Von Alice Miller
In einem langen Leserbrief an eine der größten deutschen Zeitungen, der im Dezember 1991 publiziert wurde, schreibt ein Dr. theol. unter dem Titel „Pauschalverbot von Körperstrafe bibelwidrig“ unter anderem folgendes:
„Als evangelischer Christ, Theologe und Vater von sechs Kindern sehe ich mich veranlasst, gegen die jüngste Gesetzesinitiative im Bundestag zum Verbot von ‚Prügeln, Ohrfeigen und Liebesentzug‘ entschieden Widerspruch anzumelden. … Wer jede Form von Körperstrafe unterschiedslos unter Strafe stellt, nivelliert den pädagogisch fundamentalen Unterschied zwischen Kindesmisshandlung und einer von klaren erzieherischen Grundsätzen geleiteten maßvollen körperlichen Züchtigung, die auf das Beste des Kindes zielt und nicht vom Affekt bestimmt ist. … Die Gesetzesinitiative der Kinderkommission greift in eklatanter Weise in das grundrechtlich geschützte elterliche Erziehungsrecht ein. … In der Sicht der christlichen Ethik ist der Vorstoß der Kinderkommission vollends verwerflich. Niemand kann bestreiten, dass das biblische Ethos aus grundsätzlichen Gründen körperliche Züchtigung bejaht, solange sie maßvoll ist und im Dienst erzieherischer Liebe steht (z.B. Hebräer 12, 6 – 11 und Sprüche Salomon 13, 24). Ein Staat, der christlichen Eltern jede Form von Körperstrafe verbietet, greift ein von Gott gegebenes, vorstaatliches Recht an und schränkt nicht nur das elterliche Erziehungsrecht, sondern auch die grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit ein!“
Der ungekürzte Text dieses Briefes wurde mir von einigen Lesern zugeschickt, die empört und beunruhigt darüber waren, dass die „Schwarze Pädagogik“ in dieser krassen und extremen Form heute immer noch öffentlich in einem angesehenen Blatt propagiert werden kann. Eine der Leserinnen stellte sich die Frage, wie es wohl möglich sei, dass dieser Vater von keinem seiner sechs Kinder etwas über Erziehung hätte lernen können, das über die Weisheit Salomos hinausginge. Ich meine, dass der vorliegende Text selbst die Antwort auf diese Frage enthält und uns auch indirekt zu verstehen hilft, weshalb sich ohne ein gesetzliches Verbot der Züchtigung kaum etwas Entscheidendes im Bewusstsein der breiten Bevölkerung ändern wird. Ich will meine Behauptungen im folgenden erläutern.
Ein von einem Auto tödlich verletzter Fußgänger ist tot, ganz unabhängig davon, wer ihn überfahren hat. Er wird nicht auferstehen, wenn es sich herausstellt, dass er nicht von einem fahrlässigen Betrunkenen oder einem gefährlichen Verbrecher, sondern von einer freundlichen kurzsichtigen Dame, ganz ohne böse Absicht, überfahren wurde oder gar von einem Philosophen oder Religionsfanatiker, der sich das Recht herausnimmt, die Rotlichter in der Stadt nach eigenem Gutdünken zu befolgen, und das Gebot, sie zu respektieren, als Meinungsdiktatur bezeichnet. Die Gefahr des verantwortungslosen Philosophierens und Handelns, gepaart mit schönklingenden Worten, besteht auch auf dem Gebiet der Erziehung. Das Verbot, Kinder zu schlagen, muss daher endlich, wie ein warnendes Rotlicht, zum Schutz unserer Kinder und der nachfolgenden Generationen eingeführt werden. Es besteht nämlich absolut kein Unterschied zwischen einer Züchtigung und einer Misshandlung. Jede Züchtigung ist nichts anderes als eine Misshandlung, weil sie die Integrität eines wachsenden Organismus verletzt und dadurch lebenslängliche, oft katastrophale Folgen hat. Dieser nachhaltige Schaden wird nicht dadurch vermindert, dass die Eltern nach ihrem „besten Wissen und Gewissen“ gehandelt haben, angesehen davon, dass dieses „Wissen“ sehr häufig hoffnungslos und unentschuldbar veraltet ist. Der Schaden bleibt bestehen, und die wohlmeinende Ahnungslosigkeit der Eltern wird daran ebenso wenig etwas ändern können wie die Philosophie des Autofahrers am Tod des Fußgängers. Daher ist es höchste Zeit, dass Eltern sich heute richtig informieren, statt im Namen der „erzieherischen Liebe“ die Bibel zu zitieren und sich auf unsere Vorfahren vor 3000 Jahren berufen, die unser heutiges Wissen über die Konsequenzen des Kinderschlagens und verbalen Demütigens leider noch nicht besaßen.
Keines der sechs Kinder konnte seinem Vater, dem Autor des oben zitierten Textes, helfen, die Wahrheit zu erkennen, weil alle, so steht zu vermuten, nach den von ihm so klar geschilderten Prinzipien erzogen wurden. Kinder, die gezüchtigt werden, können die Meinung ihrer Eltern nicht in Frage stellen, sie können sie nicht korrigieren, ohne die größten Gefahren oder gar das Leben zu riskieren. Sie sind daher zum Schweigen und zum Nicht-Merken verdammt. Sollten sie „ausfällig“ werden, drohen ihnen noch grausamere Strafen, also bleibt den meisten von ihnen nichts anderes übrig als Folgsamkeit und Anpassung, auf Kosten ihrer eigenen Kinder später und auf Kosten ihrer Gesundheit ? wenn ihnen nicht rechtzeitig „wissende Zeugen“ zu Hilfe kommen.
Das ist der Grund, weshalb die Überzeugung, dass körperliche und verbale Züchtigungen unschädlich und segensreich seien, immer noch so stark verbreitet ist: Sie wurde den meisten Menschen in den frühesten Jahren eingeimpft. Die Wahrheit zu realisieren, ist ohne Schmerzen kaum möglich, weil man zugleich realisieren müsste, dass man unnötig gequält und geschädigt wurde. Um diesen Schmerz nicht fühlen zu müssen, ziehen es viele Menschen vor, diese Wahrheit zu leugnen und weiter zu behaupten, die Züchtigung diene dem Wohle des Kindes und hätte auch ihnen selbst gute Dienste erwiesen. Sie berufen sich dabei auf die Bibel und ignorieren, was die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten entdeckt hat. Wollte man heute bei einer bakteriellen Entzündung die Entdeckung Pasteurs ignorieren, würde das als verantwortungslos gelten, aber Kinder zu schädigen, weil man sie getreu den Sprüchen Salomos erzieht und alles andere als bibelwidrig ablehnt, weil man sich nicht informieren will, ist immer noch erlaubt. Dieser Zustand muss sich so schnell wie möglich ändern. Nicht die Meinung, sondern die Information muss wie die Verkehrsregeln jedem Bürger mit Hilfe des Gesetzes aufgezwungen werden, weil die Weigerung, sich zu informieren, zerstörerische Folgen für die Mitmenschen hat.
Es ist nicht wahr, dass eine affektlose Züchtigung, angeblich zum Wohle des Kindes, weniger Schaden anrichtet als das Schlagen im Affekt. Zum körperlichen und seelischen Schmerz über die Demütigung kommt im ersten Fall die langzeitige, verheerende Wirkung der Heuchelei hinzu, die das Kind meistens nicht durchschauen kann, weil es die Eltern liebt und ihnen vertraut. Sie hinterlässt beim Opfer das absurde, aber sehr hartnäckige Gefühl, dass es an der Misshandlung selber schuldig gewesen sei und dass sein Verfolger ihm aus edelsten Gründen, aus „erzieherischer Liebe“, nichts anderes als ein Massaker bescherte. Diese verhängnisvolle Verwirrung, die eine spezifische Blindheit für offensichtliche Tatsachen erzeugt, lässt sich später kaum ohne tiefgreifende, aufdeckende Therapie auflösen und wird den Erwachsenen, das ehemalige Kind, dazu treiben, das Erfahrene zu legitimieren und es an Unschuldigen abzureagieren, ebenfalls mit der heuchlerischen Versicherung, dies geschehe ja nur zum Besten des Kindes. Natürlich kann sich der verdrängte latente Hass auch in verschiedenen nationalistischen Ideologien, in der Kriminalität, in Kriegen oder anderen Perversionen Luft machen, erneut versehen mit der Etikette der „Erlösung“ des anderen durch Unterdrückung und Zerstörung. Bei allen Diktatoren ist diese heuchlerische Etikette vorzufinden. Sie dient unter anderem der Tarnung der eigenen wahren Geschichte.
Wenn Eltern ihr Recht auf die Züchtigung ihrer Kinder reklamieren, dann reklamieren sie im Grunde, meistens unbewusst, das Recht, sich für das zu rächen, was ihnen einst angetan wurde, und was sie niemals als Verbrechen zu sehen wagen. Ein neues Gesetz würde das Verbrecherische der vergangenen Taten, an denen unsere Tradition reich ist, entlarven. Aber auch das wollen seine Kritiker nicht. Doch einmal muss die Kette der Gewalt endgültig durchbrochen werden. Wir leben in einer Tradition der Kindesmisshandlungen, doch die Mehrheit ist sich dessen noch kaum bewusst. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Kindermord verboten ist. Wir müssen das zerstörerische Handeln als das, was es ist, erkennen und uns davon distanzieren, statt es zu verharmlosen und zu perpetuieren ? wenn wir nicht am Unglück unserer Kinder und Kindeskinder aus purer Unwissenheit schuldig werden wollen. Wir sind nicht mehr wie im Mittelalter zur Ignoranz verdammt. Wir können sie zwar wählen, aber wir können sie auch ablehnen. Unsere Ignoranz wird unsere Schuld jedenfalls nicht vermindern.
Das neue Gesetz kann all den vielen Millionen Menschen, die einst lernen mussten, Grausamkeit und Brutalität als normal zu bezeichnen, und die ihre Kinder daher nicht achten können, wie ein Rotlicht helfen, sich zu orientieren und die Gefahr wahrzunehmen. Es kann ihnen signalisieren: „Halt! Was Du jetzt so leicht, so ’spontan‘, so ‚automatisch‘ tun willst, ist absolut unzulässig, weil es erwiesenermaßen lebenslange Schäden bewirkt, weil es Dein Kind zum seelischen Krüppel macht. Du zerstörst lebenswichtige Funktionen eines sich im Wachstum befindenden Menschen: seine Gefühle, seine Fähigkeit, sich aufgrund seiner Gefühle zu orientieren, sein Bewusstsein, sein Vertrauen zu anderen und zu seinen Wahrnehmungen, seine Lebensfreude. Du zerstörst oder pervertierst seinen gesunden Sinn für das, was richtig und gut ist, seine Fähigkeit, sich einzufühlen, Schwächere (d.h. später seine Kinder) zu achten und zu beschützen – all die Fähigkeiten, die er seinem biologischen Auftrag verdankt. Denn dieser heißt, zu leben und das Leben zu beschützen, es nicht zu zerstören.“
Glücklicherweise wächst heute die Zahl der Eltern, die diesem Auftrag gerecht werden wollen und ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie sich informieren. Auch sie werden Fehler nicht immer vermeiden können. Aber sie sind entschlossen, sich für diese bei ihrem Kind zu entschuldigen, um es nicht zu verwirren, d.h. es niemals nach dem Muster der „Schwarzen Pädagogik“ glauben zu machen, dass die eigenen Fehler für das Kind „gut seien“. Ihnen wird das neue Gesetz ebenfalls helfen, ihre Wahrnehmungen und Ahnungen ernst zu nehmen und ihren Kindern beizustehen. Es wird die Bedingungen für eine besser aufgeklärte und daher humanere und friedlichere Welt schaffen.
aus: DER NAGEL 54/1992
NAGEL-Redaktion: Der Artikel wurde uns 1992 vom Suhrkamp Verlag und Alice Miller zur Veröffentlichung im NAGEL zur Verfügung gestellt.
In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weist 2004 darauf hin, dass Züchtigungen in Familien deutlich zurückgegangen seien. Dazu hat gewiss nicht nur eine inzwischen geänderte Gesetzeslage beigetragen, sondern auch Menschen wie Alice Miller. Ein Treppenwitz der gesetzlichen Entwicklung soll hier allerdings festgehalten bleiben: Viele Jahre lang wurde zur Veränderung des BGB diskutiert. Kinderschutzbund und andere verlangten eine Präzisierung des Paragraphen 1631 in seinem zweiten Satz hieß es bis 1996: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“ Quasi: „Schlechtes Wetter finden wir ziemlich blöd.“
Die seinerzeitige Kohl-Regierung brachte dann die Veränderung: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Es besteht der Verdacht, dass Eltern möglicherweise durch eine solche Präzisierung unter das Kuratel ihrer Kinder geraten könnten. Von daher wurde noch ein dritter Absatz angehängt: „Das Familiengericht hat Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.“ Kinder bleiben außen vor! Sie haben nach wie vor allenfalls die Möglichkeit, über den Umweg des KJHG Möglichkeiten zu finden, sich unerträglichen Eltern zu entziehen. Ein langer Weg!
Und hier die Pointe des Treppenwitzes: Manche erinnern sich noch an Claudia Nolte, Kohls jüngste Ministerin, jünger als Angela Merkel in ihren Mädchen-Tagen, zuständig für das Ressort Familie und Kinder. Sie plapperte in der Presse am 30. Juni 1996, also einen Tag, bevor die Gesetzesnovelle in Kraft trat, sie würde trotzdem ihr Kind schlagen. Unter dem Thema „Die Hand ausrutschen“ gab sie an:: „Ich glaube, ein Klaps auf den Po muss schon mal sein. Aber niemals ins Gesicht, und niemals im Affekt!“ Wie Alice Miller schon sagte: Kühl kalkuliert und wohl geplant! Ein echtes Vorbild, gewissermaßen!
Die Schröder-Regierung hat dann eine erneute Präzisierung vorgenommen. Seit 2001, infolge des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt“ lautet der zweite Absatz des Paragraphen 1631 im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Endlich wurde auch erkannt, dass es „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen“ gar nicht geben kann. Wenn wir schon nicht „antipädagogisch“ denken und, wie Gerichte es tun, der Pädagogik lediglich hehre Absichten unterstellen, kann Entwürdigung schlicht kein Programm sein, Frau Nolte, Sie Klapserin!
Aber auch Schröders Regierung hat nicht den Mumm ? vielleicht findet sie es auch nicht wichtig oder sie wurde von einer Clique von Psychotherapeuten bestochen, wer weiß es schon? ?, den dritten Absatz dahingehend zu nivellieren, dass das Familiengericht Eltern und Kinder zu unterstützen hat.
Für Nichtfachleute zitieren wir hier noch den ersten Absatz des Paragraphen 1631: „Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.“
Und abschließend: Die Schröder-Leute haben 2001 die „Pflicht“ vor das „Recht gestellt“.
NAGEL-Redaktion, im August 2004