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NAGEL-Redaktion – Ehrenamt – Freiwilliges Engagement

Freiwilliges Engagement – früher nannte man es Ehrenamt – spielt eine wichtige Rolle. Auch in der Offenen Arbeit hat das Ehrenamt seine Relevanz, etwa bei den Spielplatzpaten.

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Unfallversichert im Ehrenamt

Vorstehend können Sie eine Broschüre zum Unfallschutz im Ehrenamt herunterladen.

MONITOR ENGAGEMENT

Im April 2010 wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der MONITOR ENGAGEMENT herausgegeben. Er befasst sich mit freiwilligem Engagement in Deutschland (1999 – 2004 – 2009) und fasst die Ergebnisse der repäsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement zusammen. Bei Interesse können Sie die Unterlagen mittels Klicks auf nachstehende Links herunterladen.

Monitor Engagement (Ausgabe 2: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004 – 2009) Kurzbericht des 3. Freiwlligensurveys – Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement
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Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 (Zivilgeselllschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagment in Deutschland 1999 – 2004 – 2009)
Inhalt (unter anderem)
Öffentliches Leben und freiwilliges Engagement
Stärken und Grenzen des Freiwiliigensurveys
Trend-Indikatoren
Mehr öffentliches, weniger privates soziales Kapital?
Freiwilliges Engagement – das Herz der Zivilgesellschaft
Selbstverständnis, Motive und Erwartungen freiwillig Engagierter
Bereitschaft nicht Engagierter, sich zu engagieren
Trends in verschiedenen Bevölkerungsgruppen
Strukturen des freiwlligen Engagements und Verbesserungsbedarf
Zeitliche Beanspruchung der Freiwilligen
Leistungen und Anforderungen im Engagement
Zielgruppen des freiwilligen Engagements (hier u.a. Kinder, Jugendliche und Familien)
Internetbenutzung im Engagement
Monetarisierung: Das materielle element
Verbesserungsbedarf bei den Rahmenbedingungen
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Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 (Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004 – 2009) Zusammenfassung
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Jugend in der Zivilgesellschaft: Freiwilliges Engagement Jugendlicher von 1999 bis 2009 (Von Sibylle Picot im Auftrag der Bertelsmann Stiftung) Kurzbericht April 2011


Die Turbo-Studiengänge und die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur seien Schuld daran, dass sich Jugendliche immer weniger für die Gesellschaft engagierten. So eine Feststellung aus der Studie, die gezielt mit dem ehrenamtlichen Verhalten von Schülern und Studenten nachgegangen ist. Freundlicherweise hat uns Nicole Henrichfreise vom „Programm Zukunft der Zivilgesellschaft“ am 12. April 2012 eine aktualisierte 2. Auflage zugesandt. Diese haben wir nunmehr hier eingestellt.

2. Auflage „Jugend in der Zivilgesellschaft – Freiwilliges Engagement Jugendlicher von 1999-2009“ herunterladen

Jugendliches Ehrenamt fördert demokratische Kompetenzen

Zu dieser Erkenntnis gelangt eine Studie der Universität Würzburg, die Prof. Dr. Heinz Reinders in Kooperation mit dem VCP, dem Verband christlicher Pfadfinder, 2007 durchgeführt hat. Die Dokumentation hierzu kann nachfolgend heruntergeladen werden. Hier wird folgende Kernaussage getroffen: „Jugendliche, die sich sozial engagieren, erleben sich stärker als Teil der Gesellschaft und sind häufiger zu politischer Beteiligung bereit.“Heinz Reinders: „Wenn neun von zehn Jugendlichen durch ihr Engagement etwas Neues gelernt haben und ihre demomkratische Kompetenz dadurch steigt, dann ist doch eine verstärkte Förderung jugendlichen Engagements ohne Alternative.“
Dokumentation herunterladen

Tagungsdokumentation „Engagement verändert – Freiwilliges Engagement und Entwicklung von Demokratie“

Die Dokumentation (15 Seiten, 1.972 KB) wurde uns am 19. Dezember freundlicherweise von Oliver Hesse von der FreiwilligenAgentur Dortmund zur Verfügung gestellt.
Inhalt

  • Der Staat, der die Zivilgesellschaft stärkt, stärkt sich selbst.
  • Die Demokratisierung verbandlicher Strukturen durch Personalentwicklung – eine neue Art von Organisationsentwicklung
  • Politische Partiziaption
  • Jugend und Partizipation
  • Demokratische Strukturen in Verbänden und Einrichtungen
  • Freiwilligenkoordination
  • Die Martkplatzmethode als Instrument des Corporate Citizenship

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Dokumente

Führungszeugnisse für Ehrenamtliche

Der Sprecherrat des ABA Fachverbandes hat sich auf seiner Arbeitstagung vom 10. November 2008 mit dem Thema Führungszeugnisse für Ehrenamtlich befasst. Seitdem existieren zwei Arbeitspapiere, die unser Sprecherratsmitglied Christa Burghardt vom Kinderschutzbund Hagen zur Verfügung gestellt hat. Im ersten geht es generell um Führungszeugnisse. Ein weiteres ist der Vorschlag für eine „Ehrenerklärung“, die seit längerem beim Hagener Kinderschutzbund genutzt wird. Wir empfehlen beispielsweise beim Einsatz von Spielplatzpaten einen entsprechenden Gebrauch.

Polizeiliche Führungszeugnisse für Ehrenamtliche

Ehrenerklärung für Ehrenamtliche

Im Juni 2010 hat der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) ein Hintergrundpapier zur Positionsbeschreibung veröffentlicht. Titel: Führungszeugnisse für Ehrenamtliche – ein geeigneter Beitrag zur Prävention sexuellen Missbrauchs in Jugendverbänden? Neben einer Einschätzung der Problemlage, befasst sich das Hintergrundpapier unter anderem mit der Aussagekraft von Führungszeugnissen, präventiven Maßnahmen, den Übergängen zwischen informellen und nonformalen Zusammenhängen, der Datenschutzproblematik, dem Aufwand im Vergleich zum Nutzen u.a.m. Der ABA Fachverband sieht eine Übertragbarkeit vor allem beim Einsatz ehrenamtlicher Spielplatzpaten. Heruntergeladen werden kann das Papier mittels eines Klicks auf vorstehendes Logo des DBJR.

Prävention statt statt Führungszeugnisse! Auf diese griffige Formel bringt der Landesjugendring Nordrhein-Westfalen seine Position. Er verwendet sich dafür, ein angemessenes Problembewusstsein zu schaffen, zu sensibilisieren und aufzuklären. Ebenso setzt er sich für eine entsprechende Qualifizierung derjenigen ein, die in der Kinder- und Jugendarbeit Verantwortung übernehmen. Nach Meinung des Landesjugendrings NRW stellt die Einführung von Führungszeugnissen für Ehrenamtliche Hunderttasusende unter Generalverdacht; dies behindere zivilgesellschaftliche Gestaltungskraft. Ehrenamt verdiene Vertrauen, Anerkennung und Strukturen, die es unterstützuen und nicht erschweren. Dieser Aussage kann sich der ABA Fachverband inhaltlich nur anschließen. Der Beschluss des Landesjugendrings NRW kann mittels eines Klicks auf vorstehendes Logo heruntergeladen werden.

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NAGEL-Redaktion – Zukunftsängste von Kindern und Jugendlichen

Von Horst Petri

Einleitung

Der Begriff „Zukunftsangst“ ist in letzter Zeit, speziell in der jungen Generation, in Mode gekommen und erfährt seitdem einen inflationären Gebrauch. Die Angst vor der Zukunft hat aber die Menschheit von Anbeginn begleitet, ob vor Naturkatastrophen oder vor von Menschen verursachtem Unheil. Der Begriff „Zukunftsangst“ scheint jedoch, wenn man ihn nicht als modische Wortschöpfung abtun will, im Unterschied zu früheren Ängsten eine neuartige Qualität der Angst auszudrücken.

In der Psychologie kennen wir Begriffe wie Triebangst, Gewissensangst, Trennungsangst, Kastrationsangst oder Todesangst. Sie werden als psychische Realitäten aufgefasst, die an konkrete seelische Konflikte oder Beziehungskonflikte gebunden sind. Zukunftsangst dagegen hat eine globale Dimension. Sie bezieht sich auf etwas Unbestimmtes, auf eine, wie es scheint, unheimliche und ungreifbare Bedrohung von endzeitlichem Charakter. Zumindest besitzt sie diese universelle Konnotation und drückt damit mehr aus als zum Beispiel die Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor Verarmung, vor Krankheit oder anderen realen Gefahrenquellen, auch wenn sie im politischen und öffentlichen Bewusstsein mit solchen äußeren Auslösern begründet wird.

Ich möchte im folgenden der Hypothese nachgehen, dass durch die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte Zukunftsangst eine neuartige Gefühlsqualität im menschlichen Erleben darstellt, bei der es zu einer engen Verschränkung von innerer und äußerer Realität von existenzbedrohendem Ausmaß kommen kann. Dem Thema entsprechend beschränken sich meine Überlegungen auf die Erfahrungswelten der jungen Generation. Die Oberfläche bilden hierbei zunächst einige ausgewählte Ergebnisse der Kinder- und Jugendforschung der letzten Jahre. Zukunftsängste können in der psychologisch orientierten Sozialforschung nur durch konkrete persönliche oder gesellschaftliche Faktoren äußerer Realität erfasst werden. Dabei unterscheidet man zwischen mikrosozialen, das heißt  auf das persönliche Umfeld bezogenen, und makrosozialen, das heißt gesellschaftlich bedingten Stressoren. In die Zukunft projizierte persönliche Stressoren beziehungsweise Ängste betreffen hauptsächlich Probleme in Familie, Schule, Beruf und Freundschaften, äußeres Ansehen, soziale Anerkennung und Krankheiten. Ende der siebziger Jahre konzentrierte sich die Forschung dann stärker auf makrosoziale Stressoren. Die untersuchten gesellschaftlichen Zukunftsängste betreffen hauptsächlich die Themen Krieg, speziell Atomkrieg, Ökologie, Technik, Arbeitsmarktentwicklung, Bevölkerungswachstum, Ausländerfragen und Dritte Welt. Ich beschränke mich hier auf einige orientierende Daten zu den makrosozialen Stressoren, weil sich in allen Untersuchungen, soweit sie mikro- und makrosoziale Faktoren vergleichend erfassen, ein einheitlicher Trend zeigt, wonach die gesellschaftsbedingten Zukunftsängste die persönlichen hochsignifikant übertreffen.

Ergebnisse empirischer Forschung

Ab Ende der siebziger Jahre wurden weltweit zahlreiche Untersuchungen zu der Frage durchgeführt, wie sich die atomare Dauerbedrohung auf die seelische Entwicklung junger Menschen auswirkt und ihre Zukunftseinstellungen beeinflusst. 1985 führten wir mit einer Arbeitsgruppe in der damaligen Bundesrepublik die erste internationale Vergleichsstudie mit 3500 Kindern und Jugendlichen durch, die unter der Bezeichnung „Bundesweite Befragung“ bekannt wurde (Petri u.a. 1987). Die Ergebnisse zeigten eine hohe Übereinstimmung mit anderen internationalen Studien in bezug auf das erschreckende Ausmaß an Atomkriegsängsten in der jungen Generation. Obwohl erst wenige Jahre zurückliegend, scheinen wir das alles wieder vergessen zu haben und werden durch neue Untersuchungsdaten beunruhigt, die seit der Versöhnung der Supermächte eine deutliche Abnahme dieser Ängste gegenüber anderen gesellschaftlichen Bedrohungen zeigen. Statt von „Vergessen“ sollten wir jedoch von Verleugnung sprechen, denn unser Wissen, dass das Atomzeitalter die Welt und die Menschen tiefgreifend verändert hat, ist unabweisbar. So stellt nach meiner Überzeugung die Atombombe im Erleben von Kindern das Unfassbarste aller Erschrecken dar, sie ist zum Symbol für das Zerstörerische schlechthin geworden und wurde entsprechend als dauerhaft verfolgendes, böses Objekt introjiziert. Ihre destruktive Wirkung auf das innere Repräsentanzensystem erhält zudem ständige Nahrung von außen, ob durch die Atomkriegsgefahr im Zusammenhang mit dem Golfkrieg 1991, ob durch Plutoniumschmuggel oder durch die inzwischen fast weltweit vermutete heimliche Produktion von Atomwaffen, deren Einsatz bei der Zuspitzung globaler Konflikte immer unkalkulierbarer wird. Wie spontan die Atomängste aus ihrer Latenz hervorbrechen können, zeigen die massenhaften Protestaktionen junger Menschen in vielen Teilen der Erde gegen die jüngste Atomtestserie Frankreichs auf dem Mururoa-Atoll. Dass außerdem der radioaktive Komplex auch im Bewusstsein weiterwirkt, belegt die Angst vor einem größeren Kernkraftunglück. In unserer Studie von 1985, also noch vor Tschernobyl, hatten bereits 37 Prozent der Befragten auf einer vierstufigen Antwortskala „viel Angst“ vor der „Explosion eines Atomkraftwerkes“. Dieser Anteil stieg nach Tschernobyl in zwei repräsentativen Studien von Mansel (1992) und besonders von Hurrelmann (1992) auf knapp 60 Prozent an. In der Studie von Mansel (1992) zeigte sich folgende Rangliste für „wahrscheinlich“ gehaltene „katastrophale Ereignisse“: Zunahme von Umweltzerstörung 80,5 Prozent, Gesundheitsrisiken infolge der Umweltverschmutzung 75,8 Prozent, anhaltende Arbeitslosigkeit 56,6 Prozent, Explosion eines Kernkraftwerks 52,9 Prozent, Wirtschaftskrisen und Armut 48,6 Prozent, Krieg in Europa 37,3 Prozent. Die durchschnittliche Erwartung der Wahrscheinlichkeit katastrophaler Ereignisse lag bei 58,7 Prozent. Die statistische Analyse dieser gründlichen Studie ergab einige signifikante Korrelationen zwischen einzelnen dieser makrosozialen Stressoren und der Entstehung anomischer Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst, Traurigkeit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit sowie der Häufigkeit psychosomatischer Symptome.

Leuzinger-Bohleber und Garlichs (1993) führten 1990 mit einem psychoanalytisch orientierten, qualitativen und quantitativen Untersuchungsansatz eine gründliche Vergleichsstudie zwischen Kindern der 2., 4. und 8. Klasse (7-8 Jahre, 9-10 Jahre, 13-14 Jahre) in Jena und Kassel mit einer Klassengröße von durchschnittlich 20 Schülern durch (Gesamtzahl circa 180). Der inhaltliche Schwerpunkt der Studie lag in der Erfassung der Zukunftshoffnungen und Zukunftsängste im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen der Probanden in Ost- und Westdeutschland. Aus der Fülle der Daten sind für den hiesigen Zusammenhang folgende von Bedeutung: Bei der Auswertung einer freien Zeichnung zum Thema „Zukunft“ stiegen die negativen Zukunftsprojektionen der Kasseler Schüler von 4 Prozent bei den Zweitklässlern über 44 Prozent bei den Viertklässlern auf 79 Prozent bei den Achtklässlern (Jenaer Schüler zum Vergleich: 0 Prozent, 4,2 Prozent, 31,8 Prozent). Inhaltlich dominieren bei den Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen „offene Gesellschaftskritik“ (94 Prozent in Kassel, 77 Prozent in Jena) und „Naturzerstörung“ (88 Prozent in Kassel, 77 Prozent in Jena). Bei einer „Traumreise in die Zukunft“ bestätigten sich diese Befunde für Jugendliche: 91 Prozent der Kasseler Jugendlichen drücken eine negative Einstellung zur Technik und „Schreckensvisionen einer technisierten Zukunft“ aus (Jenaer Jugendliche: 50 Prozent); bei einer Differenzierung dieser Angaben betrifft die Technikkritik vor allem den Bereich Kernenergie, Gentechnologie und den Komplex „Großtechnologie“. Durch Zeichnungen, Interviews und Fragebögen ließen sich bei der Mehrzahl der Jugendlichen große Ohnmachtsgefühle ermitteln, mit dem Ergebnis, dass 76 Prozent der Kasseler und 47 Prozent der Jenaer Jugendlichen ihre Möglichkeiten negativ einschätzen, als einzelne die gesellschaftliche Zukunft zu beeinflussen.

Der qualitative Untersuchungsansatz solcher empirischer Studien wird inzwischen durch eine Vielzahl dokumentierter Materialien ergänzt, die in ihrer spontanen Ausdrucksform oft genauere tiefenpsychologische Deutungen ermöglichen als die Ergebnisse systematisch angelegter Untersuchungen. Dazu zählen Aufsätze, Briefe, aufgezeichnete Gespräche und Interviews, Träume, Zeichnungen, Gedichte und Geschichten zum Thema „Zukunft“, die aus unterschiedlichen Anlässen, zum Beispiel im Rahmen von Schreib- und Malwettbewerben, von Unterrichtseinheiten zur Umwelterziehung in Kindergärten und Schulen, von Dokumentarfilmen oder als Selbstzeugnisse anderer Art entstanden. Nicht zuletzt verfügen wohl die meisten Therapeuten inzwischen über ein mehr oder weniger breites Erfahrungsspektrum aus psychotherapeutischen Behandlungen oder Beratungen von Kindern und Jugendlichen, die die hier referierten Ergebnisse aus der Normalpopulation bestätigen. Im Original-Ton erhält man dann zum Beispiel folgende Antworten auf die Frage, was in den nächsten zehn Jahren passieren könne:

Nazmiye, 15 Jahre: „In zehn Jahren lebe ich nicht mehr. Das mit der Umwelt ist schlimm, das ist wirklich katastrophal. Irgendwas wird bestimmt passieren, oder ich mache Selbstmord und kapituliere. Entweder bringt mich jemand um, oder ich bringe mich selbst um.“

Lisa, 11 Jahre: „Das Ding wird in zehn Jahren bestimmt seine Wirkung zeigen.“

Interviewer des Spiegel: „Welches Ding?“ Lisa: „Na, das Ozonloch. Und vielleicht explodiert auch ein Kernkraftwerk. Ich hab‘ so Angst von dem Jahr 2000. Da geht bestimmt irgendwas los, irgend ein riesiges Chemiewerk könnte auch explodieren. Oder Politiker sagen, sie wollen etwas ausprobieren, etwas, was nicht gefährlich ist, und dann schmeißen sie ’ne Atombombe. Dann geht die Welt auseinander, sie zerbricht.“

Veronika, 11 Jahre: „Also, lange geht das bestimmt nicht mehr weiter, es könnte so viel passieren, vielleicht kommt auch eine Sintflut. Vielleicht machen sie auch einen Atombombenversuch, und dann kommt der Weltuntergang.“

Güven, 14 Jahre: „Ich glaube, die Menschen können sich irgendwie nicht verändern. Vielleicht sollten sich die Staaten zusammentun. Aber bis das passiert, wird es bestimmt zu spät sein, und wir stehen da im Dunkeln und sind tot.“ (Der Spiegel Nr. 43 vom 23.10.1989, S. 272)

Aus den vielen vorliegenden Materialien habe ich selbst eine kleine qualitative Analyse einer Auswahl von 128 Briefen von Kindern bis 14 Jahre vorgenommen, die im Rahmen eines Schreibwettbewerbs der IG-Metall zum Thema „Meine Zukunft“ entstanden (Rusch 1989). Die spontan genannten, negativ besetzten Items ließen sich zu 19 Begriffskomplexen zusammenfassen, von denen ich hier nur die drei häufigsten zitiere. Das Sterben von Natur, Tieren und Menschen stand an erster Stelle und wurde in knapp 90 Prozent der Briefe genannt. An zweiter Stelle folgten Umweltzerstörung, -verseuchung, -verschmutzung einschließlich Müllhalden, -bergen und -deponien in 60 Prozent der Briefe und an dritter Stelle Fabriken, Hochhäuser, Beton und Plastik als gegenwärtige und zukünftige Sinnbilder menschlicher Entfremdung in 50 Prozent der Briefe. In den teilweise erschütternden Dokumenten verdichten sich über die genannten Inhalte hinaus Begriffe wie Atomwaffen, Krieg, Atomkraftwerke, Gift, Roboter und Computer, Autos, Ozonloch und Klimakatastrophe, Sorge um die eigenen späteren Kinder, Zweifel am Fortbestand der Erde, Gasmasken für die Zukunft und viele als destruktiv erfahrene menschliche Eigenschaften zu konkreten Bildern und Phantasien der Zerstörung und Entmenschlichung, die zu Ohnmacht und Resignation führen und die Vision des Todes, des eigenen wie den der Menschheit, einschließen. Die zuletzt zitierte Dokumentation erscheint nicht überzeichnet, wenn man sie mit einer Vielzahl anderer persönlicher Zeugnisse vergleicht, die in den letzten Jahren publiziert wurden. Allerdings möchte ich ausdrücklich betonen, um einseitige Akzentuierungen mit der Erzeugung von Katastrophenstimmung zu vermeiden, dass in allen Materialien natürlich auch positive Zukunftsaspekte auftauchen. Durch aktives Engagement in einer der zahlreichen Jugendvereine oder in einer Gruppe der ökologischen Kinderrechtsbewegung auf der Realebene oder durch erfundene Geschichten, Visionen, Träume und Science-fiction-Bilder auf der Phantasieebene werden die negativen Erfahrungen durch die Hoffnung auf eine friedliche, erfüllte und menschengerechte Zukunft kontrastiert.

Ich fasse zunächst zusammen, was sich aus den bisher dargestellten Befunden verallgemeinernd sagen lässt:

1.      Kinder und Jugendliche besitzen in heutiger Zeit im Durchschnitt einen hohen Informationsstand über alle im gesellschaftlichen Zusammenhang auftretenden Gefahrenpotentiale, ob national oder international. Dies ist im Zeitalter der Medienkindheit nicht überraschend. Eher könnten wir darüber erstaunt sein, welches Ausmaß die diesbezügliche Verleugnung bei Erwachsenen erreicht. Sie lässt sich aber durch die verbreitete Erfahrung erklären, dass Kinder und Jugendliche kaum spontan mit Erwachsenen über die täglich auf dem Bildschirm visualisierten Schrecken unserer Zeit oder gar über die damit verbundenen Gefühle sprechen, zumal sie kaum jemals darauf angesprochen werden. Eltern und Kinder schaffen sich auf diese Weise einen wechselseitigen Schonraum, weil sie sich gegenseitig das eigentlich Unerträgliche nicht zumuten wollen.

2.      Kinder denken global. Ich zitiere noch einmal den Original-Ton-Ausschnitt aus einem eineinhalbstündigen Interview mit einem zehnjährigen Mädchen für ein WDR-Pilot-Projekt zum Thema „Was Kinder so denken“. Mir war im Verlauf des Gesprächs aufgefallen, dass Daniela mit viel Mitleid und Mitgefühl über Probleme anderer Menschen erzählte. Ich sprach das an: 

        „Du machst Dir viele Gedanken über andere.“

        Daniela: „Ja, wie es denen geht, und wie man ihnen helfen kann. Das muss man ja machen, sonst müssten ja alle Menschen irgendwann dran glauben.“

        „Wie meinst Du das: ‚dran glauben‘?“

        Daniela: „Sagen wir mal, da ist `n Bürgerkrieg, und dann glauben alle, das ist doch deren Sache. Dann kann der ja nie aufhören, und dann leiden ganz viele Menschen dran, Hunderte oder so, die sind dann tot mit einem ganz jungen Alter, und das nur, weil sich andere keine Gedanken drüber machen. Es wäre gut, wenn sich alle Gedanken über die Frage machen würden: ‚Was passiert, wenn wir jetzt nicht irgendein Mittel erfinden, was, sagen wir mal, die Ozonschicht schützt.‘ Irgendwie kommt es mir so vor, machen sich viel zu wenig Menschen Gedanken darüber. Sollten sich viel mehr darüber machen.“

        „Es scheint Dich eine Menge zu beunruhigen, was noch alles Schreckliches passieren kann.“

Daniela: „Ja, ich glaube, dass es zu viel Plastik gibt.“ 

        „Und warum stört Dich das?“ 

        Daniela: „Na ja, irgendwie, irgendwann denke ich manchmal, irgendwann kann man das nicht mehr stoppen, dann wird es zu voll, und dann kann man so viele Verbrennungsanlagen gar nicht mehr bauen, um das ganze wegzukriegen, das wird dann immer mehr, und irgendwann schlafen wir im Müll.“

        Die assoziative Verknüpfung von Bürgerkrieg, Zerstörung der Ozonschicht, Plastik und erstickenden Müllhalden, beschränkt auf diesen kurzen Interviewausschnitt, spiegelt anschaulich das globale Denken wider, das sich auch in den meisten der zitierten Untersuchungen niederschlägt. Es scheint nicht der drohende Atomkrieg allein oder einer der vielen Bürgerkriege irgendwo in der Welt zu sein, es sind nicht die Atomkraftwerke, die Autos allein, der Beton, die vergiftete Nahrung oder eine der vielen anderen angstauslösenden Zeichen für Zerstörung und Zerfall – es ist das Ganze, das sich als unheimliche Bedrohung zusammenballt. In diesem globalen Denken und Erleben scheint sich noch etwas erhalten zu haben, was die Säuglingsbeobachtung in den letzten Jahren erbracht hat und was von ihr „als ganzheitliches Erleben beschrieben wird, in dem Kognition, Handlung und Wahrnehmung noch keine trennbaren Kategorien sind“ (Köhler 1990). Psychologisch dürfte sich diese Unterscheidung zwischen jüngerem und erwachsenem Erleben zu einem wesentlichen Teil durch eine altersabhängige Veränderung der Abwehrprozesse erklären, bei denen Erwachsene mehr zu einer Verdrängung und Verleugnung von Konflikten tendieren. 

 3. Vor allem die spontan entstandenen persönlichen Zeugnisse über Zukunftsängste speziell in der jungen Generation lassen auf stärkere Identifikationsvorgänge besonders in der frühen Kindheit schließen, die die Komponenten der Einfühlung, des Mitleids und mithin des Leidens verständlicher machen. Durch Umweltkatastrophen sterbende Tiere, wie Seevögel im Ölteppich oder Fische nach einem Chemieunfall, durch Krieg und Landminen in aller Welt verstümmelte Kinder oder solche, die hungernd in stinkenden Abfallhalden nach Nahrung herumstochern, durch Industrieabgase verwüstete Waldstriche, die die Bäume wie Gespenster gen Himmel ragen lassen – alle diese destruktiven Bilder und Erfahrungen können Kinder bis zu bitteren Tränen rühren. Freud verdanken wir eine für diesen Zusammenhang wichtige Beschreibung: „Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen“ (Freud 1913, S. 154).

  4. Leider lassen uns die bisher vorliegenden Befunde über Zukunftsängste in der jungen Generation bei der Frage im Stich, welche krankmachende Bedeutung ihnen bei der Verarbeitung der mit Angst verbundenen inneren und äußeren Konflikte zukommt. Für Fachleute ist ein diesbezügliches Interesse zwar verständlich und nicht unbedeutend, mir scheint aber, dass es im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang keine Priorität gegenüber der Frage besitzt, zu welchen kollektiven Verarbeitungsformen die Zukunftsangst in der jungen Generation führt.

Eine psychotherapeutische Kasuistik

  Bevor ich nach diesem Überblick den Versuch machen werde, die Zukunftsangst mehr zu vertiefen, möchte ich eine kurze Kasuistik voranstellen.  

        Boris ist ein großer, körperlich gesund und kräftig wirkender junger Mann. Im Widerspruch zu seiner attraktiven Erscheinung bestand sein Verhalten in einer starren Körperhaltung, einer nur zögernden Kontaktaufnahme und zähflüssigen Sprache. Insgesamt bot er das Bild einer depressiven Verzagtheit und Resignation. Er kam nicht freiwillig, sondern auf Drängen der in Westdeutschland lebenden Eltern. Er selbst versprach sich nichts von einer Therapie, weil sie seine Probleme nicht lösen könne. Seit seiner Pubertät sei er innerlich permanent mit sterbenden Bäumen, mit der geschundenen Natur und der Weltzerstörung beschäftigt. Damals hätten auch seine Depressionen begonnen, die im Laufe der Jahre immer schlimmer wurden. Bei unserem ersten Gespräch klagte er darüber, daß er keinerlei Zukunftsperspektive sehe und überzeugt sei, innerhalb der nächsten zehn Jahre zu sterben. Er sitze oft tagelang stumpfsinnig in seiner lichtlosen Hinterhofwohnung. Es sei ja ohnedies alles völlig sinnlos. So zum Beispiel auch jeder politische Protest. Er habe früher ein paarmal an Demonstrationen in Wackersdorf teilgenommen, das dann aber aufgegeben, weil angesichts der Übermacht von Militär und Technik jeder Widerstand ohne Wirkung bleibe.

        Nach diesem Bericht über seine aktuelle Lage bat ich ihn um einige Informationen zu seiner Entwicklung. Boris wuchs in einer Akademikerfamilie mit zwei Geschwistern in ländlicher Umgebung auf. Von daher stammte seine Liebe zur Natur. Seine Kindheit und das Verhältnis zu seinen Eltern schildert er als harmonisch. Er wurde musisch erzogen und hatte in der Schule keinerlei Leistungsschwierigkeiten. Nach dem Abitur 1985 leistete er eine knapp zweijährige Ersatzdienstzeit ab und schrieb sich danach in einer westdeutschen Universität für Kunstgeschichte und Philosophie ein. Seine Gefühle von Zukunftslosigkeit und seine Depressionen hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt so verstärkt, daß er sein Studium nie aktiv aufnahm. Statt dessen reiste er 1987 in dem Gefühl, bald zu sterben oder innerlich schon gestorben zu sein, für zunächst unbestimmte Zeit nach Nepal. Als äußeren Grund gab er seinen Eltern ethnologische Interessen für fernöstliche Kultur und Religion an. Real näherte er sich in Nepal dem Tod durch exzessives Fasten mit einem Gewichtsverlust von 20 Kilogramm. Unterstützt wurde der Selbstzerstörungsprozeß durch hohe Einnahmen von Haschisch, Heroin und großen Mengen magic mushrooms. Durch diese Pilze mit einer halluzinogenen Wirkung kam es nach Arztberichten bei dem inzwischen körperlich geschwächten und äußerlich stark verwahrlosten jungen Mann zum Ausbruch religiös getönter Wahnideen und einem so auffälligen und aggressiven Verhalten in der Öffentlichkeit, daß er zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden mußte. Von Indien wurde er in eine deutsche Klinik verlegt und äußerte dort akute Selbstmordideen. Die durch die Drogen ausgelöste Psychose klang nach kurzer Zeit wieder ab. Boris wechselte seinen Studienort nach Berlin und schrieb sich für Ethnologie und Religionswissenschaften ein, ohne seit drei Semestern das Studium aufzunehmen.

Als Analytiker steht man bei solchen Patienten immer vor schwierigen differentialdiagnostischen und behandlungstechnischen Fragen. Liegt bei Boris eine endogene, das heißt konstitutionell und meist erblich fixierte Depression vor, oder gar eine Schizophrenie, die jeder Zeit wieder zum Ausbruch kommen kann? Wäre bei diesen Diagnosen die Erkrankung auch ohne die Umweltbelastung ausgebrochen? Oder stammt sein Leiden aus seelischen Ursachen, die primär in seiner Entwicklung und in seiner Beziehung zu seinen Eltern zu suchen sind? Hat er in diesem Fall seine frühkindlichen Konflikte nur verdrängt und die Umweltzerstörung unbewußt zum projektiven Austragungsort seiner inneren Konflikte gemacht? Wenn man schließlich von einer sich ergänzenden Belastung durch Kindheitserfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Probleme ausgeht: hätten erstere oder letztere zu einer Erkrankung geführt? Oder muß man, wie es die Geschichte von Boris nahezulegen scheint, in letzter Konsequenz davon ausgehen, daß bei einem jungen Menschen die Umweltzerstörung eine psychische Dauerbelastung darstellt, die ausreicht, um eine chronische „Innenweltzerstörung“ zu erklären? Ich habe bisher im Falle von Boris und der vielen anderen leidenden Kinder und Jugendlichen keine schlüssigen Antworten. Auch die wissenschaftliche Erforschung solcher Zusammenhänge steht hier an den Anfängen. Die theoretischen Überlegungen stelle ich hier zunächst zurück. In der Therapie habe ich mich Boris ganz von der Oberfläche her genähert, das heißt von dem ausgehend, was er als Grund seiner Erkrankung ansah – von der Umweltzerstörung. In der zweiten Stunde sprachen wir über konkrete Kenntnisse, Gefühle und Ängste, wobei ich eigene Gedanken ergänzt habe, um ihm mein Verständnis für seine Reaktionen und Befürchtungen zu vermitteln. Ich habe ihm nichts auszureden versucht, sondern einzelne Meinungen ausdrücklich bestätigt. Das dadurch hergestellte Vertrauen war notwendig, um die nächste Schritte einleiten zu können.

Eigentlich hätte man nach psychoanalytischen Erfahrungen davon ausgehen können, daß Boris durch die positive Unterstützung nicht mehr ganz so starr an seiner Überzeugung von der totalen Sinnlosigkeit des Lebens festhalten mußte. Denn jenseits aller begründeten Ängste war zu vermuten, daß er die Umweltzerstörung teilweise auch als Widerstand benutzte, um die Auseinandersetzung mit eigenen Konflikten zu vermeiden. Aber in der dritten Stunde blieb er an den Widerstand fixiert und setzte ihn aktiv als Herausforderung ein: „Wenn Sie meine Auffassung von der ökologischen Situation teilen und meine Verzweiflung darüber verstehen, müssen Sie auch zugeben, daß es sinnlos ist, irgendeine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Ich weiß wirklich nicht, was ich überhaupt tun sollte.“

Mit dieser Provokation stellte mir Boris eine Falle. Wenn ich dagegen argumentiert hätte, wäre meine Glaubwürdigkeit verloren. Sollte ich ihm aber recht geben und damit meine eigene Ohnmacht eingestehen, sähe er sich in seiner Auffassung bestätigt und könnte weiter an seinem Widerstand festhalten. Als Analytiker ist man solche Fallen gewohnt und auf der Hut vor ihnen. Ihr Sinn besteht darin, den Therapeuten zu binden, das heißt ihn ohnmächtig zu machen, und damit die Arbeit an den eigentlichen Konflikten zu blockieren. Oft haben solche Fallensteller masochistische Züge: Sie wollen lieber an ihrem Leiden festhalten als es aktiv verändern. Daß auch Boris nicht frei von ihnen war und sein Leiden mit einem starken Appell verband, ließ sich aus seiner dramatischen Vorgeschichte vermuten. Um der Falle zu entgehen, antwortete ich ihm auf seine Provokation: „Warum sind Sie nach Berlin gekommen, in diese von Mauern eingezäunte Insel? Und warum haben Sie ihr Gefängnis noch enger gemacht, indem sie in eine dunkle Hinterhofparterrewohnung mitten im Häusermeer gezogen sind, fernab von jeder Grünfläche und Natur – und das bei Ihrer ausgeprägten Naturliebe? Wollten Sie sich mit diesen Schritten vielleicht für immer in ihrem Gefühl der Zukunftslosigkeit einmauern?“

Mit dieser Deutung ziele ich bewußt auf Boris‘ Masochismus. Nur wenn man diesen unbewußten Mechanismus verstärkt, wird dem Patienten deutlich, wie selbstschädigend er sich ständig verhält. Er berichtet daraufhin, wie schrecklich und zerstörerisch er diese Großstadt erlebe. Die Stadt könne einen kaputtmachen. Ich sage ihm daraufhin, daß die Umweltzerstörung eine Sache sei, und schlimm genug, aber die Frage, wie man mit ihr umgehe, sei eine zweite Sache. Offenbar habe er eine Neigung, für sich alles noch schlimmer zu machen und noch mehr darunter zu leiden, statt seine Energien darauf zu verwenden, einen Weg aus der Sackgasse zu suchen. Vielleicht ergäben sich daraus, wenn meine Vermutung stimme, neue Schritte in eine entgegengesetzte Richtung als die bisherige.

In der vierten Stunde ist Boris deutlich verändert. Seine Körperhaltung hat sich aufgelockert, das Gespräch läuft flüssiger und in einem engeren emotionalen Kontakt. Er habe über alles nachgedacht. An der fortschreitenden Umweltzerstörung gebe es keinen Zweifel. Aber die Sache mit Berlin habe ihn nachdenklich gemacht. Er überlege, die Stadt zu verlassen und in die Gegend seiner Eltern zurückzuziehen. Dort habe er wenigstens seine Familie in der Nähe und noch alte Freunde. Studieren wolle er zur Zeit nicht. Eine praktische Ausbildung wäre sicher besser. Ihm sei plötzlich eingefallen, eine Agrar- oder Forstwirtschaftslehre zu machen. Dann könne er später immer noch studieren.

Das Thema der konkreten Berufsplanung durchzieht auch die nächsten drei Stunden. Wir sprechen über alternative Landwirtschaft, über Möglichkeiten der Berufsausübung in Dritte- Welt-Ländern und über die Frage, warum ihm diese Ideen nie früher eingefallen seien, obwohl sie für ihn nahelagen. „Ich war durch meine Gedanken an die Umweltzerstörung wie gelähmt“, sagt Boris, „und mir fielen nur Dinge ein, die mir keinen Spaß machten – vielleicht auch nur um mir zu beweisen, wie sinnlos alles ist.“

Nach dieser Stunde fuhr Boris zum Besuch zu seinen Eltern, um sich in der Umgebung über Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren. Er käme danach sicher nochmal nach Berlin zurück und werde sich melden. Einen Monat später teilte mir der Vater mit, der Sohn bemühe sich um eine Lehr- beziehungsweise Praktikumsstelle in der Landwirtschaft und habe Kontakt zu einem landwirtschaftlichen Ausbildungsinstitut aufgenommen. Er käme nicht nach Berlin zurück.

Theoretische Überlegungen zur Zukunftsangst

Ausgangspunkt für die Darstellung der vielfältigen Facetten der Zukunftsangst war die Hypothese, daß es sich bei dieser Angst um eine neuartige Gefühlsqualität handelt, bei der die Beziehung zwischen innerer und äußerer Realität ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen kann. Welche theoretischen Konstrukte bieten sich zur Erklärung der Hypothese an?

Den Angelpunkt für die folgenden Überlegungen bildet die grundsätzliche Unterscheidung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaftsbedingungen, globalen Problemlagen und Zukunftsperspektiven. Historisch ist dieser Punkt genau zu datieren, nämlich auf den 6. August 1945. Hiroshima läutete das Atomzeitalter ein und damit zum ersten Mal die reale Möglichkeit der Menschheitsvernichtung. Zumindest die Szenarien, die in den letzten Jahrzehnten über die Folgen eines Atomkrieges entwickelt wurden (zum Beispiel der „nukleare Winter“), lassen diesen Schluß zu. Hinzu gekommen und von noch größerer Wahrscheinlichkeit ist aber eine historisch ebenfalls völlig neue Vernichtungsmöglichkeit – die durch Technikfolgen bedingten Veränderungen der Biosphäre, die nach allen vorliegenden Berechnungen durch ein Umkippen der Ökosysteme die klimatische Anpassungsfähigkeit der menschlichen Art in absehbarem Zeitraum überfordert. Diese Perspektive hat den Begriff der Zukunft gegenüber der Vergangenheit grundlegend verändert. In letzterer blieben die Folgen von Naturkatastrophen, Kriegen, Epidemien und anderen Verheerungen berechenbar, sie schweißten soziale Gemeinschaften in der tätigen Bewältigung der angerichteten Zerstörungen zusammen und konnten den Glauben und die Hoffnung auf Zukunft und an die Kontinuität menschlicher Geschichte nie ernsthaft in Frage stellen. Dieser Konsens beginnt sich zunehmend aufzulösen. Die Zeichen der Anomie, die in allen fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu beobachten sind, lassen sich nach meiner Einschätzung mit diesem fundamentalen Wandel der menschlichen Geschichte in Zusammenhang bringen. Kinder und Jugendliche als Seismographen gesellschaftlicher Transformationsprozesse – das scheinen alle vorliegenden Befunde zu belegen – reagieren nicht nur als Beobachter, sondern auch als unmittelbar betroffene Opfer dieser Entwicklung. Die Gefahren, denen sie sich ausgesetzt sehen, sind, wie wir sahen, globaler Natur. Für den psychischen Strukturaufbau müssen wir daraus folgende Konsequenzen ins Auge fassen. Das Ich als Instanz der inneren und äußeren Gefahrenabwehr und besonders bei Kindern mit noch gering entwickelten Abwehr- und Anpassungsmechanismen ausgestattet, wird von frühem Alter an mit destruktiven Bildern der Außenwelt inflationiert. Die Gewalt der Bilder verohnmächtigt das Ich aus folgenden Gründen:

1.      Das noch schwache Ich verfügt kaum über Möglichkeiten, sowohl der Qualität als auch der Quantität der Bedrohungen durch eigenes aktives Handeln zu begegnen und sie abzumildern.

2.      Die meist auf dem Fernsehschirm visualisierten Bilder des Schreckens geben nur ein virtuelles Abbild der Wirklichkeit, wodurch diese in ihrem realen Gefahrenpotential anonymisiert und verfremdet wird. Die Verfremdung manifestiert sich außerdem in der Ungreifbarkeit und Unsichtbarkeit vieler Bedrohungen, zum Beispiel der radioaktiven Strahlung und des Arsenals der gesundheits- und umweltschädigenden chemischen Gifte.

3.      Durch den Verfremdungseffekt eignen sich die Bilder als ideale Projektionsflächen für destruktive Impulse und Phantasien, mit denen das Ich die aus der eigenen Hilflosigkeit entstehenden Verteidigungsaggressionen abwehrt.

4.      Über diesen Mechanismus wird das real bedrohliche Objekt in der Phantasie zusätzlich dämonisiert und sein destruktiver Charakter affektiv überdimensional aufgeladen.

Die Verohnmächtigung des Ich führt aus psychologischer Sicht zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und des Aufgebens, von der Streßforschung als „giving up“ bezeichnet, die bis zum Gefühl des Aufgegebenseins auch durch die Gesellschaft reichen können („given up“) (Engel und Schmale 1972), und die wir als Ausdruck eines depravierten Ich-Zustandes auffassen. In ein auf diese Weise geschwächtes Ich kann die Zukunftsangst quasi ungefiltert einfluten.

An diesem Punkt der Analyse wird aber deutlich, daß der Begriff „Zukunftsangst“ zu abstrakt ist, um zu verstehen, wovor sich das Ich wirklich fürchtet. Die größte aller Ängste ist die Angst vor dem Tod. Die Ahnung vor einer drohenden Gefahr in der Zukunft kulminiert in der Antizipation des eigenen Sterbens. Wenn man die zahlreichen Daten, Aussagen und Gestaltungen von Kindern und Jugendlichen zum Thema Zukunft ernst nimmt und in ihrer Summe auf sich wirken läßt, drängt sich in der Tat der Eindruck auf, daß die Angst, eines frühzeitigen und nicht natürlichen Todes zu sterben, einen zentralen Bestandteil der Zukunftsangst ausmacht. Die Ausprägung dieser Angst bereits in jungem Alter scheint mir aber nicht selbstverständlich, sondern einer Zeit geschuldet, die durch das Arsenal ihrer destruktiven Kräfte den Wert menschlichen Lebens immer schonungsloser zur Disposition stellt. In dieser entwicklungspsychologisch keineswegs typischen Todesangst erfährt die Hypothese von der neuartigen und existenzbedrohenden Qualität der Zukunftsangst eine erste Bestätigung. 

Aber das noch unreife, kindliche Ich fürchtet nicht nur den eigenen Tod. Ich möchte an dieser Stelle einen Befund aus der bereits zitierten „Bundesweiten Befragung“ mit 3500 Kindern und Jugendlichen nachtragen. Auf einer Angstskala mit 20 persönlichen und politischen Ängsten stand die Angst, „daß meine Eltern sterben könnten“, an zweiter Stelle der Rangliste; 63 Prozent der Befragten hatten „viel Angst“ davor, weitere 22 Prozent „etwas Angst“. Nach Kenntnis vieler anderer Materialien und der längeren Beschäftigung mit dem Thema erscheint mir heute folgende Erklärung am plausibelsten. Die Inflationierung des Ich mit destruktiven Bildern und Phantasien der globalen Bedrohungen löst nicht nur eigene Todesängste aus. Zumindest im Bewußtsein scheint die Angst vor dem Tod der Eltern sogar zu dominieren. Die Urangst des Menschen setzt bekanntlich mit der Geburt in Form der Trennungsangst ein. Der Tod der Eltern würde den totalen Verlust von Schutz und Geborgenheit bedeuten, der angesichts der potentiell tödlichen Bedrohungen für das Kind eine absolute Katastrophe im Sinne eines endgültigen Verlassenseins wäre. Wir haben es hier also mit einer elementaren Trennungsangst zu tun, die durch das Ich nicht mehr altersgemäß verarbeitet werden kann und sich um so leichter mit der Todesangst verbindet. Die Trennungsangst scheint mir noch durch einen anderen Tatbestand belegbar. Zur Kennzeichnung unserer heutigen Situation und der Zukunft benutzen Kinder und Jugendliche – wie bereits ausgeführt – in auffälliger Häufung folgende Bilder: Beton, Hochhäuser, Plastik, Müll, Fabriken, Roboter, Computer und Technik allgemein. Über ihren realen Gehalt hinaus sind diese Merkmale unserer Zivilisation inzwischen zu Chiffren geworden, die sich als Symbole menschlicher Entfremdung deuten lassen. Sie bedeuten die Aufkündigung von Grundbedürfnissen nach Emotionalität, Geborgenheit, Wärme, Zusammengehörigkeit und Mitmenschlichkeit und drücken darin eine basale Befindlichkeit von Trennung und Getrenntsein aus. Auf der Realitätsebene gibt es kaum einen Zweifel, daß diese zivilisatorische Entwicklung unaufhaltbar ist und sich progressiv beschleunigen wird. Auf die psychische Ebene übertragen ist mit einer entsprechenden Zunahme der Gefühle von Entfremdung und Getrenntsein zu rechnen. Hier dürfte eine weitere wichtige Wurzel der Zukunftsangst liegen (Petri 1995).

Eine dritte Wurzel sehe ich in dem wachsenden Verlust von Hoffnungspotential, wodurch die Widerstandsfähigkeit des Ich zusätzlich geschwächt wird. Hoffnung, so wissen wir heute, ist eine spezifisch menschliche und lebensnotwendige emotionale Kraft, die im Ich gebündelt wird und mit der sich das Subjekt planend und handelnd in eine offene Zukunft hinein entwirft. Wie aber, wenn Zukunft heute gar nicht mehr planbar ist, wenn ernstzunehmende Klimaforscher den Kollaps des menschlichen Ökosystems für die nächsten zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre prognostizieren, für einen Zeitraum auf jeden Fall, der nach der Zeitrechnung von Kindern und Jugendlichen diese in ihrem frühen Erwachsenenalter oder auf der Höhe ihres Lebens treffen wird? Es kommt hier weniger darauf an, wie zuverlässig solche Berechnungen sind oder zu welchen radikalen Gegenmaßnahmen die Menschheit noch in der Lage sein wird. Die kostspieligen, Sorge vortäuschenden, aber Konsequenzen vermeidenden internationalen Klimakonferenzen der letzten Jahre konterkarieren eher alle entsprechenden Erwartungen. Entscheidend für die junge Generation sind die inzwischen tausendfach gespeicherten inneren Objektbilder einer Zukunft, die nach dem Slogan „Gestern stand ich noch am Abgrund, heute bin ich schon einen Schritt weiter“ breite Schneisen in das Hoffnungspotential geschlagen haben. Hoffnung bedeutet Lebenskraft. Zukunftsangst schließt daher die Ahnung ein, daß diese existentiell notwendige Kraft sukzessive ausgehöhlt und vorzeitig verbraucht werden kann.

Wenn man die Zukunft in diesen tieferen Dimensionen betrachtet – Todesangst, Trennungsangst und die Angst vor dem Verlust vitaler Hoffnungskräfte -, erkennt man den ausgesprochen verharmlosenden Charakter, den der Begriff umgangssprachlich angenommen hat. Vielmehr scheint er seine neuartige Gefühlsqualität einem Verdichtungsprozeß zu verdanken, bei dem mehrere elementare Grundängste zusammenfließen.

Auf das innere Repräsentanzsystem bezogen, müssen wir vermuten, daß bei einem von Angst und Aggression inflationierten Ich, das mit Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depression und Vergeltungsaggression reagiert und dessen Wirklichkeitssinn in bezug auf die Zukunftsgestaltung verkürzt wird, auch ein stabiler Aufbau der Identität wenig wahrscheinlich ist. Vielmehr dürften die Selbstrepräsentanzen mit ihren bösen und verfolgenden Anteilen kaum eine Verbindung eingehen, die dem Selbst einen hohen Grad an Unterstützung und Kohärenz garantiert. Im Gegenteil wird durch den Zusammenprall von destruktiver Realität und reaktiver Triebentfesselung ein Zustand präfiguriert, der zu einer Selbst-Auflösung mit den Gefühlen von Entleerung, Sinnlosigkeit, Nichtigkeit und diffuser Lebenswut und, wie in dem Behandlungsfall dargestellt, schließlich zum völligen Realitätsverlust führen kann. Es muß hier nicht ausdrücklich betont werden, daß die pathogenetische Bedeutung makrosozialer Stressoren, ob individuell oder kollektiv, von einer Vielzahl von Variablen abhängig ist und daß der hier dargestellte innerpsychische Verarbeitungsmodus entsprechend unterschiedlich verlaufen dürfte. Außerdem folgt die Darstellung theoretischen Konstrukten, die allerdings von einer relativ breiten empirischen Basis ausgehen. Sollte der Arbeitshypothese einige Plausibilität zukommen, so kann sie für eine weitere vertiefende Forschung von Nutzen sein.

Psychoanalyse ist bekanntlich keine bequeme Wissenschaft, weder in der Therapie noch in ihrer Kulturkritik. Sie wäre in ihrer Legitimation sogar verdächtig, wenn sie ihren kritischen Blick aufgeben und sich den Zuständen der Zeit anbequemen würde. Die Psychoanalyse kann nur dazu beitragen, Hoffnung zu erhalten und Zukunft angstfreier zu gestalten, wenn sie die Krisis der Moderne als „entscheidende Wende“ der Menschheitsgeschichte in ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad ernst nimmt und durch Kritik, das heißt durch prüfende Beurteilung mit ihren wissenschaftlichen Mitteln, vor Einsprüchen und Einmischung nicht zurückschreckt.

Literatur

Engel, G. L./Schmale, A. H.: Conservation-Withdrawl: A Primary Regulatory Process for Organismic Homeostasis. In: Ciba Foundation Symposion 8: Physiology, Emotion and Psychosomatic Illness. London, Amsterdam, New York 1972

Freud, S. (1913): Totem und Tabu. GW, Bd. IX. Frankfurt/M. 1973

Hurrelmann, K: Orientierungskrisen und politische Ängste bei Kindern und Jugendlichen. In: Mansel, J. (Hrsg.): Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohungen. Weinheim 1992

Köhler, L.: Neuere Ergebnisse der Kleinkindforschung. Ihre Bedeutung für die Psychoanalyse. Forum Psychoanalanalyse 6/1990, S. 32-51

Leuzinger-Bohleber, M./Garlichs, A.: Früherziehung West-Ost. Zukunftserwartungen, Autonomieentwicklung und Beziehungsunfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Weinheim 1993

Mansel, J.: Sensibilisierung und Angst Jugendlicher angesichts makrosozialer Risiken. In: Mansel, J. (Hrsg.) a.a.O.

Petri, H./Boehnke, K./Macpherson, M./Meador, M.: Zukunftshoffnungen und Ängste von Kindern und Jugendlichen unter der nuklearen Bedrohung. Analyse einer bundesweiten Pilot-Studie. Psychologie u. Gesellschaftskritik, 11, H. 2/3, 1987, S. 81-105

Petri, H.: Umweltzerstörung und die seelische Entwicklung unserer Kinder. Zürich 1992

Petri, H.: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus! Von der Entfremdung zur Fremdenfeindlichkeit in der jungen Generation. In: ders.: Lieblose Zeiten. Psychoanalytische Essays über Tötungstrieb und Hoffnung. Göttingen 1995

Rusch, R.: So soll die Welt nicht werden. Kinder schreiben über ihre Zukunft. Kevelaer 1989

Der Autor, Prof. Dr. Horst Petri, ist Arzt und Hochschullehrer für Psychotherapie und Psychosomatik an der FU Berlin sowie Psychoanalytiker in eigener Praxis. Die vorstehende Auseinandersetzung erschien mit Genehmigung von Prof. Dr. Petri in DER NAGEL 59/1997

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NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 2 (Alice Miller)

Der Weg aus der Falle

Von Alice Miller

Immer wieder liest man in Zeitungen, es sei bereits statistisch erwiesen, dass die meisten Menschen, die ihre Kinder misshandeln, selbst in der Kindheit misshandelt wurden. Diese Information ist nicht ganz richtig, weil es nicht „die meisten“ sind, sondern alle. Jeder Mensch, der seine Kinder misshandelt, ist selbst in seiner Kindheit in irgendeiner Form schwer traumatisiert worden. Dieser Satz gilt ohne jede Ausnahme, weil es absolut unmöglich ist, dass ein Mensch, der in einer ehrlichen, respektvollen und zugewandten Umgebung aufgewachsen ist, jemals unter dem Zwang stünde, Schwächere zu quälen und lebenslänglich zu schädigen. Er hat einst erfahren, dass es richtig ist, dem kleinen, hilflosen Wesen Schutz und Orientierung zukommen zu lassen, und dieses in seinem Körper und seinem Gehirn früh gespeicherte Wissen wird für ihn lebenslänglich wirksam bleiben. Der oben formulierte Satz gilt ohne Ausnahme, obwohl sehr viele Menschen von den Qualen ihrer Kindheit kaum etwas erinnern können, weil sie gelernt haben, sie als berechtigte Strafe für ihre eigene Schlechtigkeit anzusehen und weil ein Kind schmerzhafte Ereignisse verdrängen muss, um zu überleben. Deshalb schreiben Soziologen, Psychologen und andere Fachleute trotz der neuen Erkenntnisse immer wieder, dass man nicht wisse, wie es zum Kindesmissbrauch käme, und sie spekulieren über den Einfluss enger Wohnverhältnisse, der Arbeitslosigkeit oder der Angst vor der Atombombe.

Mit solchen Erklärungen schützen wir die Taten unserer Eltern. Denn es gibt keinen anderen Grund für Kindesmisshandlungen als die Verdrängung der eigenen erlittenen Misshandlung und Verwirrung. Die engsten Wohnverhältnisse, die größte Armut zwingen einen Menschen niemals zu einer solchen Tat. Nur wer selbst Opfer solcher Taten war und sie in der Verdrängung belässt ist in Gefahr, seinerseits Leben zu zerstören.

Die sogenannten schwierigen, „unerträglichen“ Kinder sind von Erwachsenen dazu gemacht worden. Nicht immer von den eigenen Eltern. Denn die Geburts- und Nachgeburtspraxis in vielen Kliniken liefert oft bereits einen erheblichen Beitrag dazu. Es gibt Eltern, die diese Traumen durch liebevolle Zuwendung ausgleichen können, weil sie sie ernstnehmen und deren Gefahr nicht leugnen. Doch Eltern, die ihre eigenen schwersten Traumen in der Verdrängung halten, bagatellisieren häufig deren Gewicht bei ihren Kindern aus purem Unwissen und leiten unnötig eine neue Kette von Grausamkeit ein. Ihre Unempfindlichkeit für das Leiden des Kindes wird von der Gesellschaft voll unterstützt, weil die meisten Menschen, Fachleute nicht ausgenommen, diese Blindheit mit ihnen teilen.

Das einzige Mittel gegen die Ausbreitung einer Krankheit sind korrekte, gut dokumentierte Informationen über den Krankheitserreger. Misshandelnde Eltern brauchen klare Informationen; sie spüren doch selbst dumpf, dass etwas nicht stimmt, wenn sie ihre Wut am wehrlosen Kind auslassen oder ihre sexuellen Wünsche bei ihm befriedigen. Statt dies ernst zu nehmen, reden die Fachleute um den Brei herum, denn sie fürchten, die Eltern könnten Schuldgefühle bekommen, und dies dürfte ja, so meinen sie fälschlicherweise, auf keinen Fall geschehen.

Diese Meinung, man dürfe die Eltern niemals beschuldigen, was auch immer sie getan haben, hat sehr viel Unheil angerichtet. Denn wie sieht es in der Realität aus? Mit dem Zeugungsakt gehen die Eltern eine Verpflichtung ein, für das Kind zu sorgen, es zu beschützen, seine Bedürfnisse zu erfüllen und es nicht zu missbrauchen. Wenn sie diese Schuld nicht abzahlen, bleiben sie dem Kind tatsächlich etwas schuldig, genauso wie sie der Bank etwas schuldig geblieben sind, wenn sie dort ein Darlehen aufgenommen haben. Sie bleiben haftbar, unabhängig davon, ob ihnen die Folgen ihres Tuns klar sind oder nicht.

Darf man ein Kind auf die Welt bringen und die Verpflichtungen vergessen? Das Kind ist kein Spielzeug, kein Kätzchen, sondern ein Bündel von Bedürfnissen, das sehr viel Zuwendung braucht, um seine Möglichkeiten zu entfalten. Wenn man nicht bereit ist, ihm das zu geben, muss man keine Kinder haben. Diese Worte mögen hart klingen für Menschen, die diese Zuwendung niemals erfahren haben und sie daher nie ihren Kindern geben konnten. Für diejenigen, die in ihrer Kindheit Schutz und Zärtlichkeit bekommen haben, die daher selbst nicht ausgehungerte Kinder sind, klingen sie nicht hart. Sie sind für sie die banalste Selbstverständlichkeit.

Ein Kind zu schlagen, zu demütigen oder sexuell zu misshandeln ist ein Verbrechen, weil es einen Menschen lebenslänglich schädigt. Es ist wichtig, dass dies auch Drittpersonen wissen, weil die Aufgeklärtheit und der Mut der Zeugen eine entscheidende, lebensrettende Bedeutung für das Kind haben können. Aus der Tatsache, dass jeder Täter früher selbst einmal ein Opfer gewesen ist, folgt nämlich nicht, dass jeder Mensch, der selbst misshandelt wurde, später notwendigerweise zum Misshändler seiner Kinder wird. Dies muss nicht unbedingt der Fall sein, wenn er in seiner Kindheit die Chance hatte, und sei es nur ein einziges Mal, einem Menschen zu begegnen, der ihm etwas anderes als Erziehung und Grausamkeit vermittelte: einem Lehrer, einer Tante, einer Nachbarin, einer Schwester, einem Bruder. Erst durch die Erfahrung des Geliebt- und Geschätztwerdens kann das Kind Grausamkeit als solche überhaupt ausmachen, sie wahrnehmen und sich gegen sie auflehnen. Ohne diese Erfahrung kann es gar nicht wissen, dass es etwas anderes als Grausamkeit in der Welt überhaupt geben kann, es wird sich ihr ohne weiteres unterwerfen und sie als die normalste Sache später ausüben, wenn es selbst als Erwachsener an der Macht ist.

Menschen, die Hitler geholfen haben, sein Werk auszuführen und ganze Völker auszurotten, mussten als Kinder Ähnliches wie er erfahren haben: die ständige Präsenz der Gewalt. Daher war die Haltung des Führers für sie selbstverständlich. Sie wurde gar nicht in Frage gestellt, weil in der ganzen Kindheit offenbar kein einziger Mensch, kein einziger wissender, aufgeklärter Zeuge vorhanden war, der das Kind in Schutz genommen hätte. Ein solcher Zeuge hätte dem Kind unter Umständen geholfen, seine Wahrnehmungsfähigkeit und seinen Charakter zu retten. Um Grausamkeit zu erkennen, sie eindeutig abzulehnen, sie den eigenen Kindern ersparen zu wollen, muss man sie als solche überhaupt wahrnehmen. Streng und grausam erzogene Kinder durften das nicht, sie mussten für die Behandlung ihrer Eltern dankbar sein, ihnen alles verzeihen, die Ursache der Ausbrüche immer bei sich selbst suchen und durften auf keinen Fall die Eltern in Frage stellen.

Was geschieht, wenn ein in Liebe, Schutz, Ehrlichkeit aufgewachsenes Kind plötzlich von einem Menschen geschlagen wird? Es wird schreien, seinen Zorn ausdrücken, schließlich weinen, die Schmerzen zeigen und vermutlich fragen: Warum tust du mir das an? Nichts von alledem ist möglich, wenn ein von Anfang an zu Gehorsam dressiertes Kind von seinen eigenen Eltern, die es liebt, geschlagen wird. Es muss den Schmerz und den Zorn unterdrücken und die ganze Situation verdrängen, um zu überleben. Denn um Zorn zeigen zu können, braucht es das Vertrauen und die Erfahrung, dass es dafür nicht umgebracht wird. Ein geschlagenes Kind kann dieses Vertrauen nicht aufbauen; tatsächlich werden Kinder manchmal umgebracht, wenn sie es wagen, sich gegen das Unrecht aufzubäumen. Das Kind muss also seine Wut unterdrücken, um in einer feindseligen Umgebung zu überleben. Auch den massiven, überwältigenden Schmerz muss es unterdrücken, um nicht daran zu sterben. Nun senkt sich also über alles die Stille des Vergessens, die Eltern werden idealisiert, sie haben nie einen Fehler begangen. „Und wenn sie mich geschlagen haben, dann habe ich das verdient.“ Das ist die geläufige Version der überstandenen Folter.

Vergessen und Verdrängen wären eine gute Lösung, wenn es dabei sein Bewenden hätte. Aber die verdrängten Schmerzen blockieren das Gefühlsleben und erzeugen körperliche Symptome. Und was das Schlimmste ist: die Gefühle des misshandelten Kindes sind zwar zum Schweigen gebracht worden, da wo sie begründet waren, nämlich bei denen, die den Schmerz verursachten, aber sie melden sich zu Wort bei den eigenen Kindern. Es ist, als ob diese Menschen jahrzehntelang in einer Falle säßen, aus der keine Türe hinausführt, weil die Wut auf die eigenen Eltern in unserer Gesellschaft verboten ist. Doch mit der Geburt der eigenen Kinder öffnet sich eine Türe: Dort kann sich die seit Jahren aufgestaute Wut rücksichtslos entladen, unglücklicherweise an einem kleinen hilflosen Wesen, das man quälen muss, oft ohne es zu merken; man wird von einer unbekannten Macht dazu getrieben.

Die Tatsache, das Eltern ihre Kinder oft in der gleichen Art misshandeln oder vernachlässigen, wie ihre eigenen Eltern es mit ihnen taten, auch (und gerade dann!) wenn sie sich an diese Zeiten gar nicht mehr erinnern, zeigt, dass sie in ihrem Körper die eigenen Traumen gespeichert haben. Sonst könnten sie sie gar nicht reproduzieren. Sie tun es mit einer verblüffenden Präzision, die deutlich wird, sobald sie bereit sind, ihre eigene Hilflosigkeit zu fühlen, anstatt sie gegen eigene Kinder abzureagieren und ihre Macht zu missbrauchen.

Wie soll eine Mutter alleine diese Wahrheit herausfinden, wenn die Gesellschaft ihr eindeutig sagt: Kinder müssen diszipliniert, sozialisiert und zum Anstand erzogen werden? Wen kümmert es, dass der sogenannte „Mut zur Erziehung“ von einer jahrzehnte alten, früher nie gelebten Wut auf die eigene Mutter angetrieben wird? Die junge Frau will es auch nicht wissen. Sie denkt: Ich habe die Pflicht, mein Kind zu disziplinieren, und tue das in genau der gleichen oder in einer ähnlichen Art, wie meine Mutter es bei mir getan hat. Und es ist doch schließlich auch aus mir etwas Rechtes geworden, nicht wahr? Ich habe meine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen, habe mich in der Kirchenarbeit und in der Friedensbewegung engagiert, habe mich immer gegen das Unrecht eingesetzt. Nur bei meinen Kindern konnte ich es nicht verhindern, dass ich sie schlagen musste, obwohl ich das gar nicht wollte; aber es ging eben nicht anders. Ich hoffe, es hat ihnen nicht geschadet, genau wie es mir nicht geschadet hat.

Wir sind an solche Sätze so gewöhnt, dass sie den meisten gar nicht auffallen. Aber es gibt bereits einzelne Menschen, denen sie doch auffallen, Menschen, die sich entschlossen haben, die Worte der Erwachsenen von der Perspektive des Kindes aus zu hinterfragen, die dabei neue Entdeckungen machen und die die Klarheit nicht mehr fürchten. Sie sehen: Die Zerstörung des Menschenlebens darf nicht als „ambivalente Elternliebe“ bezeichnet werden, sondern muss als das, was sie ist, erkannt werden: als ein Verbrechen. Die Schuldgefühle der Eltern müssen nicht ausgeredet, sondern ernstgenommen werden. Sie sind ein Hinweis darauf, dass etwas den Eltern geschehen ist und dass sie Hilfe brauchen. Und diese Hilfe werden sie aufsuchen, wenn die bisher einzige offene Türe, die leider zu Kindesmisshandlungen führt, durch die Rechtslage endlich geschlossen wird. Dann müssen die Eltern eine andere Türe suchen: Sie müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um ohne Schuld aus ihrer emotionalen Falle herauszukommen.

Erst wenn das Kind nicht mehr als legaler Sündenbock zur Verfügung steht, wird dieser wirklich befreiende Prozess den Eltern ermöglicht. Ein misshandelnder Vater muss ja nicht mit Gefängnis bestraft werden. Es ist zum Beispiel eine gerichtliche Anordnung denkbar, die verfügt, dass ein Vater für einige Monate seine Familie verlassen und doch deren Unterhalt sichern muss. Wenn der Vater, plötzlich allein gelassen, sich mit den Gefühlen der eigenen Kindheit konfrontiert sieht und dann einem wissenden Zeugen (vielleicht in der Person eines gut informierten Sozialarbeiters) begegnet, der ihm hilft, seine damalige Situation nicht mehr zu verdrängen, dann wird dieser Vater nach seiner Rückkehr kaum in Gefahr sein, sein Kind zu misshandeln. Und sein Kind wird die wichtige prägende Erfahrung machen, dass es nicht in einem Dschungel aufgewachsen ist, sondern in einer humanen Gesellschaft, die sein Recht auf Schutz wirklich ernstnimmt und respektiert.

Eine Gefängnisstrafe kann eine innere Wandlung nicht herbeiführen. Aber auch Therapeuten, die unter dem Motto „Helfen statt Strafen“ der Wahrheit ausweichen, können ebenso wenig helfen, die Haltung der Eltern zu verändern. Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass ein Verbot der Misshandlung nur eine neue Form der Gewalt wäre. Also müsse man Verbrechen nicht klar benennen, solange sie an eigenen Kindern begangen werden, sonst würden sich die Eltern gekränkt fühlen und sich schließlich noch auf Kosten des Kindes rächen. So äußern sich Vertreter der Ärzteschaft und des Kinderschutzbundes beinahe einstimmig.

Trotzdem sind sie im Irrtum, und aus ihren Argumenten spricht die Angst des einst bedrohten Kindes, das sich mit den Eltern arrangieren möchte und darum zum Schweigen und Nicht-Merken bereit ist. Die Realität gibt ihnen nicht recht. Die skandinavischen Länder haben bereits die Anzeigepflicht für Ärzte in ihrem Gesetz verankert, und der Bevölkerung ist es dank diesem Gesetz klargeworden, dass die Rechte der Kinder nicht missachtet werden dürfen. Meine Erfahrung hat mich außerdem gelehrt, dass manche Eltern auf die Wahrheit besser reagieren als auf Beschwichtigung und dass sie von korrekten Informationen profitieren können. Denn jeder Mensch, der sich in einer Falle befindet, sucht einen Ausweg. Aber er ist im Grunde froh und dankbar, wenn man ihm einen Ausweg zeigt, der nicht in die Schuld und nicht zur Zerstörung eigener Kinder führt. Eltern sind in den meisten Fällen keine Ungeheuer, die man mit Sprüchen beschwichtigen muss, damit sie nicht schreien, sondern oft verzweifelte Kinder, die erst lernen müssen, Realitäten zu sehen und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Sie konnten es als Kinder nicht lernen, weil ihre Eltern diese Verantwortung nicht kannten. Sie missverstanden sie als ein Recht auf den Missbrauch ihrer Macht. Nun liegt es an den jungen Eltern, diese „Lehren“ als unbrauchbar zu erkennen und aus der Erfahrung mit ihren Kindern zu lernen. Doch dieser neue Prozess kann nur stattfinden, wenn es auch für die Gesetzgebung eindeutig klar ist, dass Kindesmisshandlung einen Menschen lebenslänglich schädigt und dass dieser Schaden keineswegs durch das Nichtwissen des Täters vermindert wird. Nur durch die Aufdeckung der vollen Wahrheit bei allen Beteiligten kann eine wirklich effektive Lösung für die Gefahren von Kindesmisshandlungen gefunden werden.

Das Buch „Untertan Kind“ von Carl-Heinz Mallet zeigt, wie Pädagogen seit Martin Luther die Eltern dazu aufgerufen haben, an Gottes Stelle ihre Kinder zu züchtigen und zu bestrafen. Die Lektüre dieses Buches kann den heutigen Eltern helfen, zu verstehen, weshalb sie sich in einer emotionalen Falle befinden und welchen Preis sie und ihre Kinder zu bezahlen haben, wenn sie sich an die überlieferten Werte der Erziehung halten. Die Folgerung mag paradox klingen und ist dennoch korrekt: Der bisher legale Ausweg aus der Falle, die Züchtigung des Kindes, führt zum Verbrechen, und der bisher verbotene Weg des Merkens und der Kritik an den eigenen Eltern führt aus der Verschuldung heraus und zur Rettung unserer Kinder. Mallets Buch kann sehr hilfreich sein für Eltern, die meine Bücher nicht kennen und die hier zum ersten Mal mit Entsetzen feststellen werden, was ihnen einst zugefügt wurde und was sie in ihrer Blindheit weitergaben. Mit diesem Entsetzen aber öffnet sich bereits die Türe aus der zwanghaften Zerstörung des Lebens in die Freiheit und Verantwortung.

Anm. der Red.: Vorstehender Artikel wurde uns dankenswerterweise vom Suhrkamp Verlag und Alice Miller zur Verfügung gestellt. Er erschien zuvor als Anhang in Alice Millers Buch: „Das verbannte Wissen“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988 und 1990.

aus: DER NAGEL 54/1992

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NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 1 (Alice Miller)

Warum brauchen wir unbedingt ein gesetzliches Verbot der Kinderzüchtigung?

Von Alice Miller

In einem langen Leserbrief an eine der größten deutschen Zeitungen, der im Dezember 1991 publiziert wurde, schreibt ein Dr. theol. unter dem Titel „Pauschalverbot von Körperstrafe bibelwidrig“ unter anderem folgendes:

„Als evangelischer Christ, Theologe und Vater von sechs Kindern sehe ich mich veranlasst, gegen die jüngste Gesetzesinitiative im Bundestag zum Verbot von ‚Prügeln, Ohrfeigen und Liebesentzug‘ entschieden Widerspruch anzumelden. … Wer jede Form von Körperstrafe unterschiedslos unter Strafe stellt, nivelliert den pädagogisch fundamentalen Unterschied zwischen Kindesmisshandlung und einer von klaren erzieherischen Grundsätzen geleiteten maßvollen körperlichen Züchtigung, die auf das Beste des Kindes zielt und nicht vom Affekt bestimmt ist. … Die Gesetzesinitiative der Kinderkommission greift in eklatanter Weise in das grundrechtlich geschützte elterliche Erziehungsrecht ein. … In der Sicht der christlichen Ethik ist der Vorstoß der Kinderkommission vollends verwerflich. Niemand kann bestreiten, dass das biblische Ethos aus grundsätzlichen Gründen körperliche Züchtigung bejaht, solange sie maßvoll ist und im Dienst erzieherischer Liebe steht (z.B. Hebräer 12, 6 – 11 und Sprüche Salomon 13, 24). Ein Staat, der christlichen Eltern jede Form von Körperstrafe verbietet, greift ein von Gott gegebenes, vorstaatliches Recht an und schränkt nicht nur das elterliche Erziehungsrecht, sondern auch die grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit ein!“ 

Der ungekürzte Text dieses Briefes wurde mir von einigen Lesern zugeschickt, die empört und beunruhigt darüber waren, dass die „Schwarze Pädagogik“ in dieser krassen und extremen Form heute immer noch öffentlich in einem angesehenen Blatt propagiert werden kann. Eine der Leserinnen stellte sich die Frage, wie es wohl möglich sei, dass dieser Vater von keinem seiner sechs Kinder etwas über Erziehung hätte lernen können, das über die Weisheit Salomos hinausginge. Ich meine, dass der vorliegende Text selbst die Antwort auf diese Frage enthält und uns auch indirekt zu verstehen hilft, weshalb sich ohne ein gesetzliches Verbot der Züchtigung kaum etwas Entscheidendes im Bewusstsein der breiten Bevölkerung ändern wird. Ich will meine Behauptungen im folgenden erläutern.

Ein von einem Auto tödlich verletzter Fußgänger ist tot, ganz unabhängig davon, wer ihn überfahren hat. Er wird nicht auferstehen, wenn es sich herausstellt, dass er nicht von einem fahrlässigen Betrunkenen oder einem gefährlichen Verbrecher, sondern von einer freundlichen kurzsichtigen Dame, ganz ohne böse Absicht, überfahren wurde oder gar von einem Philosophen oder Religionsfanatiker, der sich das Recht herausnimmt, die Rotlichter in der Stadt nach eigenem Gutdünken zu befolgen, und das Gebot, sie zu respektieren, als Meinungsdiktatur bezeichnet. Die Gefahr des verantwortungslosen Philosophierens und Handelns, gepaart mit schönklingenden Worten, besteht auch auf dem Gebiet der Erziehung. Das Verbot, Kinder zu schlagen, muss daher endlich, wie ein warnendes Rotlicht, zum Schutz unserer Kinder und der nachfolgenden Generationen eingeführt werden. Es besteht nämlich absolut kein Unterschied zwischen einer Züchtigung und einer Misshandlung. Jede Züchtigung ist nichts anderes als eine Misshandlung, weil sie die Integrität eines wachsenden Organismus verletzt und dadurch lebenslängliche, oft katastrophale Folgen hat. Dieser nachhaltige Schaden wird nicht dadurch vermindert, dass die Eltern nach ihrem „besten Wissen und Gewissen“ gehandelt haben, angesehen davon, dass dieses „Wissen“ sehr häufig hoffnungslos und unentschuldbar veraltet ist. Der Schaden bleibt bestehen, und die wohlmeinende Ahnungslosigkeit der Eltern wird daran ebenso wenig etwas ändern können wie die Philosophie des Autofahrers am Tod des Fußgängers. Daher ist es höchste Zeit, dass Eltern sich heute richtig informieren, statt im Namen der „erzieherischen Liebe“ die Bibel zu zitieren und sich auf unsere Vorfahren vor 3000 Jahren berufen, die unser heutiges Wissen über die Konsequenzen des Kinderschlagens und verbalen Demütigens leider noch nicht besaßen.

Keines der sechs Kinder konnte seinem Vater, dem Autor des oben zitierten Textes, helfen, die Wahrheit zu erkennen, weil alle, so steht zu vermuten, nach den von ihm so klar geschilderten Prinzipien erzogen wurden. Kinder, die gezüchtigt werden, können die Meinung ihrer Eltern nicht in Frage stellen, sie können sie nicht korrigieren, ohne die größten Gefahren oder gar das Leben zu riskieren. Sie sind daher zum Schweigen und zum Nicht-Merken verdammt. Sollten sie „ausfällig“ werden, drohen ihnen noch grausamere Strafen, also bleibt den meisten von ihnen nichts anderes übrig als Folgsamkeit und Anpassung, auf Kosten ihrer eigenen Kinder später und auf Kosten ihrer Gesundheit ? wenn ihnen nicht rechtzeitig „wissende Zeugen“ zu Hilfe kommen.

Das ist der Grund, weshalb die Überzeugung, dass körperliche und verbale Züchtigungen unschädlich und segensreich seien, immer noch so stark verbreitet ist: Sie wurde den meisten Menschen in den frühesten Jahren eingeimpft. Die Wahrheit zu realisieren, ist ohne Schmerzen kaum möglich, weil man zugleich realisieren müsste, dass man unnötig gequält und geschädigt wurde. Um diesen Schmerz nicht fühlen zu müssen, ziehen es viele Menschen vor, diese Wahrheit zu leugnen und weiter zu behaupten, die Züchtigung diene dem Wohle des Kindes und hätte auch ihnen selbst gute Dienste erwiesen. Sie berufen sich dabei auf die Bibel und ignorieren, was die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten entdeckt hat. Wollte man heute bei einer bakteriellen Entzündung die Entdeckung Pasteurs ignorieren, würde das als verantwortungslos gelten, aber Kinder zu schädigen, weil man sie getreu den Sprüchen Salomos erzieht und alles andere als bibelwidrig ablehnt, weil man sich nicht informieren will, ist immer noch erlaubt. Dieser Zustand muss sich so schnell wie möglich ändern. Nicht die Meinung, sondern die Information muss wie die Verkehrsregeln jedem Bürger mit Hilfe des Gesetzes aufgezwungen werden, weil die Weigerung, sich zu informieren, zerstörerische Folgen für die Mitmenschen hat.

Es ist nicht wahr, dass eine affektlose Züchtigung, angeblich zum Wohle des Kindes, weniger Schaden anrichtet als das Schlagen im Affekt. Zum körperlichen und seelischen Schmerz über die Demütigung kommt im ersten Fall die langzeitige, verheerende Wirkung der Heuchelei hinzu, die das Kind meistens nicht durchschauen kann, weil es die Eltern liebt und ihnen vertraut. Sie hinterlässt beim Opfer das absurde, aber sehr hartnäckige Gefühl, dass es an der Misshandlung selber schuldig gewesen sei und dass sein Verfolger ihm aus edelsten Gründen, aus „erzieherischer Liebe“, nichts anderes als ein Massaker bescherte. Diese verhängnisvolle Verwirrung, die eine spezifische Blindheit für offensichtliche Tatsachen erzeugt, lässt sich später kaum ohne tiefgreifende, aufdeckende Therapie auflösen und wird den Erwachsenen, das ehemalige Kind, dazu treiben, das Erfahrene zu legitimieren und es an Unschuldigen abzureagieren, ebenfalls mit der heuchlerischen Versicherung, dies geschehe ja nur zum Besten des Kindes. Natürlich kann sich der verdrängte latente Hass auch in verschiedenen nationalistischen Ideologien, in der Kriminalität, in Kriegen oder anderen Perversionen Luft machen, erneut versehen mit der Etikette der „Erlösung“ des anderen durch Unterdrückung und Zerstörung. Bei allen Diktatoren ist diese heuchlerische Etikette vorzufinden. Sie dient unter anderem der Tarnung der eigenen wahren Geschichte.

Wenn Eltern ihr Recht auf die Züchtigung ihrer Kinder reklamieren, dann reklamieren sie im Grunde, meistens unbewusst, das Recht, sich für das zu rächen, was ihnen einst angetan wurde, und was sie niemals als Verbrechen zu sehen wagen. Ein neues Gesetz würde das Verbrecherische der vergangenen Taten, an denen unsere Tradition reich ist, entlarven. Aber auch das wollen seine Kritiker nicht. Doch einmal muss die Kette der Gewalt endgültig durchbrochen werden. Wir leben in einer Tradition der Kindesmisshandlungen, doch die Mehrheit ist sich dessen noch kaum bewusst. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Kindermord verboten ist. Wir müssen das zerstörerische Handeln als das, was es ist, erkennen und uns davon distanzieren, statt es zu verharmlosen und zu perpetuieren ? wenn wir nicht am Unglück unserer Kinder und Kindeskinder aus purer Unwissenheit schuldig werden wollen. Wir sind nicht mehr wie im Mittelalter zur Ignoranz verdammt. Wir können sie zwar wählen, aber wir können sie auch ablehnen. Unsere Ignoranz wird unsere Schuld jedenfalls nicht vermindern.

Das neue Gesetz kann all den vielen Millionen Menschen, die einst lernen mussten, Grausamkeit und Brutalität als normal zu bezeichnen, und die ihre Kinder daher nicht achten können, wie ein Rotlicht helfen, sich zu orientieren und die Gefahr wahrzunehmen. Es kann ihnen signalisieren: „Halt! Was Du jetzt so leicht, so ’spontan‘, so ‚automatisch‘ tun willst, ist absolut unzulässig, weil es erwiesenermaßen lebenslange Schäden bewirkt, weil es Dein Kind zum seelischen Krüppel macht. Du zerstörst lebenswichtige Funktionen eines sich im Wachstum befindenden Menschen: seine Gefühle, seine Fähigkeit, sich aufgrund seiner Gefühle zu orientieren, sein Bewusstsein, sein Vertrauen zu anderen und zu seinen Wahrnehmungen, seine Lebensfreude. Du zerstörst oder pervertierst seinen gesunden Sinn für das, was richtig und gut ist, seine Fähigkeit, sich einzufühlen, Schwächere (d.h. später seine Kinder) zu achten und zu beschützen – all die Fähigkeiten, die er seinem biologischen Auftrag verdankt. Denn dieser heißt, zu leben und das Leben zu beschützen, es nicht zu zerstören.“

Glücklicherweise wächst heute die Zahl der Eltern, die diesem Auftrag gerecht werden wollen und ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie sich informieren. Auch sie werden Fehler nicht immer vermeiden können. Aber sie sind entschlossen, sich für diese bei ihrem Kind zu entschuldigen, um es nicht zu verwirren, d.h. es niemals nach dem Muster der „Schwarzen Pädagogik“ glauben zu machen, dass die eigenen Fehler für das Kind „gut seien“. Ihnen wird das neue Gesetz ebenfalls helfen, ihre Wahrnehmungen und Ahnungen ernst zu nehmen und ihren Kindern beizustehen. Es wird die Bedingungen für eine besser aufgeklärte und daher humanere und friedlichere Welt schaffen.

aus: DER NAGEL 54/1992

 

NAGEL-Redaktion: Der Artikel wurde uns 1992 vom Suhrkamp Verlag und Alice Miller zur Veröffentlichung im NAGEL zur Verfügung gestellt.

In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weist 2004 darauf hin, dass Züchtigungen in Familien deutlich zurückgegangen seien. Dazu hat gewiss nicht nur eine inzwischen geänderte Gesetzeslage beigetragen, sondern auch Menschen wie Alice Miller. Ein Treppenwitz der gesetzlichen Entwicklung soll hier allerdings festgehalten bleiben: Viele Jahre lang wurde zur Veränderung des BGB diskutiert. Kinderschutzbund und andere verlangten eine Präzisierung des Paragraphen 1631 in seinem zweiten Satz hieß es bis 1996: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“ Quasi: „Schlechtes Wetter finden wir ziemlich blöd.“

Die seinerzeitige Kohl-Regierung brachte dann die Veränderung: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Es besteht der Verdacht, dass Eltern möglicherweise durch eine solche Präzisierung unter das Kuratel ihrer Kinder geraten könnten. Von daher wurde noch ein dritter Absatz angehängt: „Das Familiengericht hat Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.“ Kinder bleiben außen vor! Sie haben nach wie vor allenfalls die Möglichkeit, über den Umweg des KJHG Möglichkeiten zu finden, sich unerträglichen Eltern zu entziehen. Ein langer Weg!

Und hier die Pointe des Treppenwitzes: Manche erinnern sich noch an Claudia Nolte, Kohls jüngste Ministerin, jünger als Angela Merkel in ihren Mädchen-Tagen, zuständig für das Ressort Familie und Kinder. Sie plapperte in der Presse am 30. Juni 1996, also einen Tag, bevor die Gesetzesnovelle in Kraft trat, sie würde trotzdem ihr Kind schlagen. Unter dem Thema „Die Hand ausrutschen“ gab sie an:: „Ich glaube, ein Klaps auf den Po muss schon mal sein. Aber niemals ins Gesicht, und niemals im Affekt!“ Wie Alice Miller schon sagte: Kühl kalkuliert und wohl geplant! Ein echtes Vorbild, gewissermaßen!

Die Schröder-Regierung hat dann eine erneute Präzisierung vorgenommen. Seit 2001, infolge des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt“ lautet der zweite Absatz des Paragraphen 1631 im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Endlich wurde auch erkannt, dass es „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen“ gar nicht geben kann. Wenn wir schon nicht „antipädagogisch“ denken und, wie Gerichte es tun, der Pädagogik lediglich hehre Absichten unterstellen, kann Entwürdigung schlicht kein Programm sein, Frau Nolte, Sie Klapserin!

Aber auch Schröders Regierung hat nicht den Mumm ? vielleicht findet sie es auch nicht wichtig oder sie wurde von einer Clique von Psychotherapeuten bestochen, wer weiß es schon? ?, den dritten Absatz dahingehend zu nivellieren, dass das Familiengericht Eltern und Kinder zu unterstützen hat.

Für Nichtfachleute zitieren wir hier noch den ersten Absatz des Paragraphen 1631: „Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.“

Und abschließend: Die Schröder-Leute haben 2001 die „Pflicht“ vor das „Recht gestellt“.

NAGEL-Redaktion, im August 2004

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NAGEL-Redaktion – 10. Kinder- und Jugendbericht

Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen 
in Deutschland (1998)

Von Rainer Deimel

Thema: „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“

„Die sehr allgemein gehaltenen Empfehlungen richten sich im wesentlichen an die Kommunen … Der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung kommt … steigende Bedeutung zu … Die Bundesregierung sieht … als wünschenswert an, die kinderbezogenen Angebote wie unter anderem Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze, musikalische Früherziehung, Kinder- und Jugendkunstschulen, Kinder- und Jugendtheater, Kinderkinos, Kindermuseen, Spielmobile flächendeckend zu verstärken … Die Bundesregierung stimmt der Kommission zu, wenn sie feststellt: ‚Im Stadtteil, in der Region ist es möglich, integrierte Gesamtkonzepte zu verwirklichen, die den unterschiedlichen Bedarf berücksichtigen und von den Bedürfnissen der Kinder ausgehen.'“

Vorstehende Auszüge sind der Stellungnahme der alten Bundesregierung entnommen, die diese zum Thema „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“ abgegeben hat. Deutlich wird eine Argumentationslinie, die in den vergangenen Legislaturperioden bezüglich der Kinder- und Jugendpolitik kennzeichnend für die Kohl-Administration war: „Wir beschließen feine Gesetze, nur bezahlen müssen andere.“ So ist es denn auch Wunder, dass die Kommission immer wieder feststellen muss, dass in unzureichendem Maße Mittel bereitgestellt würden: Sie konstatiert, dass die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Mittel bei weitem nicht ausreichen (vgl. S. 230). Oder sie beruft sich auf THOLE (vgl. S. 224), der gar von einer „ökonomisch katastrophalen Gesamtlage“ spricht, die in ihrer Auswirkung dazu führe, dass die Kommunen darauf bedacht seien, ihre Haushalte dadurch zu entlasten, dass sie vor allem an jenen Leistungen zu sparen versuchten, welche gesetzlich nicht (detailliert) festgeschrieben, dementsprechend finanziell mangelhaft ausgestattet seien und von einer festen Etatisierung ausgegrenzt blieben. Wir erleben es auch in der Argumentationspraxis vor Ort: Trotz anderslautender Gesetzesgrundlage scheint den kommunal Verantwortlichen der wenig korrekte Begriff der „freiwilligen Leistungen“ nur allzu leicht über die Lippen zu gehen. Auch diese These findet ihre Bestätigung im 10. Kinder- und Jugendbericht (vgl. z.B. S. 223). Die Autoren des Kinder- und Jugendberichts bestätigen meine vorgetragene These, dass die Argumentation für die in den letzten 25 Jahren entwickelten Konzepte der Offenen Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit insofern schwieriger geworden ist, als es kaum noch fachliche Reibungspunkte gibt, ein Diskurs somit nicht mehr stattfindet. PolitikerInnen jedweder Couleur stimmen genannten Konzepten unisono – zum Teil mit unübersehbarer Vehemenz – zu. Der 10. Kinder- und Jugendbericht spricht von „breiter Zustimmung zur Arbeit mit Kindern und zur Kinderkulturarbeit sowie zu ihren Leistungen für das Aufwachsen von Kindern.“ (vgl. S. 230) Diskursvermeidend ist der lapidare Verweis auf nicht vorhandene öffentliche Mittel, um sich die gesetzlich vorgeschriebenen – und, wie erwähnt, oft „freiwillig“ genannten – Leistungen noch „erlauben“ zu können. Hier schließt sich der Kreis. Eben jene Bundesregierung muss für die genannte Situation zumindest mitverantwortlich gemacht werden. Immerhin hat sie in keiner Weise dazu beitragen, ihren Teil zur Konsolidierung der Haushalte unterhalb der Bundesebene zu leisten; im Gegenteil hat sie solche Steuern abgebaut, an denen zuvor die kommunalen Haushalte partizipierten.
Diese Zusammenhänge sind möglicherweise komplizierter als die augenscheinlich zunehmende Verarmung von Kindern, die der Bericht ebenfalls aufzeigt. Die frühere Familienministerin Nolte war wohl deshalb auch bemüht, letztgenannte Zusammenhänge schönzureden, da diese immerhin im populistischen Sinne besser genutzt werden können, während die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe eher die Fachwelt berühren, auch wenn die EndverbraucherInnen, nämlich Kinder und Familien, ummittelbare Auswirkungen dieser kinder- und familienfeindlichen Politik zu spüren bekommen. Immerhin liegt mir ein Schreiben von Frau Noltes Vorgängerin, Angela Merkel, vor, in dem diese mitteilen lässt, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe keineswegs als „freiwillig“ interpretierbar sind.
Die fachlichen Positionen, die die Verbände der Offenen Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit in den letzten Jahren entwickelt und vertreten haben, finden z.T. auf breiter Ebene Bestätigung durch den Kinder- und Jugendbericht. Im nachfolgenden soll versucht werden, einige Inhalte, die die Kommission unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Lothar Krappmann (Berlin) und unter der Geschäftsführung des Deutschen Jugendinstituts (München), mit großer Akribie zusammengestellt hat, nachzuskizzieren.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema „Partizipation“ – auch im einfordernden Sinne – durch den Bericht. Das gilt auch für das hier zur Diskussion stehende Kapitel „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“. Der Bericht beschreibt einmal mehr den Wandel der Kindheit in den letzten Jahr(zehnt)en: Aktivitäten von Kindern sind – auch – nach außen gerichtet. Dabei geht es weniger um das Außenspiel, wie es etwa vor zwanzig bis dreißig Jahren noch üblich war, als vielmehr um das Bedürfnis, sich in organisierten Zusammenhängen betätigen zu können. Man denke beispielsweise an das gern kolportierte (Vor-)Urteil, Kinder in ländlichen Gebieten brauchten keine organisierten Angebote; sie spielten im Wald. Vor diesem Hintergrund sind die Kinder- und Jugendarbeit wie die Kinderkulturarbeit in besonderem Maße gefordert, wenn „das Feld“ nicht ausschließlich dem Kommerz überlassen werden soll. Es gibt auch Kinder, die sich in mehr oder weniger festen Peergroups aufhalten und wechselnde Treff- und Betätigungsmöglichkeiten suchen. Differenziert werden muss auch nach Altersstufen: je älter die Kinder, um so größer der offenkundige Wunsch nach vielfältigen Aktionsradien; jüngere hingegen sind eher auf feste „Anlaufstationen“ angewiesen. Feststellbar ist allerdings auch, dass hier ein Wandel stattfindet. In zunehmendem Maße „kopieren“ jüngere Kinder die älteren, sprich, das „typische“ Freizeitverhalten der Postmoderne wird mit steigender Tendenz von jüngeren Kohorten übernommen; zumindest ist dieser Trend erkennbar. Auffallend ist auch, dass viele Kinder in Vereinen organisiert sind (in Westdeutschland 70 Prozent, in Ostdeutschland 50 Prozent bzw. 80 Prozent aller Kinder laut Deutschem Jugendinstitut). Daraus können allerdings keine Rückschlüsse auf ein tatsächliches Vereinsengagement gezogen werden; Kinder nutzen Vereine als Freizeitmöglichkeit. Auf das zunehmende Interesse an kommerziellen Angeboten wird in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen, auch auf deren Konkurrenzeffekte, Grenzen und ggf. Gefährdungen.

Im institutionalisierten Rahmen lässt sich Arbeit mit Kindern innerhalb der Kinderverbandsarbeit, die oft ein Anhängsel der Jugendverbandsarbeit darstellt, der Offenen Arbeit und der Kinderkulturarbeit ausmachen. Der Bericht zeigt auf, dass Kindern in der Verbandsarbeit keine besondere Bedeutung zukommt und die Arbeit mit Kindern nur einen geringen Stellenwert hat. Beschrieben wird ferner, dass die Angebote der Verbandsarbeit vor allem für ältere Kinder wenig attraktiv seien. Dementsprechend wird gefordert, „ein den veränderten Anforderungen angepasstes pädagogisches Konzept für die praktische Arbeit zu entwickeln“ (S. 221). Dass dies nicht für alle Verbände gleichermaßen zutrifft, wird anhand der Beispiele der „Sozialistischen Jugend Deutschlands (SJD) – Die Falken“ und der „Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG)“ beschrieben. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass diese beiden genannten Verbände eine lange Tradition in der Arbeit mit Kindern haben und so in der Lage waren, sich den diversen Strömungen der pluralistischen Postmoderne zu stellen und ihre Konzepte anzupassen. Neben diesen – im Sinne der Kinder – positiven Beispielen wird allerdings darauf hingewiesen, dass eine Reihe von Verbänden Kinder weitgehend unberücksichtigt lässt. So ist es nicht erstaunlich sein, dass trotz genannter hoher Organisationsquote (Stichwort: punktuelle Freizeitbetätigung in einem Verein) die Mitgliederzahlen der Jugendverbände rückläufig sind; eine Ausnahme bilden die Sportvereine. Vermutlich sind es die Sportvereine, die im wesentlichen den hohen Durchschnitt kindlicher Präsenz innerhalb der Vereine bewirken. Unter dem Strich scheinen kleine, quartiersbezogene Jugendhilfeträger – z.B. solche aus dem Initiativenbereich unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – gegenüber den traditionellen Verbänden deutlich an Attraktivität gewonnen zu haben. Jedenfalls bescheinigt ihnen der Bericht, sie bekämen eine immer größere Bedeutung. Ebenfalls wie ein roter Faden durchzieht den Bericht eine unübersehbare Disparität bezüglich der Teilhabe von ausländischen TeilnehmerInnen; dies gilt auch für die Arbeit zahlreicher Jugendverbände: interkulturelle Ansätze spielten kaum eine Rolle. In den Jugendverbänden gebe es zwar eine breite Diskussion über die veränderte multikulturelle Realität, es fehle jedoch noch die Umsetzung in die Praxis (vgl. S. 222).

Mit Blick auf die Offene Arbeit mit Kindern kann festgestellt werden, dass sie im Schatten der Jugendarbeit steht und sich bis heute als „ein eher randständiges Gebiet … mit wenig eigenständigen pädagogischen Elementen“ präsentiert (vgl. S. 222). Die Kommission zitiert von SPIEGEL (1997): „Spielen und Basteln, kulturelle Angebote, ein offener Bereich mit Kicker, Billard und Tischtennis, Kindercafé und Kinder- beziehungsweise Teeniedisco – alles wie gehabt.“ (S. 222 f, vgl. auch Originalquelle: Hiltrud von Spiegel: Offene Arbeit mit Kindern – (k)ein Kinderspiel, Münster 1997, S. 54). Im Original vertritt von SPIEGEL die Auffassung, die Struktur der Offenen Arbeit mit Kindern in den Jugendfreizeitstätten sei weitgehend identisch mit der der Offenen Jugendarbeit. Demgegenüber weist die Kommission auf „bemerkenswerte kinderbezogene Angebote“ hin (vgl. S.223); genannt werden Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze sowie Kinderbauernhöfe. Allerdings, so wird einschränkend vermerkt, gebe es diese Angebote nicht flächendeckend. Vor diesem Hintergrund kann der einleitend zitierte Wunsch der Bundesregierung, diese kinderbezogenen Einrichtungen Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze flächendeckend zu verstärken, eingeordnet werden. Eine vergleichbare „Kinderbezogenheit“ innerhalb der Offenen Arbeit wird den Ferienfreizeiten bescheinigt, die häufig als internationale Begegnungen konzipiert sind. Der Bericht führt wörtlich aus: „Bei Ferienangeboten und Abenteuerspielplätzen scheinen sich am ehesten originäre kinderspezifische Angebote entwickelt zu haben.“ (S. 223) Die Einrichtungen der Offenen Arbeit mit Kindern, vor allem solche im jeweiligen Stadtteil, werden als „notwendig“ klassifiziert; sie übernehmen eine Funktion als Anlauf- und Stützpunkte, „in denen Spiel- und kulturelle Gestaltungsmöglichkeiten, Gelegenheiten zum kommunikativen Austausch angeboten werden … unabhängig vom Elternhaus, formaler Organisiertheit und vom sozialen Milieu“ (S. 223). Die Kommission betont, dass auch Zuwanderer- und Aussiedlerkinder – im Gegensatz zu zahlreichen Jugendverbänden – in besonderem Maße Zugang zu den Offenen Einrichtungen fänden. Gleichwohl wird kritisch vermerkt, dass auch hier Nachbesserungsbedarf hinsichtlich der Konzeptionen einer interkulturellen Öffnung feststellbar sei. Dieses Konzept ginge nämlich dann nicht auf, wenn etwa aufgrund der Dominanz türkischer Jungen andere Kinder fortblieben.

Mit Blick auf die Kinderkulturarbeit muss gesehen werden, dass die kommunale Realität weit hinter den Ansprüchen, die sich einerseits aus dem § 11 KJHG und andererseits aus dem Artikel 31 der UN-Kinderkonvention ergeben („volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben“), zurückbleibt (vgl. S. 223). Gerade bezüglich der Kinderkulturarbeit wird mehr noch als in den anderen Bereichen der Arbeit mit Kindern seitens der Kommunen mit dem Hinweis der „freiwilligen Leistungen“ argumentiert; auch dies unzutreffenderweise, wie meiner Einleitung entnommen werden kann. Vor diesem Hintergrund scheint nachvollziehbar, „dass zwar … seit den 80er Jahren die Kinderkulturarbeit ausgebaut worden (ist); gleichzeitig sind jedoch die Angebote kleiner Einrichtungen mit flexibler Struktur deutlich zurückgegangen.“ (S. 223) Aus dieser Feststellung lässt sich schließen, dass in Zeiten knapper werdender Kassen eine Kommune in der Regel mehr Wert auf den Erhalt vermeintlich vorzeigbarer Prestigeobjekte legt, als dass ihr tatsächlich daran gelegen ist, dem Geist und der Intention des KJHG und der UN-Kinderkonvention zu entsprechen. Eine Anmerkung sei in diesem Zusammenhang gestattet: Aufgrund meiner Erfahrungen in und meines Verständnisses von den als „am ehesten originär kinderspezifisch“ klassifizierten Einrichtungen und Diensten, den pädagogisch betreuten Spielplätzen, kann gesagt werden, dass vor allem bei diesen die Grenzen zwischen Offener Arbeit und Kinderkulturarbeit fließend sind, dass genannte Einrichtungen in der Regel auch Einrichtungen der Kinderkulturarbeit sind; dies gilt in besonderem Maße auch für die meisten Spielmobile.

Bezüglich der Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit wird den Aspekten regionaler Disparitäten und gruppenspezifischer Benachteiligungen ein unübersehbares Augenmerk eingeräumt. Die Kommission hebt darauf ab, die monierten Missverhältnisse bezüglich der unterschiedlichen Alterskohorten nähmen sich im Vergleich zu regionalen Disparitäten relativ gering aus. Hier wird beispielsweise abgezielt auf Kinder in Ostdeutschland. Ganze Einrichtungslandschaften, die zu DDR-Zeiten noch existierten, seien weggebrochen und teilweise kommerzialisiert worden. Am meisten von der Unterversorgung betroffen seien die Kinder aus den unteren Schichten und auf dem Land; im Vergleich zu Westdeutschland allerdings sei die Versorgung der Landkreise mit Jugendzentren günstiger. Ob die Kinder davon profitierten, sei allerdings ungeklärt. Kritisiert wird die „schnelle und partiell zu wenig reflektierte Übernahme westdeutscher Strukturen“, die zu einer Zerstörung bzw. Beschädigung ehemals vorhandener Potentiale geführt habe. Gewisse Kuriosa fallen auf: Gab es zu DDR-Zeiten eine Verzahnung von schulischen und außerschulischen Angeboten, ist man heute zum Teil dabei, die zerstörten Strukturen vergleichbar wiederherzustellen. Die Kommission schlägt vor, ehemals vorhandene Strukturen zu reaktivieren und gezielt zu fördern (vgl. S. 224). Kritisiert wird neben einer generell unzureichenden Finanzausstattung der ostdeutschen Kommunen auch die Praxis der Vergabe von Projektmitteln, befristeten Förderprogrammen und ABM. Eine Verbesserung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wäre zu erwarten, wenn eine strukturelle Absicherung stattgefunden hätte und die Arbeit mit Kindern professionell ermöglicht würde.

Auf Gesamtdeutschland bezogen ist die Unterversorgung in bestimmten Wohngebieten signifikant. Hierunter fallen in den Innenstadtlagen vor allem großstädtische Wohngebiete aus der „Gründerzeit“, traditionelle „Arbeiterviertel“, „frühindustrielle Arbeiterkolonien der Schwerindustrie“ und solche Wohngebiete, die seitens der Praxis schon länger als sogenannte „soziale Brennpunkte“ markiert werden, nämlich die Trabantensiedlungen der 60er und 70er Jahre. Kennzeichnend für alle betroffenen Gebiete ist eine hohe Quote an Zuwanderern, Aussiedlern, Sozialhilfeempfängern, kurz: materiell Minderbemittelten. Häufig wird in diesem Zusammenhang der Begriff „sozial Benachteiligte“ als Synonym verwandt. Da dieser meines Erachtens ein aktives Beteiligtsein am beschriebenen gesellschaftlichen Defizit impliziert, gesellschaftliche Realitäten möglicherweise ausblendet, scheint seine Verwendung nicht selten unzureichend. Es könnte es allerdings sinnvoll sein, diejenigen als „sozial Benachteiligte“ zu definieren, die aufgrund ihres wirtschaftlich unzureichenden Status obendrein noch durch das jeweilige Gemeinwesen am schlechtesten versorgt sind. Ein Merkmal davon ist beispielsweise eine Wohnsituation, wie sie oben als „benachteiligt“ dargestellt wird. Die Kommission beruft sich auch auf die sogenannte Freiburger Studie von BLINKERT (1996). Deren Kernaussagen lassen sich mit folgenden Thesen zusammenfassen: Kinder wollen draußen spielen. Je besser die nahräumliche Spielinfrastruktur ist, um so besser ist die Aktionsraumqualität entwickelt und umgekehrt; je weniger die Aktionsraumqualität ausgeprägt ist, um so weniger haben Kinder die Gelegenheit, sich in sozialräumlichen Zusammenhängen zu sozialisieren. Der Kinder- und Jugendbericht setzt sich mit Nachdruck für „organisierte Angebote“ ein und führt weiter aus: „In den unterversorgten Wohngebieten sind nachhaltige Änderungen notwendig. Der Unterversorgung mit organisierten oder veranstalteten Freizeitgelegenheiten muss kleinräumig im Stadtviertel begegnet werden. Dafür müssen Einrichtungen für Kinder ohne zusätzlichen Transport (Anmerkung: etwa durch „Mütterfahrdienste“) zugänglich sein.“ (S. 224 f.)

Als unterversorgt gelten auch ländliche Gebiete. Wenngleich der Jugendverbandsarbeit auf dem Lande offenbar eine relative Stabilität zukommt (Messindikator sind die Mitgliederzahlen), so besteht bezüglich der Arbeit mit Kindern ein „Vakuum“ (vgl. S. 225). Auf dem Lande ist ferner eine klassische Dominanz männlicher Jugendlicher zu konstatieren: Jugendarbeit auf dem Lande „richtet sich vorwiegend an Jungen und sie blendet den geschlechtlichen Aspekt ihrer Arbeit aus oder reflektiert ihn nicht“ (S. 225). Kinderkulturarbeit scheint auf dem Lande keine nennenswerte Rolle zu spielen. Insgesamt wird ein erheblicher Nachbesserungsbedarf – wie bereits auch schon im 8. Jugendbericht (1990) geschehen – bezüglich der Kinder- und Jugendarbeit in ländlichen Gebieten gesehen. Indirekt fordert der Bericht eine stärkere Präsenz von Spielmobilen, wenn er aufzeigt, die Mobilität müsse verbessert werden und zwar nicht nur die der Kinder, sondern auch die der Anbieter.

Ein nicht unerhebliches Augenmerk richtet die Kommission vor dem Hintergrund gruppenspezifischer Benachteiligungen auf die Mädchen. Mit der dürren Feststellung „Jugendverbände sind Jungenverbände“ führt sie in das Kapitel ein (vgl. S. 225). Zwischen ostdeutschen und westdeutschen Mädchen gibt es Unterschiede, z.B. scheint der Aktionsradius ostdeutscher Mädchen größer zu sein und besonders in Westdeutschland zeigt sich, dass geschlechtsspezifische Differenzen um so größer sind, „je tiefer die Sozialschicht und je niedriger die Schulkarriere ausgelegt ist. Besonders groß ist sie bei einem Teil der Mädchen ausländischer Herkunft.“ (S. 226) Es folgen Hinweise auf die Bemühungen von Frauen, zum Teil feministisch intendiert, dieser auf Dauer unhaltbaren Situation zu begegnen. Dokumentiert ist eine Reihe von Beispielen der Mädchenarbeit. Wenngleich das Freizeitverhalten von Mädchen – im Vergleich zu männlichen Aktivitäten und Möglichkeiten – als defizitär bewertet wird, wird den Mädchen unter dem Aspekt postmoderner Erfordernisse die überlegenere Position eingeräumt, „da die eher verinselte Lebensweise zu einem Gewinn an individueller Autonomie führen kann und die bei Mädchen stärker sozialisierten Fähigkeiten zur Kommunikation, zur Planung und zur Herstellung von Kontakten eher einer modernen Kindheit zuzuordnen sind“ (S. 226). Bemerkenswert scheint mir – neben einer ganzen Reihe anderer aufgezeigter Möglichkeiten – der Vorschlag, speziell für Mädchen Abenteuerspielplätze zu errichten bzw. auf vorhandenen Plätzen gezielt Möglichkeiten der geschlechtsspezifischen Sozialisation zu installieren.

Bedauerlich ist, dass der Bericht das Thema „reflektierte Arbeit mit Jungen“ ausspart, hätte sich in dessen Thematisierung gewiss die Chance einer stärkerer Stimulans jungenspezifischer Ansätze geboten; kann doch in praxi davon ausgegangen werden, dass mädchenspezifische Benachteiligung um so besser reduziert werden kann, je ausgeprägter eine Kultur reflektierter Jungenarbeit entwickelt ist.

Auffällige Disparitäten zeigt der Bericht bei den Zuwandererkindern, denn es wird deutlich, dass Kinder nichtdeutscher Herkunft in den Einrichtungen und Aktivitäten deutlich unterrepräsentiert sind. Statistiken verfälschen offenbar die Darstellung der Alltagssituation, etwa indem „reine Ausländergruppen“ addiert werden. Dass in allen existierenden Arbeitsfeldern beispielsweise Aktionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus stattfanden und -finden, wird ausdrücklich gewürdigt. Moniert werden allerdings fehlende bzw. unzureichend umgesetzte interkulturelle Konzeptionen und Praxen. Dies bezieht ausdrücklich auch die – „deutschorientierte“ – Personalpolitik der Träger mit ein. Ein Merkmal der Kinder- und Jugendarbeit, das interkulturelle Arbeit erschwert, scheint eine gewisse Resignation in den Praxisfeldern zu sein. Um dieser zu entgehen, müsste eine offensiv interkulturelle Öffnung dahingehend stattfinden, dass unterschiedliche Werte und Lebensweltkonzepte nebeneinander und zueinander in Beziehung stehend integriert würden. Der Bericht nimmt Bezug auf die Darstellung konzeptioneller Grenzen, die beispielsweise genannte Resignation hervorriefen. Dass „es eine interkulturelle Öffnung der Einrichtungen bisher noch nicht einmal ansatzweise gegeben“ haben soll, macht ein wenig ratlos (vgl. S. 228). Der Intention, wahrnehmbarer zu machen, dass sich in Deutschland eine „multikulturelle und multiethnische Gesellschaft“ herangebildet hat, kann etwas abgewonnen werden. Die Lösungsvorschläge allerdings sind nur bedingt in der Lage, kurzfristig zu Lösungen zu kommen. An einem Lösungsprozess, sprich: echten interkulturellen Konzepten, müsste die Politik maßgeblich beteiligt sein. Solange in populistischer Manier völlig überzogen über „Gastrecht“ in einem Land, vom „Boot, das voll ist“ usw. diskutiert wird, wird es die Praxis schwer haben, sich aus ihrer Resignation und aus ihrem Grenzerleben heraus zu entwickeln. Gewürdigt werden muss außerdem, dass interkulturelle Aushandlungsprozesse immer eine Aufgabe mehrerer und nicht von einer oder zwei Generationen sind. Diese Erfahrung hat Deutschland schon mehrfach machen können. Dass Finanzmittel in die Jugendhilfepläne zugunsten des interkulturellen Anliegens eingestellt werden sollen, wie es der Kinder- und Jugendbericht fordert, scheint zumindest sinnvoll.

„Die einzigen Behinderten, die es hier gibt, sind die Betreuer.“ So lautete der provokative Titel einer Broschüre zum Thema Integration behinderter Kinder in die Offene Arbeit, die der ABA Fachverband bereits 1990 herausgegeben hat. Der genannte Titel resultierte aus einer Antwort auf die Frage nach der Anwesenheit von Behinderten in einer Einrichtung der Offenen Arbeit, die seinerzeit einem Betreuer gestellt wurde. Folgt man dem 10. Kinder- und Jugendbericht, scheint sich an dieser Situation bis heute nicht viel geändert zu haben. Die perspektive-orientierten Ausführungen des Berichts lassen sich mit einem Zitat auf den Punkt bringen: „Im Freizeitbereich stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob separate oder integrative Formen für behinderte Kinder angemessen sind, sondern es geht darum, wie integrative Formen flächendeckend eingeführt werden können und welche Bedingungen dafür geschaffen werden müssen.“ Wie vor einem knappen Jahrzehnt vom ABA Fachverband betont, muss in erster Linie der Aspekt der Integration wesentlich aktiver und reflektierter in jede konzeptionelle Überlegung einfließen. Zusätzlich fordert der Kinder- und Jugendbericht eine Verstärkung integrationsfördernder Ressourcen (Personal, Qualifizierung, Mittel, reflektierte Barrieren usw.)

Ebenso geht der 10. Kinder- und Jugendbericht auf die Angebotsentwicklung, Partizipation, die Personalstruktur sowie Förderung und Förderpolitik künftiger Entwicklungsbereiche ein. Die Kommission vertritt die Auffassung, ein allgemein gültiges – „fertiges“ – Konzept für die Arbeit nach Kindern gebe es nicht (Stichwort: Vielfalt) (vgl. S. 229). Es wird auf die Schwierigkeit beim Erstellen des Berichts hingewiesen, überhaupt Dokumente zu bekommen; vieles sei unveröffentlicht. Man konstatiere das Bemühen der Praxis, innovativ orientierte Konzepte zu entwickeln. Eine Innovationsbereitschaft der Verbände und Einrichtungen sei erkennbar, tatsächliche Veränderungen seien allerdings z. Zt. nur unzureichend. Man könne davon ausgehen, dass jüngere Kinder eher stabile Zusammenhänge (organisierte Gruppen), ältere hingegen erlebnis- und aktionsorientierte Kontakte suchten (Anmerkung: Solche bieten z.B. gerade für diese Altersgruppe Abenteuerspielplätze und Kinderbauernhöfe an. Denkbar wäre auch, dieses Angebot z.B. durch nicht-kommerzielle Aktionshallen mit einer Vielfalt grobmotorischer Möglichkeiten zu erweitern. In diesem Zusammenhang sollen Möglichkeiten, die im Kontext und Konzept „Erlebnispädagogik“ entwickelt wurden, nicht verschwiegen werden. Neben einschlägig bekannten Stellen und Organisationen hat der ABA Fachverband 1998 damit begonnen, einen Teil der erlebnispädagogisch orientierten Projekte auf einer fachlichen Ebene zusammenzuführen). Ältere Kinder suchten darüber hinaus bei den Einrichtungen auch Hilfe und Beratung. Dieses macht einmal mehr den Aspekt professionellen Personals deutlich. In der Praxis fehlten für die verschiedenen Altersgruppen und deren jeweilige Bedürfnislagen differenzierte pädagogische Konzepte. „Notwendig ist, der Lebenswelt der Kinder, die sich in der lokalen Umwelt konstituiert, entsprechende Aktivitäten – und das mit den Kindern gemeinsam – zu initiieren.“ (S. 229)

Hier schließt sich dann der Kreis mit Blick auf die geforderte Partizipation von Kindern. Die Kommission beruft sich dabei unter anderem auf das KJHG. Aus den §§ 80 (Jugendhilfeplanung), 8 (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen) und 9 (Berücksichtigung der selbstdefinierten Bedürfnisse Minderjähriger) wird eine Verpflichtung auf ein persönliches Mitspracherecht abgeleitet (vgl. S. 229). Mit Blick auf die Jugendverbände wird festgestellt, Mitbestimmung beschränke sich in den Verbänden zumeist auf die jeweilige konkret zu gestaltende Situation, sei darüber hinaus nicht vorgesehen, wenn man einmal von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken absehe, wo eine als politisch verortete Partizipation konzeptionell und pragmatisch integriert sei. Eine politische Interessenvertretung für Kinder werde zumeist von – oft vermutlich gar älteren – Erwachsenen vorgenommen. Der Begriff „demokratische Spielweise“ (S. 230), der in diesem Zusammenhang genutzt wird, spiegelt das, was in der Praxis dann auch häufig als Interessenvertretung mit Alibicharakter vorgefunden wird. Von den beanstandeten Mängeln um so mehr betroffen sind die o.a. diversen unterversorgten Gruppen.

Zu kurz greifen die Ausführungen des Berichts unter dem Titel „Personalstruktur“, beschränken sie sich doch ausschließlich – und dies in äußerst knapper Form – auf das Ehrenamt. Ehrenamtlichkeit sei rückläufig und mittlerweile primär vor dem Hintergrund, ob man persönliche Gewinne aus ihm ziehen könne, entwickelt. Dies kann seit längerem durch die Praxis bestätigt werden. Immerhin ist gesellschaftliches Engagement auch ein Reflex auf gesellschaftliche Zustände. Wo der „Ellbogen regiert“, kann nicht damit gerechnet werden, dass Bürgerengagement auf breiter Ebene entwicklungsfähig ist. Der Praxis in Verbänden und Einrichtungen hätte es vermutlich mehr genutzt, wenn deutlich geworden wäre, dass Ehrenamtlichkeit professioneller, hauptamtlicher Begleitung und Koordination bedarf. 

Die Analyse der Förderung und Förderpolitik bestätigt meine einleitenden Ausführungen: die Zustimmung zu den behandelten Feldern ist breit, die erforderlichen Mittel bei weitem unzureichend. Hinzu kommt, dass die „abschmelzenden Töpfe“ wenig bis keinen Spielraum hinsichtlich der Förderung neuer, sich ändernder Strukturen zulässt. Am Beispiel der augenblicklichen Umstrukturierung des nordrhein-westfälischen Landesjugendplans lässt sich dieser Zustand gut nachvollziehen. Gewisse Änderungen scheinen hier unter „schmerzhaften“ Prozessen möglich, geht es auf der einen Seite um die Absicherung und Weiterentwicklung bewährter Strukturen, auf der anderen Seite um die Neuberücksichtigung inzwischen gewachsener und von den Zielgruppen gewollter Inhalte und Räume.

Fünf Schwerpunkte, die sich unter „Perspektiven und Empfehlungen“ subsumieren, zeigt die Kommission auf. Im ersten Schwerpunkt sind dies Veränderungen, die im Zusammenhang zu den genannten unterversorgten Gruppen (Mädchen, Behinderte, Zuwandererkinder) als dringlich angesehen werden. Als zweites wird „die Schaffung eines größeren und flexibleren Angebots für Kinder“ (vgl. S. 231) als notwendig betrachtet, vor allem, was die unterversorgten Gebiete angeht. Der dritte Schwerpunkt thematisiert das Erfordernis, hauptberufliches Personal zu gewinnen, das den zu integrierenden Zuwanderergruppen selbst angehören soll. Viertens wird noch einmal auf die Bedeutung von Partizipationsmöglichkeiten hingewiesen. Empfohlen wird den Ländern ein Jugendfördergesetz, das – wie in Schleswig-Holstein – den Teilhabeaspekt festschreibt. Gleichermaßen sei in den Einrichtungen selbst das Programm am Bedarf der Kinder auszurichten. Angesprochen sind hier nicht irgendwelche Alibiveranstaltungen (Stichwort: demokratische Spielwiesen), vielmehr geht es um die Organisation des pädagogischen Alltags. Als letzten Schwerpunkt weist der Bericht auf die Notwendigkeit der Absicherung der Kinder- und Jugendarbeit generell hin. Die Dringlichkeit einer Vervollständigung des KJHG durch jeweiliges Landesrecht wird angemahnt; Kinder- und Jugendarbeit sei dem „Grunde nach zur Pflichtaufgabe“ (S. 231) zu erklären. In diesem Rahmen müsse „auch nach Umfang und Dauer über einen hinreichenden finanziellen Rahmen“ (S. 231) entschieden werden. Eine deutlich bessere Mittelausstattung auf allen Ebenen sei erforderlich.

Das Kapitel „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“ wird mit einem Exkurs „Zu einer sozialraumbezogenen Arbeit mit und von Kindern“ abgerundet. Es wird festgestellt, dass „die Angebote in der Region … selten aus der Sicht und von den Interessen der Kinder her geplant“ sind (S. 231). Im wesentlichen werden noch einmal zahlreiche der hier bereits behandelten Aspekte nachgezeichnet. Im Vergleich zu Einfamilienhaussiedlungen, die der Erkenntnis der Kommission zufolge über eine deutlich bessere Infrastruktur und damit über eine kindgerechtere Vielfalt verfügen, wird noch auf diverse Disparitäten und deren Veränderungsbedarf verwiesen. Es wird eine deutliche Abgrenzung gegenüber den – von der Praxis oft so erlebten – „Feuerwehr“-Programmen vorgenommen (nach dem Motto, wenn es irgendwo – im sozialen Brennpunkt – brennt, stellen wir rasch einen Container – „mobile Einheit“ – hin, setzen einen Sozialarbeiter hinein und der löst/löscht dann die Probleme/das „Feuer“).   „Die besondere kostenaufwendige Ausstattung muss allen Kindern im Stadtteil, in der Region zugute kommen.“ (S. 232).

Abschließend möchte ich den Blick auf anstehende Veränderungen von Planung insgesamt richten. Der Bericht führt dazu aus: „Arbeit mit Kindern und Kinderkulturarbeit als sozialräumlich bezogene Arbeit überwinden die Zersplitterung der kommunalen Planungen: Die Ressorts Verkehr, Wohnen, Soziales, Gesundheit u.a. werden danach befragt, was sie zur Verbesserung der Lage der Menschen, und namentlich der Kinder, in der Region, im Stadtteil leisten können; diese Leistungen werden dann von der Kommune, vom Land oder vom Bund abgefordert. Unterversorgte Zielgruppen müssen in der Jugendhilfeplanung entsprechend ihrem Anteil berücksichtigt werden bzw. es muss Rechenschaft darüber abgelegt werden, dass sie auch von den Aktivitäten profitieren. Eine kleinräumig angelegte Sozialberichterstattung und eine ebensolche Jugendhilfeplanung, welche die Kinder als eigene Gruppe berücksichtigen und nach Mädchen und Jungen, Kindern aus Zuwandererfamilien und deutschen Kindern, Kindern mit und ohne Behinderungen differenzieren, bilden die Planungsgrundlage. In die Planung eingehen müssen auch die vorhandene Infrastruktur und deren Defizite, die Wohnbedingungen der Kinder, die Familienkonstellation und die wirtschaftliche Lage der Familien. … Die freien Träger können sich mit ihren Angeboten einbringen.“ (S. 232)

Meines Erachtens kann das hier skizzierte Kapitel des 10. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung als Argumentationsgrundlage und konzeptionelle Orientierung gewinnbringend eingesetzt werden. Dass möglicherweise bevorstehende Auseinandersetzungen und Aushandlungen nicht leicht sein dürften, kann man sich unschwer vorstellen. PolitikerInnen auf allen Ebenen (Bund, Ländern und Gemeinden) werden sich – auch – an den hier eingeforderten Veränderungen, messen lassen müssen. Wenn ein fachlicher Diskurs – wie eingangs beschrieben – weder möglich noch erforderlich ist, was nach Kenntnisnahme der Ausführungen des Berichtes angenommen werden kann, hat der künftige Diskurs vor allem ein politischer zu sein. In den letzten Jahren gingen meine Verweise immer wieder in die Richtung, das Reden über Kinderfreundlichkeit an solche sei noch keine Kinderfreundlichkeit an sich. Eine kinderfreundliche Politik ist zunächst eine Ressourcenpolitik. Und die fragt mit Fug und Recht nach der Verteilung der Besitzverhältnisse. Jawohl, Kinderpolitik ist auch und vor allem eine Geldverteilungspolitik.

Vorstehender Beitrag wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998 – In das Internet eingestellt im Juni 2003.

Rainer Deimel ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

NAGEL-Redaktion – 10. Kinder- und Jugendbericht Read More »

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