist nicht nur den Verzicht auf anregende Ferien oder Nachhilfeunterricht, sondern auch höhere Gesundheitsrisiken: Sie ernähren sich häufig schlechter, bewegen sich weniger, sind öfter übergewichtig und leiden stärker an psychischen Problemen. Erkrankte benötigen Zuwendung, Trost und Therapie. Was sie nicht gebrauchen können, sind Schuldzuweisungen von außen, dass sie zu dick, zu faul oder zu schwierig sind. Nach dieser Logik würden die körperlichen oder seelischen Beschwerden aus mangelnder Investition in die eigene Gesundheit resultieren. Doch bei Kindern ist Krankheit nahezu immer unverschuldet. Denn wenn Eltern gesundes Verhalten nicht täglich vorleben, haben ihre Töchter und Söhne schlechte Chancen, es zu erlernen.

Gesundheit bedeutet ja nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Fähigkeit einer Person, Erreger und andere Krankheitsursachen erfolgreich zu bekämpfen. Viele Menschen aber leben heute ungesund und glauben, der Arzt oder die Klinik würden es schon richten. Gigantische Summen werden so für Diagnostik und Hightech-Medizin verschwendet, obwohl bereits 40 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden leiden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern vor allem einer geschulten Beratung und Gesprächsbegleitung bedürfen.

Auch Kinder und Jugendliche geraten leicht in eine Mühle von übereilten Korrekturmaßnahmen. Wenn sie mit zehn Monaten noch nicht laufen können, bekommen sie eine Lauflernhilfe, wer ein paar Gramm zuviel auf den Hüften hat, wird sofort auf Diät gesetzt, und für unruhige Schüler gibt es eine Tablette. Das Streben nach mehr Gesundheit wird in diesem Fall erst zum krankmachenden Faktor. Stattdessen muss es gelingen, die jungen Menschen zu motivieren, achtsam mit ihrer Gesundheit umzugehen. Dafür muss sich jedoch das Bewusstsein in der Bevölkerung ändern – weg von einer wohlmeinenden Fürsorge für Kranke und Behinderte hin zu einer umfassenden Befähigung und Ermutigung der Betroffenen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Schule fürs Leben

Gesundheitsförderung und Prävention stehen auch im Mittelpunkt des 13. Kinder- und Jugendberichts, für den das Deutsche Jugendinstitut (DJI) die Geschäftsführung innehatte. Die Wissenschaftler haben ihn zum Anlass genommen, das Thema Gesundheit in diesem Heft breiter zu diskutieren. Gemeinsam mit renommierten Experten zeigen sie auf, woran das System krankt, das sich in Deutschland um das Wohlbefinden der Kinder kümmern soll. Sie weisen auf Möglichkeiten hin, wie Fachkräfte des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung enger zusammenarbeiten können, damit die Schwächsten in unserer Gesellschaft auch die notwendige Hilfe erhalten: chronisch kranke, behinderte und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Sie alle haben ein Recht auf jene Grundsicherheit, die es ihnen erst erlaubt, sich möglichst frei und gesund zu entfalten.

Wenn die Eltern es nicht schaffen, ihrem Kind ein gutes Vorbild zu sein, müssen andere helfen: Erzieherinnen, Sozialarbeiter und Lehrer, aber auch Freunde, Nachbarn und Sporttrainer. Wenn sie alle anerkennen, dass Bildung nicht nur bedeutet, auf das Leben vorzubereiten und möglichst viel Wissen anzuhäufen, sondern dass Schulen und Kindertageseinrichtungen selbst Orte sind, wo junge Menschen die Kompetenzen zum Meistern des Lebens einüben, dann versteht es sich fast von selbst, dass dort auch Gesundheit gefördert wird. Der Staat muss großzügig sein bei seinen Ausgaben für Kinder, aber er muss sie auch so lenken, dass das Geld bei den Bedürftigen ankommt. Denn wenn Armut Kindern ihre Gesundheit raubt, dann bleibt vom Versprechen des Sozialstaats, all seinen Bürgern die gleichen Startchancen zu ermöglichen, nicht mehr viel übrig.

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Der Beitrag von Birgit Taffertshofer erschien zunächst im DJI Bulletin 3/2009 (Heft 87). Seitens des ABA Fachverbandes werden die Hefte regelmäßig als sehr brauchbar für die Fortentwicklung der pädagogischen Arbeit auch vor Ort eingestuft. Deshalb stellen wir sie jeweils nach ihrem Erscheinen zum Herunterladen ins ABA-Netz. Auf der Seite befindet sich zur Orientierung immer eine kleine Inhaltsangabe zur jeweiligen Ausgabe. Den 13. Kinder- und Jugendbericht gibt es ebenfalls zum Herunterladen im ABA-NetzDas DJI Bulletin findet man natürlich auch auf den Seiten des Deutschen Jugendinstituts.

Bei Birgit Taffertshofer möchten wir uns für die erfreuliche Zusammenarbeit bedanken. Dank auch für ihre Genehmigung, ihren Beitrag hier zu verwenden.

 

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NAGEL-Redaktion – Wie man Ausschuss produziert

Integrationsrassismus und Alltagsrenitenz

Von Thomas Seibert

Das Ekelhafte am Fall Sarrazin sind nicht die Ergüsse eines Geisteskretins aus den besten Kreisen, sondern die Deckung, die ihm auf breitester Front zuteil wird. Perfiderweise werden dabei gleich zwei „Debatten“ verschachtelt. Die eine handelt von gefährdeten BürgerInnenrechten und meint natürlich die des rassistischen Täters. So wünschen Hunderte SPD-Mitglieder den Verbleib Sarrazins und fürchten um die innerparteiliche „Meinungsfreiheit“. Millionen anderer Deutscher stellen sich spontan auf Sarrazins Seite und murmeln dazu mehr oder minder laut: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“ – die Zauberformel, mit der rassistisches wie antisemitisches Gequatsche immer schon legitimiert wird. Kaum jemand merkt an, dass bei Sarrazins neoliberaler Modernisierung altvölkischer Standards eigentlich zu fragen wäre, ob nicht der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist. Dass solche Fragen nicht gestellt werden, hängt an der „Integrationsdebatte“. In der springen JournalistInnen wie PolitikerInnen dem Alltagsrassismus bei, indem sie sich im ersten Zug pflichtschuldigst von der Blödigkeit Sarrazins distanzieren, um im zweiten Zug in der mangelnden „Integration“ der EinwanderInnen das „Problem“ auszumachen, das Sarrazin immerhin „benannt“ hätte. Die Methode ähnelt exakt derjenigen, die dasselbe Personal schon Anfang der 1990er praktiziert hat. Damals – erinnert man sich noch des Mobs von Hoyerswerda und Rostock? – wurde der mörderische Rassismus von Nazischlägern zum willkommenen Anlass, das Asylrecht abzuschaffen – trotz der Lichterketten der Gutwilligen. Wozu der Fall Sarrazin führen wird, ist noch unentschieden – die SPD jedenfalls überlegt, „integrationsunwillige“ EinwanderInnen mit Strafen zu belegen: was rechts von ihr zusammengebraut wird, dürfte nicht unterhalb der Zielvorgaben Gabriels liegen.

Bei solcher Ausgangslage sind zwei Punkte festzuhalten. Den ersten benennt der „Demokratie statt Integration“ überschriebene Aufruf in der taz mit unüberbietbar klaren Worten: „Man kann diese Debatte nicht versachlichen, denn nichts an ihr ist richtig. (…) Wir wollen das Offensichtliche klar stellen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Das bedeutet: Wenn wir über die Verhältnisse und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden. Integration heißt, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.“ 

Der zweite Punkt geht einen Schritt weiter. Tatsächlich belegen die Beschlüsse zur Neuregelung von Hartz 4 unmissverständlich, dass „unsere Demokratie“ vom Klassenkampf durchzogen wird – wahrnehmbar zunächst vom Klassenkampf von oben. Wenn der Klassenkampf von unten weniger wahrnehmbar ist, liegt das auch daran, dass selbst seinen AkteurInnen nicht immer klar ist, dass und wie sie ihr Leben längst im Widerstand gegen kapitalistische und rassistische Alltagsrealitäten führen. Dasselbe Nicht-Wissen tritt bei denen zu Tage, die gewollt oder ungewollt beim Klassenkampf von oben mitmischen: dort also, wo von „Integrationsunwillen“ statt vom Recht des alltäglichen Widerstands die Rede ist. Im Klartext gesprochen: viele Verhaltensweisen so genannten „Integrationsunwillens“ sind tatsächlich Ausdruck klassenkämpferischer Renitenz. Damit ist nicht gesagt, dass alles super wäre, was da so üblich ist – es geht nicht um Sozialromantik. Doch ist damit gesagt, wie inkriminiertes Verhalten vorgeblicher „anderer“ zunächst einmal wahrzunehmen wäre. Und: Es ist damit gesagt, wie umkämpft die Worte sind, die sich uns scheinbar „neutral“ zur Beschreibung von Verhalten und Verhältnissen zusprechen. Das gilt noch dort, wo eingewandt wird, dass es bei all’ dem nicht um Differenzen der vorgeblich „eigenen“ und der vorgeblich „fremden“ Kultur gehe, sondern um Probleme der „Armut“ deutscher wie nicht-deutscher „Unterschichten“. Nochmals Klartext: wir haben es nicht mit „Armutsproblemen“, sondern mit solchen des gesellschaftlichen Reichtums zu tun – mit Fragen, genau besehen, der ungleichen Verfügung über seine Produktion und seine Produkte. Das meint nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Produkte – Sprache z.B., Wörter und Diskurse. Hier gilt es, Abhilfe zu schaffen, auch mit den Mitteln, die in Gegenkulturen proletarischer Alltagsrenitenz erprobt werden. Deutscht uns nicht voll.

Dr. Thomas Seibert ist studierter Philosoph und bei Medico International in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zuständig als Referent für Netzwerkarbeit. Sein Beitrag wurde zunächst veröffentlicht im „attac-Rundbrief 4/2010“

 

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NAGEL-Redaktion – Der tägliche und weit verbreitete Rassismus

 

Von Grazyna Gintner

Der Rassismus hat viele Gesichter, nicht nur das von Neonazis. Er begleitet den Menschen auf Schritt und Tritt. Kaum jemand ärgert sich darüber.

Wenn man in den Tagen nach dem schrecklichen Massaker in Norwegen hierzulande nach einem Abbild des Rassismus sucht, stolpert man über einen bekannten Namen: Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied, Autor des Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“ und der Buhmann der Nation. Seine Person gilt nach wie vor als Auslöser für polemische, hitzige Debatten. Dennoch hat er eigentlich nur das laut gesagt, was viele leise denken. Anders lässt sich der enorme Erfolg seines Buches nicht erklären. Wie auch der Fakt, dass man von einem Ausschluss aus der SPD abgesehen hat.

Sarrazin ist nicht allein

Es fällt einem normalen Bürger meist nicht schwer, sich über die Neonazis zu empören und laut gegen sie in beeindruckenden Demonstrationen zu protestieren. Dies hindert ihn jedoch wenig, im Alltag über „die Türken“ zu schimpfen und sich über die angebliche niedrige Kultur der Zugewanderten zu mokieren. Man spricht eben ungeniert nicht über den konkreten Menschen, sondern über eine Nation, ein Volk, eine ganze Gruppe, deren man bestimmte einheitliche Eigenschaften zuschreibt und als angeborene – also in Genen zwingend übertragbare – erklärt. In einer beinahe Ku-Klux-Klan-Manier äußert sich nicht nur ein Besoffener am Stammtisch; diese Lesart ist auch in der Politik und den Medien derart verbreitet, dass sich niemand mehr darüber entrüstet. So prägt die regierende Kanzlerin im öffentlichen Bewusstsein die Verknüpfung zwischen den Migranten und Kriminellen und verbindet die Frage der Integration mit der Gewaltprävention.

Menschen und Umstände

Nicht die Menschen sind schlecht, sondern die Umstände, in denen sie leben, behauptete einmal Bertolt Brecht. Die Schlussfolgerung aus dieser These müsste lauten: Endlich sollen sich die Machthaber richtig um die Verbesserung in dieser Hinsicht kümmern. Dies ist doch die primäre Aufgabe der Volksvertreter: dem Volke zu dienen. Der Staat ist für die Rahmenbedingungen verantwortlich, und dieser Verantwortung darf er sich nicht entziehen. Stattdessen wird jedoch lieber auf die Sündenböcke (Türken, Migranten und so weiter) mit dem gestreckten Finger gezeigt. Dabei muss man die Frage „Wer ist für die Kriminalität hierzulande verantwortlich?“ viel differenzierter diskutieren. Niemand kommt als Krimineller auf die Welt. Die Verantwortung des Staates muss man thematisieren. Jene beginnt gleich mit der Geburt oder noch früher, wie die Diskussion um die PID-Diagnostik zeigte. Weiter geht es mit den Kinderkrippen und Schulen. Wenn es beispielsweise eine Schulpflicht gibt – also eine Beschränkung der Elterngewalt für eine bestimmte Zeit am Tag – kann man sich nicht hinter Ausreden verstecken. „Die Eltern müssen es richten“. Wer eine Schulpflicht anordnet, muss auch erzieherische Aufgaben übernehmen. Die Schule darf nicht ein „erziehungsfreier“ Raum sein. Übrigens, viele Länder – im Gegenteil zu Deutschland – kennen keine Schulpflicht, sondern nur eine Unterrichtspflicht, wo die Kinder auch zu Hause unterrichtet werden dürfen.

Täglicher Rassismus – nicht gewalttätig, nur herablassend

Der alltägliche Rassismus begegnet dem Menschen mit weißen Handschuhen und höflichem Lächeln. Er kennt die verpönten Ausdrücke und meidet sie bewusst. Man trifft ihn in der Schule, im Amt, in der Arbeit: überall dort, wo man einen Grund findet, jemanden nicht wegen seiner Qualifikationen und Fähigkeiten, sondern wegen Herkunft oder Hautfarbe zu beurteilen. So schimpfen die überlasteten Lehrer auf die Migranten-Kinder, die in Überzahl die Schulen bevölkern, statt nach Verantwortlichen für diese Verteilung oder nach neuen Wegen zu suchen. Die normalen Bürger, die sonst gegen die Braunen gerne mitmarschieren, warnen mitfühlend von bestimmten Gegenden, wo die Türken, Russen und so weiter wohnen. Der alltägliche Rassismus ist nicht gewalttätig. Er schaut lediglich auf den anderen von oben herab und sieht in ihm keinen gleichwertigen Menschen. Dort, wo es an der gleichen Behandlung und den gleichen Chancen fehlt, ist er zu Hause.

Türken haben es bewiesen

Wie ein Schluckauf kommen wieder und wieder die alten Thesen zurück, von Sarrazin zuletzt aufgewärmt, von erblicher Intelligenz oder vererbten kriminellen Neigungen. Dies soll die Missstände jeglicher Art erklären. Natürlich ist es einfacher, die Verantwortlichen für die eigene schlechte Politik woanders zu suchen, statt sich selbst um Lösungen zu bemühen. Diese Methode ist so alt wie der Mensch selbst. Als Schuldige nannte man abwechselnd: Juden, Zigeuner, Schwarze … Und das, noch bevor man über die Gene Bescheid wusste. Vor vielen Jahrhunderten gingen die Türken einen anderen Weg – und damit waren sie Sarrazin & Co. weit voraus. Sie ließen Jungen von 8 bis 18 Jahren, die sie sich aus verschiedenen Ländern holten, zu Janitscharen, den treuesten Truppen des Sultans, ausbilden. Damit haben sie auf eine spektakuläre Weise bewiesen, dass die Herkunft gar keine Rolle spielt, wenn man die Sache richtig anpackt.

 

Grazyna Gintner, Journalistin, hat in Polen gearbeitet und lebt seit Jahren in Deutschland. Kürzlich brachte sie unter dem Pseudonym Lydia Sanojar im BoD-Verlag den Märchenroman „In einem Atemzug“ heraus. Vorstehender Beitrag wurde zunächst in www.suite101.de veröffentlicht. Der Kontakt zur Autorin wird über Facebook gepflegt.

 

Wir danken Grazyna Gintner für die freundliche Genehmigung, ihren Text verwenden zu dürfen.

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NAGEL-Redaktion – Ulla Keienburg’s Blog

 

In Hamburg befinden sich Office und Wohnsitz – mein Zuhause. Hamburg – meine Perle. Das Haupnest meiner Kleinfamilie.

Von hier aus toure ich durch die Welt – und erlebe sie: als Touristin, Counselor, Frau, Mutter, Freundin, Journalistin, Autorin oder Fotografin. Als Ulla begegne ich spannenden Menschen in faszinierenden Gegenden, lerne mit und von Weisen – großen und kleinen- und bin im Dialog mit Suchenden, halte die Eindrücke mitunter fest – in Bild und Wort – wohl wissend, dass kein Foto und kein Text die Tiefe, die Komplexität und die Emotionen des Erlebens wirklich wiedergeben kann.

Welcome to my reality!

Ulla Keienburg

 

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