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NAGEL-Redaktion – Tierhaltung/Tiergestützte Pädagogik


                                                                                                                                                                    Foto: Rainer Deimel

Artgerechte Tierhaltung

Tierschutz – und dazu gehören auch Aspekte der artgerechten Tierhaltung – sollte nicht wichtiger genommen werden als eine kindergerechte Stadtplanung.  Allerdings sollten auch die Bedürfnisse der Tiere bei Planung und Gestaltung eines pädagogisch betreuten Spielplatzes so weit wie möglich berücksichtigt werden.  Unter artgerechter Tierhaltung wird dabei keineswegs verstanden, dass die Haltungsbedingungen den Gegebenheiten von freilebenden Tieren entsprechen. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Tiere ein artgemäßes Verhalten und keine übermäßige Krankheitsauffälligkeit aufweisen. Die dokumentierten Grundsätze lehnen sich weitgehend an die vom europäischen Dachverband für Stadtbauernhöfe (European Federation of City Farms) erarbeiteten Empfehlungen an.

 

Tierhaltung in der pädagogischen Arbeit

Ein Beitrag in fünf Teilen – Aspekte zu einer Konzeption 
Die Auseinderandersetzungen des ABA Fachverbandes mit dem Thema und eine Empfehlungsliste, welche Tiere in der pädagogischen Arbeit am ehesten geeignet sind.

 

Tiergestützte Arbeit mit Kindern

Tiergestützte Arbeit mit Kindern  (118 Seiten, 7.557 KB)
Ursprünglich handelte es sich hier bei um die Examensarbeit von Marion Dalmisch. Marion Dalmisch, Jahrgang 1974, ist Diplompädagogin und Leiterin des Jugendzentrums in Übach-Palenberg. Aufgewachsen ist sie auf einem Bauernhof. Ihr Examen absolvierte sie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Die Arbeit, die Interessierte hier herunterladen können, stammt aus dem Jahr 1999. Für diese Internetpräsentation wurde sie lesefreundlich gestaltet. Stellvertretend für den ABA Fachverband behaupten hier die Sprecherin des Arbeitskreise Tierhaltung, Susanne Westerhoff, und der Bildungsreferent, Rainer Deimel: Wenn Sie in der Praxis nicht einfach untergehen wollen, lesen Sie die hier eingestellte Arbeit! 

 

 

                                                                                                                                                                                                                                                                              

Stellungnahmen zum Thema „Abenteuerspielplätze“

Hier finden Sie Stellungnahmen, die Ihnen hilfreich sein, können, wenn Sie sich für Abenteuerspielplätze stark machen oder stark machen wollen.

 

Abenteuerspielplatz und Amazonas
Eckhard Henscheid, der in seiner erquicklichen Art immer wieder für literarische Erfreulichkeiten sorgt, war der Auffassung, das Thema „Abenteuerspielplatz“ würde ebenso in seinen Kompetenzbereich fallen. Insofern beschrieb er ihn in seinem Lexikon „Dummdeutsch“ (erschienen in zwei Bänden 1985 und 1986, zusammengefasst und überarbeitet (!) 1992 und von ihm selbst im Vorwort vom 31. Dezember 1992 als „definitives Buch“ bezeichnet) folgendermaßen: „Abenteuerspielplatz: Steht zum Abenteuer in ähnlichem Verhältnis wie das Hallenbad zum Amazonas. Hundertprozentig daneben.“ Das Buch erschien 1993 bei Reclam. Mit Datum vom 16. Mai 1997 sahen wir uns zu einer Reaktion bemüßigt.

 

Abenteuerspielplätze und Erlebnispädagogik
Im Vergleich zur 2001 in Dortmund eröffneten „Erlebniswelt“ sähen „herkömmlichen Abenteuerspielplätze alt aus“. Diese Unweisheit verbreitete Dieter Jaeschke in der WAZ vom 1. Oktober 2001. Unsere damalige Reaktion darauf haben wir – quasi als Argumentationshilfe – ins Netz gestellt. Bei der Erlebniswelt Fredenbaumhandelt es sich nämlich um einen Abenteuerspielplatz.

Bildung ist mehr als Schule

RTEmagicC_Buendnis-auf-Spiel_4-05_01.jpg„Bildung ist mehr als Schule!“. Im November 2007 machte sich der Deutsche Städtetag diese Aussage in seiner Aachener Erklärung per Beschluss zueigen. Dieses inzwischen geradezu geflügelte Wort verdient eine genauere Betrachtung.

Bestätigung findet diese These bei Wiebken Düx in ihrem Beitrag „‚Aber so richtig für das Leben lernt man eher bei der freiwilligen Arbeit’ – Zum Kompetenzgewinn Jugendlicher im freiwilligen Engagement“. (1) Sie weist darauf hin, Wissenschaft, Politik und die Organisationen, in denen freiwilliges Engagement praktiziert wird, gingen davon aus, das Engagement junger Leute fördere Lern- und Bildungsprozesse. Dies beziehe sich insbesondere auf soziales Lernen sowie das Hineinwachsen in demokratische Umgehensweisen. Sie gibt zu bedenken, dieses sei kaum empirisch nachgewiesen.

Einer Faustregel zufolge trägt die Schule – großzügig gerechnet – zu einem Drittel zur allgemeinen Bildung junger Menschen bei. Der übergroße Rest wird anderen Sozialisationsinstanzen zugeschrieben, etwa dem Elternhaus oder der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit.

Die Leitgedanken und Paradigmen der Offenen Arbeit

  • Partizipation
  • Emanzipation und
  • Integration

sind feste Bestandteile der Offenen Arbeit. Ohne diese kann ihre Qualität nicht mehr zeitgemäß und den Interessen junger Menschen entsprechend belegt werden. Ihre praktische Umsetzung muss als Voraussetzung sinnvoller und erfolgreicher Arbeit betrachtet werden. Seit Veröffentlichung des 8. Jugendberichts der Bundesregierung (1990) gelten sie als Paradigmem einer verantwortungsbewussten Kinder- und Jugendarbeit. Gern ergänzt werden sie noch durch das „Paradigma der Prävention“. Dieses Ansinnen wurde vor dem Hintergrund einer primär fachlich intendierten Verabschiedung, des neuen Kinder- und Jugendhilferechts – ebenfalls 1990 – nicht nachvollzogen.

Dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ist an keiner Stelle, an der es um die Kinder- und Jugendarbeit geht, zu entnehmen, dass Prävention ein gesetzlicher Auftrag ist – wohl aber die anderen genannten Paradigmen (vgl. hierzu u.a. §§ 1, 8, 9 und 11).

Dass Kinder- und Jugendarbeit präventiv wirkt, wird von keiner ernstzunehmenden Seite bestritten. Festgehalten werden soll in diesem Zusammenhang, worum es nicht geht, nämlich Kinder und Jugendliche an die Gesellschaft und ihre erwachsenen Akteure anzupassen. Vielmehr heißt es, ihre Suche von Wegen erfolgreich zu unterstützen. Es geht hierbei um das Entdecken von Strategien, viable Chancen für sich selbst und den solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu entwickeln. Dabei spielen ihre eigenen Vorstellungen, ihre Visionen zur Zukunft eine ebenso große Rolle wie die Reflexion über das, was sich lohnt zu erhalten. Es geht um eine mündige Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft. Die Auffassung über gesellschaftliche Werte wird häufig verwechselt mit einem bequemen Festhalten an tradierten Ideologien, mit deren Hilfe man sich oft gemütlich eingerichtet hat. Entwicklungen – zumal solche, die junge Leute anstoßen – sind dabei störend. Kinder- und Jugendarbeit als verlängerter ordnungspolitischer Arm hat – so deutlich muss es wohl gesagt werden – keine plausible Existenzberechtigung.

So gesehen steht der Präventionsaspekt zwar in einer Reihe mit den Zielen Partizipation, Emanzipation und Integration. Auf die Fahne der Kinder- und Jugendarbeit geschrieben gehört er dennoch nicht, da junge Menschen nun mal nicht an der ihnen angemessenen Weiterentwicklung gehindert werden sollen und dürfen. Prävention betreibt Kinder- und Jugendarbeit en passant. Gerade dies macht einen Teil ihrer Qualität aus.

Dem Bericht der Enquete-Kommission „Chancen für Kinder“ des nordrhein-westfälischen Landtags ist zu entnehmen, dass auf regionaler Ebene flächendeckend „Verantwortungsgemeinschaften für Bildung“ eingeführt bzw. dort, wo sie bereits bestehen, unterstützt werden sollen. Dabei gehe es auch darum, die Koordination und Konsensbildung zwischen den verschiedenen Akteuren des Bildungswesens zu erleichtern. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang der Kinder- und Jugendarbeit eine „Brückeninstanz“ eingeräumt. Sie soll dabei helfen, eine Begegnung unterschiedlicher Bildungswelten zu leisten. In diesem Kontext wird betont, dass der außerschulischen Bildung in Form der Kinder- und Jugendarbeit gegenwärtig ein verstärkter Stellenwert einzuräumen sei. Erreicht werden solle auf diesem Wege ein verbesserter Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Die Kinder- und Jugendarbeit sei hierzu eine entscheidende Ressource. (2)

Dieses Bekenntnis berücksichtigt klar den Umstand, dass die Bedeutung des Arbeitsfeldes gestiegen ist. Diese Feststellung impliziert die Notwendigkeit, für eine Kontinuität hinsichtlich verlorenengegangener Sozialisationserfordernisse zu sorgen. Dabei sollte beispielsweise an das Wachsen und Reifen in sogenannten „informellen Räumen“ gedacht werden. Angesprochen hier wird etwa auch der Umstand, dass die „Eroberung der freien Natur“ inzwischen in der Realität allenfalls noch als organisiertes Angebot durchgeführt wird. Den „informellen Räumen“ als Faktor zum Bildungserwerb wird nach eingangs genannter Faustregel immerhin ein Anteil von mindestens zwei Dritteln eingeräumt.

In der Zwischenzeit wurden unter der Koordination des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Schule und Weiterbildung sogenannte kommunale Bildungsnetzwerk /-büros eingerichtet. Auffallend ist hierbei, dass die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit in keinem uns bekannten Fall eingebunden ist. Diese wird allenfalls vielmehr durch die Metaebene kommunal Verantwortlicher berücksichtigt. Auffallend auch, dass regelmäßig von „Jugendhilfe“, die es einzubinden gelte, gesprochen wird. Im Fokus stehen hier offenbar in erster Linie solche Hilfen, die die schulische Praxis vermeintlich günstig zu beeinflussen in der Lage sind.

In der eingangs genannten Dokumentation zu einem Forschungsprojekt „Aber so richtig für das Leben lernt man eher bei der freiwilligen Arbeit“ von Wiebken Düx, heißt es, es ginge um die Frage „was und wie junge Menschen durch Verantwortungsübernahme in Ernst- und Echtsituationen lernen“. Forschungsgegenstände wie
-Ergebnisse lassen sich aus Sicht der AGOT-NRW vor dem Hintergrund zahlreicher vergleichbarer bzw. identischer Inhalte und Methoden auf die Offene Arbeit übertragen. Die in der Studie eruierten – immerhin 60 – Kompetenzen junger Leute umfassen eine breite Palette, die von kaum einer anderen formal bzw. mit Zwängen organisierten Instanz übertroffen werden sollte.

Als personale Kompetenzen werden hier u.a. genannt (3):

  • Selbstbewusstsein
  • Selbstständigkeit/Selbstbestimmung
  • Durchhaltevermögen/Belastbarkeit
  • Offenheit/Flexibilität
  • Selbstreflexivität/Selbsterkenntnis
  • Orientierung – persönlich, politisch, sozial, ökologisch usw.
  • Entwicklung von Werten

Beim Erwerb sozialer Kompetenzen geht es u.a. um (4)

  • Verantwortungsübernahme/-bereitschaft
  • Kommunikationsfähigkeit
  • Zuverlässigkeit
  • Kooperationsfähigkeit
  • Konflikt-/Kritikfähigkeit
  • Überzeugungsfähigkeit
  • Problemlösungskompetenz
  • Beziehungsfähigkeit
  • politisch-demokratische Kompetenzen
  • interkulturelle Kompetenz
  • pädagogische Kompetenz
  • Gender-Kompetenz

Unter dem Aspekt sachbezogener Kompetenzen werden kognitive, organisatorische, handwerklich-technische sowie kreativ-musisch-sportliche unterschieden. Hier einige ausgewählte Beispiele: (5)

  • Reflexionsfähigkeit
  • Allgemeinwissen
  • technisch-naturwissenschaftliches Wissen
  • politisches Wissen
  • Umweltwissen
  • Mitbestimmung
  • Organisationsvermögen
  • kluge Nutzung vorhandener Strukturen/Verwaltung

Es soll noch einmal betont werden: Mit Fug und Recht kann eine an den Interessen ihrer Nutzerinnen und Nutzer organisierte Offene Kinder- und Jugendarbeit für sich deutliche Parallelen aus den Erkenntnissen genannten Forschungsprojekts reklamieren. Ursächlich hierfür kann vor allem die freiwillige Teilnahme und das freiwillige Engagements in den Einrichtungen benannt werden. Dabei ist „Lernen kein Selbstzweck“. Die „Jugendlichen lernen nicht primär um des Lernens willen oder um für sich selbst Kompetenzen zu erwerben, sondern für ihre Aufgaben im Engagement. Anlass, Medium und Ziel des Lernens ist in der Regel die Tätigkeit. Gegenüber … schulischen Anforderungen, die sich ohne unmittelbaren Handlungsdruck vorrangig auf die Bewältigung intellektuell-kognitiver Aufgaben beziehen, bietet freiwilliges Engagement die Möglichkeit und Herausforderung, sich handelnd zu erfahren und zu bewähren.“ (6) Das, was junge Menschen „selbst handelnd gelernt, erlebt und erfahren haben, wird in weit stärkerem Maße zueigen gemacht als fremdbestimmte, vorgegebene Wissensinhalte.“ (7)

„ … Lernen ist abhängig vom subjektiven Interesse, der individuellen Motivation sowie den Erfordernissen und Anregungen in der Praxis … Für längerfristiges Lernen, insbesondere abstrakte Inhalte genügt aber kurzfristiges Interesse allein häufig nicht. Dabei sind auch Phasen unausweichlich, in denen man etwas lernt, was nicht von vornherein und in sich interessant ist. Ein solches Lernen ist im freiwilligen Engagement eher selten.“ (8)

Diese Feststellung von Wiebken Düx mag nach diesem fachlich-euphorischen Höhenflug – unser Arbeitsfeld betreffend – wieder auf den Teppich holen.

Die bisher vorgetragenen Erkenntnisse legen zwingend nahe, künftig verstärkt über diverse Kooperationsformen nachzudenken und solche zu organisieren. Der Begriff der „kommunalen Bildungslandschaften“ wird inzwischen als pragmatischer Leitbegriff genutzt, wenn es darum geht, unterschiedliche Akteure, Interessen und Konzepte zu bündeln. In einer solchen Landschaft wird es möglich sein, die unterschiedlichen Bildungsangebote und Bildungschancen transparent und zugänglich zu machen.

Seit dem sogenannten Pisa-Schock kursiert die Rede von der notwendigen „Augenhöhe“ zwischen Jugendarbeit und Schule. Leider hat sich diese in den vergangenen Jahren in der Praxis eher als Mär, denn als tatsächlich erreichtes Ziel entpuppt.

Nach wie vor scheint beim „Partner Schule“ vor allem der Wunsch dominant, die Kinder- und Jugendarbeit bzw. die Jugendhilfe als Gaul einzuspannen, der den Karren aus dem Mist ziehen soll. Dummerweise geht es dabei zumeist darum, junge Menschen für eine Praxis zurückzuerobern, die ihnen und ihren Interessen nicht gerecht wird, sie schlimmstenfalls für tradierte unterrichtliche Verfahrensweisen zu begeistern: ein Vorhaben, bei dem beide – Jugendarbeit wie Schule – scheitern müssen. Wie ist beispielsweise erklärbar, dass Jugendliche pünktlich in der Jugendarbeit erscheinen, zum Unterricht aber zu spät kommen oder erst gar nicht erscheinen?

Es soll hier darauf verzichtet werden, zu analysieren, warum die Schule mit ihren Methoden so oft auf verlorenem Posten zu stehen scheint. Nur soviel: Regenerationsprozesse gelingen am ehesten im eigenen Kontext, was wir mit Blick auf die Institution „Schule“ beispielsweise bei den „gelingenden Schulen“ feststellen können. Zum Teil wurden diese von der AGOT-NRW dokumentiert. (9) In solchen Zusammenhängen ist es gar nicht erforderlich, über eine Selbstverständlichkeit wie die der gemeinsamen Augenhöhe zu faseln. In solchen Zusammenhängen weiß man, was man voneinander hat und betrachtet sich gegenseitig nicht als Reparaturhelfer oder notwendiges Übel, sonders als sich fruchtbar ergänzende Partner.

Qualitätsverbesserungen im Sinne junger Menschen erfordern auf mittlere Sicht nicht nur ein fachlichen Umdenken und ein dementsprechendes Handeln. Wir kommen auch nicht umhin, zahlreiche liebgewonnene und gleichsam verhasste Strukturen ernsthaft in Frage zu stellen. (10)

Ein ganz alltägliches Beispiel aus der Praxis: Eine offene Einrichtung – in diesem Fall ein Spielmobil – zeigt im Rahmen einer beabsichtigten Kooperation Präsenz in einer Grundschule. In diesem Zusammenhang wird mit den Kindern auf dem Schulhof ein Feuer gemacht, was kurzerhand den Hausmeister der Schule (11) auf den Plan ruft, der sich empört, die Kinder „zündelten ohne zu grillen“. Als verantwortlicher Hausmeister ruft er die Schulleiterin auf den Plan, die unmissverständlich klar stellt, dass so etwas nicht ginge. Ende der Kooperation! Dieses Beispiel belegt stellvertretend, dass die schlichte Übertragung „schulischer Gesetze“ auf die Kinder- und Jugendarbeit ein erfolgloses Unterfangen darstellt.

Dieses Beispiel steht auch stellvertretend dafür, dass eine unter qualitativen Gesichtspunkten organisierte Kinder- und Jugendarbeit ihre „eigenen Gesetze“ hat, die es in das Netzwerk kommunaler Bildungslandschaften zu integrieren gilt. Dabei kann es nicht darum gehen, noch mehr von dem zu organisieren, was nicht funktioniert. Vor dem Hintergrund mittlerweile eingekehrter (Existenz-)Ängste ist in der Kinder- und Jugendarbeit zum Teil inzwischen ein solcher Trend zu beobachten, mit anderen Worten: Man assistiert dabei, Dinge zu organisieren, die eine an Kindern und Jugendlichen orientierte Pädagogik leider ins Hintertreffen geraten lassen. Wir sind der Auffassung, dass hier eine illegitime Beteiligung stattfindet, die den befürchteten Niedergang der Kinder- und Jugendarbeit noch beschleunigen dürfte.

Der Aspekt der Freiwilligkeit zur Teilnahme ist in der Kinder- und Jugendarbeit ein einzigartiger Qualitätsindikator. Diesen gilt es nicht nur zu bewahren – vielmehr müssen vor dem Hintergrund seines belegbaren Erfolgs im Sinne nachhaltiger Bildung Konzepte realisiert werden, die gerade dies berücksichtigen. Dabei sollte man sich auch neue Formen von Experimentierfreudigkeit nicht verbieten.

Die AGOT-NRW will sich auf ein Experiment einlassen, nämlich „kommunale Bildungslandschaften“ zu organisieren mit schulischen und anderen Partnern; dies, wo es bereits erfolgreiche Handlungsansätze gibt. Die AGOT-NRW hält es nicht für sinnvoll, hinter Schulen herzulaufen, um erfolgreiche Elemente der Offenen Arbeit wie Warmbier anzubieten – und sie in einem neu organisierten Kontext gleichzeitig ihrem Untergang preiszugeben.

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit hat einen eigenen – auch gesetzlich verbrieften (z.B. § 11 SGB VIII) – Bildungsauftrag. Es gilt, diesen zu erkennen, die damit verbundenen Ziele zu formulieren und umzusetzen. Wesentliches methodisches Instrument dabei ist die Mitbestimmung junger Leute, was etwas völlig anderes ist, als das seinerzeit von Herbert Grönemeyer besungene „Kinder an die Macht“. Es gilt ebenso zu erkennen, dass junge Menschen keine „triviale Maschinen“ – wie es Heinz von Foerster seinerzeit trefflich formulierte (12) – sind, sondern Experten ihrer selbst. Und vor diesem Hintergrund sind sie aktiv in ihre Entwicklung einzubinden. Das betrifft auch – und möglicherweise vor allem – den Aspekt der Bildung.

Verschwiegen werden soll hier abschließend allerdings nicht der Hinweis darauf, dass Bildung – wie sie in Deutschland zumeist verstanden wird – nicht alle Probleme löst. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) sprach kürzlich vom „Mythos Bildung“. (13) Sie stellte dabei fest, dass manche gesellschaftlichen Probleme eben nicht allein mit besserer Bildung, einem besseren Schulabschluss zu lösen seien. Es fehle meist nicht an Bildung, sondern an Hilfen, Betreuungsmöglichkeiten, Kita-Plätzen, Lehrstellen und Arbeitsplätzen. Das Vorstandsmitglied der Sektion der Sozialpolitik der DGS, Prof. Dr. Ute Klammer, sagt hierzu: „Viele junge Menschen landen in der beruflichen Sackgasse. Da hilft Bildung wenig. Der Bildung wird zuviel aufgebürdet.“ (14)

Letztgenannte Gesichtspunkte spielen auch beim experimentellen Vorhaben der AGOT-NRW eine bedeutende Rolle. Die Offene Arbeit hat den Bezug „Bildung – Soziales“ regelmäßig integriert. Und sie erfährt verbale Unterstützung auch von Prof. Dr. Jutta Allmendinger, der Präsidentin des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin. Allmendinger stellt fest, Bildung und Soziales seien in Deutschland kurioserweise getrennt – im Gegensatz zu anderen – erfolgreicheren – Ländern. Der politischen Parole „Vorfahrt für Bildung“ erteilt sie eine Absage. Wir leisteten uns ein hochselektives Schulsystem, eine unterentwickelte frühkindliche Bildung sowie ein unterfinanziertes Hochschulsystem. Schließlich investiere Deutschland trotz anderer Verlautbarungen rund 20 Prozent weniger in Bildung als andere vergleichbare Länder. Die vorfindbare Bildungsrethorik sei nicht nachvollziehbar. Die Soziologen kommen zu der Auffassung, wenn Bildung nicht zuviel zugemutet und sie nachhaltig wirksam werden solle, seien Investitionen in den Sozialbereich unabwendbar. (15)

Trotz – noch – unterschiedlicher Vorstellungen über Bildungserwerb wollen wir dieses Experiment „kommunaler Bildungslandschaften“ wagen. Wir sind davon überzeugt, dass die Offene Arbeit dabei eine nicht zu unterschätzende Bereicherung sein wird. Übrigens, ohne in einer Pisa-Schock-Starre zu verharren, haben wir auch Kenntnis davon, dass erfolgreichere Pisa-Länder längst die konstruktiven Elemente, für die hierzulande die Offene Arbeit stehen kann, in ihr Bildungs- und Sozialsystem integriert haben.

Die hier geschilderten Vorstellungen gehen von einer ganzheitlichen Sichtweise aus, die alle Systeme, die die Sozialisation junger Leute betreffen, zusammenbringt. Vor diesem Hintergrund bleibt auch die Familienbildung nicht außen vor. Im Gegenteil ist sie gegenwärtig und vor allem zukünftig integraler Bestandteil einer aktiv auftretenden und gewinnbringenden Offenen Kinder- und Jugendarbeit, einer schöpferischen Arbeitsform, ohne die kommunale Bildungslandschaften nicht sinnvoll zu entwickeln sind.

Aus diesen hier vorgetragenen Gründen appelliert die AGOT-NRW an Sie und Euch: Bringen Sie sich, bringt Euch als Vertreterinnen und Vertreter der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in die Entwicklung der kommunalen Bildungslandschaften bzw. der regionalen Bildungsnetzwerke ein, damit unser Bildungsauftrag von Öffentlichkeit und Politik deutlicher wahrgenommen und realisiert werden kann – dies in erster Linie im Interesse der Rechte von Kindern und Jugendlichen.

AGOT-NRW, im November 2009

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Fußnoten

(1) vgl. Wiebken Düx: „‚Aber so richtig für das Leben lernt man eher bei der freiwilligen Arbeit’ – Zum Kompetenzgewinn Jugendlicher im freiwilligen Engagement, in: Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass (Hg.): Informelles Lernen im Jugendalter, Weinheim und München 2006 (Juventa Verlag)
(2) vgl. Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hg.): Chancen für Kinder. Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungsangebot in Nordrhein-Westfalen. Bericht der Enquetekommission 2008
(3) vgl. Düx, a.a.O., S. 210 ff.
(4) vgl. ebenda
(5) vgl. ebenda
(6) ebenda, Seite 231
(7) ebenda, Seite 232
(8) ebenda, Seite 237
(9) AGOT-NRW: Auf dem Weg zur gelingenden Schule – Eine bildungspolitische Streitschrift aus Sicht der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Düsseldorf 2006
(10) Als Fußnote sollen hier einige wenige Beispiele genannt werden: Lehr- und Unterrichtspläne, Schulpflicht, Kopf- und andere Noten, neue Verortung des Aspekts der Freiwilligkeit, regelmäßige Fortbildungen für pädagogisch tätiges Personal, sinnvolle Verknüpfungen von Theorie und Praxis
(11) Hier gilt es zusätzlich zu bedenken, dass der Einstellungsträger des Hausmeisters ein völlig anderer, als dies beim pädagogisch tätigen Personal der Fall ist.
(12) vgl. Rainer Deimel: Demokratische Grundschule, in: Axel Backhaus/Simone Knorre/Hans Brügelmann/Elena Schiemann (Hg.): Demokratische Grundschule – Mitbestimmung von Kindern über ihr Leben und Lernen, Arbeitsgruppe Primarstufe am Fachbereich 2 der Universität Siegen, Siegen 2008; auch: Rainer Deimel: Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons, bisher unveröffentlichtes Skript als Beitrag für ein geplantes Buchprojekt
(13) Jahrestagung der Sektion Sozialpolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 8. bis 9. Oktober 2009 in Essen (Universität Duisburg-Essen)
(14) derWesten.de vom 8. Oktober 2009
(15) ebenda

Ganztagsangebote bedarfsgerecht weiter ausbauen – Flexibilisierung an weiterbildenden Schulen ermöglichen

Am 6. April 2011 fand im nordrhein-westfälischen Landtag (Ausschuss für Schule und Weiterbildung) eine Expertenanhörung statt. Erstmalig wurde auch die Offene Arbeit zu einem solchen Thema eingeladen. Um den vor Ort Verantwortlichen Gelegenheit zu geben, sich mit der Stellungnahme zu befassen, kann sie hier in der schriftlich vorgelegten Variante nachgelesen und zur weiteren Arbeit mit der Thematik heruntergeladen werden.

Stellungnahme

Rainer Deimel, ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Im Kontext der von uns vertretenen Zusammenhänge verdienen folgende Fragen besondere Beachtung, nämlich

a) Welche Auswirkungen hat der Ganztag auf außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote und welche Möglichkeiten der Verzahnung von Schule und außerschulischen Angeboten gibt es?
b) Wie sollte ein qualitativ hochwertiges und für Eltern bzw. Schüler attraktives Ganztagsangebot aussehen und organisiert sein?
c) Welche Probleme und Hemmnisse bestehen bei der Einbindung der Offenen Jugendarbeit?

Einführung

Grundsätzlich sollte einleitend festgehalten werden, dass die landläufige Anschauung, Schulpolitik synonym als Bildungspolitik zu begreifen, als verhängnisvoll eingestuft werden muss: Die Experten sind sich darüber einig, dass die Schule – der „klassische Unterricht“ – allenfalls zu einem Drittel zur Bildung junger Menschen beiträgt. Dieser These folgend, findet der überwiegende Teil des Bildungserwerbs in anderen Zusammenhängen statt. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt dabei die (Offene) Kinder- und Jugendarbeit.

Neben der Bundeswehr und der Kirche ist die Schule eine der letzten weitgehend demokratiefreien Zonen innerhalb unserer demokratisch verfassten Gesellschaft. Dies hat zur Folge, dass den im System „Beschulten“ kein Subjektstatus zugebilligt wird; vielmehr werden sie als zu belehrende Objekte betrachtet. Deutlich wird diese Sachlage auch durch die Definition der Betroffenen als „Schüler“.

Der amerikanisch-österreichische Biophysiker (Kybernetiker, Physiker sowie Kognitions- und Perzeptionsforscher) Heinz von Foester (1911-2002), maßgeblich an der Entwicklung der Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus beteiligt, hat mehrfach auf diesen Umstand hingewiesen. Gern verwandte er dabei unter anderem die Metapher der „Trivialen Maschine“, mit der er die Praxis des Unterrichts verglich. Bei dieser imaginären Maschine stellte er eine unbedingte und unveränderliche – allerdings unhaltbare – Relation zwischen Input und Output fest. (1) In der Schule werden – abhängige – Menschen wie „Triviale Maschinen“ benutzt. Eine Geschichte, die Heinz von Foerster erzählt hat, veranschaulicht dies auf eindrucksvolle Weise: „Ich war einmal bei einer befreundeten Familie zum Mittagessen eingeladen – und der kleine Bub, der von der Schule hätte kommen sollen, kommt und kommt nicht nach Hause. Schließlich erscheint er doch, er weint und sagt: ‚Ich musste nachsitzen! Die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen!’ Wir wollten natürlich von ihm wissen, was denn passiert sei. Er erzählte, dass die Lehrerin ihm gesagt habe, er sei frech gewesen, er habe freche Antworten gegeben. Der kleine Bub: ‚Sie hat mich gefragt, wie viel ist 2 x 3?’ Und ich habe ihr gesagt: ‚Das ist 3 x 2! Alles hat gelacht – und die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen.’ Ich habe diesen kleinen Bub gefragt: ‚Deine Antwort ist völlig richtig, aber kannst du sie beweisen?’ Da nimmt er Papier und Bleistift, zeichnet zwei Punkte und – darüber – drei Punkte. Er sagt: ‚Das ist 3 x 2!’ Und dann dreht er das Papier um 90 Grad und meint: ‚Siehst du, Heinz, das ist 2 x 3!’ Dieser kleine Bub, der sieben Jahre alt war, hat auf die ihm eigene Weise das kommutative Gesetz der Multiplikation bewiesen: A x B ist B x A. Dass die Lehrerin diese Einsicht nicht als großartig erkannte, ist traurig. Sie hatte von ihm erwartet, dass er auf ihre Frage, was ist 2 x 3 ‚sechs’ sagt. Da er dies nicht tat, schien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Das nenne ich Trivialisierung junger Menschen.“ (2) Heinz von Foerster wird gefragt, ob Lehrer mit der ‚prinzipiellen Nichttrivialität’ ihrer Schüler zu rechnen hätten. Er entgegnet: ‚Selbstverständlich. Und wenn die Trivialisierung schon erfolgt ist, dann heißt die Aufgabe für die Pädagogik: Enttrivialisierung, auf andere Antworten aufmerksam machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anregen. Man könnte diesem kleinen Bub zum Beispiel zeigen, dass sich eine Zahl auf äußerst vielfältige Weise beschreiben lässt. Wenn die Lehrerin die gewünschte Antwort ‚sechs’ erhalten hätte, könnte sie weiterfragen: ‚Was ist sechs?’ Mögliche Antworten sind: Sechs ist die Wurzel aus 36, sechs ist 5 + 1 und 8 – 2, 6 ist 2 x 3 und 3 x 2.“ (3)

Bestätigt wird diese grundsätzliche Kritik von der gegenwärtigen Hirnforschung. So bewertet der Forscher Gerhard Roth (4) aktuell die Didaktik des Unterrichts als „unwissenschaftlich“; der Lehrer unterrichte nach eigenen Gesichtpunkten. Damit werden unmissverständlich die Thesen von Foersters bestätigt. Des Weiteren schlägt er u.a. vor, weniger „Stoff durchzunehmen“. Der bekannte Schulexperte und -kritiker Reinhard Kahl macht sich in diesem Zusammenhang dafür stark, „Stoff“ in der Schule vollends zu eliminieren. Auch seiner Meinung nach ist das Hauptritual in der Schule die Belehrung. Die Lehrer sollten aufhören, „Stoff“ einzufüllen oder zu vermitteln. Er scheut sich nicht, in diesem Zusammenhang den Begriff des „Dealers“ zu verwenden, denen der „Stoff“ eher überlassen sein sollte. (5) Roth zählt zu einer „hirngerechten Didaktik“ das exemplarische Lernen, die Abschaffung der 45-Minuten-Takte sowie fächerübergreifende Lernsituationen.

Kommen wir zu den gestellten Fragen:

a) Welche Auswirkungen hat der Ganztag auf außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote und welche Möglichkeiten der Verzahnung von Schule und außerschulischen Angeboten gibt es?

Der zunehmende (sogenannte) „Ganztag“ zeitigt seine Auswirkungen verständlicherweise in den außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten. Augenblicklich kann die Situation überwiegend so eingeschätzt werden, dass wir es beim „offenen Ganztag“ vor allem mit einer quantitativen Dimension zu tun haben; dies ist nach wie vor einer der Hauptkritikpunkte aus pädagogisch-professioneller Sicht. Bezogen auf ihr Zeitbudget nimmt der „offene Ganztag“ in nicht unerheblichem Maße Zugriff auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ihre Gelegenheit, an anderen Angeboten teilzuhaben, wird deutlich reduziert. Aus einem pädagogisch-qualitativen Blickwinkel heraus kann man konstatieren, dass die Angebote des „offenen Ganztags“ häufig nicht im Sinne der betroffenen Kinder organisiert werden. Nicht selten findet die vormittägliche Rhythmisierung des Tagesablaufs der jungen Leute am Nachmittag ihre Fortsetzung. Inhaltlich werden die Interessen der Kinder und Jugendlichen bei der Organisation des Nachmittags häufig nicht bzw. nur peripher berücksichtigt. Kritiker führen darüber hinaus an, der offene Ganztag sei eine Billigvariante der Beaufsichtigung von Kindern; er könne auch nicht mit dem Niveau der früheren Arbeit in Horten verglichen werden. Außerdem entspreche er eher den Interessen der Eltern und weniger denen der Kinder. Versäumt wurde zumeist, Konzepte, die sich beispielsweise in der Kinder- und Jugendarbeit bewährt haben, angemessen in den Schulbetrieb zu integrieren.

Dass dies nicht geschieht, sollte fachliche Aufmerksamkeit erregen. Unterstellt sei hier, dass dies nicht wider besseres Wissen geschieht; vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass hilfreiche Konzepte, die den Interessen der Kinder und Jugendlichen entsprechen, in der Schule häufig völlig unbekannt sind. Auffallend ist ebenso das dortige Unvermögen, zwischen Jugendhilfe und Jugendarbeit fachlich zu differenzieren.

Vor dem Hintergrund des SGB VIII, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, ist Jugendarbeit Teil der im Gesetz beschriebenen „Leistungen der Jugendhilfe“. Nicht zufällig wird die Jugendarbeit im Paragraphen 11 als erstes hinter den „Allgemeinen Vorschriften“ aufgeführt. Jugendarbeit gehört zu den allgemein fördernden Aufgaben, die sich generell auf alle Kinder, Jugendlichen und Familien beziehen und auf die diese einen gesetzlichen Anspruch haben. Entgegen immer wieder kolportierter Vorstellungen ist Jugendarbeit nämlich keine „freiwillige Leistung“, sondern verpflichtend.

Das SGB VIII kennt darüber hinaus auch direkt helfende Aufgaben, wie etwa Beratung, Einzelbetreuung und Inobhutnahme. Angesichts des festgestellten Nichtwissens zur Kinder- und Jugendarbeit ist es Aufgabe der Politik, diese Differenzierung fachlich mit Nachdruck zu vertreten und dafür Sorge zu tragen, dass diese auch in der Schule „ankommt“. Dazu ist vor allem ein entsprechend hohes Maß an Fachlichkeit zu entwickeln, das über Kompetenzen unterrichtlicher Praxis hinausgeht. Vor diesem Hintergrund könnten in zahlreichen Zusammenhängen sinnvolle Verzahnungen von Schule und außerschulischen Angeboten entwickelt werden. Als unbedingte Voraussetzung hierfür sind die Interessen von Kindern und Jugendlichen in besonderem Maße zu berücksichtigen. Eine künftige Schulentwicklung ist – so gesehen – sowohl ein fachlicher Diskurs als auch ein Demokratisierungsprozess.

Perspektivisch muss für gleichwertige Teams in diesen neu zu schaffenden pädagogischen Handlungsfeldern gesorgt werden. Die Kluft zwischen Landesbediensteten – in der Regel Beamten – und Beschäftigten in kommunaler oder freier Trägerschaft ist auf Dauer einem erfolgreichen Tätigwerden abträglich. Sinnvoll wäre es – trotz erheblicher gesetzlicher Hürden –, die Schulen perspektivisch – vergleichbar der Struktur der Jugendarbeit – zu kommunalisieren.

Die Kinder- und Jugendarbeit hat über die Jahrzehnte eine Fülle von Programmen und Angeboten entwickelt und angeboten, die in besonderer Weise auf die Interessen junger Menschen treffen. Die Reduktion der Jugendarbeit auf „Jugendhilfe“ dokumentiert den Versuch, Kinder und Jugendliche ausschließlich fit für unterrichtliche Belange zu machen. Aus gesellschaftlicher, politischer und administrativer Sicht genießt die Schule nach wie vor ein höheres Ansehen und verfügt dementsprechend über eine größere Dominanz. Jugendarbeit wird unberechtigterweise eher als „Reparaturbetrieb“ eingestuft. In gleichberechtigten Teams wüsste man, was man voneinander hat, und würde sich gegenseitig nicht als Handlanger, sondern als sich fruchtbar ergänzende Partner betrachten. Infragezustellen wären vor diesem Hintergrund so zweifelhafte Instrumentarien wie Lehr- und Unterrichtspläne, Zensuren und schließlich auch die Schulpflicht, was mit einer Neuverortung des Aspekts der Freiwilligkeit einhergeht. Auszubauen wären regelmäßige Fortbildungen des pädagogisch tätigen Personals sowie sinnvolle Verknüpfungen von Theorie und Praxis.

Eine erfolgreiche Schule würde gezielt die erprobten Angebote der Jugendarbeit integrieren, ohne deren Profil zu absorbieren. So gesehen würde pädagogische Arbeit sowohl innerhalb einer Schule, die sich primär an den Interessen der jungen Leute orientiert, als auch außerhalb stattfinden. Zum Beispiel ist die Organisation von Abenteuerspielplätzen an Grundschulen bzw. die Kooperation mit solchen in der Nähe ohne Schwierigkeiten denkbar. Dies wurde etwa an der Laborschule Bielefeld als sinnvolle Möglichkeit erkannt, wo neben etlichen anderen ein sogenanntes „Lernfeld Bauspielplatz“ existiert. Dem Schulexperten Reinhard Kahl fallen hier beispielsweise noch Küchen, Ateliers, Werkstätten, Labors, Theaterbühnen und Gärten ein – alles Elemente, die in der Kinder- und Jugendarbeit selbstverständliche Alltagbestandteile sind. Ergänzend hinzu kämen noch Natur, Wald, Bäche, Wiesen und Parks – eben Freiflächen jeder Art – sowie ausreichende Gelegenheiten für alle Arten von Sport und Bewegung und schließlich Tierhaltung.

Kinder- und Jugendarbeit ist ein unabdingbarer Bestandteil und Partner von zu entwickelnden „Kommunalen Bildungslandschaften“. Die bisherigen in diese Richtung abzielenden Versuche – etwa bei den meisten kommunalen bzw. regionalen Bildungsbüros – blenden jene hingegen in aller Regel aus. Dieser Zustand ist auf Dauer weder aus fachlicher noch aus politischer Sicht akzeptabel. Offene Kinder- und Jugendarbeit sieht es in der „kommunalen Bildungslandschaft“ als ihre zentrale Aufgabe an, dem erweiterten Bildungsverständnis des 12. Kinder- und Jugendberichts (6) Geltung zu verschaffen und Bildungslandschaften aus der Aneignungsperspektive von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien heraus zu konzipieren. In der Tat haben wir es hier mit einem Perspektivwechsel zu tun: Es geht nicht darum, was die gewachsenen Strukturen – zum Beispiel die Schule – brauchen, sondern was für Kinder und Jugendliche für ein gelingendes Aufwachsen erforderlich ist.

Alle an einer solchen Bildungslandschaft Beteiligten würden im Vergleich zum heutigen System profitieren, die pädagogischen Fachkräfte ebenso wie die Kinder, Jugendlichen und ihre Familien sowie die Gesellschaft insgesamt. Bisher nebeneinander existierende Systeme würden sich gegenseitig sinnvoll ergänzen. Bisheriges „Beschulen“ könnte zugunsten eines kinder- und jugendgerechten pädagogischen Handelns aufgegeben werden. Viele Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen können sich einbringen. So gesehen könnte einer ganzheitlichen und vielfältigen statt einer separierten und eindimensionalen Entwicklung der jungen Menschen Rechnung getragen werden.

b) Wie sollte ein qualitativ hochwertiges und für Eltern bzw. Schüler attraktives Ganztagsangebot aussehen und organisiert sein?

Gestattet sei der Hinweis unterschiedlicher Interessen bei den Eltern auf der einen und bei Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Eltern haben Interesse an einer erfolgreichen Entwicklung ihrer Kinder, darüber hinaus erwarten sie berechtigterweise Unterstützung hinsichtlich ihrer Betreuungsaufgaben; sie sollten deshalb von der schulischen wie der außerschulischen Pädagogik adäquat unterstützt werden.

Innerhalb der Institutionen sollten die Interessen der Kinder und Jugendlichen leitend sein. Der Aspekt der Freiwilligkeit ist in der Kinder- und Jugendarbeit ein einzigartiger Qualitätsindikator; diesen gilt es zu bewahren und nach Möglichkeit auszubauen. Im Forschungsprojekt „Aber so richtig lernt man eher bei der freiwilligen Arbeit“ (Zum Kompetenzgewinn Jugendlicher im freiwilligen Engagement) hat die Dortmunder Wissenschaftlerin Wibken Düx 60 Kompetenzen zusammengetragen, die kaum von formal bzw. mit Zwängen organisierten Curricula übertroffen werden dürften.

Sie führt dort u.a. an „personalen Kompetenzen“ auf: Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit/ Selbstbestimmung, Durchhaltevermögen/ Belastbarkeit, Offenheit/ Flexibilität, Selbstreflexivität/ Selbsterkenntnis, Orientierung (persönlich, politisch, sozial, ökologisch usw.) sowie die Entwicklung von Werten. (7)

Beim Erwerb sozialer Kompetenzen geht es u.a. um Verantwortungsübernahme/ -bereitschaft, Zuverlässigkeit, Kooperationsfähigkeit, Konflikt-/ Kritikfähigkeit, Überzeugungsfähigkeit, Problemlösungsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit, politisch-demokratische Kompetenzen, interkulturelle Kompetenz, pädagogische Kompetenz sowie Gender-Kompetenz. (8)

Unter dem Aspekt sachbezogener Kompetenzen werden kognitive, organisatorische, handwerklich-technische sowie kreativ-musisch-sportliche unterschieden. Hier einige ausgewählte Beispiele: Reflexionsfähigkeit, Allgemeinwissen, technisch-naturwissenschaftliches Wissen, politisches Wissen, Umweltwissen, Mitbestimmung, Organisationsvermögen sowie die kluge Nutzung vorhandener Strukturen/ Verwaltung.(9)

Düx betont, Lernen im genannten Kontext sei kein Selbstzweck; die Jugendlichen verfolgten nicht die Intention zu lernen oder „um für sich selbst Kompetenzen zu erwerben, sondern für ihre Aufgaben im Engagement. Anlass, Medium und Ziel des Lernens ist in der Regel die Tätigkeit. Gegenüber … schulischen Anforderungen, die sich ohne unmittelbaren Handlungsdruck vorrangig auf die Bewältigung intellektuell-kognitiver Aufgaben beziehen, bietet freiwilliges Engagement die Möglichkeit und Herausforderung, sich handelnd zu erfahren und zu bewähren.“ (10) Das, was junge Menschen „selbst handelnd gelernt, erlebt und erfahren haben, wird in weit stärkerem Maße zueigen gemacht als fremdbestimmte, vorgegebene Wissensinhalte.“ (11) Dies bestätigen die eingangs vorgetragenen Erkenntnisse der Hirnforschung.

Regelmäßig kann übrigens in der Alltagspraxis reines Erstaunen bei Lehrerinnen und Lehrern beobachtet werden, wenn sie „ihre“ Kinder – etwa bei Projekten – in der Kinder- und Jugendarbeit erfahren: „So“ haben sie sie zuvor noch nie erlebt – will sagen: Soviel Lernbegierigkeit, Neugier, Interesse und Engagement bei den ihnen Anvertrauten kannten sie bis dahin noch nicht.

Wie sich Schule und Jugendarbeit auf einem theoretischen Hintergrund ergänzen können, zeigt Düx in ihrem Forschungsprojekt ebenso auf: „Lernen ist abhängig vom subjektiven Interesse, der individuellen Motivation sowie den Erfordernissen und Anregungen in der Praxis … Für längerfristiges Lernen, insbesondere abstrakter Inhalte, genügt aber kurzfristiges Interesse häufig allein nicht. Dabei sind auch Phasen unausweichlich, in denen man etwas lernt, was nicht von vornherein und in sich interessant ist. Ein solches Lernen ist im freiwilligen Engagement eher selten.“ (12)

Die Enquete-Kommission „Chancen für Kinder“ des nordrhein-westfälischen Landtags räumt vor diesem Hintergrund der Kinder- und Jugendarbeit den Rang einer „Brückeninstanz“ ein. Ihr Stellenwert sei deutlich zu verstärken. Kinder- und Jugendarbeit sei eine „entscheidende Ressource“ zur Entwicklung der Persönlichkeit junger Menschen. (13)

Ein zukunftsweisender, qualitativ hochwertiger und attraktiver Ort für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern kann nur gelingen, wenn er sich einerseits an den Interessen der direkt oder indirekt Beteiligten orientiert, wenn die Angebote über ein Höchstmaß an Anziehungskraft verfügen und in gleichberechtigten Teams eine Partnerschaft organisiert worden ist, in der es nicht mehr nötig ist, über „Augenhöhe“ zu schwadronieren.

Das Bundesjugendkuratorium zeigt drei Ebenen der Bildung auf:

• informelle
• nichtformale und
• formelle Bildung.

Gleichzeitig wird gefordert, diese drei Ebenen als gleichberechtigt anzuerkennen. (14) Festgestellt wird außerdem, dass Bildung stets ein Prozess des sich bildenden Subjekts sei und immer auf die Selbstbildung abziele. In diesem „eigensinnigen“ Prozess, dem grundlegende Bedeutung für die Entwicklung des Subjekts sowie für sein Hineinwachsen in Kultur und Gesellschaft beigemessen wird, geht es um die Anregung aller Kräfte, nämlich der kongnitiven, sozialen, emotionalen und ästhetischen. Ferner geht es dabei um die Aneignung der Welt: Fremdes wird in Eigenes verwandelt. (15) Eine solche Aneignung entsteht nur durch Handlung und Erfahrung; sie kann nicht unterrichtet werden. (16) Schließlich muss noch auf die Entfaltung der Persönlichkeit hingewiesen werden, die Quelle der Individualitätsentwicklung sowie der emanzipatorischen Tradition der Bildung. (17)

Vor diesem Hintergrund konstatiert die Enquetekommission „Chancen für Kinder“ des nordrhein-westfälischen Landtags, Erziehung, Bildung und Betreuung könnten nur dann optimal wirken, wenn Beiträge der non-formalen und informellen Bildung anerkannt, wertgeschätzt und in den Bildungsprozessen berücksichtigt würden. Insgesamt sei der Zugang zu non-formalen Bildungsangeboten für die Entwicklung der jungen Leute („Schülerinnen und Schüler“) von bedeutendem Einfluss; insbesondere für Kinder aus bildungsfernen Schichten sei dies ein erforderlicher Qualitätsschritt. (18) Die Kommission folgert daraus, Kinder und Jugendliche müssten „auch bei einem Ausbau von Ganztagsangeboten die Möglichkeit haben, außerhalb von Schule am Nachmittag selbstbestimmt non-formale Bildungsangebote zu nutzen“. (19)

Mit Blick auf zu schaffende Bildungslandschaften stellt die Enquetekommission fest, die derzeitige Präsenz der Kinder- und Jugendarbeit reiche nicht aus, wenn sie diese bereichern solle. Erinnert sei hier an den atemberaubenden Abbau der Standards in der Kinder- und Jugendarbeit zwischen 2002 und 2008. So verfügen beispielsweise nur noch 21 Prozent der Beschäftigten über eine Vollzeitstelle. Zu diesem Abbau und dem generellen Rückgang der Maßnahmen in der Kinder- und Jugendarbeit bemerkt die Enquetekommission, es sei zu befürchten, die Struktur des Arbeitsfeldes könne zerbrechen. Somit würde die neue Verbindung von Jugendhilfe und Schule im Sinne einer ganzheitlichen Bildung eine ihrer wichtigsten Grundlagen einbüßen. Hier gelte es, sich neu aufzustellen. (20)

c) Welche Probleme und Hemmnisse bestehen bei der Einbindung der Offenen Jugendarbeit?

Die Stärken der Offenen Arbeit hat Prof. Dr. Franz Josef Krafeld kürzlich auf einer Fachtagung des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie griffig zusammengefasst. (21) Er nennt dort u.a.

• Professionelle Beziehung als Grundlage der Arbeit
• Wertschätzung und Respekt als Selbstverständlichkeit
• Subjektorientierung als Grundprinzip
• Ernstnehmen informeller Alltagswelten
• Förderung jugendkultureller Entfaltung
• Souveränität im Umgang mit unstrukturierten Situationen
• Vielfalt informeller Lernmöglichkeiten
• Förderung sozialer Vernetzung
• Wenig verregelte Räume
• Stützpunkte zur Aneignung bzw. Wiederaneignung von Umwelt
• Expertenkompetenz für das Aufwachsen junger Menschen
• Expertenkompetenz für informelles Lernen, Alltagslernen und soziales Lernen
• Ausrichtung auf die aktuellen Lebensbedingungen junger Menschen
• Eignung für Konfliktmediation im sozialen Umfeld

Ohne die mannigfaltigen Kompetenzen junger Menschen zu würdigen, herrscht in der westlichen Welt nicht selten ein abgrundtiefes Misstrauen der Erwachsenenwelt gegenüber Kindern und Jugendlichen, was besonders am Beispiel der Schule deutlich wird. Vor diesem Hintergrund wird ihnen häufig – allem Partizipationsgerede zum Trotz – kein Subjektstatus zugebilligt, wie man dies in einer demokratischen Gesellschaft erwarten dürfte. Im Denken werden Kinder und Jugendliche als defizitäre und zu formende Objekte betrachtet, als leere Gefäße, die es zu füllen gelte. Interessanterweise greift dieser Unfug auch an einigen Stellen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit um sich; dies vor allem in der Folge des „schlechten Abschneidens“ von Deutschland in den diversen PISA-Studien und mehr noch mit zunehmender Umwandlung von Vormittagsschulen zu offenen Ganztagsschulen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es hier an fachlichem Augenmaß und entsprechender Professionalität mangelt. Mehr jedoch dürfte hier die Angst um die schlichte Existenz der Kinder- und Jugendarbeit als qualitativ hochwertiges Angebot die Triebkraft sein. So erfüllt sich mancherorts ohne aktuell erkennbaren äußeren Grund das mittlerweile geflügelte Wort „Alles, was Schule anpackt, wird zu Schule“ geradezu als sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Aufgabe beim Ausbau von Ganztagsangeboten und Aufbau kommunaler Bildungslandschaften hingegen muss sein, Transparenz herzustellen, einander zuzuhören, gleichberechtigte Partnerschaften aufzubauen sowie die jeweils bislang unterschiedlichen Disziplinen vorbehaltenen Qualitäten zu erkennen und auszubauen. Im Grunde geht es darum, eine völlig neue pädagogische Qualität, ein neues pädagogisches Lebens- und Lernkonzept für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu entwickeln.

Mittlerweile taucht allenthalben in Politik und Fachwelt der Begriff „Inklusion“ auf, dies maßgeblich infolge der UN-Behindertenrechtskonvention (2008) (22), obwohl in der deutschen Übersetzung der Begriff, abweichend von der Originalfassung, fälschlicherweise mit „Integration“ übersetzt wird. Zu beobachten ist, dass der Begriff „Inklusion“ in erster Linie in schulischen Zusammenhängen und im Kontext mit behinderten Menschen benutzt wird und zumeist auch dahingehend verstanden werden will. Diese Zwischenbemerkung sei gestattet, da Inklusion weit mehr erfasst, etwa mit Blick auf Migranten, Hartz IV-Empfänger und anderes mehr, mit anderen Worten: soziale Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag bei der Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Das Konzept der Offenen Arbeit ist traditionell ein inklusives. Dies gilt es einerseits zu erhalten, andererseits kann Schule hiervon fachlich profitieren.

Zwischen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Schule gibt es seit längerer Zeit eine Vielfalt von Kooperation. Verlässliche Erkenntnisse hierzu liefert die Studie „Entwicklung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit durch die Kooperation mit Schule“ von Prof. Dr. Ulrich Deinet und Dr. Maria Icking vom Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf. Ulrich Deinet hat sich darüber hinaus auf vielfache Weise mit dem Thema befasst. Die Etablierung von Offener Arbeit in schulischen Zusammenhängen unterscheidet sich deutlich von Schulsozialarbeit, denn diese steht im Vordergrund, wenn es um problemorientierte Themen geht. (23) In einem solchen Fall sollte die Offene Arbeit der falsche Partner sein. Bezogen auf die Offene Arbeit mit Kindern stellt Ulrich Deinet fest, diese sei nicht-formelle Bildung und stelle entsprechende Räume zur Verfügung, die häufig im Umfeld gegenwärtiger Kinder zum größten Teil verloren gegangen seien. (24) Er zitiert aus der Öffentlichkeitsarbeit des Bauspielplatzes der Ruhrwerkstatt Oberhausen, worum es unter anderem geht: „Hütten bauen, Feuer machen, Freundschaften schließen, klönen und schwatzen, hämmern und sägen, spielen und basteln, matschen und planschen, toben und Krach machen und vieles mehr.“ (25) Und er kommt zu dem Schluss, das ginge auch mit der Schule, wenn diese die Dimensionen sehe und verstehe, „dass die Gestaltung von Schule als Lebensort eine große Bedeutung auch für das Kerngeschäft der Schule hat: die formelle Bildung!“ (26)

Ziel der erwähnten Studie waren repräsentative Ergebnisse bezogen auf die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen. (27) Demnach kooperierten zum Untersuchungszeitraum 2007/2008 mehr als 70 Prozent der Einrichtungen länger als fünf Jahre mit Schulen. Die fortschreitende Entwicklung ist gut zu erkennen, denn länger als zehn Jahre bestand eine Zusammenarbeit „nur“ – aber immerhin! – bei knapp 24 Prozent. Interessant vor allem die Anlässe, aus denen heraus die Zusammenarbeit zustande kam: Die weitaus meisten Nennungen geben an, den Bedarf bei den Kindern und Jugendlichen aufgespürt zu haben (57,6 Prozent), gefolgt von Anfragen aus der Schule (54,5 Prozent), Initiativen des Trägers (44,9 Prozent) und Initiativen bzw. Auftrag des Jugendamtes (34,3 Prozent). Nach entsprechenden Wünschen der Jugendlichen gefragt, werden deutlich weniger Angaben gemacht (13,1 Prozent), ebenso bei solchen der Eltern (10,1 Prozent) sowie bei Anfragen des Schulträgers (10,6 Prozent). Fast die Hälfte der offenen Einrichtungen kooperiert sowohl im Rahmen des Ganztags wie auch außerhalb desselben. 56,3 Prozent engagieren sich im Zusammenhang mit offenen Ganztagsgrundschulen und 35,6 Prozent im normalen Alltagsbetrieb.

Wie auch schon anhand einiger zuvor angeführter Zahlen erahnt werden konnte (Bedarf bei Kindern und Jugendlichen, Anfragen aus der Schule), spielte inhaltlich die Schulaufgabenhilfe (Hausaufgabenbetreuung) eine herausragende Rolle (Primarstufe: 33 Prozent; Sekundarstufe: 75,6 Prozent). Hier muss klargestellt werden, dass dies perspektivisch keine originäre Aufgabe der Offenen Arbeit sein kann und darf; als Starthilfe für eine Zusammenarbeit mag sie akzeptiert sein.

Eine ähnlich große Rolle spielt das Mittagsessen; es wird für die Primarstufe zu 27,3 Prozent und für die Sekundarstufe zu 66,7 Prozent genannt. Des Weiteren spielen inhaltlich Sport und Bewegung, musisch-künstlerische Angebote, neue Medien, technisch-naturwissenschaftliche Angebote, soziales und interkulturelles Lernen, geschlechtsspezifische Angebote, Lern- und Sprachförderung und naturgemäß Ferienangebote eine wichtige Rolle. Ein interessantes und vielleicht überraschendes Schlaglicht wirft die Studie auf den normalen Alltag der Offenen Einrichtungen: Immerhin zu 63,6 Prozent bezogen auf die Primarstufe und zu stattlichen 83,3 Prozent bezogen auf die Sekundarstufe wird angegeben, der offene Bereich, z.B. das freie Spielen, sei von inhaltlicher Bedeutung, Zahlen, die die Bereitschaft der Offenen Arbeit, sich in schulische Kontexte einbinden zu lassen, eindrucksvoll bestätigen.

Leider liegen keine Zahlen aus Sicht der Schule vor. Es kann allerdings angenommen werden, dass diese deutlich geringer ausfallen.

Die Kinder- und Jugendarbeit ist gegenwärtig nicht in der Lage, sich flächendeckend in den schulischen Ganztag einzubringen. Dazu fehlen ihr die erforderlichen Ressourcen. Deutlich wird dies etwa schon allein durch die Tatsache, dass hier eine Fachkraft auf 130 Kinder und Jugendliche kommt. In der Schule kommt auf 14 Kinder und Jugendliche ein Lehrer bzw. eine Lehrerin. Abgesehen von fachlichen Sichtweisen und Konzepten, die hier zum Teil bereits thematisiert wurden und die insgesamt auf mittlere Sicht hin zu einem kinder-, jugend- und familiengerechten pädagogischen Gesamtkonzept entwickelt werden müssen, benötigt die Kinder- und Jugendarbeit eigenes Geld, um ihre non-formalen Bildungsangebote durchführen zu können. Wichtig wäre es, dass sie, sofern ihre Angebote in der Schule stärker etabliert werden sollen, eine angemessene Bezuschussung durch das Schulministerium erhalten. Dies bezieht sich auf die Förderung von Personal, Inventar und Projekten. Bedacht werden muss ebenso die zurzeit völlig unzureichende Situation in zahlreichen Schulen. Angesprochen sind hier die Räumlichkeiten sowohl in den Gebäuden als auch häufig im Außenbereich und die ungenügende Ausstattung des Ganztags mit qualifiziertem Fachpersonal, Finanzen und Material. (28) Ein weiteres Problem ergibt sich aus der unterschiedlichen strukturellen Anbindung von Schulen und der Kinder- und Jugendarbeit, wie bereits erwähnt. Perspektivisch würde es sinnvoll sein, die Schulen – der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vergleichbar – zu kommunalisieren.

Ulrich Deinet teilt die geäußerten Ansichten seinerseits. Er stellt fest, dass 75 Prozent der Offenen Einrichtungen mit der Schule „ins Geschäft“ kommen wollten, allerdings fehle es an einer verlässlichen finanziellen Förderung. Ferner mangele es an der erforderlichen Flexibilität innerhalb des klassischen Schulbetriebs. Hierbei spricht er insbesondere die zeitliche Dimension an. Als weiteres Hemmnis schließlich führt er eine fehlende Anerkennung und Wertschätzung der Offenen Arbeit an. Offene Kinder- und Jugendarbeit sei unter dem Strich ein idealer Partner von Schule, wenn es um die Neugestaltung von Schulen als Lebensort und um ihre Öffnung in Richtung Sozialraum und Lebenswelten gehe. Erforderlich sei, dass beide Partner die Bedeutung dieser Prozesse erkennt und diese auch gewollt seien. Bei allem müsse die Arbeit mit den Kindern ihr Profil erhalten. (29) Daraus folgt, dass es perspektivisch auch zu einer formalen und strukturellen Gleichberechtigung der bislang unterschiedlichen Ebenen, die in der Schule miteinander agieren, kommen muss.

Wie aufgezeigt, ist mittlerweile ein beachtlichter Teil der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Sachen Schule „unterwegs“. Innerhalb des ABA Fachverbandes gibt es diverse Träger, die Konzeptionen und Programme auf einem hohen Niveau organisieren. Diese werden nicht nur für sich erfolgreich wirksam, sondern sind darüber hinaus geeignet, die eingeforderte Fortentwicklung einer pädagogischen Gesamtkonzeption günstig zu beeinflussen.

Ein Beispiel hierfür ist etwa der im ABA Fachverband organisierte „Evangelische Verein zur Förderung von Schülerinnen und Schülern in Oberhausen“, der mittlerweile sieben Grundschulen im Ganztag organisiert; 635 Kinder werden augenblicklich erreicht. Nach Auskunft des Trägers sind es vor allem die gemeinsamen Erfahrungen, die dazu beitragen, die Qualität der Arbeit sukzessive zu verbessern. Nach wie vor allerdings werden die größten Hemmnisse in einer unzureichenden Förderung gesehen.

Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist das der Jugendfarm Bonn e.V., ebenfalls anerkannter freier Träger der Kinder- und Jugendarbeit. Für die Jugendfarm Bonn war die Kooperation mit Schule von Anfang an eine tragende Säule. Bereits im Jahr 1985 – die Jugendfarm hatte gerade ihren Betrieb aufgenommen – bildeten 24 Schüler und Schülerinnen der benachbarten Gesamtschule Bonn-Beuel eine Arbeitsgemeinschaft und leisteten Pionierarbeit zum Ausbau der Jugendfarm. Grundlegender Gedanke bei diesem Kooperationsprojekt war, dass Schule und Jugendfarm viele gemeinsame Ziele im Sozialisierungsprozess der Kinder haben, jedoch die Jugendfarmarbeit so manches bietet, was Schule nicht hat. Besonders die gestaltbaren und veränderbaren Freiräume bieten im Vergleich zum schulischen Kontext mehr sinnliche und Phantasie fördernde Spielanreize.

Mit dem Ziel einer langfristigen Sicherung der Arbeit auf der Jugendfarm wurde bereits 1992 ein Konzept der Ganztagsbetreuung diskutiert. Erste Verhandlungen mit dem Jugendamt im darauf folgenden Jahr führten zu neuen Angeboten für Schulklassen und Kindergärten. Zehn Jahre später entstanden dann die ersten Betreuungsangebote an Schulen (30) und auf dem Spielplatz Finkenweg, einem pädagogisch betreuten Spielplatz in Trägerschaft der Jugendfarm.

Die Betreuungsangebote an den beiden Schulen mündeten 2005 in der Offenen Ganztagsgrundschule; zwischen 2006 und 2008 etablierte sich die Jugendfarm neben diesen beiden Schulen erfolgreich als Träger des Offenen Ganztags an sechs weiteren Grundschulen (31) und an einer Förderschule. (32) 2009 stieg die Jugendfarm auch in die Betreuungsangebote an drei weiterführenden Schulen (33) ein. Zum Schuljahr 2010/11 konnte eine Kooperation mit einem weiteren Gymnasium vereinbart werden. (34)

Die Kooperationsprojekte der Jugendfarm Bonn mit Schulen umfassen aktuell – wie aufgezeigt – verschiedene Angebote an Schulen sowie die Erlebnistage als Angebot außerschulischen Lernens. Die Jugendfarm strebt die Zusammenarbeit mit Schule vorrangig an Standorten an, an denen im Idealfall die Möglichkeit einer Kooperation der Schule mit ihren Einrichtungen bzw. Plätzen der Offenen Arbeit gegeben ist oder die räumlichen Voraussetzungen dafür bestehen, die Angebote der Offenen Arbeit langfristig an der Schule zu integrieren. Letzteres ist von Bedeutung, da nur wenige Schulen – wie etwa die Marktschule in Bonn-Pützchen – in der Nähe der Jugendfarm liegen und damit eine Nutzung des Jugendfarm-Geländes mit seinen besonderen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten in den schulischen Alltag integrieren können.

Somit engagiert sich die Jugendfarm seit geraumer Zeit für die Einrichtung eines Bauspielplatzes an der Schule. In anderen Kommunen in Nordrhein-Westfalen (35) ist dieses Konzept bereits erfolgreich umgesetzt worden. Zusammen mit einer Mitarbeiterin des Städtischen Gebäudemanagements hat sich die Jugendfarm in Oberhausen Anregungen geholt, wie das Konzept auch unter dem Aspekt der Sicherheitsauflagen der Stadt Bonn möglich gemacht werden könnte. Bereits im Schuljahr 2008/2009 begann die Suche nach einem Platz, der vom öffentlichen Schulhof durch einen entsprechend hohen Zaun abgetrennt ist, keine direkte Nähe zu den anliegenden Nachbarn aufweist und zudem auch keinen unmittelbaren Einblick für vorbeiziehende Passanten bietet.

An der Robert-Koch-Schule in Bonn-Pennenfeld lag es aufgrund des bereits bestehenden Schulgartens auf der Hand, dieses Vorhaben zu realisieren. Die nötige Wiederinstandsetzung der bestehenden Umzäunung verzögert die Umsetzung aktuell noch auf unbestimmte Zeit.

An der Engelsbachschule in Bonn-Ippendorf liegt nach einem längeren Diskussionsprozess ein Votum der Schulkonferenz vor, worin sich die Schule klar für eine Umwandlung der angrenzenden Wiese in einen Natur- und Erlebnisraum ausgesprochen hat. Ein Bauwagen ist bereits organisiert und das Städtische Gebäudemanagement hat dessen Aufstellung bewilligt. Die genaue Gestaltung der Wiese soll maßgeblich von den Interessen der Kinder beeinflusst werden. Dennoch ist dieser Gestaltungsprozess von einem längeren Aushandlungsverfahren mit der Stadt und den direkten Nachbarn abhängig. Und ohne einen Sponsor, der die Aufstellung eines Zauns in vorschriftsmäßiger Höhe finanziert, wird das Projekt ebenfalls scheitern.

Schule funktioniert nach eigenen Regeln. Es wird nicht möglich sein, Schule in einen Abenteuer- und Bauspielplatz zu verwandeln, sehr wohl aber durch einen solchen zu ergänzen, wie auch das erwähnte Beispiel der Laborschule Bielefeld belegt. In Bonn wird die Jugendfarm im anstehenden Aushandlungsverfahren gemäß Karlheinz Thimm, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Berlin, die Rolle eines „produktiven Fremdkörpers an Schule mit Strahleffekten“ (36) übernehmen und damit „zur Überprüfung schulischer Üblichkeiten einladen: den Inhalten, den Zielen, den Methoden, dem Umgang mit Zeit, der Herrichtung von Räumen, der Gestaltung von Beziehungen.“ (37) Dieser Prozess soll im Idealfall über drei Jahre professionell begleitet und im Sinne eines Modelprojektes unter dem Motto „Offene Arbeit gestaltet Räume in der kommunalen Bildungslandschaft“ besonders gefördert werden. Die dafür nötigen Ressourcen sind im Rahmen eines breit angelegten Projektes von der AGOT NRW, der der ABA Fachverband angehört, beim Land beantragt worden.

Die Erfahrungen, die bislang gemacht wurden, sind – wie aufgezeigt – nicht nur kritikwürdig, sondern machen auch Mut. Bezogen auf die Offene Arbeit konnte Ulrich Deinet diverse Vorteile ausmachen. So geben 64,2 Prozent der Einrichtungen an, durch die Kooperation mit Schulen seien sie im Stadtteil, ergo im Sozialraum, stärker vernetzt. (38) Dieser Aspekt kommt einer Qualitätsentwicklung im Ganztag sehr entgegen, wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei nicht um einzelne Schulen handelt, sondern die Angebote im Sozialraum einrichtungs- und auch schulübergreifend angesiedelt sind. Erfolgreiche Konzepte organisieren ein handlungsorientiertes Angebot. Wie das dokumentierte Beispiel aus Bonn aufzeigt, ist es sinnvoll, an möglichst vielen Schulen Abenteuer- und Bauspielplätze zu organisieren. Kultur- und andere Projekte werden perspektivisch gesehen unhinterfragter Alltag in solchen neu zu schaffenden Lebens- und Lerneinrichtungen, in den „Treibhäusern der Zukunft“, wie sie der Schulexperte Reinhard Kahl bezeichnet. Erleben und Aneignen werden zentrale didaktische Elemente – Unterricht wird infolgedessen für alle Beteiligten befriedigender, da er nicht mehr losgelöst vom Alltagshandeln stattfinden muss, sondern dieses sinnvoll ergänzt. Nicht übersehen werden darf allerdings, dass es sich bei den erwähnten Beispielen nach wie vor um Einzelfälle handelt. Eine flächendeckende Realisierung von „Treibhäusern der Zukunft“ erfordert – wie bereits mehrfach betont – einen gewaltigen personellen Einsatz und massive finanzielle Unterstützung.

Im Sinne von Qualitätsentwicklung ist es mittelfristig erforderlich, auch die Ausbildung künftigen pädagogischen Fachpersonals den geschilderten und weiterhin beabsichtigten Veränderungen verstärkt anzupassen. Dies bezieht auch die Notwendigkeit mit ein, das bislang völlig unterschiedliche Gehaltssystem der pädagogischen Fachkräfte einander stärker anzugleichen. (39)

6. April 2011

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Fußnoten

1. vgl. Rainer Deimel: Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons
2. Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 1998, Seite 66
3. ebenda, Seite 67
4. Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit – Wie Lernen gelingt, Stuttgart 2011
5. Reinhard Kahl: Vortrag auf dem Bochumer Bildungskongress am 17. Februar 2011
6. 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, München 2005
7. vgl. Wibken Düx: „Aber so richtig für das Leben lernt man eher in der freiwilligen Arbeit“ – Zum Kompetenzgewinn Jugendlicher im freiwilligen Engagement, in: Thomas Rauschenbach/ Wiebken Düx/ Erich Sass (Hg.): Informelles Lernen im Jugendalter, Weinheim und München 2008, 210 ff.
8. vgl. ebenda
9. vgl. ebenda
10. Düx, a.a.O., S. 231
11. ebenda, S. 232
12. ebenda, S. 237
13. vgl. Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen: Chancen für Kinder. Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungsangebot in Nordrhein-Westfalen. Bericht der Enquetekommission, Düsseldorf 2008
14. Bundesjugendkuratorium: Zukunftsfähigkeit sichern! – Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe (2001), in: R. Münchmeier, Hans-Uwe Otto und Ursula Rabe-Kleeberg (Hg.): Bildung und Lebenskompetenz. Kinder- und Jugendhilfe vor neuen Aufgaben, Opladen 2002
15. vgl. ebenda
16. Bundesjugendkuratorium: „Sie meint nicht ein von außen Hineinstopfen vorbestimmter ‚Bildungsinhalte’. Bildung kann nicht erzeugt oder gar erzwungen, sondern nur angeregt und ermöglicht werden.“
17. vgl. Bundesjugendkuratorium, a.a.O.
18. vgl. Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen: Chancen für Kinder, a.a.O., S. 187
19. ebenda
20. ebenda, S. 68
21. Franz Josef Krafeld: Stärken Offener Jugendarbeit, Input beim 19. Forum Jugendarbeit des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, 4.-6. Januar 2011, Manuskript)
22. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
23. vgl. Ulrich Deinet, in: http://www.lwl.org/lja-download/datei-download2/LJA/jufoe/983524482/070903-05/1212643796_0/Deinet_Witten.pdf
24. vgl. ebenda
25. ebenda
26. ebenda
27. Ulrich Deinet: Vortrag zum Thema
28. Hierauf wurde erst kürzlich erneut in der Sendung Westpol am 6. März 2011 hingewiesen.
29. Mündlicher Vortrag Ulrich Deinet
30. Gartenschule in Bonn-Beuel und Marktschule in Bonn-Pützchen
31. Pleiser Wald Schule in Sankt Augustin-Niederpleis, Robert-Koch-Schule in Bonn-Pennenfeld, KGS Laurentiusschule in Bonn-Lessenich, KGS Engelsbachschule in Bonn-Ippendorf, Gotenschule in Bonn-Plittersdorf und EGS/KGS in Sankt Augustin-Hangelar
32. Gutenbergschule in Sankt Augustin-Ort
33. Realschule in Bonn-Beuel, Theodor-Litt-Schule in Bonn-Kessenich und Beethoven-Gymnasium in Bonn-Zentrum
34. Friedrich-Ebert-Gymnasium in Bonn-Kessenich
35. vgl. genanntes Beispiel der Evangelischen Jugend in Oberhausen
36. Karlheinz Thimm: Jugendarbeit im Ganztag der Sek.I-Schule (Arbeitshilfe 1 in der Reihe der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung im Rahmen von „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“, Berlin 2005, S. 18
37. ebenda
38. Des Weiteren werden an Veränderungen unter anderem genannt: Neue Zielgruppen, höhere Anerkennung der Arbeit durch die Eltern, Stärkung der jugendpolitischen Bedeutung sowie höhere Arbeitszufriedenheit.
39. Dies fordert zum Beispiel auch der bekannte Erziehungswissenschaftler Prof. (em.) Peter Struck (Universität Hamburg).

Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons

Von Rainer Deimel

Foto: Rainer Deimel
Foto: Rainer Deimel

„Wenn wir von Glück oder Unglück sprechen, so täuschen wir uns stets, weil wir nach den Verhältnissen und nicht nach den Personen urteilen. Eine Lage ist nie unglücklich, wenn man Gefallen an ihr findet. Und wenn wir von einem Menschen sagen, er sei unglücklich in seiner Lage, so meint dies nichts anderes, als dass wir unglücklich wären, wenn wir bei unserer organischen Beschaffenheit an seiner Stelle wären.“

In dieser Weise skizzierte der französische Schriftsteller und Staatsphilosoph Charles-Louis de Secondat Montesquieu (1689 – 1755) das hoffnungslose Unterfangen zu glauben, mit der Verabsolutierung einer bestimmten Sichtweise wäre man der Wahrheit näher gekommen. Beim Klatsch in einer Kaffeerunde dürften derartige Verlautbarungen – individuellen Sichtweisen entstammend – nicht weiter problematisch sein. Dramatisch wird es, wenn solche Sichtweisen zu Urteilen formalisiert werden, wenn sie möglicherweise über Wohl und Wehe eines Individuums mit weitreichenden Konsequenzen entscheiden.

Beschäftigen wir uns also zunächst mit den Urteilen. Wir kennen den Begriff einerseits aus dem Recht, andererseits aus der Logik. Das Fällen eines Urteils in der Rechtsprechung unterliegt einigen Formvorschriften, etwa dem Urteilseingang (Rubrum = an die Spitze eines Schriftstücks gestellte Bezeichnung der Sache (1), der Urteilsformel (Tenor = der entscheidende Teil des Urteils (2), dem Tatbestand und den Entscheidungsgründen. Es gibt auch Verfahren, denen eine Rechtsmittelbelehrung hinzugefügt wird. In der Regel sind gegen Urteile der Rechtsprechung Rechtsmittel – wie Beschwerde, Berufung oder Revision – zulässig. Das Urteil wird erst dann rechtskräftig, wenn die Rechtsmittelfristen abgelaufen sind. Derart formale Kontexte sind in unserem Alltagserleben eher selten, wenngleich man ihnen nahezu tagtäglich begegnen kann. Formalisierte Urteile gibt es ferner in Prüfungszusammenhängen (Führerschein, Ausbildung, Hochschule usw.), insbesondere erleben wir sie beständig in der unterrichtlichen Praxis der Schule. Während das formalisierte Urteil etwa beim Erwerb des Führerscheins nur „bestanden“ oder „nicht bestanden“ lautet (ähnliche Verfahrensweisen sind auch aus Hochschulen bekannt), ein Urteil vor Gericht mithilfe der beschriebenen Rechtsmittel zu weiteren Verhandlungen und damit zu neuen Abwägungen und deshalb zu einem neuen, geänderten Urteil führen kann, scheint das Urteil einer Schule so etwas wie ein unabwendbares Schicksal zu bedeuten.

Die traditionelle Logik begreift unter einem Urteil einen Satz, der das Bestehen oder das Nichtbestehen eines Sachverhaltes behauptet. Auf dieser Ebene haben wir es mit bejahenden (affirmativen) oder verneinenden (negativen) Urteilen zu tun. Denkbar ist auch, zu einem Urteil zu gelangen, indem man eine Synthese bildet. Laut Kant findet dabei eine Verknüpfung der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe zu einer Erkenntnis statt (Synthesis). Allgemein gesprochen ist ein Urteil somit eine Entscheidung über einen bestimmten Sachverhalt oder Erkenntnisgegenstand. (3)

Urteile in der Schule werden Noten oder Zensuren genannt. „Note“ ist abgeleitet vom lateinischen Begriff „nota“ (Merkmal). Der Begriff „Zensur“ (lateinisch „censura“) findet seinen Ursprung im „censor“, einem römischen Beamten, dessen Aufgabe das Schätzen (censere = schätzen) von Vermögen war. Zensuren oder Noten werden in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. In Deutschland haben wir es in der Regel (4) mit einem Ziffernsystem zu tun. Eine 1 bedeutet „sehr gut“, eine 2 „gut“, eine 3 „befriedigend“, eine 4 „ausreichend“, eine 5 „mangelhaft“ und eine 6 „ungenügend“. Nicht zufällig wird Zensur auch als Synonym für staatliche Überwachung und Unterdrückung – zumeist im Zusammenhang von Veröffentlichungen – benutzt.

Die Sinnverwandtschaft respektive Bedeutungsähnlichkeit der Begriffe „Urteil“, „Note“ und „Zensur“ dürfte also auf der Hand liegen. Interessant hierbei, dass dem Urteil in der Regel ein Vorurteil immanent ist. Dass jemand in der Lage sei, seine Umwelt vorurteilsfrei zu beobachten, kann inzwischen getrost als Ammenmärchen angesehen werden. Vorurteile entstehen bisweilen durch schnelle Schlüsse, regelmäßig durch unhinterfragte Annahmen, religiöse, moralische und kulturelle Vorstellungen. Vorurteile sind nicht nur überaus menschlich, sondern durchaus auch hilfreich, etwa in Situationen, in denen man Unangenehmes erlebt. Sie dienen dem Abbau von Unsicherheit in sozialen Handlungsfeldern und führen zur Entlastung des Urteilenden in Angstsituationen mangels Orientierung. (5) Vorurteile haben eine ähnliche Funktion wie eine Haftpflichtversicherung: sie sichern menschlichen Individuen das Recht auf Unbedachtsein, ein Recht, das niemandem abgesprochen werden darf. Der Mensch mutierte dann zur Maschine. Gewiss bergen Vorurteile auch immense Gefahren, vor allem wenn sie kollektive Ausmaße annehmen. Deutlich wird dies etwa bei Erscheinungen wie Rassismus, Antisemitismus und anderen Ismen. Allerdings: Sich als vorurteilsfrei bei der Beurteilung eines Umstandes zu begreifen, dürfte eine schwere Fehleinschätzung sein, hieße dies doch, sich als objektiv im traditionellen Sinne zu verorten.

Urteile der Schule implizieren in der Regel, sie entstünden unter einem objektiven Aspekt; objektiv steht hier im Gegensatz zu subjektiv. Mit derartigen Phänomenen hat sich unter anderem Niklas Luhmann befasst. Für ihn waren Objektivität und Subjektivität keine Gegensätze, sondern vergleichbare Begriffe in verschiedenartigen Systemen. Demnach ist objektiv, „was sich im Kommunikationssystem (= Gesellschaft) bewährt, subjektiv ist, was sich im einzelnen Bewusstseinssystem (grob gesprochen: im Kopf eines Menschen) bewährt. Bewusstseinssysteme können dann ‚subjektiv das für objektiv halten, was sich in der Kommunikation bewährt, während die Kommunikation ihrerseits Nicht-Zustimmungsfähiges als subjektiv marginalisiert’.“ (6)

Die chilenischen Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela führen aus: „Dies ist wie eine Gratwanderung. Auf der einen Seite droht die Gefahr, dass wir kognitive Phänomene unmöglich verstehen können, wenn wir eine Welt von Objekten annehmen, die uns informieren, da es in der Tat keinen Mechanismus gibt, der solch eine ‚Information’ möglich macht. Zur anderen Seite eine andere Gefahr: das Chaos und die Willkür der Nicht-Objektivität, in der alles möglich erscheint. Wir müssen lernen, auf der Mittellinie zu bleiben, auf dem Grat selbst zu wandern (7) … und vermeiden, in eines der Extreme – das repräsentationistische (Objektivismus) oder das solipsistische (Idealismus) – zu verfallen.“ (8) Maturana spricht einerseits von einer „Objektivität ohne Klammern“; hierbei werde eine beobachterunabhängige Existenz der Objekte vorausgesetzt, die erkannt werden könne. Er versteht hierin eine „fraglose, auf Unterwerfung zielende Gültigkeit“. (9) Dies führe zu einer Negierung all derjenigen, die den „objektiven“ Feststellungen nicht zustimmten. Alternativ dazu beschreibt er eine „Objektivität in Klammern“: „Das Sein konstituiert sich durch das Tun des Beobachters.“ (10) Folge man diesem Erklärungswege, werde einem bewusst, dass man sich nicht im Besitz der Wahrheit befände. Vielmehr erkenne man, dass es zahlreiche mögliche Realitäten gebe. Jede dieser Realität sei legitim und gültig, wenn auch nicht in gleichem Maße wünschenswert. Im Gegensatz zur „Objektivität ohne Klammern“ verzichte man bei der „Objektivität in Klammern“ auf die Unterwerfung anderer, man höre zu, wünsche die Zusammenarbeit, suche das Gespräch und wolle herausfinden, „unter welchen Umständen das, was der andere sagt, Gültigkeit besitzt. Als wahr erscheint eine Aussage dann, wenn sie den Validitätskriterien des jeweiligen Realitätsbereichs genügt.“ (11) Objektivität schafft eine Realität, (Objektivität) in Klammern erzeugt viele Realitäten. Des Weiteren erläutert Maturana, warum er sich für diese Definition entschieden hat, ergo den Begriff „Subjektivität“ in diesem Zusammenhang vermieden hat, da jener geeignet sei, eine berechtigte Annahme abzuwerten. Dahinter stecke die Idee, andere mögliche Sichtweisen anzubieten. Paul Watzlawick ergänzt, dass weiterhin mit „tierischem Ernst und wissenschaftlicher ‚Objektivität’“ Menschen getestet würden. Damit setze man sich gegen die Bedrohungen eines überkommenen Weltbildes zur Wehr. (12)

Gewiss kann man die gegenwärtige Schule nicht mehr mit jener vor den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts existierenden vergleichen. Gerade besagte siebziger Jahre galten als Reformära; vieles wurde verändert. Aber die größten Hindernisse, die diese Versager-Produktionsmaschinerie ausmachen, wurden nicht beseitigt. Somit konnten sich im Grunde auch jene Strukturen erhalten, die bis heute formelles „Versagen“ herstellen. Dazu gehören die unterschiedlichen Formen von Sanktionen, Sitzenbleiben und Urteile – eben das Beurteilen von Kindern und Jugendlichen. Der Begriff „Schüler“ soll nach Möglichkeit vermieden werden, da er die jungen Menschen zu dem macht, was sie in aller Regel dort auch sind: Objekte, die man vergeblich zu formen trachtet. Es vermag einem schon dem Atem verschlagen, festzustellen, die Lehrmetapher vom „Nürnberg Trichter“ aus dem 17. Jahrhundert nach wie vor lebendig, weil angewandt, zu erleben. Diese Methode ging schlicht davon aus, Lernen geschähe durch passive Informationsaufnahme.

Heinz von Foerster (Kybernetiker, Physiker sowie Kognitions- und Perzeptionsforscher) führt eine andere Metapher ein, wenn er von der „Trivialen Maschine“ spricht. Bei dieser imaginären Maschine stellt er eine unbedingte und unveränderliche Relation zwischen Input und Output fest. „Sie ist ausgesprochen zuverlässig, ihre inneren Zustände bleiben stets dieselben, sie ist vergangenheitsunabhängig, synthetisch und analytisch bestimmbar.“ (13) Von Foerster hat – vor allem in der westlichen Welt – die Vorliebe der Menschen beobachtet, alles möge sich so verhalten. Nachvollziehbar: Man möchte, dass sein Staubsauger den kompletten Dreck in seiner Wohnung beseitigt, ist aber gleichzeitig darauf bedacht, dass er nicht die Polster zerreißt. Also gibt es unterschiedliche, bedienbare Komponenten. Die Maschine verhält sich immer auf eine vorauszusehende Art und Weise; das Resultat stellt zufrieden. Wenn nicht, weil es vielleicht einen Defekt hat, „bringen wir es zu einem Trivialisateur“ (14), der das Gerät „wieder trivialisiert“. (15) Mit anderen Worten: Drückt man auf den roten Knopf, wird zu Recht erwartet, dass die rote Lampe leuchtet, drückt man auf den gelben Knopf, leuchtet die gelbe Lampe usw.

In der Schule werden – abhängige – Menschen wie „Triviale Maschinen“ benutzt. Eine Geschichte, die Heinz von Foerster erzählt, soll hier nicht vorenthalten werden: „Ich war einmal bei einer befreundeten Familie zum Mittagessen eingeladen – und der kleine Bub, der von der Schule hätte kommen sollen, kommt und kommt nicht nach Hause. Schließlich erscheint er doch, er weint und sagt: ‚Ich musste nachsitzen! Die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen!’ Wir wollten natürlich von ihm wissen, was denn passiert sei. Er erzählte, dass die Lehrerin ihm gesagt habe, er sei frech gewesen, er habe freche Antworten gegeben. Der kleine Bub: ‚Sie hat mich gefragt, wie viel ist 2 x 3?’ Und ich habe ihr gesagt: ‚Das ist 3 x 2! Alles hat gelacht – und die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen.’ Ich habe diesen kleinen Bub gefragt: ‚Deine Antwort ist völlig richtig, aber kannst du sie beweisen?’ Da nimmt er Papier und Bleistift, zeichnet zwei Punkte und – darüber – drei Punkte. Er sagt: ‚Das ist 3 x 2!’ Und dann dreht er das Papier um 90 Grad und meint: ‚Siehst du, Heinz, das ist 2 x 3!“ Dieser kleine Bub, der sieben Jahre alt war, hat auf die ihm eigene Weise das kommutative Gesetz der Multiplikation bewiesen: A x B ist B x A. Dass die Lehrerin diese Einsicht nicht als großartig erkannte, ist traurig. Sie hatte von ihm erwartet, dass er auf ihre Frage, was ist 2 x 3 ‚sechs’ sagt. Da er dies nicht tat, schien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Das nenne ich Trivialisierung junger Menschen.“ (16) Heinz von Foerster wird gefragt, ob Lehrer mit der „prinzipiellen Nichttrivialität“ ihrer Schüler zu rechnen hätten. Er entgegnet: „Selbstverständlich. Und wenn die Trivialisierung schon erfolgt ist, dann heißt die Aufgabe für die Pädagogik: Enttrivialisierung, auf andere Antworten aufmerksam machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anregen. Man könnte diesem kleinen Bub zum Beispiel zeigen, dass sich eine Zahl auf äußerst vielfältige Weise beschreiben lässt. Wenn die Lehrerin die gewünschte Antwort „sechs“ erhalten hätte, könnte sie weiterfragen: ‚Was ist sechs?’ Mögliche Antworten sind: Sechs ist die Wurzel aus 36, sechs ist 5 + 1 und 8 – 2, 6 ist 2 x 3 und 3 x 2.“ (17) Irgendwie erinnert diese Geschichte an die Empörung von Lehrern über Kinder, die niemals eine Kuh gesehen haben, aber glauben, die Kuh sei lila.

Kinder wie „Triviale Maschinen“ zu behandeln kann dem Auftrag der Bildung und Förderung lebendiger Organismen in keiner Weise gerecht werden, wie wir sehen konnten. Aus einem solchen Fehlverhalten obendrein noch die Kompetenz ableiten zu wollen, die Resultate zu beurteilen, kann im Grunde nur zu dem Desaster führen, das wir vorfinden. Dies kann beispielsweise durch die Zahl von 250.000 Kindern und Jugendlichen dokumentiert werden, die bundesweit jährlich eine Klasse wiederholen. Die Kommission „Jugendarbeit und Schule“ der AGOT-NRW (18) stellt fest, dass allein für Nordrhein-Westfalen bei durchschnittlichen Kosten von 4.800 Euro pro Kind oder Jugendlichem in der Schule eine Reduzierung von 10.000 Nichtversetzten ein finanzielles Förderpotenzial von 48 Millionen Euro oder 1.200 Lehrerstellen ergebe. (19) Die Kommission zitiert Klaus-Jürgen Tillmann: „Addiert man die Zahl für Zurückstellungen, Sitzenbleiben, Schulformwechseln und Sonderschulüberweisungen, so ergibt sich eine erschreckende Schätzung: Mehr als 40 Prozent aller Schüler/innen machen zwischen der ersten und der zehnten Klasse mindestens einmal die Erfahrung, von ihrer Lerngruppe aufgrund angeblich mangelnder Fähigkeiten ausgeschlossen zu werden.“ (20) SPIEGEL ONLINE fragt, ob Sitzenbleiben nicht „verplemperte Zeit“ und die 1,2 Milliarden Euro, die es bundesweit jährlich nach Angaben der GEW verschlingt, nicht sinnlos „verpulvertes Geld“ seien. Laut Angaben des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm, der ausgeht von einer Größe von 850 Millionen Euro, die Sitzenbleiben bundesweit kostet, in diesem Zusammenhang 16.500 Lehrerstellen durch die Wiederholer gebunden sind. (21) In dem Bericht heißt es ferner, Sitzenbleiben stempele Jugendliche zu Versagern. Der volkswirtschaftliche Schaden ist, wenn man den angeführten Fakten folgt, immens; das individuelle Leid und die biografischen Folgeschäden unübersehbar.

Die AGOT-Kommission Jugendarbeit und Schule stellt fest: „Es gibt eine dramatische Anzahl von Klassenwiederholungen, Zurückstellungen, Überweisungen und Abschulungen. Das selektive Schulsystem mit seinen angeblich homogenen Gruppen produziert … zu viele Kinder und Jugendliche, die in der Schule scheitern und als Opfer des Systems nachhaltig die Leidtragenden sind. Zudem bringen Klassenwiederholungen, auch belegt nach PISA, nichts.“ (22) Als weiteren „Fakt zur Bildungswirklichkeit“ führt die AGOT-NRW Jugendliche ohne Schulabschluss an. Für Nordrhein-Westfalen bedeutet dies, dass nach Beendigung des Schuljahres 2004/2005 14.691 (= 5,2 Prozent) junge Leute keinen Hauptschulabschluss erreichten. Weitere 13.566 (= 4,8 Prozent) schafften lediglich den Hauptschulabschluss der neunten Klasse. Überproportional betroffen sind hier vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund. Zum Aspekt der Schulabschlüsse stellt die AGOT fest: „Es gibt eine große Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss. Diesen Jugendlichen … wird die Zukunft verstellt und das Grundrecht auf freie Berufswahl vorenthalten.“ (23) Vor genannten Hintergründen scheinen auch die seit Jahren zu beobachtenden „Phänomene“ Schulmüdigkeit und Schulverweigerung erklärbar. Hierin sieht die AGOT-NRW ein Armutszeugnis für das System. Sie konstatiert: „Der große Bedarf an Maßnahmen für Schulmüde zeigt, dass Schule es nicht schafft, junge Menschen angemessen zu fördern. Viele dieser jungen Menschen, die in dieser Förderung unterstützt werden müssen, haben vorher Akzeptanz und Teilnahme an ihrem Leben als Schülerinnen und Schüler nicht erfahren.“ (24)

Dem Sitzenbleiben, dem verpassten Schulabschluss, der Schulmüdigkeit und der Schulverweigerung voraus geht eine entsprechende Beurteilung durch „Lehrkräfte“. Verwiesen sei hier noch einmal auf das bereits erwähnte Ziffernnotensystem. Aber: Ein Urteil, eine abschließende Bewertung scheint mir in diesem Zusammenhang einfach nicht möglich zu sein. Und: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (25) Wie kommen denn mit den üblichen Methoden Bewertungen zustande? Es werden Klausuren geschrieben, Hausaufgaben gestellt und beurteilt. Ebenso fließt in die Beurteilung ein, wie sich das einzelne Kind oder die/der einzelne Jugendliche in den Unterricht einbringt. Eine Zensur kann somit immer nur Abbild einer Momentaufnahme sein; völlig unmöglich, sämtliche Faktoren, die den Augenblick bestimmen, auch nur annähernd zu bewerten, etwa das persönliche, gesundheitliche und psychische Befinden des Individuums, seine familiäre Situation, Einflüsse, die im sozialen Umfeld aktuell wirken und vieles andere mehr. Es sollen hier keine Zweifel darüber gestreut werden, dass Menschen sich bezüglich ihrer jeweiligen Kompetenzen unterscheiden. Mir ist allerdings selten jemand begegnet, dessen Kompetenzen nicht förderungsfähig erschienen.

Heinz von Foerster äußert ganz klar, wie beschrieben ginge es nicht: „Das funktioniert nicht. Meine Auffassung ist, dass man niemals wissen kann, was der Schüler weiß. Da dieser Schüler ein nichttriviales System ist, muss er als analytisch unzugänglich gelten. (26) Ich behaupte, dass diese Prüfung sich selbst prüft. Mein diesbezügliches Theorem lautet: ‚Tests test tests.’“ Um seine Überlegungen verständlich zu machen, wartet von Foerster mit einem Beispiel auf; dieses stammt von Alan Turing, seiner Meinung nach einer der genialsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Turing ging der Frage nach, ob Maschinen denken könnten, ob es künstliche Intelligenz gebe. Um dies herauszufinden, entwickelte er den Turing-Test. Von Foerster hält diesen für das Urparadigma eines Tests. Wie dies funktioniert, beschreibt er folgendermaßen: „Man stelle sich vor: Da ist ein kleines Theater mit einem roten Samtvorhang. Und hinter dem Vorhang befindet sich eine nicht näher bekannte Entität. Vor dem Vorhang sitzen mehrere Gelehrte mit Zwickern, Brillen und langen Bärten. Diese Gelehrten dürfen jetzt dem Etwas, dieser Entität Fragen stellen. Nach einiger Zeit werden sie sagen, dass sich hinter dem Vorhang eine Maschine oder ein Mensch befindet oder dass diese Frage unentscheidbar ist.“ (27) Von Foerster macht deutlich, hier werde nicht die eventuelle Intelligenz getestet; vielmehr prüften sich die Gelehrten selbst. „Sie testen sich selbst, ob sie in der Lage sind, einen Menschen von einer Maschine zu unterscheiden. Und wenn ihnen dies nicht gelingt, dann sind sie eben durchgefallen. Meine Behauptung, die ich hier vertrete, lautet, dass im Grunde genommen die Prüfer geprüft werden – und nicht die Entität, die hinter dem Vorhang sitzt und brav auf die Fragen Antworten gibt. Also nochmals: ‚Tests test tests’.“ (28)

Demzufolge sei ein gutes Schulzeugnis ein Beleg für eine geglückte Trivialisierung: „Wenn man wirklich immer – klick, klick, klick – die gewünschten Antworten gibt, dann kriegt man gute und hervorragende Noten, das ist alles. Einer meiner Studenten, ein Computerwissenschaftler, hat einmal ein sehr lustiges Programm erfunden, das man zur Abfassung von Diplom- und Doktorarbeiten verwenden kann. Dieses Programm konstruiert aus den Lieblings- und Schlüsselwörtern des jeweiligen Professors, die man sich in den Vorlesungen notieren muss, zahllose wohlgeformte Sätze. Natürlich muss man, wenn man dieses Schreibprogramm verwendet, hervorragende Noten bekommen. Das ist der ganze Trick.“ (29) (30) Üblicherweise habe man von einem Lehrer die Vorstellung, dieser wüsste alles, die Kinder hingegen nichts. In diesem Sinne wäre Lernen als die schrittweise Beseitigung von Unwissen zu begreifen. Hierbei werde Unwissen als schlechter Zustand verstanden. Gleich einem Alchimisten verwandele der Lehrer Eisen zu Gold. „Die Schüler erscheinen, wenn man von dieser sehr alten lerntheoretischen Metapher einer schrittweisen alchimistischen Transformation ausgeht, als billiges Material, das über verschiedene Stufen in ein besseres, edleres und wertvolleres verwandelt werden muss.“ (31) Folglich – so der allgemeine Glaube – sei das Zaubermittel, das diese Schülertransformation einleite, das Wissen. Von Foerster grenzt sich gegenüber der Idee von Wissensvermittlung ab. Seiner Meinung nach lässt sich Wissen nicht vermitteln, vielmehr müsse Wissen von den Menschen selbst generiert werden. Da komme es im Wesentlichen darauf an – eine potenzielle Aufgabe für die Schule! –, Umstände zu organisieren, in denen Prozesse der Generierung und Kreation ermöglich werden. „Das Bild des Lernenden wird auf diese Weise ein anderes. Er ist nicht mehr passiv, er ist keine leere Kiste, kein Container, in den eine staatlich legitimierte Autorität (ein Lehrer oder ein großer, weiser Professor) Fakten und Daten und seine enorme Weisheit hineinfüllt … Der Lernende erscheint aus einer solchen kognitions- und perzeptionstheoretischen Perspektive als aktiver Konstrukteur; er ist es, der sich das Wissen erarbeitet.“ (32)

Dementsprechend ist es sinnvoll, weil Erfolg versprechender, junge Leute ganz deutlich als Lernende (von Foerster: Perzipierende, Kognitoren) und nicht länger als zu Belehrende zu begreifen und ernst zu nehmen. Der Frankfurter Professor Gerold Scholz ergänzt: „Im Sinne von Verstehen, also dass Kinder etwas verstehen sollen, sind sie nicht belehrbar. Sie können nur selber lernen. Das heißt, ich kann Situationen herstellen, in denen Kinder etwas lernen können. Das ist auch meine Aufgabe. Und ich habe auch die Aufgabe, innerhalb dieser Situation zu agieren. Ich gucke nicht nur einfach zu. Aber jeder Versuch, sie zu belehren, ohne dass sie ihre eigenen Vorstellungen mit dem, was an neuen Konzepten angeboten wird, in Verbindung zu bringen, ohne sich damit auseinandersetzen zu können, bedeutet, dass sie es schlicht nicht begriffen haben.“ (33)

Wie Scholz ebenfalls anführt, vertritt auch von Foerster nicht die Position, sich herauszuhalten und einfach nur zuzusehen. Für Lehrerinnen und Lehrer allerdings sei es hilfreich, ihre vermeintlich überlegene Position aufzugeben. Vielmehr sollten sie die Haltung einer „sokratischen Ignoranz“ einnehmen nach dem Motto: Ich weiß, dass ich nichts weiß! Dieses allerdings sei etwas anderes als eine Haltung der fundamentalen Ignoranz, deren Devise lautet: Man weiß noch nicht, dass man nichts weiß. Ein sokratischer Nichtwisser, der wüsste, dass er nichts weiß, zöge eine vernünftige Konsequenz, er begänne nämlich zu forschen. Lehrerinnen und Lehrer würden in diesem Sinne zu Forschern, die Kinder und Jugendlichen ebenso. Die Ebene wäre dann: Junge Leute und Erwachsene würden zu kooperierenden Mitarbeitern, „die gemeinsam – ausgehend von einer sie faszinierenden Frage – Wissen erarbeiten. Es entsteht … eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens und Forschens. Man weckt die Neugierde und die Empathie, regt zu eigenen Gedanken an, serviert nicht irgendwelche fertigen Resultate, sondern Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit und des wechselseitigen Entzückens werden. Jeder stützt sich auf die Kompetenzen des anderen; das Zittern vor der Allwissenheit einer einzigen Person hat ein Ende.“ (34) Wie viel Befreiendes dürfte eine solche Haltung für Kolleginnen und Kollegen, die sich in der überkommenen unterrichtlichen Praxis nicht selten erfolglos abstrampeln, haben!

Bernhard Pörksen weist darauf hin, Lehrerinnen und Lehrer könnten eine solchermaßen neu definierte Rolle möglicherweise nicht besonders attraktiv finden. Er bezieht sich dabei unter anderem auf eine Untersuchung aus Deutschland zur Interpretation von literarischen Texten. In dieser Untersuchung wurde deutlich, dass „das Dogma von der einen, der einzigen und wahren Bedeutung eines Textes aus einer empirischen Perspektive einfach unhaltbar ist“. (35) Gleichwohl könne festgestellt werden, dass trotz dieser Erkenntnis Schulen und Lehrer/innen an einer Veränderung des Unterrichts normalerweise überhaupt kein Interesse hätten – vermuteter Anlass: Die Interpretationshoheit zur Disposition zu stellen, könne zu einem Verlust an „Deutungsautorität“ und „Macht“ führen. (36) In diesem Zusammenhang führt von Foerster an, die meiste Zeit im Unterricht werde darauf verwandt, „illegitime Fragen“ zu stellen und Antworten „einzufordern“. Er definiert eine Frage dann als illegitim, wenn die Antwort darauf bereits bekannt ist. „Wenn ein Lehrer diesen Typ von Frage stellt, dann ist das doch eine Schweinerei und Gemeinheit, denn er kennt die Antwort ja schon. Legitime Fragen sind dagegen echte Fragen: Für sie existiert noch keine fertige Antwort.“

Wenn bereits beantwortete Fragen illegitim sind, müssen es auch die bürokratisch vorbereiteten und politisch abgesegneten Lehrpläne sein, illegitim, weil eine Bürokratenclique ihre ureigene Weltsicht festlegt, von einer fachlich offenbar ahnungslosen bzw. ignoranten Politik durchgewinkt.

Lehrpläne zwingen Lehrerinnen und Lehrer in ein Korsett, das ihnen die Luft eng werden lässt. Spätestens wenn diese im „Apparat“ angekommen sind, zwängen sie sich in jenen hinein; wenn nicht – so hört man –, werden sie oftmals „kollegial“ dazu gezwungen. Dieser Normierungszwang könnte im Übrigen der Grund sein, weshalb nach wie vor die meisten Lehrer Beamte sind. Ich vermag deren hoheitliche Aufgaben nicht zu erkennen. Sollte eine Schule eine siegelführende Instanz sein, bei der ich mir meine Fotokopien aus irgendwelchen Zwecken beglaubigen lassen kann, würde es meines Erachtens ausreichen, den Rektor oder den Hausmeister zum befristet ernannten Beamten zu machen, damit er mir meine Kopien amtlich anerkennen kann. Das Handeln in der Schule im Sinne von Bildungsförderung wie Pädagogik überhaupt schließt in diesem Sinne hoheitliche Aufgaben geradezu aus; schon allein deshalb, da sich illegitime Fragen verbieten. Pädagogik unterliegt immer wieder auftauchender Irrtümer; obendrein ist sie massiv an ihrer Verbreitung beteiligt. Sollte Bildung vor allem unter Einbeziehung von „Fehlerfreundlichkeit“ gefördert werden, so müsste ein verbeamteter Lehrer in der Rolle eines Geburtshelfers zugleich die des Totengräbers spielen.

Unterstützt wird der Autor auch durch den Psychologen Peter Lauster; dies in Form seiner „Entlarvung von Lebenslügen“, die er erstmalig bereits 1976 veröffentlicht hat. (37) Entschieden widerspricht er der Auffassung, Intelligenz sei wichtiger als Gefühl. Genau dieser Auffassung sei die Schule aber immer mehr untergeordnet worden. Selbst die Eltern seien inzwischen auf diesen Kurs eingeschwenkt. Sie seien kaum noch davon zu überzeugen, dass Kinder durch Spielen, eine ihnen im Grunde ureigene Tätigkeit, gefördert werden müssten als vielmehr durch das Vermitteln von Fakten – deren auswendig gelerntes Abfragen dann zur Bewertung führe. „Überschätzung der Intelligenz“ nennt Lauster dies. Er dokumentiert ein Gespräch, das er mit einem Vater führte, der darauf insistierte, dass die Tochter nach erfolgreichem Studium die elterliche Apotheke übernehme. Jene Tochter hatte bereits vor dem Abitur und dem anschließend kaum erreichbaren Numerus Clausus „Lernstörungen“ – familiäre Ziele waren bedroht. Lauster zufolge waren die „Lernstörungen“, die sich in diesem System in Noten reflektieren, kein Manko der Tochter, sondern vielmehr eines des „konventionellen Schulsystems“. (38) Dies bestritt der Vater gegenüber dem Psychologen heftig. Grundsätzlich sprach er seiner Tochter den Wunsch nach Freiheit und Zwanglosigkeit ab. Niemand könne im Berufsleben erfolgreich sein, wenn er nicht Disziplin, Ordnung, Ausdauer und Fleiß eingebimst bekäme. Interessant die Reaktion des Psychologen darauf, vertrat er doch die Meinung, gerade die Härte der Fremdbestimmung sei es, die Tochter mit Lernstörungen rebellieren zu lassen, sie also aus gesundheitlicher Sicht völlig normal reagiere. „Die Intelligenzentfaltung ist zu einem Faktor des Lebenserfolgs degeneriert, der nur um seiner selber willen zählt. Die psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität werden dafür aufs Spiel gesetzt. So weit geht die Tyrannei der äußeren Verhältnisse über die Psyche.“ (39) Und weiter referiert Lauster: „Vor allem Kinder aus der Unterschicht (40) haben mit diesem Problem zu kämpfen, denn sie bringen nicht die erforderliche psychische Ausgeglichenheit mit und fallen deshalb in ihren Intelligenzleistungen ab. Ihre störenden psychischen und emotionalen Probleme sind schichtspezifisch bedingt. Nicht die Emotionen sollten deshalb abgeschafft werden, sondern die sozialen Verhältnisse, die emotionalen Konflikte und psychische Schwierigkeiten erzeugen. Der Umgang mit Emotionen wie Angst, Wut, Schuldgefühlen, Freude und Lust wird in unserer modernen Industriegesellschaft nicht gelernt. Die Intelligenz wird einseitig gefördert, die Emotionalität wird dagegen sich selbst überlassen.“ (41) Neben seiner Forderung, die Schule damit zu beauftragen, erst einmal das Zulassen von Emotionalität zu üben, kritisiert er, das Schulsystem sei vielmehr damit beschäftigt, entwicklungsförderliche Methoden zu verdrängen oder bewusst nicht zuzulassen.

Steht die Kultusbürokratie unter dem Kuratel des kapitalistischen Systems? Angesichts ihrer Ignoranz kann man ernsthaft zu keinem anderen Schluss kommen. Neue Experimente – auch der Verzicht auf Zensuren (Urteile) – geraten in den Ruch der Gefühlsduselei, und Sentimentalität. Genau dies führt laut Peter Lauster zu einem Abwehrmechanismus bei Kindern und Jugendlichen, der sie mit vermeintlichem Versagen reagieren lässt; vermeintlich, weil vom System selbst konstruiert.

Lauster konstatiert, die freie Lernentfaltung werde abgeblockt. Lernende müssten sich an den Lernapparat anpassen, nicht der Lernapparat an die Lernenden. Schulmodelle, wie die Glockseeschule in Hannover – und wir fügen hier noch den völlig unverständlichen „Dauer-Versuch“, die Laborschule in Bielefeld (42) ein –, die ohne Angst, Schuldgefühle und Fremdbestimmung nach eigener Selbstentfaltung lernen könnten, würden als „Utopien“ verunglimpft und nicht ernst genommen, „weil hier das Lernen spielerischer und freier geschieht als auf den traditionellen Unterdrückungs- und Ausleseschulen.“ (43) Für Lauster ist Schule ein teuer erkaufter Nachhilfeunterricht und „gnadenloser Lernkampf um den eigenen Vorteil gegen die Mitschüler in einem gnadenlosen pädagogischen Auslesesystem. Aus der pädagogischen Aufgabe der Förderung ist ein darwinistischer Wettkampf um Noten … geworden.“ (44) Das Konkurrenzstreben, zu dem dies führe, erzeuge ein Verhalten, das „eiskalt, knallhart, distanziert unterkühlt“ (45) Er forderte bereits 1976 psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität ein. Und wie präsentiert sich die Schule heute? Als nach wie vor hoheitlicher Apparat, den man wegen bestehender Schulpflicht besuchen muss, selbst wenn es bessere Alternativen gäbe, die fördern und nicht be(ver)urteilen. Schule ist Exekutive, hoheitliche.

Hoheitliches – und hier ist durchaus die exekutive Gewalt des Staates gemeint – behindert in der Regel die meisten Formen von Kreativität. Wie wir gesehen haben, können aber nur Kreativität, Phantasie, Eigenverantwortung und Kooperation als Eigenschaften und Haltungen den pädagogischen Bemühungen zum Erfolg verhelfen. Der Lehrplan gibt vor, was ein/e Jugendliche/r zu wissen hat und können muss. Er gibt dies in einer beängstigend atemberaubenden Weise vor. In einer dem Menschen artfremden Homogenität muss jedes Kind zu einem vorgeschriebenen einheitlichen und verbindlichen Zeitpunkt all jene Kompetenzen erworben haben, die die Exekutive in Form der Kultusminister und ihrer Bürokraten für sinnvoll befindet. Junge Leute verlassen dann diese „Versager-Produktionsmaschinerie“ Schule mit den entsprechenden Noten. Sollte ein Nicht-Versager das Zertifikat namens Abschlusszeugnis in Händen halten, will möglicherweise die nächste Hürde in Form eines so genannten Numerus Clausus genommen sein. Auch hier verhindern illegitime Maßnahmen oftmals solche Ziele, die sich junge Menschen vorzunehmen gedachten. Lehrpläne in den bestehenden Formen sind illegitim, da sie kindlichen und jugendlichen Forscherdrang nicht unterstützen, sondern boykottieren und in der Folge bekämpfen. Die „einzig richtigen Antworten“ haben die Bürokraten ja bereits gegeben.

Zum mehrgliedrigen Schulsystem mit all seiner Disfunktionalität ist vermutlich alles gesagt und dokumentiert worden. Die politisch Verantwortlichen halten gleichwohl daran fest. Deshalb wird es hier lediglich exemplarisch kurz erwähnt; dies am Beispiel der „Sonderschule“. Im Zuge der bereits erwähnten Schulreformen in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man „plötzlich“ Sonderschulen und nicht mehr die bis dahin existierenden Hilfsschulen. Nach wie vor beeindrucken die Qualifikation und die Reflexion mancher Lehrerinnen und Lehrer, die an diesen „Instituten für Chancenlose“ arbeiten. Jetzt gibt es sie wieder, die „gute alte Hilfsschule“. Politische Korrektheit hat allerdings dazu geführt, Hilfsschulen nunmehr Förderschulen zu nennen. In jenem positiven Sinne, wie es beabsichtigt war, bedeutet Förderung nämlich Hilfe. (46) Ebenfalls kein Zweifel soll gestreut werden an dem Engagement der „Sonder“-Pädagogen“, die sich dort in löblicher Weise um die Kindern und Jugendlichen bemühen.

Nur: Welche Chancen hat man denn, wenn man ein Zeugnis – eine Beurteilung – einer Förderschule abgibt, etwa bei der Bewerbung um eine Lehrstelle? Das Zeugnis mag noch so gut sein, perspektivische Aussichten und Möglichkeiten werden mit dem Abschluss an einer solchen Schule „automatisch“ verbaut. Und das Fatale: (Lern- oder sonst wie) behindert sind die Absolventen dieses Schultyps vermutlich überhaupt nicht! Sie sind wahrscheinlich schlicht unter die Räder einer förderungsunfähigen (Regel-)Schule geraten. Bestätigt wird diese Einschätzung aktuell durch die Dissertation von Brigitte Schumann, die im Besuch einer Förderschule ein stilles Drama programmierten Scheiterns sieht. (47) „Die beste Image-Kampagne ändert nichts daran, dass Jugendliche aus der Sonderschule mit ihrem Abschluss am Arbeitsmarkt Null Chancen haben“, so Brigitte Schumann. (48) Sie dokumentiert, gerade 2.650 der rund 10.000 Schulabgänger hätten 2004 den Hauptschulabschluss Klasse 9 geschafft, 551 (5,4 Prozent) den der Klasse 10 und 81 (0,8 Prozent) die Fachoberschulreife. 7.002 junge Männer und Frauen (68 Prozent) verließen die Förderschule ohne Abschluss. (49) Brigitte Schumann gelangt zu der Erkenntnis, der Schonraum, in dem die jungen Leute ihre individuellen Potenziale entwickeln sollen, überhaupt nicht funktioniere. Vielmehr führe er sie in die soziale Isolation. So genannte Lernbehinderte stammten ferner zu 90 Prozent aus sozial schwachen Familien, zwei Drittel seien überdies Jungen und Migrantenkinder besuchten doppelt so häufig die Förderschule wie deutsche. Gerade mal acht Prozent als Lernbehinderte Klassifizierte besuchten in Nordrhein-Westfalen eine Regelschule. Je länger dem ungeachtet Kinder in einer Sonderschule sind, desto ungünstiger entwickelt sich ihre Intelligenz und ihr Lernverhalten. Brigitte Schumann stellt unter dem Strich bei den „Sonderschüler/innen“ und deren Eltern ein extremes Leiden an diesem Status und in der Folge eine große Scham hierüber fest: „Wer sich aber klein und erbärmlich fühlt, kann gar nicht richtig lernen. Das muss aufhören, ganz schnell.“ (50) Man könnte geneigt sein, zum Trost sarkastisch hinzuzufügen, dass eine Eins der Hauptschule ist inzwischen ebenso fast wertlos ist.

Vielleicht gelingt es, zu der Einsicht beitragen zu können, dass Zensuren illegitime Beurteilungen sind, da sie in der Regel auf illegitimen Fragen fußen. Bewertet wird beispielsweise mit „gut“, „mittelmäßig“ oder „schlecht“ das geäußerte Wissen auf Fragen, wann beispielsweise Karl der Große zum letzten Mal an Diarrhö litt. Wer erinnert sich nicht an die Kolonnen von hunderten von Geschichtszahlen, die auswendig gelernt werden mussten, um sie anschließend herunterzubeten. (51) Die Basis von Lehrerurteilen fußt in aller Regel auf informellen Leistungsproben und beiläufigen Beobachtungen. Dies zumindest stellt eine wissenschaftliche Expertise der Universität Siegen fest. (52) Vorsichtig äußern die Experten, darauf basierende Bewertungen hätte lediglich eine eingeschränkte Validität. Sie merken an, verschiedene Lehrer/innen bewerteten nach unterschiedlichen Kriterien; ebenso orientierten sie sich an diversen Schwellenwerten. Sie vertreten die Einschätzung, Ziffernnoten seien ebenso problematisch wie verbale Beurteilungen, auf die wir an späterer Stelle noch zu sprechen kommen. Die Siegener Expert/innen berichten, dass bereits 1949 ein Deutschaufsatz völlig unterschiedlich bewertet wurde, vor allem, dass für ein und dieselbe Arbeit sämtliche Ziffern von 1 bis 6 vergeben wurden. Dieses „Phänomen“ wurde in Siegen weiter untersucht, die Ergebnisse waren vergleichbar. Man trennte sich in der Untersuchung ferner vom Deutschaufsatz, da man diesen „als besonders anfällig für subjektive Einschätzungen“ befand und gelangte bei Leistungen in anderen Fächern gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen. Jede/r beurteilt, wie es gerade kommt.

Eine Bestätigung über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen, erhalten wir auch von Jean Piaget. Er zweifelt nicht an der Existenz eines Objekts – hier ein Kind oder Jugendlicher; (53) man entdecke seine Eigenschaften allerdings nur durch sukzessive Annäherung, denn: erreichen würde man das Objekt nie, „weil man dazu wohl eine Unendlichkeit von Eigenschaften entdecken müsste, von denen eine große Anzahl verborgen bleibt.“ (54)

Es geht somit nicht um schlechte Bewertungen; es geht um Bewertungen generell. Horst Bartnitzky hält den Glauben an die gerechte Note ebenfalls für einen Irrglauben; Gerechtigkeit und Objektivität stellen sich für ihn als Mythos dar. Er verweist darauf, dass dies seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesen sei. Interessant auch sein Hinweis darauf, dass Mädchen wohlwollender beurteilt werden als Jungen, „aggressive“ Jungen schlechter als stille, selbst wenn ihre Leistungsergebnisse gleichgesetzt werden können. (55)

„Schlechte“ Noten führen Kinder überdies in einen geradezu krankmachenden Circulus vitiosus; sie entmutigen und verhindern weitere Bemühungen. Solcherart Stigmatisierte gelten als unfähig, zunächst der Gruppe gegenüber; später glauben sie das auch von sich selbst. Jegliche Motivation ist dahin. „Die Angst vor Misserfolg erzeugt die nächsten Misserfolge.“ (56) „Sehr gute“ und „gute“ Beurteilungen können leicht zur Saturiertheit führen. In einer solchen Selbstzufriedenheit steckt beispielsweise die Gefahr, sich nicht weiter zu engagieren. Und was bedeutet „befriedigend“? Horst Bartnitzky zieht eine Parallele: Man solle sich vorstellen, man ginge zur Vorsorgeuntersuchung zum Arzt. Dieser würde als Ergebnis „befriedigend“ feststellen. Wäre man zufrieden? Höchstwahrscheinlich nicht!

Ein Vergleich von Kindern untereinander wirft noch ein weiteres Problem auf. Bereits Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) hat darauf hingewiesen. An den von ihm gegründeten Schulen gab es zu Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst keine vergleichenden Leistungsbewertungen, wohingegen andere Schulen zeitgleich damit begannen. Pestalozzi wollte nicht, dass Kinder miteinander verglichen würden; die Leistungen eines Kindes sollten allein an seinen eigenen Kräften und Anlagen gemessen werden. (57) Heutzutage ist eine „gute“ Note um so „mehr wert, je weniger Kinder sie haben. Es geht nicht nur um die Note, sondern auch um die Verteilung der Noten in der Klasse. Viele Eltern möchten deshalb gern den Klassenspiegel sehen. Dieser Vergleich der Kinder miteinander macht auf Dauer die Klasse zum Kampfplatz. Statt Team-Geist zu entwickeln, entsteht im Klassenraum eine Ellenbogen-Gesellschaft.“ (58) Man stelle sich den Druck vor, den ein Kind verspüren muss, wenn es beispielsweise als „zweit- oder drittbestes“ „gehandelt“ wird. Nicht der Beste zu sein, mag möglicherweise als Motivationshemmnis wirken; vom Sport her kennt man den so genannten „Verweis auf die Plätze“. Was aber geschieht mit einem Kind, das vielleicht das „beste“ war, und, aus welchen Gründen auch immer, „absackt“? Solche Phänomene sind nicht selten bei Pubertierenden zu beobachten. So kann der Status als ehemaliger „Klassenbester“ zu einer wahren Crux werden. Was ist mit dem „Zweitschlechtesten“? Zumindest hat er gute Gründe, den Schlechtesten für einen großen Versager zu halten. Bartnitzky zufolge verschiebt sich durch die Bewertung junger Menschen unter dem Strich das Ziel der Schule „vom Lernen der Sachen hin zum Lernen wegen der Noten.“ (59)

Nicht selten sieht man sich beim Infragestellen von Zensuren der Reaktion ausgesetzt, stattdessen es müsse stattdessen andere Bewertungen geben, etwa schriftliche Berichte. Darin spürt die Berliner Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. berechtigterweise einen weiteren Mythos auf. Für sie ist nicht die Frage, wie, sondern warum überhaupt bewertet werden soll. K.R.Ä.T.Z.Ä. bestätigt einmal mehr die von Horst Bartnitzky vertretene Position „zum Lernen wegen der Noten“; man stelle eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf: „Wieviel muss ich wissen/tun, um eine gute Zensur zu bekommen?“ Bewertung wird von K.R.Ä.T.Z.Ä. als Bestechung und Erpressung klassifiziert, die Aufmerksamkeit werde vom Lerninhalt weg auf eine mögliche Belohnung gelenkt. „Zensuren, Lob, Bienchen usw. sollen motivieren, heißt es. Dabei wird aber völlig übersehen‚ dass es einen entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen innerer und äußerer Motivation gibt – zwischen einem Interesse an dem, was man lernt um dieser Sache willen, und einer Vorstellung, in der Lernen als ein Mittel zum Zweck gesehen wird, wobei der Zweck darin besteht, Bestrafung zu vermeiden bzw. eine Belohnung zu erhalten. Nicht nur, dass diese beiden Orientierungen verschieden sind, sie wirken oft sogar in entgegengesetzte Richtungen“, (60) zitiert K.R.Ä.T.Z.Ä. den amerikanischen Schriftsteller Alfie Kohn, der sich intensiv mit den destruktiven Wirkungen von Konkurrenz und Wettbewerb auseinandergesetzt hat.

Plausibel resümiert K.R.Ä.T.Z.Ä.: „Bewertung setzt Kontrolle voraus, die in jedem Fall ein Eingriff in die Privatsphäre des Schülers ist. Ob, wann und in welcher Form bewertet werden soll, soll deshalb nur jeder Schüler selbst entscheiden. Zeugnisse und Bewertungsdokumente jeder Art ignorieren, dass Menschen sich auch nach Erhalt ihres letzten Zeugnisses ändern. Dies trägt dazu bei, dass andere sich Vor- bzw. Fehlurteile anhand des vor Jahren festgeschriebenen Erscheinungsbildes in der Schule bilden, welches wiederum keineswegs objektiv ist. Dieser Umstand kann zu einer lebenslangen Brandmarkung als beispielsweise „leistungsunfähig“ führen. Schon aus Gründen des Datenschutzes, der informationellen Selbstbestimmung, sind wir gegen Zeugnisse. Normalerweise merkt man doch, ob man eine Sache schon gut kann, man sich darin sicher fühlt. In den Fällen, in denen man überhaupt nicht das Gefühl hat, sich selbst einschätzen zu können, kann man ja andere fragen, was sie z.B. von den eigenen Singkünsten oder von der Qualität eines selbstverfassten Textes halten. Wichtig ist, dass sich dabei jeder bewusst ist, dass diese Einschätzung zwangsläufig subjektiv ist, aber man selbst die Ansprüche der anderen Person nicht teilen muss. Die Äußerung des anderen ist nicht mehr als eine Meinung! So läuft das im alltäglichen Leben, und so sollte es auch in der Schule sein. Wenn ein Schüler ein Feedback haben will, kann er einen Lehrer oder Mitschüler fragen. Wenn er keines will, sollte er in Ruhe gelassen werden. Da dieses Feedback eine persönliche Information des Lehrers (oder auch eines Schülers) an den Schüler ist, wird sie auch nirgendwo dokumentiert. Für Zeugnisse gibt es keine Rechtfertigung mehr. Auch die Eltern können keinen Anspruch auf Zeugnisse über ihre Kinder haben. Womit sich ein Schüler in der Schule beschäftigt, muss allein seine Sache sein. Nichtsdestotrotz werden sich viele junge Menschen freiwillig mit ihren Eltern darüber unterhalten, was sie in der Schule machen und wie es ihnen dort geht. Welche privaten Dinge sie anderen mitteilen, bleibt jedoch – nicht nur im Bereich Schule – in jedem Fall ihre eigene Entscheidung.“ (61)

Demokratische Schulen arbeiten in diesem Sinne. Sie bemühen sich intensiv darum, den Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen. Sie verzichten auf einen verbindlichen Lehrplan und selbstverständlich auch auf Zensuren und Prüfungen. An den Schulen werden die Belange des schulischen Zusammenlebens basisdemokratisch geregelt: Jeder Mensch hat eine Stimme. Die Regeln des schulischen Miteinanders werden so gemeinsam festgelegt. Es entsteht ein verbindliches Regelwerk. Nicht regelbar ist das, was etwa durch Gesetze bereits geregelt ist. Insofern kann etwa auch nicht über Menschenrechte neu bestimmt werden; ebenso nicht über andere geltende Gesetze. An demokratischen Schulen gilt ferner der „Kategorische Imperativ“ nach Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (62) Mit anderen, leichteren Worten: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Oder, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden!“ Eine der bekanntesten demokratischen Schulen ist beispielsweise die Sudbury Valley School in Framingham bei Boston/Massachusetts. (63)

Diskutiert werden soll an dieser Stelle nicht mehr die Unmündigkeit bzw. die Unfähigkeit junger Menschen. Das Bewusstsein, dass es sich bei solchen Einwänden um einen Mythos handelt bzw. dass Unmündigkeit und Unfähigkeit nicht selten Folgen eines hausgemachten Problems sind, darf bei mündigen Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden.

Deshalb sei – diesen Zusammenhang abschließend – noch ein Blick auf die „formale Erfolgsquote“ demokratischer Schulen erlaubt. Wie wir gesehen haben, gibt es auf demokratischen Schulen weder Zeugnisse oder anderweitige Rückmeldungen, noch Prüfungen, die die Zugänge für ein Studium bzw. eine Berufsausbildung vorsortieren. Absolventen demokratischer Schulen müssen sich, wenn sie eine formale Zugangsvoraussetzung etwa für eine Hochschule benötigen, extern, beispielsweise an einer staatlichen Schule, prüfen lassen. Von der 13. IDEC, der Internationalen Konferenz für Demokratische Bildung, die im Sommer 2005 in Berlin stattfand, nahm ich folgende Information mit: Eine Untersuchung, die der Frage nachging, wie hoch die Quote der Abiturientinnen und Abiturienten ausfiel, stellte fest, dass dies bei 95 Prozent der ehemaligen Besucher demokratischer Schulen der Fall war. (64) Welche Schule mit Zeugnissen und Zensuren kann auch nur annähernd eine vergleichsweise so hohe Anzahl vorweisen?

Die Frage sei erlaubt, ob es denn – im Gegensatz zu den demokratischen – auch undemokratische Schulen gibt. Eigentlich sollten die hier dargestellten Fakten und Argumente die Kenntnis längst zutage gefördert haben, dass diese Frage mit einem ganz eindeutigen „Ja!“ zu beantworten ist. Bei der so genannten Regelschule haben wir es in weiten Teilen mit demokratiefreien Zonen zu tun, allem offiziellen Partizipationsgefasel zum Trotz. Eindrucksvoll belegen dies, neben der kritisierten Praxis der Belehrungsanstalten, die deutschen Bundesländer selbst durch ihre Schulgesetzgebung. Zumindest an den Beispielen Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat der Autor dies überprüft. In den Schulgesetzen jener Länder ist jeweils ein Paragraph mit dem Titel „Einschränkung von Grundrechten“ zu finden. So heißt es im Artikel 120 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) aus dem Jahre 2000 kurz und eindrucksvoll: „Auf Grund dieses Gesetzes können im Vollzug der Bestimmungen über die Schulpflicht die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.“ Das Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) aus dem Jahre 1983 fasst sich noch knapper: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes) wird nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.“ Berlin (2004), Hessen (2002) und Nordrhein-Westfalen (2005) bemühen sich mit allerlei, dem Laien kaum nachvollziehbaren Querverweisen, Licht ins Dunkel zu bringen: Legitimieren will man hiermit gegebenenfalls die Verpflichtung, an der „Schulgesundheitspflege“ teilzunehmen; ferner will man mit einem solchen Passus natürlich auch die Schulpflicht auf sichere Füße stellen.

Aus aktuellem Anlass soll die betreffende Passage unserer Verfassung, dem Grundgesetz, hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Unter dem Titel „Persönliche Freiheitsrechte“ wird ausgeführt:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Demnach haben Kinder und Jugendliche, deren Status als Schüler festgezurrt wird, nicht mehr das uneingeschränkte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ihre Freiheit ist nicht unverletzlich. Die eingeräumte Möglichkeit, in diese Rechte per Gesetz auf diese Weise einzugreifen, haben sich ausgerechnet die Schulbürokraten zueigen gemacht. Ihre Intention, die sie somit „völlig legal“ ausbreiten, dokumentiert eindrucksvoll, dass tatsächlich beabsichtigt war und ist, Schulen expressis verbis zu demokratiefreien Zonen zu formen. In eine solche Zone passen Zensuren selbstverständlich wie maßgeschneidert.

Als neue Errungenschaft leistet sich Nordrhein-Westfalen die Wiedereinführung so genannter Kopfnoten. Ab dem Schuljahr 2007/2008 werden Ziffernnoten vergeben für Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit/Sorgfalt, Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit. Hier wird erneut ein illegitimes Vorgehen offiziell legalisiert. Junge Menschen werden mit einer solchen Kategorisierung keineswegs gefördert, sondern abgestempelt und gleichsam stigmatisiert. Insgesamt ein wahrlich gelungener Streich zur verschärften Verbreitung einer grassierenden Ellenbogen-Gesellschaft. Was bedeutet diese neue Praxis für Lehrerinnen und Lehrer? Einfache Rechnung: „30 Schüler pro Klasse mal sechs Kopfnoten pro Nase und Zeugnis ergeben 360 Noten im Schuljahr. Mit dieser Neuerung stehe Nordrhein-Westfalen national wie international weit vorn, sagte Klaus-Jürgen Tillmann, Pädagogikprofessor in Bielefeld, in der Landtagsanhörung zur neuen Ausbildungsordnung für die Sekundarstufe I.“ (65) In derselben Anhörung gab Dr. Siegfried Uhl vom hessischen Institut für Qualitätsentwicklung zu Protokoll: „Sechs (Kopfnoten) überfordern bei weitem die diagnostischen Fähigkeiten von Menschen – selbst von ausgebildeten Lehrkräften.“ (66)

Über das Thema „Diagnose“ kommen wir zum Begriff des „Paradoxons“, mit dem diese Auseinandersetzung unter anderem übertitelt ist. Eng damit verbunden ist zwangsläufig der Blick auf die menschliche Kommunikation. Begrifflich leitet sich Diagnose aus dem Griechischen ab und meint die Durchforschung im Sinne von Unterscheidung. Das dürfte uns bis hierher gefallen. Unterscheidungen finden wir gut, aber individuelle, nicht kategorische! Ebenfalls drückt es eine Erkenntnis aus, die zu einem Urteil führt. Letztlich ist ein Diagnoseversuch die Bemühung, die Heilung eines Menschen anhand vermuteter Symptome und deren Verbesserungschancen zu bewirken. Aus rechtlichen Gründen müssen Mediziner ihre Diagnosen gegenwärtig schriftlich dokumentieren. Im weiteren Sinne handelt es sich bei Diagnosen um Zuordnungen von Phänomenen zu einer Kategorie. In diesem Kontext sollte interessieren, dass das Diagnostizieren bislang Menschen in Heilberufen vorbehalten war; berechtigterweise – und auch hier immer wieder zweifelhaft, da Irrtümer niemals ausgeschlossen sind. Diagnostizieren in einem pädagogischen Kontext ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Der vorgegebene Versuch, junge Menschen zu fördern, wird hierdurch förmlich konterkariert. Während es Mediziner immer schwerer haben, Diagnosen zu erstellen, wird das Diagnostizieren Pädagogen immer leichter gemacht. Lehrerinnen und Lehrer mit derart unlösbaren Aufgaben zu überfrachten, zeugt von großer Verantwortungslosigkeit der Kultusbürokratie. Und wie wir am Beispiel der Kopfnoten sehen können, wird von dem, was nicht funktioniert, noch mehr determiniert: Im Handumdrehen pro Klasse im Jahr 360 Noten mehr – dies streng diagnostisch. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass sich Diagnosen in aller Regel mit Kranken befassen; gleichwohl wirft dies ein bezeichnendes Licht auf das formal organisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis: Hier der allwissende Magister, der „in Wirklichkeit“ nur ein exekutives Organ ist, dort das offenbar kranke (siehe Diagnose) und pflegebedürftige Kind, das man problemlos kategorisieren kann. (67)

Dieses Verhältnis kann nur als paradox klassifiziert werden. Als Paradoxon verstehen wir hier im Sinn der Logik eine sich selbst widerlegende Aussage, frei nach dem Motto: Nichts ist absolut! Paradoxie ist eine Aussage, die einen Widerspruch im Sinne der formalen Logik enthält, in sich widersprüchlich und der allgemeinen Erfahrung zuwiderlaufend und die unter Umständen eine andere, höhere oder spezifische Wahrheit spiegelt; im Zusammenhang mit „schlechten“ Zensuren beispielsweise eine – konstruierte – Unzulänglichkeit. Schulversagen als von der Schule selbst erzeugtes Konstrukt! Aber: Paradoxien erwecken Widerstände. Dies machen sich beispielsweise manche Arbeitsweisen der Psychotherapie zunutze. Im pädagogischen Kontext ist dies im Rahmen regulärer Verläufe alles andere als förderlich, da Widerstand zunächst (Abwehr-)Kampf erzeugt und somit Kooperation verhindert. Bei längerfristiger Anwendung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Erwachsenen „am längeren Hebel“ sitzen, endet der Widerstand schließlich in Resignation. Wie aus diesem Dilemma herauskommen?

Diagnosen, Beurteilungen, Urteile und Zensuren sind in einem pädagogischen Kontext widersinnig und völlig kontraproduktiv im Sinne der Förderung junger Menschen. Wie wird ein Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ein förderliches? Fördern funktioniert über Kooperation, Kommunikation „auf Augenhöhe“ und gemeinsames Forschen – wie beschrieben. Der verstorbene Direktor des „Brief Family Therapy Centers“ in Milwaukee (Wisconsin), Steve de Shazer, vertrat die Auffassung, Menschen könnten im Grunde nicht miteinander kommunizieren. Jede Kommunikation sei eine Verkettung gegenseitiger Fehlinterpretationen. Da Menschen allerdings zwingend auf Kommunikation angewiesen seien, sei eine einigermaßen geglückte Verständigung dann erreicht, wenn man sich bei seinen Fehlinterpretationen soweit angenähert habe, das weitgehend nachvollziehen zu können, was den Konversationspartner umtreibe. Der Erkenntnistheoretiker Ernst von Glasersfeld vergleicht Kommunikation mit einem Balztanz: Man nähert sich an, entfernt sich wieder voneinander, nähert sich wieder an, bis man Möglichkeiten der Viabilität, des gemeinsamen Weges, auf den man sich verständigen kann, entdeckt. Max Frisch brachte dies auf die einfache und dennoch überzeugende Formel: „Jeder Versuch, sich mitzuteilen, kann nur mit dem Wohlwollen des Anderen gelingen.“ (68)

Eine förderliche Haltung besteht dementsprechend in einer auf Wohlwollen basierenden Sichtweise und eines entsprechenden Habitus. Dabei geht es nicht, wie fälschlicherweise häufig angenommen, um Toleranz, vielmehr um Respekt und Akzeptanz. Dass Toleranz allenfalls eine vorübergehende Haltung sein könne, hat bereits Goethe konstatiert; er sah sie allenfalls als Vorstufe der Akzeptanz. (69) Akzeptanz holt die Kinder dort ab, wo sie stehen. Es wird dabei nicht übersehen, dass jedes Kind seine spezifischen Kompetenzen hat, die sich in einem entsprechenden Umfeld weiterentwickeln. So wird die Motivation und Kooperationsbereitschaft günstig stimuliert; dies um so stärker, je mehr sich die Eigenverantwortung junger Menschen entfalten kann. Auch ausreichender Raum für Eigeninteressen sollte vorhanden sein, das nämlich ist ein absolut günstiger Boden für das Gedeihen effektiven Lernens und dazu bedarf es keiner Beurteilungen; die Bestätigung, ein kompetenter Mensch zu sein, reicht völlig aus. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage gestattet, wie und mit welchen Mitteln man seine Kompetenzen erweitern kann und will.

Bei diesem Versuch einer Analyse, gepaart mit (fach-)politischen Forderungen, soll eingeräumt werden, dass der Autor möglicherweise völlig „daneben“ liegt. Allerdings spricht die Anzahl der vielen Menschen, deren natürlicher Zugang zu einer ihnen angemessenen Gesellschaft exekutiv verhindert werden konnte, eine deutliche Sprache. Brauchen wir unsere – vom System produzierten – Versager zwecks schimärenhafter Stabilisierung einer Gesellschaft, die längst nicht mehr stabil ist?

Lehrer, da Akademiker, werden nicht selten mit Wissenschaftlern, mit Forschern verwechselt (70), ein klarer Vorteil für ein künstlich und exekutiv aufgebautes Beurteilungswesen. Festzustellen bleibt, dass ihre Messergebnisse nichts belegen, geschweige denn beweisen können. Von seriösen Forschern erwartet man zu Recht eine nachprüfbare Annahme. Lehrer sind – als Administratoren ihrer jeweiligen Regierung – berechtigt, Wunschannahmen in solche Urteile zu verwandeln, die Lebensläufe exorbitant manipulieren und sogar in Richtung Demontage einleiten können; dies von den Beurteilten – wenn jene nicht durch Konkurrenz, Elterndruck und andere Zusammenhänge bereits manipuliert wurden – ungefragt und selten hinterfragt.

Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ihrer Rolle als förderliche Pädagoginnen und Pädagogen bewusst werden und entsprechende Haltungen entwickeln. Dazu gehört auch, sich aktiv gegen ihren Missbrauch als exekutive (Ver-)Urteiler zu wehren.

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Fußnoten

(1) Duden Band 5 – Das Fremdwörterbuch
(2) Ebenda
(3) www.wikidepia.de
(4) In der gymnasialen Oberstufe gibt es eine Punktwertung.
(5) vgl. Das Lexikon in 20 Bänden, Zeitverlag Gerd Bucerius, Hamburg 2005, Band 15, Seite 577
(6) www.wikipedia.de – Zitat: Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt 2002. Seite 19
(7) Humberto R. Maturana/Francisco J. Varel: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens, Scherz Verlag, Bern und München 1987 – zitiert aus der genehmigten Taschenbuchausgabe, Goldmann Verlag, o.J., Seite 146
(8) ebenda, Seite 259
(9) Humberto R. Marturana/Bernhard Pörksen: Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2002, Seite 39
(10) ebenda, Seite 40
(11) ebenda
(12) Paul Watzlawick: Selbsterfüllende Prophezeiungen, in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper Verlag, München, 8. Auflage 1994, Seite 100
(13) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 1998, Seite 55
(14) ebenda
(15) ebenda
(16) ebenda, S. 66
(17) ebenda, S. 67
(18) www.agot-nrw.de
(19) AGOT-NRW: „Auf dem Weg zur gelingenden Schule“. Eine bildungspolitische Streitschrift aus Sicht der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Düsseldorf 2006, Seite 5
(20) ebenda, Zitat aus Tillmann, Klaus Jürgen: Die homogene Lerngruppe oder System jagt Fiktion, in: Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden 2004, Seite 38
(21) SPIEGEL ONLINE vom 8. Juli 2005: Sitzenbleiben: Nichts als verplemperte Zeit?
(22) AGOT-NRW, a.a.O., S. 5
(23) ebenda, S. 6
(24) ebenda
(25) Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998. Zitiert ist mit diesem Satz übrigens das komplette abschließende 7. Kapitel des Tractatus.
(26) Unterstreichung von Rainer Deimel
(27) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 68
(28) ebenda
(29) ebenda, S. 68 f.
(30) Dass von Foerster hiermit meine bereits seit Jahren vorgetragene These bestätigt, Beurteilungen sagten immer mehr über die Persönlichkeit, Befindlichkeit usw. der Urteilenden aus als über die vermeintlich Beurteilten, kommt mir an dieser Stelle besonders entgegen.
(31) ebenda, S. 69
(32) ebenda, S. 70
(33) Gerold Scholz: Wortbeitrag aus der ersten Sequenz (Kinder sind unbelehrbar) des Films von Otto Schweitzer und Donata Elschenbroich: „Das Rad erfinden – Kinder auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Deutsches Jugendinstitut 1999
(34) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 71
(35) ebenda, S. 72
(36) vgl. ebenda, S. 73
(37) Benutzt wurde hier die Neuauflage aus dem Jahr 1989. Neuauflagen gab es reichlich von Peter Lauster: Lassen Sie sich nichts gefallen! Die Kunst, sich durchzusetzen – Mut zum Ich. Düsseldorf 1989, ECON Taschenbuchverlag.
(38) ebenda, S. 202
(39) ebenda
(40) Die Unterschicht wird inzwischen „Prekariat“ genannt. Die Schule mit ihrer illegitimen Beurteilung war an seiner Erzeugung in erheblichem Maße beteiligt – vermutlich direkt an zweiter Stelle nach dem Fehlverhalten der Politik. Angesprochen sind hier sowohl Unkenntnis als auch der bewusste Wille, ein Prekariat existieren zu lassen. Nur: Das Prekariat zeugt noch, während die eigenen „Nachwuchskräfte“ aussterben!
(41) Lauster, a.a.O., S. 204
(42) Unverständlich insofern, da die Laborschule seit Jahrzehnten erfolgreich arbeitet, bei den PISA-Studien mit besten Ergebnissen aufwartet, die Kultusbürokratie gleichwohl nichts dazu beiträgt, eine solche Schulform endlich zur Regel zu machen.
(43) ebenda, S. 201
(44) ebenda
(45) ebenda, S. 202
(46) Der Duden bietet selbstredend unter anderem für „fördern“ „helfen“ und für „Förderung“ „Hilfe“ an. Duden, Band 8, Synonymwörterbuch, 4. Auflage, Mannheim 2007, Seite 388
(47) Brigitte Schumann: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“, Bad Heilbrunn 2007
(48) WAZ vom 20. März 2007
(49) vgl. ebenda – Die Zahlen beziehen sich laut mündlicher Auskunft von Brigitte Schumann auf Nordrhein-Westfalen (Statistik Schuljahr 2004/2005).
(50) ebenda
(51) Zumindest kann der Autor aufgrund seiner gymnasialen Erfahrungen davon ein „Lied singen“. Einen Zugang zur Geschichte hat er sich verschafft, nachdem er mit Schule nichts mehr zu tun hatte. Das eigene Forschen diesbezüglich findet er bis heute spannend. Ferner erinnert er sich an einen Spaß, den er sich auf der Obertertia erlaubte: Selbst in einem eigentlich so wunderbar kreativen „Fach“ wie Kunst wurden Zensuren erteilt. Der Autor legte im Abstand von sechs Wochen ein und dasselbe Bild, das er gemalt hatte, dem Lehrer fünf Mal vor; dies im Wissen, dass er sich ohnehin nicht mehr daran erinnern würde. Beim ersten Mal gab es für das Bild eine „Zwei“, beim zweiten Mal eine „Drei“. Verbunden war dies mit dem Hinweis, ein „gelber Klecks“ auf dem Bild sei nicht kräftig genug ausgefallen. Und ehe man sich versah, fuhr der Lehrer mit seinem eigenen Pinsel und weiterer gelber Farbe auf das Bild, um den Klecks kräftiger darzustellen. Bei der nächsten Sichtung des Bildes kritisierte er gerade diesen Klecks, den er eine Woche zuvor angebracht hatte, als völlig übertrieben, und er gab eine „Vier“. Selbstverständlich durfte nicht darüber gesprochen werden, dass er das Bild schon öfter gesehen hatte; ein ziemliches Dilemma. Nach einiger Zeit wurde das Bild auch noch mit einer „Eins“ bewertet. An dem Fakt, derart unterschiedlich zu bewerten, hat sich nichts geändert. Auch aktuell werden Vergleichsarbeiten aller möglichen Disziplinen quer durch die Republik von unterschiedlichen Lehrern mit allen (sic!) verfügbaren Zensuren bewertet.
(52) Hans Brügelmann, Axel Backhaus et al. (Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität:Siegen): Sind Zensuren nützlich – und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Arbeitspapier im Auftrag des Grundschulverbandes, Siegen 2006, Seite 22
(53) Politisch völlig unkorrekt, wenn man das Gesabbel berücksichtigt, bei allem und jedem handele es sich um ein Subjekt.
(54) Jean-Claude Bringuier: Jean Piaget. Ein Selbstportrait in Gesprächen. Beltz Verlag, Weinheim 2004, Seite 104
(55) Bartnitzky, Horst: Müssen Noten sein? Vom Problem gerechter Leistungsbeurteilung, in: Naegele, Ingrid M. und Haarmann, Dieter (Hg.): Schulanfang heute. Ein Handbuch für Elternhaus, Kindergarten und Schule, Beltz Verlag, Weinheim 1999, Seite 215
(56) ebenda, S. 213
(57) vgl. www.heinrich-pestalozzi.de
(58) Bartnitzky, a.a.O., S. 214
(59) ebenda
(60) http://kraetzae.de/schule/schulkritik
(61) ebenda
(62) Diverse Quellen geben den Kategorischen Imperativ in unterschiedlich formulierten Varianten wieder. Das hier benutzte Zitat entstammt aus: Das Lexikon in 20 Bänden, a.a.O., Band 7, S. 504
(63) vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Schule
(64) Beitrag eines Referates auf der IDEC 2005 in Berlin
(65) WAZ vom 11. Januar 2007
(66) ebenda
(67) Vielleicht kann die Schule – anders als in den Ausführungen zur Diagnostik berichtet – doch von der Medizin lernen. Dem Vernehmen nach musste im alten China ein Arzt nur dann bezahlt werden, wenn die Therapie erfolgreich war – eine „Feststellung“, die sich leider inzwischen womöglich Gerücht herausgestellt hat.
(68) Die Quellen – de Shazer, von Glasersfeld und Frisch betreffend – sind dem Autor gegenwärtig nicht greifbar. Die Zusammenhänge sind beim früheren Lesen der entsprechenden Texte im Kopf „hängengeblieben“.
(69) Siehe hier auch: Jürgen Amendt: Ohne Respekt ist Toleranz wertlos – Verstoß gegen Würde und Selbstbestimmung im pädagogischen Alltag, in: Erziehung und Wissenschaft – Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 2/2006.
(70) Dass Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit den Kindern ganz hervorragende Forscherteams bilden können, wurde bereits zuvor beschrieben.

Vorstehender Beitrag wurde Ende 2007 als Beitrag für ein Fachbuch zum Thema „Zensuren“ verfasst. Wir wollen ihn den Nutzer(inne)n des ABA-Netzes nicht länger vorenthalten und stellen ihn hier zur Verfügung; dies kurz vor Schuljahresabschluss 2010. Möglicherweise hilft er beim Argumentieren, vielleicht auch als Trost für zahlreiche junge Menschen, deren Kompetenzen wieder einmal aufs Fragwürdigste in Abrede gestellt werden. Denjenigen, die mit ihren Zensuren zum Prahlen verführt werden, mag er eine Abschreckung sein. Wie stellte Johann Nestroy fest? „Die Zensur ist die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition.“

NAGEL-Redaktion – Bildung

„Wer fliegen lernen will, muss zuerst mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.“
Friedrich Nietzsche (1844-1900)

 

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Abbildung: Bündnis Recht auf Spiel/DKH

Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons

Zum Thema „Zensuren in der Schule“ hat Rainer Deimel einen umfassenden Beitrag verfasst. Wir wünschen hilfreiche Erkenntnisse!

 

DAGO! Kinderlobby, Hamburg

Wie Lernen funktioniert und Schule sein sollte

Über Facebook haben wir „DAGO! Kinderlobby“ kennengelernt, dazu gelernt und hilfreiche Informationen und Positionen ausgetauscht. Empfehlen möchten wir uneingeschränkt hier das Papier „Wie Lernen funktioniert und Schule sein sollte“. Mit freundlicher Zustimmung des Vereins DAGO! Kinderlobby haben wir es hier zum Herunterladen eingestellt und freuen uns über einen lebhaften Gebrauch.

dagoDAGO Kinderlobby“ engagiert sich für die Förderung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere durch Vertretung ihrer Interessen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Sie setzt sich dafür ein, dass Politik und Wirtschaft sich wieder an den Bedürfnissen der Menschen (und damit zum Wohl von Kindern ) orientieren und nicht umgekehrt.

Mehr erfahren über DAGO Kinderlobby? Logo anklicken!

 

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ)

Bildung braucht Freiräume. Dimensionen einer Lernkultur der Kinder- und Jugendhilfe

Positionspapier der AGJ – Beschlossen vom Vorstand 24./25. November 2011

„Die AGJ hebt hervor, dass eine Lernkultur mit den Dimensionen des Wohlbefindens, der Autonomieerfahrungen und Zeitsouveränität eine wesentliche Bedingung ist, um ein inklusives Bildungskonzept wirksam umsetzen zu können. Um Bildungsorte und -angebote so zu gestalten, dass sie tatsächlich für alle jungen Menschen zugänglich und nutzbar sind, ist eine zielgerichtete Einbeziehung und strukturelle Absicherung informeller Lernprozesse und non-formaler Lernmodalitäten unerlässlich.

Ein inklusives Bildungskonzept, das bewusst individuell unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen zulässt und auch soziale Ungleichheit als Ausgangsbedingung akzeptiert, hält für alle Kinder und Jugendlichen eigenständige Wahrnehmungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten offen.

Die Bildungsdebatte in Deutschland braucht deshalb eine Öffnung zu einer Lernkultur, die stärker als bisher auf Freiräumen und Wertschätzung gründet. Nur so wird sie die notwendige gesellschaftliche Kraft entfalten, um unser Gemeinwesen zu mehr Nachhaltigkeit und Alltagsdemokratie weiterzuentwickeln.“

AGJ (Arbeitgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe): Bildung braucht Freiräume (2011)

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Anhörung im nordrhein-westfälischen Landtag: Ganztagsangebot bedarfsgerecht weiter ausbauen – Flexibilisierung an weiterführenden Schulen ermöglichen

Am 6. April 2011 fand im nordrhein-westfälischen Landtag (Ausschuss für Schule und Weiterbildung) eine Expertenanhörung statt. Erstmalig wurde auch die Offene Arbeit zu einem solchen Thema eingeladen. Hintergrund war ein Antrag der FDP-Fraktion vom 21. September 2011, der zur weiteren Beratung an den Ausschuss weitergeleitet wurde.

Für die Offene Kinder- und Jugendarbeit war Rainer Deimel vom ABA Fachverband als Experte eingeladen. Zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik haben wir die Ausführungen auf eine eigene Seite gestellt.

 

Bochumer Memorandum von DGB und GEW 2011RTEmagicC_Titel_BO-Memo_01.jpg

Bochumer Memorandum 2011: Bildung als Schlüssel für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit

Zum zweiten Mal hat die GEW NRW gemeinsam mit dem DGB NRW ein sogenanntes Bochumer Memorandum veröffentlicht. Vorgestellt wurde es auf einem gemeinsamen Bildungskongress 17. und 18. Februar 2011 an der Ruhr Universität Bochum.

 

 

 

Bildung – ein Menschenrecht RTEmagicC_Titel_Bildung-Menschenrecht.jpgAlternativbericht zum fünften Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an denAusschuss für wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte derVereinten Nationen

Am 22. November 2010 hat die Bildungsgewerkschaft GEW in Genf den Mitgliedern des für die Überwachung des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte UN-Ausschusses ihren Alternativbericht vorgelegt. Interessierte können den Bericht hier laden.

 

Bildung ist mehr als Schule!

Abschlusserklärung der Fachtagung „Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften aus Sicht der Kinder- und Jugendarbeit“ der AGOT-NRW am 27. November 2009 in Bochum

 

Bildung in Deutschland: Bildungsbericht 2010

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Wichtige Ergebnisse des Bildungsberichts 2010 im Überblick (Zusammenfassung)

 

Ko-Konstruktion: Lernen durch Zusammenarbeit

Diesen Beitrag von Prof. Dr. Dr. Wassilios Fthenakis stellte uns freundlicherweise die Redaktion der „didacta Kinderzeit“zur Verfügung. Diese veröffentlichte ihn in ihrer Ausgabe 3/2009. Beim ko-konstruktiven Lernen kommt es mehr auf die Erforschung von Beudeutng an als auf den Erwerb von Wissen. Der Schlüssel dieses pädagogisch-didaktischen Ansatzes ist die soziale Interaktion.
 

Lerngesundheit durch Ressourcenorientierung

Autor: Eckhard Schiffer

Diese sehr empfehlenswerten Ausführungen konnten wir mit freundlicher Unterstützung von Dr. Eckhard Schiffer (Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes und Autor zahlreicher Bücher) auf eine spezielle Seite „Lerngesundheit“ stellen. Bedanken möchten wir uns bei ihm und bei Alexander Mavroudis vom Landesjugendamt Rheinland, der uns ebenfalls bei der Realisierung unterstützt hat.

 

Jugendhilfe ist Erziehung und Bildung

Autor: Reiner Prölß

Diesen Beitrag, der bereits aus dem Jahr 2003 stammt, konnten wir mit freundlicher Unterstützung des Teams vom Bauspielplatz Langwasser (Nürnberg) sowie des emwe-Verlags verwenden und hier einstellen. Reiner Prölß ist Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) für Jugend, Familie und Soziales der Stadt Nürnberg. Im Text selbst finden Sie über die Inhalte hinaus etliche Querverweise, die mit Links versehen sind. Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!

 

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Foto: Rainer Deimel

 

Kommunale Bildungslandschaften

Zu unserer Seite Bildung gibt es seit Mai 2009 eine Unterseite „Kommunale Bildungslandschaften“. Die AGOT-NRW befasst sich seit einiger Zeit mit diesem Thema. Mit Hilfe dieser Seite wollen wir den Entwicklungsprozess begleiten.

 

 

 

 

 

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Die Kölner Jugendamtsleiterin Carolin Krause geht in die Luft; Foto: Rainer Deimel, 2008

 

Weitere Beiträge  

Bildungsreport Nordrhein-Westfalen 2008

Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, Düsseldorf 2008 (9. September) – 32 Seiten, 310 KB

 

Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008

Bertelsmann Stiftung (165 Seiten, 3,2 MB)

 

Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in DeutschlandVolkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland

Eine ökonomische Bewertung langfristiger Bildungseffekt bei Kleinkindern – BASS-Studie (Bertelsmann Stiftung 2008, 19 Seiten, 2,7 MB)

 

Bildungs und Lerngeschichten

Sieh, was ich kann! Bildungs- und Lerngeschichten in Kitas – Erfahrungen aus dem Projekt „Kind & Co.“ – (Heinz Nixdorf Stiftung – Bertelsmann Stiftung 2007, 36 Seiten, 2,8 MB)

 

Die Schule geht in den Kindergarten

In seinem Beitrag bestätigt der Wissenschaftsjournalist Reinhard Kahl in der ZEIT vom 31. Januar 2008 die langjährige These des ABA Fachverbandes, dass Lernen nur durch bzw. erst in der Folge von Spielen möglich ist. Er dokumentiert praktische Beispiele und vorsichtige Annäherungsversuche.
Beitrag herunterladen

Jugendarbeit als eigenständiger Bildungsort – Jugend sucht sich eigenständige Bildungsorte

Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Deinet (Fachhochschule Düsseldorf) am 7. November 2007 in Düsseldorf im Rahmen einer Fachtagung der AGOT-NRW anlässlich der Veröffentlichung des neuen AGOT-Positionspapiers „Programm und Positionen der Landesarbeitsgemeinschaft Haus der Offenen Tür Nordrhein – Westfalen“

Positionspapier herunterladen

 

Werte reflektieren und erlebbar machen. Warum?

Vortrag von Dr. Christa Preissing (FU Berlin) anlässlich der Fachtagung des „Bundesforums Familie“ „Werte reflektieren und erlebbar machen! Wertevermittlung in jungen Jahren“ am 22. November 2007 in Hannover. Schwerpunktmäßig beschäft Christa Preissing sich mit dem Thema Bildung:
1. Was bedeutet Bildung?
Bildung bedeutet: Sich ein Bild machen von der Welt
Sich ein Bild von sich selbst in dieser Welt machen
Sich ein Bild machen von den anderen in dieser Welt
Das Geschehen in der Welt für sich erleben und verarbeiten
2. Übergreifende Orientierungen in unserem Bildungskonzept
3. Wertebildung in unserem Bildungskonzept
Bildung ist ein aktiver, sozialer und sinnlicher Prozess
Bildung ist soziale Praxis
Bildung ist sinnliche Erkenntnisfähigkeit
Bildung – auch Wertebildung – geschieht nur, wenn Gefühl im Spiel ist
Bildung ist ein kultureller Prozess: Gleihheit und Unterschiede
Gleichheit und sozial-kulturelle Unterschiede
Gleichheit und ethnisch-kulturelle Uhnterschiede
Mit Kindern in den Dialog gehen – Werte reflektieren
Vortrag herunterladen

 

Kostenloser Kindergarten rechnet sich: Renditen der Bildung – Investionen in den frühkindlichen Bereich. Eine Studie des Instituts für die deutsche Wirtschaft/IW (Februar 2007) Studie herunterladen

 

Zukunft, Bildung und Betreuung

Empfehlungen der  Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) zu den gemeinsamen Herausforderungen von Schule und Jugendhilfe bei der Umsetzung des Investionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (Juni 2003) 

 

Bildung ist mehr als Schule

Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte – Vorgelegt vom Bundesjugendkuratorium (BJK), der Sachverständigenkommission für den 11. Kinder- und Jugendbericht und der  Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe(AGJ) (10. Juli 2002).

Die 11 Thesen:

  1. Bildung ist mehr als Schule
  2. Bildung muss Zukunftsfähigkeit sichern
  3. Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit
  4. Selektion behindert Bildung
  5. Eltern sind keine Lückenbüßer
  6. Chancengleichheit für junge Migrantinnen und Migranten
  7. Bildung endet nicht mit dem Schulabschluss
  8. Geschlechtergerechtigkeit als Bildungsauftrag
  9. Kinder- und Jugendhilfe eröffnet ein breites Bildungsangebot
  10. Bildung erfordert neue Formen der Vernetzung
  11. Ganztagsangebote als Bildungsoffensive

 

 

Zukunftsfähigkeit sichern! – Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe

Eine Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums – Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums vom Dezember 2001

 

Hier gibt es weiter:

Welche Bildung leistet die Offene Arbeit

Entwurf „Bildungsplan“

Elemente eines Lernkonzeptes

Kompetenzentwicklung durch Spiel und Phantasie – Zum Bildungshorizont mobiler Spielpädagogik (nicht nur für MitarbeiterInnen beim Spielmobil)

Neugierde statt Drill
Anders als in anderen Ländern werden in Deutschland Einrichtungen des Vorschulbereichs weniger als Bildungsstätte denn als soziale „Aufbewahrungsorte“ für Kinder gesehen. („Stern“ vom 15. September 2004)

Spielmobile, Bildung, Politik

(Spiel-)mobile Bildung

Umwelt als Spiel- und Lernraum

Wie Kinder besser lernen – Was passiert im Kopf, wenn Kinder büffeln? Hirnforscher wollen das herausfinden, um unser Unterrichtssystem zu modernisieren. Erstmals arbeiten sie dabei mit Pädagogen Hand in Hand. („stern“ vom 8. September 2004)

Jugendarbeit als Teil lokaler Bildungslandschaften. Powerpoint-Präsentation von Prof. Dr. Ulrich Deinet (Fachhochschule Düsseldorf). Der Vortrag wurde gehalten am 7. November 2007 auf einer Fachtagung der AGOT-NRW. (6.847 KB, 34 Seiten)
Folien herunterladen

Zum Bildungsanspruch von Jugendarbeit – Ein Beitrag von Benedikt Sturzenhecker (2003)
Dr. Benedikt Sturzenhecker ist Professor an der Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit und Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes.

Konsortium Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht zu Bildung und Migration, erschienen am 2. Juni 2006 im Auftrag der Ständigen Konferenz des Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. (6,5 MB, 330 Seiten)

Gebildete Kindheit. Wie die Selbstbildung von Kindern gefördert wird. Handbuch der Bildungsarbeit im Elementarbereich. Von Johannes Merkel, Bremen 2005 (344 Seiten, 1,3 MB). Prof. Dr. Johannes Merkel beschäftigt sich an der Universität Bremen schwerpunktmäßig mit Vorschulkindern. Den Beitrag „Gebildete Kindheit“ haben wir im Internet gefunden. Hier werden so ziemlich alle Aspekte zum Thema fundiert aufgegriffen. Johannes Merkel liefert – auch und vor allem für die Praxis – hervorragende Argumente. Unbedingt lesen, wenn man seine Arbeit verbessern und nach außen gewinnbringender vertreten will! Dieser Beitrag wurde im September 2006 hier eingestellt.

Andere Seiten zum Thema

Privatisierungsreports der GEW: Vom Rückzug des Staates aus der Bildung

Die Privatisierungsreports der GEW haben wir auf eine spezielle Seite gestellt. – Dorthin

Privatisierungsreport 1: Vom Rückzug des Staates aus der Bildung (2006)

Privatisierungsreport 2: Vom Durchmarsch der Stiftungen und Konzerne (2006)

Privatisierungsreport 3: Unternehmen Schule: Von Billig-Lehrern, Schülerfirmen und Public Private Partnership (2007)

Privatisierungsreport 4: Globaler Freihandel: Wie das weltweite Geschäft mit der Bildung angekurbelt wird (2007)

Privatisierungsreport 5: Bildung als Privatsache: Privatschulen und Nachhilfeanbieter auf dem Vormarsch (2007)

Privatisierungsreport 6: Schöne neue Hochschulwelt (2008)

Privatisierungsreport 7: Kindertagesstätten (2008)

Privatisierungsreport 8: Erst kaputtgespart, dann privatisiert? Das öffentliche Bildungswesen in Deutschland (2009)

Privatisierungsreport 9: Neue Aufgaben – neue Märkte: Wie Diernstleistungen an Schulen Geld verdient wird (2010)

Privatisierungsreport 10: Wie die Finanzkrise die Privatisierung des Bildungswesen vorantreibt (2010)

Privatisierungsreport 11: Berufsbildende Schulen unter Privatisierungsdruck (2010)

Privatisierungsreport 12: Die Heilsbringer kommen – zur schleichenden Deprofessionalisierung im Schulbereich (2011)

Privatisierungsreport 13: Private Stiftungen versus demokratischer Staat – wie der Neoliberalismus das öffentliche Bildungswesen untergräbt (2011)

Link zur Seite mit den Privatisierungsreports

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„Ich würde mir gern mehr Wissen und mehr Allgemeinbildung aneignen. Schlau zu sein ist im Leben die beste Waffe.“

Renée Zellweger (2008)

 

Zur Situation der Offenen Arbeit mit Kindern

Einige kritische Anmerkungen

Von Hartmut Kupfer

Anfang der 80er Jahre erschienen die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die vielerorts zur Durchsetzung Offener Arbeit mit Kindern geführt hatten, im Schwinden begriffen zu sein. Ein Zurückdrängen Offener Arbeit in die Position einer Art „Sozialstation für Kinder“ fand bereits statt, und Kolleginnen und Kollegen, die dies nicht mittragen wollten, wandten sich zunehmend anderen Konzepten von Kinderkulturarbeit zu. Hierbei war allerdings häufig aus unserer damaligen Sicht die besondere Qualität Offener Arbeit, die nach wie vor mit Offenheit – Freiwilligkeit – Veränderbarkeit und Vielfältigkeit (in Kontinuität und Verlässlichkeit!) zu umschreiben ist, nicht mehr gesichert.

Seit 1987 haben sich diese Entwicklungen verschärft. In der Kinder- und Jugendarbeit sind – ich spreche von Berlin, aber anderswo ist es vielleicht ähnlich – Akzentverschiebungen vorgenommen worden. Mittlerweile wird Jugendarbeit wieder offensiv als Instanz sozialer Kontrolle über auffällige und „schwierige“ Jugendliche ausgebaut. Zuschreibungen wie „rechts“ und „gewaltbereit“ werden benutzt, um Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit an Sparzwänge und Kontrollinteressen anzupassen. Neue Finanzierungsstrategien kommen vor allem zeitlich begrenzten Projekten, spezialisierter sozialpädagogisch orientierter Arbeit mit Problemgruppen, relativ schmalspurigen soziokulturellen Projektansätzen zugute. Die Offene Kinderarbeit, die Kindern eines Stadtteils ein großzügig ausgestattetes, vielfältiges, veränderbares Lern- und Erlebnisfeld eröffnet, hat ihren Charakter als „Herzstück“ von Jugendhilfeangeboten vor Ort weitestgehend verloren, fristet ein Dasein am Rande oder passt sich durch die Umformulierung ihrer Arbeitsansätze den Trends der Zeit an. Ein Ausbau findet nicht mehr statt.

Diese Situation wird von PraktikerInnen weitgehend übereinstimmend gesehen, lässt sich aber kaum „von innen heraus“ verändern. Vielfach wird jedoch, wenn ein Widerspruch zwischen Selbstverständnis und realer Situation entsteht, die Realität für falsch erklärt, um das eigene Selbstverständnis zu retten. Langfristig scheint mir das jedoch der falsche Weg zu sein. Es müsste die Frage gestellt werden, ob die Zeit der „Offenen Arbeit“ im traditionellen Sinne vielleicht abgelaufen ist, ob sich die „Essentials“ Offenheit, Freiwilligkeit, Veränderbarkeit und Vielfältigkeit in der gesellschaftlichen Existenz der Kinder und Jugendlichen nicht langfristig auf andere Weise realisieren müssen.

Hierzu ein paar unterstützende Argumente

1. Nach zehn Jahren CDU-dominierter Politik hat sich eine Gesellschaft entwickelt, in der Ausgrenzungen und der Umgang mit ihnen sich als ein dominierendes Thema darstellt, wenn nicht sogar als das dominierende Thema. Nicht individuelle Benachteiligung ist (z.B. durch Bildung und Erziehung) aufzuheben, sondern die Individuen erwerben ihre Selbsteinschätzungen vermittelt durch Prozesse von Aussonderung und Ausgrenzung, die der direkten Bearbeitung (im Sinne eines „Privilegienabbaus“) gar nicht mehr zugänglich sind. An die Stelle der sozialdemokratischen Forderung nach „Chancengleichheit“, die am Beginn Offener Kinderarbeit stand, tritt heute „Integration“ als zentrales pädagogisches Denkschema. „Integration“ ist jedoch im Gegensatz zu „Chancengleichheit“ nur scheinbar ein politisches Konzept. Es besteht häufig darin, die große Gemeinsamkeit vorzugeben, zu der dann alle Einzelnen – unter Beachtung ihrer Besonderheiten – dazugehören können sollen. Das Ganze ist nicht Resultat der Auseinandersetzung (wie im traditionellen demokratischen Gesellschaftsverständnis), sondern es ist der Auseinandersetzung vorausgesetzt. Konflikte Offener Arbeit waren weniger integrierend als konfliktbefördernd, polarisierend. Sie ließen zu, dass sich jemand außerhalb der „großen Gemeinschaft“ stellte, nein zum „großen Ganzen“ sagte. Die spießbürgerliche „Mitte“, für die der Bundeskanzler bei jeder Gelegenheit eintritt, hat sich im Grunde unangefochten in heutige pädagogische Konzepte umgesetzt – und dies nicht erst seit der Vereinigung, sondern schon viel früher – vielleicht seit dem „deutschen Herbst“ am Ende der 70er Jahre.

2. In unserer Gesellschaft zeichnet sich ein rapider Wandel ab, was das Verständnis von „Gemeinwesen“ betrifft. Offene Arbeit lebt jedoch von der Vorstellung, dass alle, die an einem Ort, in einem Stadtteil, „Kiez“ usw. leben, zum Gemeinwesen gehören und zu der offenen Einrichtung Zugang haben sollen. Dies hat noch nie so richtig funktioniert, was wohl damit zusammenhängt, dass „Gemeinwesenarbeit“ ein Import aus den angloamerikanischen Gesellschaften ist, wo völlig andere Voraussetzungen bestehen, u.a. eine vielfach weitgehende Homogenisierung von Wohngebieten im Sinne von Ghetto-Bildung. Charakteristisch für Berliner Wohngebiete ist ihre relativ gute soziale Durchmischung, ein Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen in unmittelbarer Reichweite zueinander. Daher ging unsere Bildungspolitik immer von der Vorstellung aus, dass Selektionsprozesse in der Schule und nicht in der Gesellschaft stattfinden – was auch prägend für das Gegenkonzept der Offenen Arbeit war. Nun spielt sich allerdings eine gesellschaftliche Entwicklung ab, in der sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unter sozialen und zunehmend auch unter ethnischen Gesichtspunkten zu subkulturellen Einheiten formieren. Lokale „Gemeinwesen“ splitten sich dadurch ideologisch, ethnisch und kulturell auf. Kinder und Jugendliche machen dies sichtbar, indem sie sich in unterschiedlichen Gruppen organisieren und voneinander abgrenzen. Es könnte sein, dass dieser Prozess längerfristig offene Lernfelder mit einer einigermaßen stabilen sozialen Mischung vielerorts zum Verschwinden bringen wird. Dies hat sich z.B. im West-Berliner Bezirk Kreuzberg, was ASP-Arbeit angeht, so ähnlich abgespielt.

3. Schließlich ist der politische Hintergrund Offener Kinderarbeit, eine gesellschaftliche Perspektive auf zunehmende Partizipation und „Mehr-Demokratie-wagen“, seit den 70er Jahren in dramatischem Umfang abhanden gekommen. Mehr denn je wird die Bundesrepublik von Eliten kontrolliert und beherrscht, die über die Parteien und Verbände Nachwuchs rekrutieren; die politische Willensbildung spielt demgegenüber momentan eine untergeordnete Rolle. Von fortschreitender Demokratisierung in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist nichts zu erkennen. Insofern haben Ansätze, durch Offene Arbeit mit Kindern Basisfähigkeiten für gesellschaftliche Mit- und Selbstbestimmung zu vermitteln, keine Chance und keinerlei Perspektive. Wer politisch etwas erreichen will, der rückt im Gegenteil ab von offenen Formen, organisiert sich als Elite in einem bestimmten Politikfeld (im Bereich der Ökologie lassen sich solche Prozesse beobachten), versucht, einerseits eine massenwirksame Ausstrahlung durch Reklame zu erzielen, andererseits effektiv als Lobby zu arbeiten und eigene Persönlichkeiten in Schlüsselpositionen zu bringen.

Symptomatisch für die Situation der „politischen Kultur“, von der Offene Arbeit auch lebt, sind die gegenwärtigen Bestrebungen, Kinder direkt in die Politik „einzuschleusen“, durch Gesprächsrunden, Kinderparlamente usw. Hier wird keine Verantwortlichkeit, politische Willensbildung, demokratische Entscheidungsfähigkeit bewirkt, sondern Vertreter der Exekutivgewalt stellen sich im Stile von aufgeklärt-absolutistischen Herrschern dar, denen an der Berücksichtigung der Sorgen und Nöte der Untertanen gelegen ist. Das Ganze erweckt den Eindruck, als würden Kinder als Legitimationsbasis für Repräsentanten eines politischen Systems benutzt – gerade in dem Moment, in dem das System sich zunehmend als korrupt und rein machtorientiert erwiesen hat.1 Auch diese Entwicklungen machen es schwieriger, an eine zukünftige Perspektive für „Offene Arbeit“ zu denken.

Wie kann es weitergehen?

Der Ausgangspunkt für Offene Arbeit mit Kindern war die bildungspolitische Strategie, Benachteiligungen abzubauen und Möglichkeiten der Partizipation zu verstärken; dies bezog sich auf Kinder als Individuen. Zur Realisierung dieser Ziele war daher eine Ebene wichtig, auf der die Individuen zusammenkommen und auf der „soziales Lernen“ in neuer Weise stattfinden sollte. Dies wurde durch offene Lernfelder im Sinne alternativer pädagogischer Institutionen umgesetzt. Die Schlüsselrolle dabei spielten die Diskussionen über die „Konzeptionen“ dieser Einrichtungen. Das wissen alle, die in den 70er Jahren am Aufbau dieser Arbeitsfelder beteiligt waren. Aber man weiß auch, wie wenig heute noch über „Konzeptionen“ geredet wird…

Ausgangspunkt für eine zukünftige Offene Kinder- und Jugendarbeit wird aber wohl immer weniger die Förderung der Individuen in gemeinsamen, offen konzipierten „institutionsförmigen“ Lernfeldern sein. Kinder und Jugendliche werden sich künftig unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen organisieren, Träger mit unterschiedlichen Interessen werden auf ihre kulturelle Eigenständigkeit pochen, und Bearbeitung und Abbau von Dominanz wird nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Gruppierungen notwendig sein. Daher ist der Bezugsrahmen „Konzeption einer Einrichtung“ für die Herstellung offener Lernsituationen nicht mehr ausreichend. Offenheit kann nicht mehr sozusagen unter dem Prinzip der „Einheit des Ortes“ hergestellt werden, sondern lässt sich allenfalls noch dadurch erreichen, dass in einem Stadtteil oder in der Gemeinde ein Interessenausgleich unter den verschiedenen Gruppen gefunden wird. In dieser Form zukünftiger „Offener Arbeit“ würden Konflikte nicht individualisiert und sozialpädagogisch bearbeitet, sondern politisiert und kulturell gestaltet, wobei man häufig ohne Lösung dastehen würde (was aber nicht Neues ist). Professionalität wäre weiterhin notwendig, aber hauptsächlich, um ein versachlichendes, positives Auseinandersetzungsklima herzustellen und zu erhalten. Nicht: Um Kinder und Jugendliche auf den Weg der bürgerlichen Mitte zurückzuführen. Niemand würde „integriert“. Jeder darf sich absondern. Stadtteilversammlungen, Wahrnehmung übergreifender Aufgaben der Mittelvergabe, Veranstaltungsdurchführung usw. trügen zu einem sekundären gemeinsamen Rahmen bei. Abenteuerspielplätze würden hier und da weiterbestehen, aber stünden nicht mehr im Zentrum (real nicht und auch dem Anspruch nach nicht länger), wären nicht mehr die Orte, an denen sich Offene Arbeit wesentlich realisiert, sondern nur eine Stelle von vielen professionell und nicht professionell hergestellten Bestandteilen einer Offenen Kinder- und Jugendkulturlandschaft.

Vorstehender Beitrag stand in: DER NAGEL 56/1994. Ins Internet gestellt wurde er im August 2002. Fußnotenergänzungen sind neu.

Hartmut Kupfer arbeitete als Dipl. Pädagoge von 1980 – 1986 im Märkischen Viertel in Berlin auf einem Abenteuerspielplatz. Später widmete er sich diversen Forschungsarbeiten, u.a. mit „Lücke-Projekten“.

Anmerkungen:

1 Anm. d. Red.: Wie Jahre später die CDU-Spenden-„Affäre“ und der Kölner Müllskandal belegen durften. Inzwischen sind die „Herrscher“ strategisch verstärkt zur „Bauernopfer“-Mentalität zurückgekehrt, lassen sie doch hier und da „Miles-And-More-Sünder“ quasi stellvertretend – von den eigentlichen Polit-Skandalen ablenkend – über die „Klinge gehen“. Zur Erinnerung: Lothar Späth, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und spätere Zeiss-Jena-Chef, der mittels der Vernichtung von tausenden von Arbeitsplätzen wieder Glanz in die Firma brachte, jetzt zum Expertenteam als Wirtschaftsmann von Edmund Stoiber gehört, musste seinerzeit gehen, weil er sich von der Industrie einen Luxusurlaub schenken ließ. Der Kandidat Stoiber selbst saß die Affäre um von der Waffenindustrie gesponserte Freiflüge und um Gratisleistungen von BMW und Audi einfach aus. Helmut Kohl und Roland Koch überzeugten im Spendenskandal schlechthin. Der Altkanzler bricht das Gesetz und Hessens CDU erfindet jüdische Vermächtnisse. Norbert Rüther und Karl Wienand: Im Bau einer Müllverbrennungsanlage und gestückelten Spenden an die Kölner SPD verfilzen sich mehr als zehn Millionen Euro. Und schließlich bedient Jürgen W. Möllemann von der FDP dumpfe antisemitische Klischees, und auf den Straßen werden Juden angegriffen (letztgenannte Argumente komprimierte die Zeitschrift MAX 18/2002).

Sexueller Missbrauch – Aufdeckung oder Aufklärung?

Zum Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Von Susanne und Heinz Offe

Seit Mitte der 80er Jahre verbreitete sich das Wissen, dass sexueller Missbrauch wesentlich häufiger vorkommt, als man sich bis dahin vorgestellt hatte. Aufgrund der Tatsache, dass es für missbrauchte Kinder schwierig ist, anderen von ihren Erlebnissen zu berichten, entwickelte sich auf Seiten der professionellen Helfer eine engagierte Haltung, die dazu führte, jede Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als glaubwürdig und zutreffend anzusehen.

Inzwischen ist bekannt, dass es auch zahlreiche unzutreffende Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs gibt. Vom Missbrauchsverdacht Betroffene, die sich fälschlich beschuldigt fühlen, haben sich inzwischen in der BRD zusammengeschlossen, um sich gegen einen „Missbrauch mit dem Missbrauch“ zu wehren und auf ihn öffentlich aufmerksam zu machen. In Zeitschriften und im Fernsehen wird auf die z.T. katastrophalen Folgen hingewiesen, die unzutreffende Beschuldigungen und die daraufhin ergriffenen Maßnahmen (Unterbringung der Kinder in Heimen oder Pflegefamilien, z.T. Trennung der Eltern, z.T. Untersuchungshaft des Beschuldigten etc.) nicht nur für den Beschuldigten selbst, sondern auch für die auf diese Weise angeblich geschützten Kinder haben.

Die z.T. sehr emotionalisiert geführte Debatte um die Häufigkeit zutreffender und falscher Beschuldigungen macht es den Mitarbeitern sozialer Berufe wie z.B. ErzieherInnen, Jugendamts-MitarbeiterInnen u.a. schwer, im Einzelfall angemessen und sachlich mit dem Verdacht des Missbrauchs umzugehen. Im folgenden soll auf einige der diagnostischen Probleme, die sich bei der Abklärung des sexuellen Missbrauchs stellen, eingegangen werden, um zu verdeutlichen, wie unzutreffende Beschuldigungen zustande kommen und auch über längere Zeit hinweg aufrecht erhalten werden.

Entstehungszusammenhänge für unzutreffende Beschuldigungen

Der sexuelle Missbrauch ist aufgrund der öffentlichen Diskussion im gesellschaftlichen Bewusstsein besonders präsent. Daher entsteht im konkreten Fall der Verdacht des sexuellen Missbrauchs leichter. Dies gilt sowohl für einen zutreffenden als auch für einen unzutreffenden Verdacht. Falsche Beschuldigungen treten ebenso wie begründete in verschiedenen Lebenskontexten auf.

Es gibt jedoch Zusammenhänge, in denen unzutreffende Beschuldigungen besonders leicht erhoben werden. Es handelt sich u.a. um Fälle, in denen Eltern sich um das Sorge- oder Umgangsrecht nach der Trennung heftig streiten, und um Fälle, in denen bei Kindern im Vorschulalter der Verdacht aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen im Kindergarten oder in anderen Betreuungssituationen entsteht und durch ErzieherInnen formuliert wird. In beiden – sich überschneidenden – Fallgruppen handelt es sich meist um Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren. Bei diesen jungen Kindern besteht das Problem, dass sie selbst noch wenig Auskunft geben können, sodass ihre Äußerungen und Verhaltensweisen einen besonderen Interpretationsspielraum beinhalten. Falsche Beschuldigungen entstehen in dieser Altersstufe deswegen besonders häufig, weil bei den jungen Kindern derartige Äußerungen und auffallende Verhaltensweisen von Erwachsenen falsch gedeutet werden.

Dass in konflikthaften Trennungssituationen, in denen der Ärger und das wechselseitige Misstrauen der Eltern ein hohes Niveau erreichen, der Verdacht des Missbrauchs zu Unrecht aufkommen kann, ist leicht nachzuvollziehen. Der Verdacht stützt sich z.T. auf Äußerungen der Kinder, die von besorgten Müttern überinterpretiert werden. Noch häufiger ist die Interpretation von ungewöhnlichem Verhalten der Kinder, das auf der Basis der intensiven öffentlichen Diskussion des Themas und aufgrund  der emotionalen Situation der Mütter, die im Trennungskonflikt den Vätern alles Schlechte zutrauen, leicht zu der Schlussfolgerung führt, dass der getrennt lebende oder geschiedene Vater das Kind missbrauche. Mütter sind von ihren Befürchtungen häufig sehr überzeugt, selbst wenn der Vorwurf nicht zutrifft. Wir fanden in unserer Tätigkeit als gerichtspsychologische Gutachter bisher jedoch keinen Fall, dass der Vorwurf ausschließlich aus taktischen Gründen in Auseinandersetzungen um das Sorge- und Umgangsrecht vorgebracht wird.

In Fällen, in denen der Verdacht vom Kindergarten ausgeht, liegen ebenfalls in den seltensten Fällen eindeutige Aussagen der Kinder über Missbrauchshandlungen vor. Meist gründet sich der Verdacht auf Zeichnungen und Verhaltensauffälligkeiten, die in Symptomlisten enthalten sind, oder auf uneindeutige und verschieden interpretierbare Aussagen der Kinder. Meist richtet sich auch in diesen Fällen der Verdacht spontan gegen die Väter. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die auch in einem irreführenden Buchtitel („Väter als Täter“) ihren Niederschlag gefunden hat, zeigen empirische Untersuchungen jedoch, dass nur bei einem geringen Anteil der Missbrauchsfälle die leiblichen Väter die Täter waren.

Fehlerquellen bei der Entstehung und Abklärung des Verdachtes

Es gibt kein eindeutiges Interpretationssystem von Kinderzeichnungen, aufgrund dessen aus Zeichnungen verlässlich auf einen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Wenn Kinder z.B. längliche Gegenstände oder Raketen zeichnen, Häuser mit Schornsteinen malen, aus denen Rauch kommt, oder einen „penisartigen“ Entenschnabel zeichnen, sind dies keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch.

Ebenso lässt sich sexueller Missbrauch nicht aufgrund von Verhaltenssymptomlisten diagnostizieren, die auffällige Verhaltensweisen auch andere Ursachen haben können. Das einzige Symptom, dem nach der vorliegenden Literatur ein gewisser diagnostischer Wert zukommt, ist „altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten“. Diese Formulierung macht deutlich, dass es auch altersangemessenes sexualitätsbezogenes Verhalten von Vorschulkindern gibt. Einen ernsthaften Hinweis (wenn auch keinen Beweis) auf sexuellen Missbrauch gibt unangemessenes sexualisiertes Verhalten dann, wenn es häufig auftritt, und zwar auch gegenüber dem Kind nicht vertrauten Personen, und wenn es mit aggressiven Handlungsanteilen verbunden ist. Kein Hinweis auf sexuellen Missbrauch ist es dagegen, wenn ein Kind sich mit gespreizten Beinen in den Sandkasten setzt und Sand zwischen den Beinen verreibt. Auch wenn sich ein Kind, das von einer Erzieherin auf den Arm genommen wird, nicht im „Äffchen-Sitz“ (d.h. mit um den Körper der Erzieherin gelegten Beinen) festhält, sondern sich zu befreien versucht, ist dies nicht als Hinweis auf einen Missbrauch zu werten. Beide Verhaltensweisen sind von Erzieherinnen als Begründungen für einen Missbrauchsverdacht genannt worden. Wenn das Spreizen der Beine als sexualisiertes Verhalten oder das Nicht-Spreizen der Beine als Ausdruck sexueller Traumatisierung verstanden werden, so handelt es sich um überzogene und willkürliche Interpretationen. Wenn erst einmal ein Verdacht vorhanden ist, wird leicht jedes Verhalten als Anzeichen für einen Missbrauch gesehen.

Auch wenn bei einem Kind Verhaltensstörungen auftreten, zeigt dies zunächst nur, dass es ihm nicht gut geht und dass es erheblichen Belastungen ausgesetzt ist, die seine Entwicklung beeinträchtigen. Es gibt keine Verhaltens-Symptome, die einen Rückschluss auf sexuellen Missbrauch als spezifische Ursache zulassen. Die Art der Symptome erlaubt keine zuverlässige Diagnose über die Art der Belastungen. Verhaltensauffälligkeiten sind ein Grund zur Besorgnis; sie sollten Anlass geben, die Art der Belastungen genauer zu klären und nach möglichen Hinweisen zu suchen. Wenn dabei der Blickwinkel von vornherein auf den Verdacht des sexuellen Missbrauchs verengt wird, bedeutet dies keine Hilfe für das Kind, sondern in der Konsequenz oft eine erhebliche zusätzliche Belastung.

Das Spiel mit anatomisch ausgebildeten Puppen ist ebenfalls keine zuverlässige Methode zur Diagnose des sexuellen Missbrauchs. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass sich Kinder, die missbraucht worden sind, nicht eindeutig von Kindern, die nicht missbraucht worden sind, aufgrund ihres Spiels mit den Puppen unterscheiden lassen. Es ist z.B. kein Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes, wenn das Kind beim Ausziehen der Puppen über die Genitalien erschrickt und die Puppen wieder weglegt, ebenso wenig, wenn es das entgegengesetzte Verhalten zeigt und für die Genitalien der Puppe Interesse zeigt. Beide Reaktionen liegen im Normbereich. Es zeigt sich an einem Beispiel wiederum, dass jedes Verhalten mit einem sexuellen Missbrauch in Verbindung gebracht wird. Diese Auffassung schließt die Möglichkeit aus, feststellen zu können, dass kein Missbrauch stattgefunden hat.

Einige Untersuchungen zum Spielverhalten mit anatomisch ausgebildeten Puppen zeigen im Gegensatz zu der bisher verbreiteten Meinung, dass Kinder, die sexuell missbraucht worden sind, sexualitätsbezogene Spiele teilweise eher vermeiden als nicht missbrauchte Kinder. Eine wichtige Informationsquelle, um den Verdacht des sexuellen Missbrauchs zu klären, ist die Befragung der Kinder. Dabei werden die Kinder häufig zunächst von Personen befragt, die von dem Missbrauch überzeugt sind. Die Mütter möchten sich über ihren Verdacht vergewissern; die KindergärtnerInnen führen Befragungen durch und führen Protokolle über jede ihnen verdächtig erscheinende Äußerung. Sogenannte „Aufdeckungsgespräche“ dienen, wie der Name sagt, dazu, einen Missbrauch aufzudecken, wobei die fragende Person meist davon ausgeht, dass ein Missbrauch vorliegt und ihre Aufgabe nur darin sieht, ihn nachzuweisen. Bei einer derartigen Voreingenommenheit müssen fehlerhafte Befragungsergebnisse die Folge sein. Diese Fehler kommen einerseits dadurch zustande, dass die Antworten der Kinder durch die Art der Fragestellung beeinflusst werden (suggestive Einflüsse), und andererseits durch einseitige Interpretationen der so erhaltenen kindlichen Antworten. Die Erkenntnis, dass grundsätzlich durch jede Befragung Einfluss auf die Vorstellungen des Kindes vom Befragungsgegenstand genommen wird, sollte dazu führen, Befragungen an strengen methodischen Regeln zu orientieren, die dazu dienen, suggestive Einflüsse zu minimieren. Anderenfalls ergibt sich leicht eine Beeinflussung der Kinder, die so weit gehen kann, dass die Kinder ausführlich von Missbrauchserlebnissen berichten, ohne sie tatsächlich erlebt zu haben.

Es wird bisher zu wenig berücksichtigt, dass besonders junge Kinder in hohem Maße suggestibel sind und dass ihre Aussagen wesentlich von den Voreinstellungen der fragenden Personen beeinflusst werden. Dies ist um so mehr der Fall, wenn die fragende Person eine für die Kinder wichtige Bezugsperson ist. Wenn Mütter oder KindergärtnerInnen von dem Missbrauch überzeugt sind, können sie wiederholte Befragung erreichen, dass das Kind ihnen berichtet, was sie hören wollen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass man in Kinder alles Beliebige hineinfragen kann. Kinder sind in unterschiedlichem Ausmaß suggestibel. Je sicherer sie sich ihrer Kenntnisse und ihrer Erinnerungen sind, desto weniger Wirkung haben suggestive Einflüsse. Wenn sie jedoch nach Situationen oder Verhaltensweisen gefragt, von denen sie kein sicheres Wissen haben, neigen vor allem jüngere Kinder dazu, entsprechend den von ihnen wahrgenommenen Erwartungen und Sichtweisen der Befrager zu antworten. Bei Befragungen muss daher immer die Möglichkeit von Suggestionswirkungen bedacht werden. Berichte jüngerer Kinder sind oft wenig ausführlich.

Daher ist es oft erforderlich, Kindern gezielte Fragen zu stellen. Es ist bekannt, dass bei derartigen Fragen fehlerhafte Angaben gegenüber Spontanberichten der Kinder zunehmen. Oft werden die Kinder gefragt, ob eine konkrete Missbrauchs-Situation oder Missbrauchshandlung, die der Befrager für möglich hält, stattgefunden hat. Damit werden den Kindern Informationen vorgegeben, denen sie nur noch zustimmen und die sie in weiteren Befragungen verwenden können. Kinder neigen dazu, Fragen mit Ja zu beantworten, wenn die Frage die Möglichkeit einer Ja- oder Nein-Antwort zulässt. Sie neigen auch dazu, Fragen zu beantworten, indem sie die Informationen verwenden, die ihnen in den Fragen vorgegeben werden. Der Grund für dieses Antwortverhalten von Kindern ist darin zu sehen, dass sie gern eine gute Beziehung zu der sie befragenden Autoritätsperson herstellen möchten. Diese Antwort-Tendenzen haben für zukünftige Befragungen der Kinder Folgen.

Um dies an einem erfundenen und absichtlich extrem gewählten Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein Kind auf die Frage eines Erwachsenen, ob sein Vater es missbraucht habe, mit Ja antwortet, um mit dem Befrager, der dies offensichtlich erwartet, Übereinstimmung herzustellen, so wird es möglicherweise bei einer nächsten Befragung, in der ihm die offene Frage gestellt wird, was sein Vater mit ihm gemacht habe, antworten: „Mein Vater hat mich missbraucht“. Auf die Frage, was er denn genau gemacht habe, wird das Kind zunächst nicht antworten können, was oft als eine aufgrund der Missbrauchserfahrung verständliche Verschlossenheit interpretiert wird. Um Kindern die Aussage zu erleichtern, werden z.B. Fragen gestellt, auf die das Kind mit Ja oder Nein antworten kann, z.B. „Hat er dich vielleicht an der Scheide angefasst?“, was dem Kind neue Informationen gibt. In weiteren Befragungen über Missbrauchshandlungen (oder auch über andere Ereignisse) kann es so dazu kommen, dass Kinder ausführlich über Erlebnisse berichten, die niemals stattgefunden haben. Diese Kinder lügen nicht; sie sind vom Realitätsgehalt ihrer Angaben überzeugt, da sie glauben, dass Erwachsene wissen, was sie erlebt haben, und sie in gutem Glauben die Meinung der Erwachsenen übernehmen. Sie unterscheiden auch selbst nicht so genau wie ein Erwachsener zwischen erlebten und ausführlich mit ihnen besprochenen Inhalten, was die Übernahme der Meinung von bedeutsamen Erwachsenen nahe legt.

Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung: Je mehr Information eine Frage enthält, desto geringere diagnostische Information liefert eine zustimmende Antwort des Kindes, und desto schwieriger wird es, zukünftig den Realitätsgehalt von Aussagen dieses Kindes festzustellen. Aber nicht nur suggestive Einflüsse verfälschen die Ergebnisse von Befragungen. Falsche Schlussfolgerungen kommen auch durch voreingenommene und einseitige Wahrnehmungen und Interpretationen der kindlichen Äußerungen zustande. So werden erwartungswidrige Antworten der Kinder schwerer wahrgenommen oder leicht „weginterpretiert“ (z.B. als Scheu der Kinder, über tatsächlich stattgefundenen Missbrauch zu sprechen). Wenn ein Kind nicht die erwarteten Antworten gibt, werden Befragungen z.T. sehr häufig wiederholt, was die Suggestionswirkung erheblich steigert. Mit der Voreingenommenheit geht auch eine Tendenz zur Überinterpretation der kindlichen Äußerungen im Sinne der vorgefassten Meinung einher, so dass Äußerungen von Kindern oft eindeutiger aufgefasst werden, als sie es sind. Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, bei Befragungen Fragen und Antworten wörtlich zu protokollieren, weil sie schon kurz nach der Befragung Erinnerungs-Verzerrungen in Richtung auf das erwartete Ergebnis einstellen. Bei späteren Überprüfungen des Verdachts ermöglichen es wörtliche Protokolle, die Entwicklung der Aussagen des Kindes zu rekonstruieren, um eventuelle Einflüsse von Erwachsenen festzustellen oder ausschließen zu können.

Hinweise für den Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Entsteht der Verdacht, dass ein Kind missbraucht worden sein könnte, befinden sich die damit befassten Personen in einer schwierigen Situation. Oft sind Verdachtsmomente zunächst nicht ausreichend, sodass weitere Nachforschungen erforderlich sind. Bei der weiteren Klärung eines Missbrauchs-Verdachts sollte in jedem Fall sehr genau überlegt werden, ob auch andere Erklärungen für Verhaltensweisen und Äußerungen des Kindes denkbar sind, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Es erscheint sinnvoll, vorsichtiger als bisher mit dem Verdacht umzugehen.

Jeder, der sich mit der Klärung eines solchen Verdachtes befasst, wird sich mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet vertraut machen müssen, um Fehlerquellen zu kennen und im eigenen Handeln zu vermeiden. Eine gegenüber dem Missbrauchsverdacht neutrale Einstellung und das Wissen, dass es falsche Beschuldigungen gibt, sind notwendiger Bestandteil dieser Kompetenzen. Der Verdacht sollte grundsätzlich nicht von der Person überprüft werden, die ihn aufgebracht hat, sondern von einer an dem Fall bisher nicht beteiligten Person. Daraus ergibt sich, dass es bei einem Verdacht, der im Kindergarten aufgekommen ist, nicht Aufgabe von ErzieherInnen sein kann, über Monate und Jahre verdächtiges Verhalten oder Äußerungen von Kindern zu beobachten. Eine Person, die den Verdacht systematisch untersucht, sollte frühzeitig eingeschaltet werden. Je länger der Zeitraum seit den vermuteten Missbrauchsereignissen ist und je öfter das Kind befragt worden ist, desto schwieriger wird es, den Verdacht zu klären.

Bisweilen werden Kinder z.B. von besorgten Müttern schon vor der Abklärung, ob ein Missbrauch stattgefunden hat, in eine Therapie geschickt, in der die Missbrauchserfahrungen bearbeitet werden sollen. Obwohl dies in manchen Fällen wegen der langen Dauer einer endgültigen Klärung notwendig sein kann, ist bei einer solchen Entscheidung zu bedenken, dass eine Therapie, in der Missbrauchserfahrungen vorausgesetzt und thematisiert werden, für ein tatsächlich nicht missbrauchtes Kind eine große Belastung darstellt. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein Kind, das nicht missbraucht worden ist, schließlich vom eigenen Missbrauch überzeugt ist. In keinem Fall kann aber ein Therapeut oder eine Therapeutin , die mit einem Kind in der Therapie (vermutete) Missbrauchserfahrungen aufarbeitet, gleichzeitig als Sachverständige(r) zur Aufklärung des Verdachts beitragen. Wenn sich ein aufkommender Verdacht gegen ein Mitglied der engeren Familie (zumeist gegen den Vater) richtet, stellt sich die Frage, ob die Kinder aus der Familie herausgenommen und fremd untergebracht werden sollen. Hier lassen sich keine allgemeinen Richtlinien geben. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass die schwerwiegenden negativen Folgen, die eine oft länger als ein Jahr dauernde Trennung von den Eltern vor allem für jüngere Kinder bedeutet, von den antragstellenden Jugendämtern oft nicht ausreichend bedacht werden. Als besonders problematisch hat es sich erwiesen, Kinder aufgrund eines ungeklärten Verdachts in Pflegefamilien unterzubringen. Es ist besser, sie für die Übergangszeit in ein Heim zu geben, damit nicht für den Fall, dass sich herausstellt, dass der Verdacht falsch war, ein Kampf zwischen den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern um das Kind entbrennt.

Dr. Susanne Offe ist Dipl. Psychologin und arbeitet u.a. als Gerichtsgutachterin in Bielefeld. Prof. Dr. Heinz Offe ist ebenfalls Dipl. Psychologe. Er arbeitet als Hochschullehrer an der Fachhochschule in Bielefeld. Auch er ist als Gerichtsgutachter tätig.

Die vorstehende Auseinandersetzung wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 56/1994. Sie wurde uns freundlicherweise vom Deutschen Kinderschutzbund zur Verfügung gestellt.

Kindesmissbrauch und Sexualität

„Ich würde ihm zeigen, wie verdorben ich sein konnte. Alles andere war mir egal. Mein Schamgefühl ist anders geartet. Eine Dame, die vor dem Stühlchen eines behinderten Kindes „oh, wie reizend er doch ist!“ ausruft, ein Neureicher, der dem fünfzehnjährigen Kellner am Fischimbiss einen Skandal vom Zaun bricht, nur weil er kein dunkles Brot hat, ein wohlbeleibtes und gut gekleidetes Ehepaar, das Pfennige als Almosen verteilt, das sind die Dinge, die mein Schamgefühl hervorrufen; das andere Schamgefühl, diese konventionelle Scham habe ich nie besessen.“

(Almudena Grandes in: Lulu. Die Geschichte einer Frau. Hamburg 1990)

Missbrauch des Missbrauchs? Widerständiger Versuch gegen die Irritation

Von Rainer Deimel

Zugegebenermaßen hat die nunmehr seit längerem geführte Diskussion um sexuellen Missbrauch Verunsicherung geschaffen, zumindest was mich betrifft. Gleichzeitig konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich eine ähnliche Verunsicherung ebenfalls bei zahlreichen KollegInnen in den Einrichtungen manifestiert hat.

Das Aufbrechen von Tabus ist oft Voraussetzung für eine deutliche Veränderung und – wünschenswerterweise – Verbesserung bestehender gesellschaftlicher Problemsituationen. Dies ist auch im Falle von Kindesmissbrauch geschehen. Nach anfänglicher Verunsicherung, genährt nicht nur durch das Unfassbare des Missbrauchs an sich, des scheinbar massenhaft auftretenden inzestuösen Verhaltens, der demütigenden und möglicherweise irreversiblen Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene, sondern zusätzlich noch durch meine Rolle als Mann und Vater in einer derartigen Gesellschaft „brannte und brennt mir“ das Thema „auf den Nägeln“. In der Öffentlichkeit, den Medien, in Verbänden usw. wurde die Problematik aktiv „angegangen“, Aufklärung betrieben, wurden Seminare veranstaltet, zahlreiche Bücher und Broschüren veröffentlicht und anderes mehr. Im Laufe dieser Auseinandersetzung geriet beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund zeitweise in eine scheinbar defensive Position:

  1. Seitens des Kinderschutzbundes wurden Schätz-Zahlen angeben, die weit unter denen anderer Fachleute zurückblieben. Katharina Rutschky ( ) stellt in diesem Zusammenhang provozierend fest, dass der Kinderschutzbund damit möglicherweise seine Existenzberechtigung selbst in Frage stellen würde, da er als Organisation doch ein Interesse an möglichst vielen gequälten und missbrauchten Kindern haben müsse.
  2. Der Kinderschutzbund wollte sich – soweit ich dies einschätzen kann – bislang nicht der Meinung unterwerfen, sexueller Missbrauch sei im Vergleich zu anderen Quälereien und Ausbeutungen von Kindern die schlimmste Form von Übergriffen überhaupt.
  3. Trotz aller Anfeindungen ist der Kinderschutzbund bisher nicht von seinem Motto „Helfen statt Strafen“ abgewichen.

Ich freue mich mittlerweile über die Standhaftigkeit dieser – wie ich meine – in Deutschland bedeutendsten Kinderschutzorganisation. In der fachlichen Auseinandersetzung im vergangenen Jahr fiel mir auf, dass die Diskussion immer stärker in Richtung „Hysterie“ auszuarten drohte. Als erleichternd empfand ich das Aufgreifen der Thematik genau in der Intention, einer „Hysterisierung“ entgegenzuwirken, durch das SOZIALMAGAZIN im Mai und im Oktober 1992. Als Mann hatte ich immer noch so meine Schwierigkeiten, mich in dieser Form an die Problematik heranzuwagen. Erst Katharina Rutschky, die als engagierte Frau (Pädagogin und Historikerin) ihr Buch „Erregte Aufklärung“ herausgebracht hat, hat mir den Mut gemacht, mich auf diese Weise zu äußern. Sie – Rutschky – wird sich in der Zwischenzeit allerlei Anfeindungen ausgesetzt fühlen. Ihr ihre Seriosität abzusprechen, dürfte schwer fallen, zumal sie sich als Autorin und Herausgeberin von „Schwarze Pädagogik“ ( ) bereits 1977 einen „Namen“ gemacht hat. Mit einer beharrlichen Akribie hat sich Katharina Rutschky daran gemacht, einmal die Zahlen und Hintergründe aus dem Zusammenhang des Missbrauchs zu beleuchten.

Beim ABA Fachverband erschien in der Reihe DER NAGELKOPF (Nr. 15/1991) die Broschüre „Sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen“ von Petra Monshausen. In meinem Nachwort zu dieser Broschüre hatte ich formuliert: „Statistische Angaben sind im Zusammenhang mit dieser Problematik nicht unbedingt brauchbar. Sie können dazu geeignet sein, lähmendes Entsetzen und Hysterie auszulösen, aber auch Widerstand und Zweifel (‚Jeder vierte Mann …‘); dies wiederum ist einer Begegnung im Sinne von Verhindern und Handeln nicht dienlich, eher blockierend. Darüber hinaus sagen Zahlen über das einzelne Schicksal eines Kindes überhaupt nichts aus. Prozente helfen nicht weiter, sondern bringen eher die Gefahr einer weiteren Diskriminierung mit sich.“

Katharina Rutschky beleuchtet überzeugend den mythenhaften Hintergrund der Zahlen-„Inszenierung“, wobei sie unter anderem schwerpunktmäßig den Expertinnen Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter (Sachverständigenkommission 6. Jugendbericht) „auf den Zahn fühlt“. Sie stellt dabei fest, dass es sich bei der Zahl drei um einen Mythos handeln muss („Jedes dritte Mädchen… 300000 missbrauchte Mädchen… jeder dritte Mann ein Täter… 4 x 300000 = 1,2 Mio., so ist man dann bei der Zahl der BILD-Zeitung… in jeder dritten Minute in diesem Lande Tag und Nacht ein missbrauchtes Kind… ). Sie rechnet nach und stellt fest, dass die schier unermüdlichen Täter mindestens in jeder zweiten Minute aktiv sein müssten, vorausgesetzt, sie würden nie schlafen. So führen sich manche Statistiken selbst ad absurdum, und berechtigterweise stellt Katharina Rutschky fest: „Damit nicht nur jede fünfte, vierte, dritte, ja, jede zweite Frau als Opfer, aber damit auch als Rohstoff für Statistik, Forschungsvorhaben und therapeutische Einrichtungen in Frage kommt, muss man wohl noch weiter gehen, bis dahin, wo der Wahn beginnt und auch der letzte Rest von common sense und Lebensklugheit Ade gesagt haben.“ ( ) Und hinsichtlich der Zahl der missbrauchten Frauen und Mädchen stellt sie dementsprechend die Frage: „Warum nicht alle?“ ( ) Während und nach der Lektüre ihres Buches wurde mein Verdacht bestätigt, dass sich hinter alledem nicht nur das berechtigte individuelle Recht auf seelische und körperliche Integrität des Kindes verbirgt, sondern dass hier auch reichlich ideologische Suppe gekocht werden soll. Und genau damit will ich mich im Folgenden befassen. Ich will dabei auf Zahlen völlig verzichten. Gleichwohl möchte ich aus einer Untersuchung von Dirk Bange ( ), die dieser bei StudentInnen der Universität Dortmund durchgeführt hat, einige Informationen aufgreifen, die mir wichtig erscheinen: „Der Mythos, dass sexueller Kindesmissbrauch ein besonderes Problem der unteren sozialen Schichten ist, bestimmt bis heute das Denken vieler Menschen. Kindern, die von Bürgermeistern, Lehrern oder anderen honorigen Bürgern sexuell missbraucht wurden, ist u.a. deshalb oft nicht geglaubt worden. Diese Annahme wird durch das Ergebnis meiner Studie in Zweifel gezogen. Ingesamt kommt etwa die Hälfte der sexuell missbrauchten Studentinnen aus der Oberschicht oder oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel wurde als der unteren Mittelschicht zugehörig klassifiziert, und nur ein Zehntel sind der Unterschicht zuzurechnen…

Die Ergebnisse der Befragung deuten in die Richtung, dass sexuell missbrauchte Kinder vielfach in einem angespannten Familienklima aufwachsen:

  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre Eltern signifikant konservativer ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen wurden signifikant häufiger mit Schlägen, Hausarrest, Liebesentzug und Verboten bestraft als ihre nicht missbrauchten KommilitonInnen.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten die Beziehung ihrer Eltern zueinander signifikant schlechter ein als die nicht missbrauchten.
  • Die sexuell missbrauchten StudentInnen schätzten ihre eigene Beziehung zu den Eltern als signifikant schlechter ein als der Rest der Befragten…

Bei fast allen sexuell missbrauchten StudentInnen hat die sexuelle Ausbeutung unangenehme Gefühle wie Ekel, Hass oder Verwirrung ausgelöst…

… zu den psychosomatischen Beschwerden gaben die sexuell missbrauchten Studentinnen signifikant häufiger an, dass sie darunter leiden. Sie berichten häufiger über:

  • Essstörungen,
  • Schlafstörungen,
  • Unterleibsbeschwerden,
  • Sprachstörungen und
  • sie lehnen ihren eigenen Körper stärker ab…

Ähnlich sind die Ergebnisse bei den Fragen zu den psychischen Folgen. Die sexuell missbrauchten Studentinnen fühlen sich allgemein niedergeschlagener und trauriger als die nicht missbrauchten. Bei den Männern finden sich zwischen beiden Gruppen keine nennenswerten Unterschiede.

Etwas anders sieht das Ergebnis … zu den Einstellungen bezüglich Partnerschaft aus. Die sexuell missbrauchten Männer fühlten sich seltener wohl in engen Beziehungen und haben größere Angst vor langen Beziehungen als die nicht missbrauchten Männer. Bei den Studentinnen sind bei vier der fünf Fragen die Unterschiede statistisch signifikant: Sie haben

  • mehr Angst, in Beziehungen ausgenuzt zu werden,
  • haben mehr Angst vor Nähe,
  • sind misstrauischer in Beziehungen und
  • haben häufiger Angst vor langen Beziehungen als ihre nicht betroffenen Kommilitoninnen…

Die Ergebnisse sind auch bei den Autoaggressionen erschreckend. Denn die sexuell missbrauchten Studentinnen und Studenten gaben hochsignifikant häufiger als die nicht missbrauchten an, schon Suizidgedanken gehabt oder Suizidversuche hinter sich zu haben… Bei bewussten Verletzungen ist das Ergebnis ähnlich…

… (Die) sexuell missbrauchten Frauen (gaben) … signifikant häufiger an, ihre sexuellen Beziehungen seien schwierig und nach Sexualität seien sie unzufrieden. Die sexuell missbrauchten Männer gaben signifikant häufiger an, zu wenig sexuelle Erlebnisse zu haben und seltener die Initiative zu ergreifen als ihre nicht missbrauchten Kommilitonen.“

Entgegen den Befürchtungen Dirk Banges, das Problem des Missbrauchs könne heruntergespielt werden, möchte ich versuchen, einige pädagogisch-politische Aspekte hinzuzufügen. Ich bin mir der Tatsache des Missbrauchs sehr wohl bewusst. Ein Herunterspielen liegt mir fern. Gleichwohl möchte ich mich auf den Versuch einer Problemrelativierung einlassen.

In der Offenen Arbeit mit Kindern wurde immer wieder auf die Schwierigkeiten und Grenzen hinsichtlich Prävention und vor allem hinsichtlich konkreten Handelns im Falle (vermeintlichen) Feststellens sexuellen Missbrauchs hingewiesen. Auch dieser Umstand hat die Verunsicherung in den Einrichtungen nicht verringert. Vergleichbar schätze ich die Situation bei KollegInnen in Regelbetreuungseinrichtungen und bei LehrerInnen in Schulen ein. Viele KollegInnen sehen sich außerstande, adäquat zu reagieren. Sofern es sich dabei um tatsächlichen sexuellen Missbrauch handelt, erklären Alltag, Rechtslage in Deutschland und die unzureichende soziale, psychosoziale und sozialpädagogische Versorgung die Haltung der Bevölkerung in diesem Lande hinsichtlich dieser „erzwungenen“ Zurückhaltung. Überdies liegt die Vermutung nahe, dass eine primär juristische „Nachsorge“ den Traumatisierungs-Effekt des Missbrauchs noch einmal deutlich steigert. Die angesprochene Hysterisierung durch unangemessene Erregung und zu wenig einfühlsame Aufklärung hat überdies in etlichen Einrichtungen dazu geführt, dass ein Kind, das – aus welchen Gründen auch immer – „schlecht drauf“ ist, sogleich in den Verdacht gerät, Missbrauchsopfer zu sein. Bei aller Liebe und Leidenschaft für den Selbsthilfegedanken, bin ich davon überzeugt, dass gerade sexueller Missbrauch am wenigsten geeignet ist, ihm in Form von Selbsthilfegruppen zu begegnen. Leider ersetzt der frühere Missbrauch an der eigenen Person keine psychologische bzw. pädagogische Ausbildung. Oft sind allerdings dann die Verhaltensweisen entsprechend. Und genau hierin erblicke ich weitere Traumatisierungsgefahren.

Missbrauch und Ausbeutung von Kindern findet in allen Schichten und in vielerlei Hinsicht statt. Ich denke da beispielsweise auch an die Problematik der Kinderarbeit (= „Kindermaloche“, um es von Arbeit mit Kindern oder auch der selbstgewünschten Lohnarbeit junger Menschen abzugrenzen). Die Bewertung von Missbrauch und Ausbeutung kann in der Regel nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Kultur stattfinden. Unsere Kultur mit ihrem Wertesystem gibt Standards vor, quasi eine Skala, mit der wir den jeweiligen Schweregrad von Verstößen einordnen. Aspekte, die sich aus dem Strafrecht ergeben, will ich in diesem Zusammenhang nicht berühren. Wenn es sich nicht um einen ganz augenscheinlich auszumachenden Verstoß handelt, ist die definitive Nominierung des Missbrauchs durch Dritte objektiv kaum möglich. Täter sind wenig hilfreich, da sie meistenteils ihr Vergehen zu verbergen suchen oder überhaupt kein Unrechtsbewusstsein haben. Opfer befinden sich in einer noch größeren Zwangslage: sie sind meistenteils abhängig vom Täter ( ) und fühlen sich wehrlos. Im Falle von Inzest kommt in der Regel erschwerend hinzu, dass das Opfer den Täter liebt und diese Liebe nicht verlieren möchte. Missbrauch, der quasi im Randbereich zwischen Verbrechen und Zuneigung stattfindet, oftmals motiviert durch gestörte psychische Zusammenhänge, kann – leider – oft nur vom Täter als solcher erkannt werden. Hier unbedacht in diesen circulus diabolus einzugreifen, kann die bestehende Dynamik oftmals noch zu weiteren traumatisierenden Turbulenzen kumulieren lassen. Von daher bin ich davon überzeugt, dass es in jedem Fall wichtig und besser ist, einem Kind, das sich als Opfer zu erkennen gibt, Glauben zu schenken, es in seiner Persönlichkeit anzunehmen und ihm deutlich zu machen, dass und wie man es ernst nimmt. Hierzu haben einfühlsame PädagogInnen jederzeit Gelegenheit. Aufgrund psychologischer Erkenntnisse ist dem Opfer damit mehr gedient als mit aufgeregter Geschäftigkeit, Sensationshascherei und staatlicher sowie medialer Interventionsarbeit. Nur wenn es für das Opfer tatsächliche Alternativen und Perspektiven gibt, halte ich eine umfassende Intervention für gerechtfertigt.

Wir sollten weitere Aspekte in unser Gedächtnis zurück- bzw. hineinrufen. Welche Rolle spielen staatlich-kulturelle Normen in diesem Zusammenhang? Wie ist es mit der Vorbildfunktion von PolitikerInnen, deren Vertrauenswürdigkeit in der Bevölkerung augenblicklich – wie nie zuvor – im Schwinden begriffen ist, bestellt? Neben der persönlichen Integrität von PolitikerInnen ist mir dabei auch ihre eigene Verortung wesentlich. PolitikerInnen können es sich am wenigsten leisten, sich hinter Systemvorgaben und -schwächen zu verschanzen. Gerade sie sind es, die mit Hilfe der Politik Wertmaßstäbe entscheidend beeinflussen können. Sollte unser System sich derart verselbstständigt haben, dass PolitikerInnen das nicht mehr können, dann ist das System wohl am Ende, und man kann den PolitikerInnen nur dringend empfehlen, die Hände von der Politik zu lassen. Und wie man hört, haben die Parteien inzwischen ernsthafte Nachwuchssorgen, zumindest was qualifizierten Nachwuchs angeht. Junge Leute spüren dies und leben immer mehr danach. Unterschiedliche Jugendstudien belegen, dass „die Jugend“ nicht unpolitisch geworden ist. Die Werte der Politik entsprechen allerdings nicht den ihren, die stärker als man glauben möchte in ideellen Bereichen liegen. ( ) Welche Rolle spielen die Religionen, die oftmals doppelmoralisch-aggressiv argumentieren und reglementieren? Auch Lustfeindlichkeit sichert Abhängigkeit. Und durch die Manifestation von Abhängigkeiten werden Untertanen und Untertanengeist gesichert. Die patriarchale Gesellschaft ist zunehmend erschüttert worden. Trotzdem hat sie es bislang hervorragend geschafft, ihre Existenz weiter zu sichern. Die Okkupation des Patriarchats und seiner Instrumente durch die Frau schafft Patriarchat nicht ab, sondern lässt Frauen lediglich an ihm partizipieren. Den Grundübeln dieses Systems lässt sich so nicht begegnen. Und Missbrauch und Ausbeutung von Kindern lassen sich so auch nicht abschaffen.

Ich wittere hinter so manchem, was sich gegenwärtig als Kinderanwaltschaft (z.B. gegen sexuellen Missbrauch) oder als Lobby für dieses und jenes verkauft, den Versuch, überkommene Ideologien wieder salonfähig zu machen, neue Ideologien zu kreieren, um weithin Abhängigkeiten zu sichern. So sehe ich teilweise mit großen Bedenken, dass die Kampagne gegen sexuellen Missbrauch – so notwendig sie auch ist – missbraucht wird, um lust- und lebensfeindliche Ideologien durchzupeitschen. Katharina Rutschky schreibt dazu u.a.: „In einer seltsamen Umkehrung sollen in dieser Weltsicht Männer so unter Kuratel gestellt werden wie im Islam die Frauen. Verhüllt und mit niedergeschlagenen Augen müssen sie ihren Ruf als anständige Menschen, als Nicht-Missbraucher täglich neu erweisen. Nur sind sie verantwortlich für das Unheil, das die Sexualität stiftet, wenn sie nicht allerschärfstens überwacht wird: Von uns, den Frauen.“ ( ) Ich beobachte unheilige Allianzen, die ihre „heiligen“ Ziele unbedingt erreichen wollen. Zu einer ähnlichen Bewertung komme ich mittlerweile auch bei einigem, was uns die Aids-Debatte beschert. Vergleichbare Kampagnen gibt es im Zusammenhang mit dem § 218 StGB. PolitikerInnen aller Couleur kommen mittlerweile zu der frappierenden und falschen Feststellung, dass es letztendlich „die 68er“ mit ihren antiautoritären Gedanken und zum Teil entsprechendem Handeln waren, die verantwortlich sind für zunehmende Gewalt und faschistische Radikalisierung in diesem Lande. Wenn der Balken im eigenen Auge bloß nicht so hinderlich beim Hinsehen wäre!

Ich bin der Auffassung, dass der Zeitpunkt überfällig ist, wo PädagogInnen gefragt sind, die in der Lage sind, Kindern die lustvollen Seiten des Lebens – und dazu gehört nun auch einmal die Sexualität – wieder näher zu bringen. Gute und umfassende Aufklärungen sind notwendig, libertäre Bildungsangebote und -chancen sind gefragt. Vieles muss von PädagogInnen wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wenn der Missbrauch vor allem in autoritären (vgl. Dirk Bange) und religiös eher rigiden Familien ein besonderes Problem darstellt, liegt die Vermutung nahe, dass Missbrauch und Ausbeutung dann keine Bedeutung spielt, wenn Kinder in einem Klima aufwachsen, in dem Toleranz, Liberalität, Offenheit gegenüber Fremdem und das Zulassen von Lust und Erotik Werte darstellen. In diesem Sinne müssen pädagogische Konzeptionen entwickelt werden. Junge Leute brauchen Halt, Unterstützung und Bestärkung durch Erwachsene. Kinder haben einen Anspruch darauf, als individuelle und gemeinschaftsfähige, gleichwertige Personen von Erwachsenen akzeptiert zu werden. Erwachsene haben kein Recht, Kinder zu bestrafen oder sie zu missbrauchen.

Ich möchte Mut machen, dass in den Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, die Lust an der Lust (wieder) eine größere Rolle spielen darf. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind keine asexuellen Wesen und lange nicht alle sind Bestien. Dazu gehört auch, Elternarbeit wieder verstärkt auf die positiven Aspekte von Sexualität zu lenken. Da es formaljuristisch nun einmal so ist, dass gerade auch Sexualerziehung ein quasi verbrieftes Elternrecht ist, soll eine gezielte und einfühlsame Arbeit mit Eltern Räume für Lust und Lebensfreude bei Kindern erreichen helfen. Und wenn Eltern dann immer noch nicht aktiv widersprechen, gibt es reichlich zu nutzende „Frei“-Räume.

In dieser Intention können Eltern, PädagogInnen und andere Interessierte nachstehend die Ausführungen zum Thema „Kindliche Sexualität“ von Frank Herrath und Uwe Sielert lesen; dies hoffentlich mit viel Freude. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Elterninformationsheft des Kinderbuches „Lisa und Jan“.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurde er im August 2002 gestellt.

Rainer Deimel ist Referent beim ABA Fachverband.

Kinder und Sexualität

Von Frank Herrath und Uwe Sielert

Was ist und wie wichtig ist überhaupt Sexualität?

Sexualität ist nicht nur Geschlechtsverkehr, hat nicht nur etwas mit Penis und Vagina bzw. Klitoris oder mit „Kinder kriegen“ zu tun. Sexualität ist sehr viel mehr und vor allem eng verwoben mit allen anderen Bereichen der Persönlichkeit. Sie hat zu tun mit dem Selbstwertgefühl von Menschen, mit ihren Beziehungen zueinander, mit Lebenslust und Lebensbejahung – oder eben auch mit Selbstverneinung und mangelndem Mut. Sexualität äußert sich nicht nur in einem bestimmten Verhalten – Sexualität ist Lebensenergie. Wenn sie akzeptiert wird und so als Energie fließen kann, drückt sie sich schon bei Kindern vielfältig aus:

  • im zärtlichen Bedürfnis nach Hautkontakt, Schmusen, Küssen, Gehalten-Werden,
  • in der Lust am eigenen und fremden Körper, einschließlich der Geschlechtsorgane,
  • in Anspannung, Entspannung, Hingabe an die streichelnden Hände der Eltern,
  • in der heftigen Balgerei mit dem Freund, dem Ganz-und-gar-alles-zusammen-Machen mit der besten Freundin und
  • in der schwärmenden Verehrung der Erzieherin im Kindergarten.

Sie wird dann tastend, sehend, fühlend, schmeckend und hörend erfahren, mit allen Sinnen also, im wahrsten Sinne der Worte: sinnlich und sinnvoll.

Wenn Sexualität als böse Kraft, als Feind betrachtet, tabuisiert und „gedeckelt“ wird, sind verschiedene Konsequenzen denkbar:

  • ihr fehlt jeglicher Ausdruck oder
  • sie äußert sich nur indirekt, im Zusammenhang gewaltsamen Verhaltens,
  • der eigene und fremde Körper wird mit Scham besetzt,
  • Selbstliebe wird nicht sinnlich erfahren,
  • die Lust am Kontakt zu sich selbst und zu anderen bleibt unterentwickelt.

In welche Richtung sich Sexualität und somit das Lebensgefühl bei Kindern entwickelt, das können Eltern mitentscheiden, das lernen Kinder – auch ohne bewusste Aufklärung – schon in der Familie. Sexualität ist aber auch nicht alles im Leben. Als Teil unserer Persönlichkeit ist sie nicht zu trennen von unseren Freundschaften, unserem Familienleben, unserer Arbeit. In jedem Fall ist sie eine mögliche Quelle von Lust, Wohlbehagen, Selbstbestätigung und Sich-angenommen-Wissen, mit der eine Person im Gleichgewicht bleiben, Kränkungen und auch die sowohl unvermeidlichen als auch zur eigenen Stärkung notwendigen Enttäuschungen verarbeiten kann.

Was Kinder „so nebenbei“ über Sexualität lernen

Kinder kriegen nicht nur mit, was man ihnen sagt, sondern ganz viel mehr: das Naserümpfen, die kritisch wirkenden Falten auf der Stirn, das sorgenvolle, unsichere Gesicht und die abwertende Geste. Und das alles zum Beispiel:

  • bei der Körperpflege: Wenn die Klitoris einfach „umgangen“ wird, wenn auf einmal alles schmutzig ist, was „da unten“ existiert, wenn Nacktheit nur auf wenige unvermeidliche Augenblicke beschränkt ist,
  • bei alltäglichen Begebenheiten: der nur flüchtige Abschiedskuss des Vaters für die Mutter als einziger “ öffentlicher“ Ausdruck von Zärtlichkeit, die Zweideutigkeiten während der Familienfeier, das Onanieren des großen Bruders und die Heimlichtuerei, wenn die Eltern miteinander schlafen,
  • bei „besonderen“ Ereignissen: Scheidung der Eltern, „Fremdgehen“ der Mutter oder des Vaters, sexuelle Gewalt durch den Onkel, oder auch, wenn die Eltern wieder neu ihre Liebe zueinander entdecken.

In jedem Fall wirkt das Leben oder angebliche „Nichtleben“ der eigenen Sexualität der Eltern prägend auf ihre Kinder.

Sexualerziehung als „freundliches Begleiten“

Begleiten

  • meint etwas Behutsameres als oft mit „Erziehen“ verbunden wird, schließt das „Sein-lassen“ ebenso ein wie das Beeinflussen: So können Eltern ihrem Kind den Umgang mit einem „undurchsichtigen“ Freund zwar erlauben, aber gleichzeitig Bedenken anmelden.
  • meint das „Zur-Seite-Stehen“ beim Erfahrungenmachen: Nur wenn die Doktorspiele mit dem Nachbarskind erlaubt sind, kann darüber geredet werden, soweit das notwendig ist.
  • meint „interessierte Distanz“: Die Geheimnisse der Kinder achten, bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern Interesse an ihrer Eigenständigkeit.
  • setzt Kontakte voraus. Kontakt entsteht da, wo sich zwei eigenständige Persönlichkeiten an ihren Grenzen begegnen: Eltern sollten um das Liebesleben ihrer Kinder wissen (was mit Hineindrängeln gar nichts gemein hat) und ihr eigenes Liebesleben nicht verstecken.

Freundliches Begleiten

  • meint, eine freundliche Einstellung zur Sexualität zu haben, Sexualität nicht als Feind der Erziehung zu begreifen.
  • meint, sich dem Kind als einer eigenständigen Persönlichkeit zu nähern und auch ein Verhalten zu akzeptieren, das dem eigenen Geschmack nicht entspricht.
  • meint, Kinder ohne Wohlverhaltensforderungen anzunehmen: Sexuelles äußert sich bei Kindern auch sehr ruppig, mit viel Aggression durchsetzt. Sie auch dann zu mögen, das ist sicherlich eine Kunst, aber gerade dann wichtig.
  • schließt Widerspruch ein. Freundlichkeit ist nicht Affenliebe: Kinder werden auch dann ernst genommen, wenn ihnen widersprochen wird, wenn sie Grenzen aufgezeigt bekommen.
  • heißt oft auch mit-leidendes, sorgenvolles Begleiten. Freiräume können auch schlechte Erfahrungen und Enttäuschungen mit einschließen; Eltern neigen dazu, sie ihren Kindern zu ersparen. Wenn das nicht geht oder dem Selbständigwerden entgegensteht, bleibt oft nur das hoffende Zusehen.

Kinder als SexualforscherInnen

„Kindliche Sexualforschung“ ist ein notwendiger Schritt in die Richtung von Selbständigkeit, Beziehungsfähigkeit, Lebensfreude und Produktivsein. Es sind eine gewisse Intelligenz und gezielte Bewegungskoordination erforderlich, sich selbst das Wohlbefinden und die Lust zu bereiten, die zuvor nur durch Kontakt mit der wichtigsten Bezugsperson erreicht wurden. Die vielen Entsagungen, die durch die langsame Loslösung aus der Mutter-Kind-Symbiose entstehen, können nur befriedigend verarbeitet werden, wenn Kinder lernen, sich selbst zu lieben und sich selbst Lust zu machen. Und dazu gehört das Be-greifen des eigenen Körpers, vor allem auch der erogenen Zonen, an denen die Lust am größten ist.

Kinder entdecken diese Lust selbstverständlich an sich selbst, wenn sie auch zuvor von den Eltern lustvoll gestreichelt wurden; wenn sie gar nicht wissen, was Lust ist, werden auch die sexuellen Spielereien fehlen. Das ist – ganz im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung – ein schlechtes Zeichen.

Alles, was erzogen und kultiviert werden soll, muss auch praktiziert, muss gezeigt werden können. Kinder müssen mit ihrem Penis oder ihrer Scheide und den vielen anderen erogenen Zonen umgehen lernen – nur so können sie sich selbst und andere begreifen. Nur so lernen sie, was ihnen selbst und anderen gut tut, was ihnen selbst und anderen schadet. In ihrer Unerfahrenheit und grenzenlosen Neugierde können sie schon mal übers Ziel hinausschießen und sich oder andere gefährden. Es ist wichtig, vor Spielereien zu warnen, die etwas am Körper schädigen können. Das ist z.B. der Fall, wenn versucht wird, Gegenstände in die Scheide zu stecken oder den Penis mit Gegenständen oder großer Kraftanstrengung zu quetschen. Häufiges Onanieren jedenfalls ist weder schädigend noch krankmachend. Ein Wundreiben der Scheide ist mit entsprechender Salbe zu behandeln, nicht mit Mahnungen und Drohungen, das Onanieren zu lassen.

Es ist jedoch wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass es sich nicht in jeder Situation deutlich sichtbar selbst befriedigen sollte, weil es sich damit leicht zum Außenseiter macht und in seinem Selbstwertgefühl geschädigt werden könnte, aber es ist ebenso wichtig, nicht zu früh einzugreifen; selbst, wenn es unangenehm ist, mit anzusehen, wie der Junge beim Spielen im Sandkasten sein Schwänzchen mit entblößter Eichel in den Sand steckt. Es ist richtiger, das Säubern zu zeigen, als das Spielen zu verhindern.

Es kann schon hart an die eigene Schamgrenze gehen, wenn Oma pikiert wegsieht, während die Enkelin am Rande des Planschbeckens sich hin- und herbewegend selbst befriedigt. Aber nichts spricht für die Notwendigkeit, die eigene, für richtig gehaltene Sexualerziehung umzustellen, weil Oma zu Besuch kommt. Und vor allem: auch die Generation der Großeltern ist lernfähig.

Meist ist es besser, die spontane Tendenz zum Eingreifen bei sich selbst zu unterdrücken. Aber auch das hat seine Grenze. Ein Erziehungsverhalten darf nicht zu einem Programm werden, das das Ansehen der eigenen Gefühle und Veränderungsmöglichkeiten als unwichtig behauptet. Wenn sich Eltern selbst überfordern, neigen sie auch dazu, ihre Kinder zu überfordern. Deshalb gilt – trotz aller Selbstkritik und gerade wegen der Notwendigkeit einer sexualfreundlichen Erziehung – ein Grundsatz, auch als ErzieherIn freundlich mit sich selbst umzugehen.

Sinnenreich erziehen

Menschen sind dann am glücklichsten, wenn sie mit allen Sinnen zu anderen Personen Kontakt machen können – und zu ihrer kulturellen und natürlichen Umwelt. Auch Sexualiät hat mit allen Sinnen zu tun: Kinder sehen genau hin, wenn ihre Eltern nackt sind und malen gerne Geschlechtsteile. Ihnen fällt auf, wie unterschiedlich einzelne Körperstellen duften, und wie anregend der Schweiß zwischen den Beinen riechen kann. Die Haut schmeckt mal salzig, mal süß, mal ist sie auch im wahrsten Sinne des Wortes geschmacklos. Ein Kichern kann schadenfroh, erregt oder einfach lustig klingen. Tasten und Berühren eröffnen eine große Bandbreite des Erlebens von wohligem Schauer über äußerste Erregung bis zu schmerzhaften Empfindungen.

Die Vielfalt der Sinne entwickelt sich nur, wenn sie gebraucht werden, wenn erlaubt wird, sie zu kultivieren und wenn Anregungen dazu gegeben werden. Vernachlässigte Sinne als Fühler zur Außenwelt bleiben unterentwickelt oder stumpfen ab – der Mensch wird sinn(en)los.

Eltern können die Sinne ihrer Kinder entfalten helfen. Sie können

  • mit einer Feder an verschiedenen Körperstellen streicheln,
  • gemeinsam Grimassen schneiden,
  • nackt im Bett herumtollen,
  • gemeinsam in der Badewanne sitzen,
  • verschiedene Töne machen, schreien und ganz leise sein,
  • Feuerwerk und Kinderkino ansehen,
  • Schweiß und Parfüm riechen.

Es tut allen gut, wenn Eltern sich gegenseitig und ihre Kinder massieren, gemeinsam singen und Faxen machen.

Noch immer werden Kinder einseitig und „so nebenbei“ mit Anweisungen wie „Träum‘ nicht!“ zum Vernünftigsein und zur emotionalen Mäßigung erzogen; vor allem deshalb, weil alles andere die gradlinige Anhäufung von Wissen stört. „Übermut tut selten gut“ gehört zu jenen Motivationskillern, die ein langweiliges Leben versprechen – und das ist für die Lust am Sexuellen tödlich. Kinder sollten bei aller Sinnenlust ihre Grenzen selbst finden, zumindest nicht zu früh in die Schranken gewiesen werden. Das schließt nicht aus, sie vor Überreizungen zu bewahren, welche die Vielfalt des sinnlichen Erlebens unmöglich machen können. Dazu gehört der überbeanspruchte Walkman ebenso wie die gedankenlose Konfrontation mit angstmachenden Pornofilmen.

Grenzen beachten und Grenzen ziehen

Grenzen geben Profil, unterscheiden voneinander, ermöglichen aber auch den Kontakt und Begegnung, Meinungen ändern sich durch neue Erfahrungen, auch durch Streit und Annäherung. Nacktsein kann in einer Familie ganz normal sein, phasenweise aber auch von den Kindern als unangenehm empfunden werden – gerade dann, wenn die Intimgrenzen erstmalig abgesteckt werden.

In der Öffentlichkeit sind die Grenzen meist enger gesteckt als in der Privatsphäre. Die meisten wollen ganz bewusst bei flüchtigen Kontakten mit vielen Menschen weder besonders auffallen noch sich mit Auffälligkeiten anderer beschäftigen. Wenn Autofahrerinnen ständig von nackten Fußgängern abgelenkt würden, wenn alle Gäste von Tante Gretes Geburtstagsfeier sich auf den onanierenden Jan konzentrierten, wenn Badegäste durch Lustgestöhne von der Nachbardecke sich mit Sex konfrontieren müssten, könnten die Nerven schon überstrapaziert werden. Vielleicht wäre das Arbeitsleben etwas bunter, die Geburtstagsfeier etwas spannender und der Straßenverkehr humaner, wenn die Menschen mehr von sich zeigen würden, wenn sie persönlicher miteinander umgehen könnten. Weil Kinder erst einmal dazu neigen, sich nicht so sehr darum zu kümmern, was man öffentlich tut und lässt, könnten sie viel dazu beitragen, wenn man sie ließe. Wenn Lisa im Beisein der Mutter die ahnungslosen Nachbarskinder darüber aufklärt, wie Männer und Frauen Kinder machen, muss Frau Brandis sich schon zusammennehmen, um nicht einzugreifen. Und Jans Vater überlegt sich bestimmt dreimal, ob er die von Papa stibitzten Präservative aus Jans Kindergartentasche wieder herausholt, die der für seine Freunde gerade eingepackt hat. Beide „Schamlosigkeiten“ könnten aber die öffentliche Kommunikation über Sexuelles bereichern. Aber die Grenzen für wirklich berührende, unberechenbare Kontakte bleiben in öffentlichen Bereichen immer enger gesteckt als in Freundschaften oder in der Familie. Und das ist meistens auch gut so.

Kinder sind oft schamlos gegenüber konventionellen Regeln, wissen aber sehr wohl, wann ihnen ein Erwachsener zu nahe rückt und seine Berührungen unangenehm werden. Wenn Erwachsene auf zärtliche Berührungen von Kindern mit Leidenschaft und Erregung antworten, kann das als gewaltsame Grenzüberschreitung erlebt werden. Viele Eltern nehmen die Signale der Kinder nicht wahr oder sehen darüber hinweg. Ihr eigenes Interesse ist ihnen in dem Moment wichtiger als die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes. Andererseits ist mancher Vater verunsichert und vermeidet vor allem im Beisein anderer zärtliche Berührungen, soweit sie nicht „unverfänglich“ und fernab von den Geschlechtsteilen stattfinden. Weil Berührungen – auch der Geschlechtsteile – für Kinder wichtig sind, sollten sie nicht aus Angst vermieden werden; wichtig ist, dabei auf die Reaktionen des Kindes zu achten, die auf unangenehme Gefühle hindeuten. Kinder leiden nicht nur unter extremen, gewaltsamen Grenzüberschreitungen; schon viel früher erlauben sich Erwachsene Einbrüche in die Intimsphäre und latschen über deutliche Schranken. Wenn lediglich wegen des allgemeinen Ordnungssinns die gerade aufgebaute Bude im Wohnzimmer zerstört wird, wenn die Selbstbefriedigung vor dem Einschlafen bewusst gestört und Oma in jedem Fall ein Recht auf feuchte Küsse eingeräumt wird, wird kindliche Privatsphäre missachtet.

Grenzen müssen manchmal erst übertreten werden, um sie zu spüren. Vor allem Kinder üben sich darin täglich und lernen dabei, die eigenen und die Grenzen anderer zu achten. Grenzen lassen sich vor allem aushandeln und dadurch verändern. Vielleicht ist Oma auch mit einem Kuss auf die Backe zufrieden, und die Bude darf noch so lange stehen bleiben, bis abends Besuch kommt. Von beiden Seiten ist dazu Entgegenkommen nötig, von Erwachsenen etwas mehr, weil sie leicht dazu neigen, sich selbst mehr Raum zu nehmen, als sie den Kindern zugestehen.

Nein- und Ja-Sagen

Weil viele traditionelle Verhaltensvorschriften heute nicht mehr gelten und die Lebensläufe der Menschen nicht mehr durch ihre Herkunft hart vorgezeichnet sind, müssen immer mehr Menschen immer früher selbst entscheiden, was für sie richtig ist und was sie wollen. Diese Fähigkeit fällt nicht vom Himmel und ist nicht ganz plötzlich da, sondern schon Kinder müssen das lernen. Wer nicht selbst deutlich JA und NEIN sagen kann, wird auch nicht bekommen, was er sich wünscht und sich nicht davor schützen können, wenn ihm andere etwas wegnehmen.

Lisa und Jan sagen, was sie mögen und was nicht. Sie haben mit ihren Sinnen viele Antennen entwickelt, die wie ein Frühwarnsystem Gefahren anzeigen und die sie als sensible Empfänger für Wohltuendes benutzen. Andere Kinder haben solche Antennen nicht entwickeln dürfen und vertrauen darauf, dass die Erwachsenen schon richtig für sie entscheiden. Wenn Kinder immer das aufessen müssen, was man ihnen auf den Teller legt, verlieren sie irgendwann das Gefühl dafür, wann sie satt sind und können auch sich selbst gegenüber nicht mehr NEIN sagen. Genauso verlieren sie die Fähigkeit, bei unangenehmen Annäherungen NEIN zu sagen, weil sie aus Dankbarkeit, Höflichkeit, Gehorsam oder anderen ehrenwerten Tugenden alles tun müssen, was ihnen Erwachsene sagen. Aus lauter Vorsicht vor Missbrauch lehren Eltern vor allem ihre Töchter das NEIN-Sagen, ohne das JA-Sagen in gleicher Weise zu stärken. Dann können sie vielleicht die unangenehmen von den wohltuenden Kontaktangeboten unterscheiden, bleiben aber in der Rolle der Abwartenden und sind von der Initiative der Erwachsenen oder der Jungen abhängig. JA-Sagen bedeutet nicht nur, etwas zuzulassen, sondern auch, sich zu nehmen, was man will: JA- und NEIN-Sagen lernen bedeutet, bewerten und entscheiden zu können. Mütter vermeiden oft das Erziehen zum JA-Sagen aus anerzogener Zurückhaltung oder aus Angst, an Grenzen zu geraten oder für Grenzüberschreitungen Unangenehmes in Kauf zu nehmen. Gegenüber allem Sexuellem wird ohnehin Zurückhaltung geübt. Immer ist es der Vater, der auch Sonntag Nachmittag mal mit der Mutter ins Bett will und dann vorwurfsvolle Blicke erntet, weil doch die Kinder im Nebenraum spielen. Wie soll die Tochter dann lernen, dass sie für ihr Wohlbefinden und ihre Lust etwas tun muss und nicht nur auf die doch extrem dünn gesäten Märchenprinzen warten kann?

Erziehung heißt Lernen ermöglichen und Grenzen setzen

Für gelingende Erziehung allgemein gilt: Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden und mit Grenzen umzugehen. In der Sexualität überwiegt bis heute das Grenzen-Setzen. Sexualität ist für viele immer noch der Feind der Erziehung, der Inbegriff alles Triebhaften, das gezügelt werden muss. Sie glauben, dass Kinder sonst überschwemmt werden von ihren Gefühlen und keine Moral mehr entwickeln.

Natürlich gibt es so etwas wie eine innere Bereitschaft zur sexuellen Aktivität, die sich phasenweise unterschiedlich dringend meldet. Die Spielarten ihrer Befriedigung, auch die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, die ganze Vielfalt der sexuellen Ausdrucksformen entwickelt sich nur im Austausch mit der Umwelt, durch Lernen auch in der Familie. Ob Sexualität als „notwendiges Übel“ mit kurzfristiger lustvoller Entladung erlebt wird, die „irgendwie ihren Weg schon findet“ oder als Sprache des Körpers mit vielen Dialekten, das hängt davon ab, was Kinder wissen und tun dürfen. Sie sollten immer etwas mehr wissen und im geschützten Raum der Familie tun dürfen als sie aktuell brauchen. Nur so ist Fortschritt beim Lernen möglich. Wie Geschlechtsverkehr aussieht, und was er für die Beteiligten bedeutet, sollten sie nicht erst wissen, wenn sie sich selbst alt genug dafür fühlen. Das dürfen sie bei ihren Eltern ruhig mal gesehen haben, wenn das auch für diese keine unvorhergesehene Katastrophe bedeutet.

Nun gibt es allerdings Eltern, die nicht mehr wagen, Grenzen zu setzen. Vor allem Mütter haben oft Angst, etwas falsch zu machen, lassen sich selbst ausbeuten, und die Kinder spüren keinen Widerstand mehr. Kinder drücken sich natürlich gerne vorm Aufräumen, wollen auch ihren Rhythmus durchsetzen, wollen nur Süßes, greifen vielleicht auch mal der Tante unter die Bluse. Dann ist es nötig, Grenzen zu setzen. Dann ist Konflikt angesagt. Erwachsene müssen aufpassen, dass sie dabei nicht ihre ganze Macht einsetzen, vor allem nicht die Körperkraft, deren Einsatz aufgrund der kindlichen Chancenlosigkeit meist als besonders erniedrigend erlebt wird. Auch für die Auseinandersetzung mit Kindern gilt der Grundsatz der fairen Ausgangsbedingungen, ohne die kein Konflikt zufriedenstellend gelöst wird.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 55/1993. Auf die ABA-Seiten im Internet wurden er im August 2002 gestellt.

Frank Herrath ist Mitarbeiter des Instituts für Sexualpädagogik in Dortmund. Dr. Uwe Sielert ist Professor an der Universität Kiel.

Outsourcing in der Jugendarbeit

Von Marco Szlapka

Die Ausgliederung von Verwaltungseinheiten, das sogenannte Outsourcing, um Verwaltungseinheiten flexibler zu steuern und vor allem Geld einzusparen, ist aktuell auch im Bereich der Jugendhilfe zu beobachten. Immer mehr Kommunen gehen dazu über, Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe als Eigenbetriebe, als GmbH´s mit kommunaler Beteiligung oder ganz an freie Träger der Jugendhilfe abzugeben beziehungsweise zu überführen. Die damit verbundenen Prozesse sind häufig – vor allem für die betroffenen Mitarbeiter/innen – mit einer ganzen Reihe von Ängsten und Problemen verbunden. Drei unterschiedliche Beispiele aus der letzten Zeit.

Köln: Betriebsgesellschaft Jugendzentren Köln gGmbH

Ende 1996 wurde es zum ersten Mal öffentlich: Die Stadt Köln beabsichtigt, zum 1. Januar 1998 alle 18 städtischen Jugendzentren an eine gemeinnützige Gesellschaft abzugeben, um über diesen Weg jährlich 400.000 bis 500.000 DM zu sparen. Ein entsprechender Gesellschaftsvertrag sieht die Gründung einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) vor, an der die Stadt Köln 51 Prozent der Anteile und als Mitgesellschafterin ein Jugendhilfe e.V. die verbleibenden 49 Prozent übernimmt. Die Stadt Köln hat mit der Gründung von gGmbH´s in der Jugendhilfe schon Erfahrungen gesammelt, so wurde vor Mitte der neunziger Jahre eine gGmbH als Betriebsgesellschaft für Tageseinrichtungen für Kinder gegründet.

Die Stadt Köln rechnet im Bereich der Jugendfreizeitstätten mit einer Kostenersparnis im Jahr 1998 gegenüber dem Haushaltsjahr 1997 in Höhe von 473.900,- DM. Die Ersparnis soll erreicht werden, indem die Zuschüsse der Stadt nur 95 Prozent der Betriebskosten ausmachen und die Betriebsgesellschaft die fehlenden fünf Prozent selbst erwirtschaften muss. Da die Betriebsgesellschaft im Gegensatz zu einem freien Träger der Jugendhilfe über keine eigenen Finanzmittel verfügt, können die fehlenden Finanzmittel nur über den Weg der Raumvermietung, des Sponsoring bzw. aus Einnahmen von Veranstaltungen erzielt werden. Ob dies im Umfang von einer halben Million DM gelingen kann, bleibt abzuwarten.

Dem Aufsichtsrat der neuen Betriebsgesellschaft sollen kraft Amtes der zuständige Beigeordnete, der Vorsitzende sowie der stellvertretende Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses sowie die Leitung der Verwaltung des Jugendamtes angehören. Über diesen Weg ist „gesichert“, dass die Politik der Betriebsgesellschaft weiterhin über den öffentlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt wird. Die Chance für eine größere Autonomie besteht lediglich durch die vorgesehene Gründung von Beiräten in den jeweiligen Stadtbezirken, deren Aufgabe und Funktion noch nicht näher definiert ist. In diesen Beiräten sollen nicht nur alle Fraktionen vor Ort vertreten sein, sondern neben dem oder der Bezirksjugendpfleger/in noch weitere Personen aus den Bezirken. Die Beiräte könnten so zu Gremien werden, die nicht nur eine Unterstützung für die Stadtteil- und Lebensweltorientierung der pädagogischen Arbeit leisten, sondern sich gleichzeitig zu echten Lobbyisten für die Einrichtungen entwickeln und damit die Autonomie gegenüber der städtischen Politik stärken.

Die zur Zeit noch 47 städtischen Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen erhalten von der gGmbH unter Anerkennung ihrer bisher erworbenen Beschäftigungszeiten Arbeitsverträge nach dem Bundes-Angestellten-Tarif. Den übergeleiteten Mitarbeiter/innen soll zugesichert werden, dass sie bei Kündigung, Auflösung oder Liquidation der Gesellschaft wieder bei der Stadt Köln beschäftigt werden. Für welchen Zeitraum diese Zusage gilt, steht noch nicht fest. Zur Zeit haben sich nur 17 der Mitarbeiter/innen bereit erklärt, in die gGmbH zu wechseln, alle anderen wollen bei der Stadt Köln bleiben und werden in andere Aufgabengebiete versetzt. Da im Fall der Kindertagesstätten nur zehn Einrichtungen und damit längst nicht alle städtischen Einrichtungen in die gGmbH überführt wurden, liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen mit entsprechenden Personalvereinbarungen in der Stadt Köln vor.

Die vor einem Wechsel in die gGmbH stehenden Mitarbeiter/innen erwarten von der neuen Betriebsform vor allem eine stärkere Transparenz bei Entscheidungen, eine flachere Hierarchie und vor allem größere Autonomie der Einrichtungen. Mit Unterstützung der Gewerkschaften bemühen sie sich nun, eigene Vorschläge zur Strukturierung und Steuerung der Arbeit innerhalb der Betriebsgesellschaft zu entwickeln.

Dortmund: „Feindliche Übernahme“ durch die Falken?

Das Angebot kam, wie in Fällen der „feindlichen Übernahme“ üblich, ohne dass mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen gesprochen wurde, ohne dass die städtischen Mitarbeiter/innen informiert waren und vor allem ohne dass es vorher eine fachliche Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit einer Übertragung von städtischen Einrichtungen in die Trägerschaft freier Träger gegeben hätte. Die Falken als Jugendverband haben Ende 1996 der Stadt Dortmund angeboten, sowohl eine städtische Jugendfreizeitstätte als auch einen entsprechenden Kinder- und Jugendtreff zu übernehmen.

Das Interesse der Falken an einer solchen Übernahme ist vor dem Hintergrund der Neuordnung des Landesjugendplanes NRW verständlich. So entwickeln sich die Falken immer stärker von einem „Mitgliederverband“ zu einem „Strukturverband“ der Jugendarbeit. Allein in Dortmund haben die Falken in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Einrichtungen und Strukturen für die Jugendarbeit geschaffen bzw. übernommen. Die Offene Jugendarbeit der Falken, zum Beispiel in den Städten Essen und Gelsenkirchen, genießt einen guten Ruf und verdient Anerkennung, auch über die Grenzen dieser Städte hinaus. Der Protest und der Vorwurf einer „feindlichen Übernahme“ in Dortmund, vor allem von Kindern- und Jugendlichen sowie den Mitarbeiter/innen aus den betroffenen Einrichtungen erhoben, liegt daher auch vor allem im Verfahren begründet.

Ausschließlich über die politische Ebene ein Angebot zur Übernahme von städtischen Einrichtungen zu unterbreiten, ohne dass es vorher eine fachliche Diskussionen in der Jugendhilfe, eine Debatte mit den Betroffenen über Ziele und Perspektiven der Arbeit gegeben hätte, musste auf Unverständnis und Protest stoßen.

Letztlich wurde in Dortmund auch nur die Übernahme der beiden Einrichtungen für eine Modellphase von drei Jahren beschlossen (1998 bis 2001), wobei das vorhandene Personal in andere städtische Einrichtungen gewechselt ist. Die Stadt spart 21.500,- DM jährlich, die nun von den Falken selbst erwirtschaftet werden müssen.

Festzuhalten bleibt: Die Diskussion über eine Ausgliederung von Einrichtungen, über die Chancen und Grenzen einer Übertragung an freie Träger, wurde in Dortmund möglicherweise unzureichend geführt.

Remscheid: Autonomie und Eigenverantwortung gestärkt

In der Stadt Remscheid wurde vor ca. zwei Jahren eine offene Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einrichtungen an freie Träger geführt. Als Ergebnis wurde eine Reihe von Einrichtungen an freie Träger – vor allem waren es Jugendhilfevereine – überführt und die Arbeit in den Einrichtungen per Vertrag abgesichert. Die Mitarbeiter/innen erhielten die Chance, erst einmal in die neue Trägerform zu wechseln und innerhalb der ersten fünf Jahre zu entscheiden, ob sie bleiben oder zur Stadt zurück wollen.

Sowohl der Prozess als auch die ersten Erfahrungen nach der Überleitung werden von fast allen Mitarbeiter/innen als positiv bewertet. So ist es tatsächlich gelungen, die Einrichtungen in ihrer Autonomie zu stärken und vor allem die Offene Arbeit abzusichern, was angesichts der Haushaltslage der Stadt Remscheid in städtischer Trägerschaft nur sehr schwer möglich gewesen wäre.

Entwicklungen beobachten

Eine abschließende Beurteilung der Frage, welche Chancen und Risiken in einer Übertragung von Einrichtungen der Jugendhilfe liegen, ist aktuell kaum möglich. Zu kurz und zu unterschiedlich sind die Erfahrungen in den Städten, um zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Festgehalten werden kann nur: Eine Übertragung von Einrichtungen setzt einen möglichst offenen Prozess voraus, an dem die Mitarbeiter/innen ausreichend beteiligt werden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie der ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern werden zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen die aktuellen Prozesse weiter verfolgen. Daneben ist eine Fachtagung geplant, auf der die unterschiedlichen Erfahrungen ausgetauscht und Forderungen für die Gestaltung entsprechender Prozesse formuliert werden sollen. Die Jugendhilfe muss sich in der nächsten Zeit verstärkt auf solche Prozesse – auf ein sogenanntes Outsourcing von Einrichtungen und Dienste – einstellen.

Der Autor Marco Szlapka (wohnhaft in Seeshaupt) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Essen (jetzt Duisburg-Essen) und Geschäftsführer des Instituts für Sozialplanung und Organisationsentwicklung (INSO) sowie Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Vorstehender Beitrag wurde in DER NAGEL 59/1997 veröffentlicht, hier eingestellt im Juli 2003.

Zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe

Von Manfred Kappeler

Ich möchte eingehen auf Begriffe wie Systemgewalt, Erziehungsgewalt, Erziehungsverantwortung, Grenzensetzen, die in die Diskussion gegeben worden sind. Dabei geht es mir um die Frage, was der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen für die praktische Arbeit im gesamten Bereich der Jugendhilfe bedeutet. Ich habe diesen Fokus gewählt, weil ich glaube, dass das gemeinsame Nachdenken über die Realisierung des Subjektstatus eine Klammer bilden kann für alle Bereiche der Jugendhilfe und uns dieser Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Situation vielleicht helfen könnte, jugendpolitisch in die Offensive zu kommen.

Bevor ich genauer auf den Subjektstatus eingehe, möchte ich jedoch an einen Kontext erinnern, in dem diese Überlegungen stattfinden: die Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Es sind eine Reihe von Fragen aufgetaucht, mit denen die Wiedergabe einer Diskussion skizziert wird, die den Tenor hat (wenn ich das richtig verstanden habe): Wer macht die Arbeit mit den Kindern, den Jugendlichen und Familien besser – die Formen der offenen Arbeit, z.B. der Jugendsozialarbeit oder die Hilfen zur Erziehung? Wer ist näher dran an den Kindern und Jugendlichen? Wer erfüllt die Essentials des VIII. Jugendberichts (Lebensweltorientierung, Partizipation etc.) besser? usw. usf.

Diese Diskussion ist m.E. von Konkurrenz und gegenseitigem Misstrauen bestimmt. In dem Versuch, da herauszukommen, wurde der Vorschlag gemacht, zu überlegen, ob nicht jeder Träger der Jugendhilfe jede ihrer Aufgaben wahrnehmen soll. Wie müssen aber, wenn wir diesen Vorschlag diskutieren wollen, den Kontext unseres gegenwärtigen pädagogischen Handelns berücksichtigen. Ökonomisierung heißt: die Soziale Arbeit wird verändert in einem weiteren Kontext: dem sogenannten Umbau des Sozialstaates, u.a. mit der fadenscheinigen Begründung des Missbrauchs sozialer Leistungen und knapper Ressourcen in den öffentlichen Haushalten. Die Missbrauchsdebatte ist das Instrument, warum in der Bevölkerung eine große Koalition für den Abbau sozialer Leistungen und Netze durchzusetzen möglich wird. Ein Beispiel dazu: bis vor einigen Jahren wurde im Bereich der Sozialhilfedebatte darüber nachgedacht, wie man es erreichen könnte, dass die Hunderttausenden, die ihre Rechtsansprüche nicht wahrnehmen, zu ermutigen sind, die Schwelle zum Sozialamt zu überschreiten und die Scham der Armut zu überwinden, ihre Rechtsansprüche offensiv wahrzunehmen. SozialpädagogInnen haben sich in Gruppen zusammengetan, mit Sozialhilfe-Broschüren, mit selbstorganisierten Beratungsstellen usw. gegenüber der restriktiven Struktur der Bürokratie, die Menschen zu unterstützen. Sie haben den Subjektstatus der „Hilfeempfänger“ ernst genommen, die Menschen ermutigt, sich nicht abkanzeln zu lassen als „Schlaucher“, als Arme usw. Damals wurde ausgerechnet, dass mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten in der Bundesrepublik ihre Ansprüche auf Leistungen nicht wahrnehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert, es ist vielmehr noch schlimmer geworden, weil die Erfahrungen, die die Leute in den Sozialämtern machen, heute noch mehr dazu beitragen, aus Scham und Stolz auf Leistungsansprüche zu verzichten. Aber jeden Tag wird von Politikern und Bürokraten über die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe lamentiert, und jeden Tag werden Forderungen zur Einschränkung von sozialen Leistungen in die Diskussion gebracht.

Das ist eine Katastrophe. Es ist vor allem eine Katastrophe, dass wir unsere Profession, die Soziale Arbeit für die Politik der Privatisierung gesellschaftlich produzierter Lebensrisiken funktionalisieren lassen.

Ökonomisierung heißt: die zentrale, theoretische und gesellschaftliche Kategorie für die soziale Arbeit ist der Markt. Soziale Leistungen als Dienstleistungen haben sich auf dem Markt auszuweisen. Es wird ideologisch und scheinheilig mit dem begriff der Kunden gearbeitet, als seien die Menschen, die die sozialen Leistungen in Anspruch nehmen müssen und wollen, im Status von Käufern, die das Geld in der Tasche haben, um geschützt durch Verbrauchergesetzgebung sich auf irgendeinem Markt die sozialen Leistungen auswählen und einkaufen zu können, die sie brauchen. Welch ein Zynismus!

„Marktgängigkeit“ – neue Leitlinie Sozialer Arbeit?

Die SozialpädgogInnen werden aufgefordert, ihre Dienstleistungen als „Produkte“ zu beschreiben und sie in Katalogen öffentlich zu offerieren und auszulegen, damit die „Kunden“ sich das ihnen genehme Produkt auswählen können. Das wird unter dem Begriff der Beteiligung (Partizipation) verkauft. Das sind neue Sprachregelungen, die anfangen, das Fühlen, Denken und Handeln der Professionellen zu bestimmen. In Berlin wird in weiten Bereichen fast nur noch so geredet. Im Rahmen der Verwaltungsstrukturreform haben die KollegInnen in allen sozialen Diensten monatelang fast nichts anderes getan, als Produktkataloge zu erstellen, die termingerecht vorgelegt werden mussten. Bei der Ausarbeitung dieser „Produkte“ war nichts von irgendeiner Selbstbeteiligung der Adressaten solcher Dienstleistungen zu sehen. In Berlin ist das weit fortgeschritten, und die ganze Sache wird im Rahmen der „Neuen Steuerung“ im Prinzip mit betriebswirtschaftlichem Denken betrieben. Damit kommt eine Haltung in die soziale Arbeit, die aus einem anderen gesellschaftlichen Bereich stammt, wo sie ihre Berechtigung haben mag. Hier werden aber Sprachregelungen eingeführt, in denen die Entwicklungen, die wir in den letzten 20 Jahren in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zustande gebracht haben, verloren gehen. Das heißt, der „Markt“, auf dem sich die soziale Arbeit bewegt, ist nicht etwa ein Markt, in dem zwischen uns als den Anbietern und den Adressaten  als den Abnehmern unserer Arbeit sich irgendein Marktgeschehen abspielt, sondern es ist der Markt der Subventionen, der sich zwischen den Trägern der sozialen Arbeit abspielt. Der öffentliche Träger, der nach inhaltlichen Kriterien die Mittel zu verteilen hat, und die freien Träger, die sich darum bewerben müssen, sind die „Partner“ auf diesem Markt. Auf ihm müssen die Träger bestehen, da müssen sie „Produkte“ anbieten, die „marktgängig“ und „kostengünstig“ sind, d.h. die der jeweiligen politischen Definition, was marktgängig sei, entsprechen müssen. Auf diese Kategorie Markt reduziert sich zunehmend das Denken in der Sozialen Arbeit. Provokativ gesagt: Es gibt eine neue Elite in der Sozialen Arbeit – die ausgesprochen qualifizierten und gewieften GeschäftsführerInnen und Sozialmanager, die eben das Know How haben müssen, zu akquirieren und zu requirieren; die das große Ohr am Markt der Subventionen haben müssen, um so schnell wie möglich, jeweils das als „Leistung“, als „Produkt“ anbieten zu können, wofür es gerade Geld gibt – oder zumindest eine entsprechende Verpackung vorweisen.

Ich denke, das ist der Kontext, in dem wir uns hier bewegen. Wenn uns das nicht deutlich wird, dann werden wir über kurz oder lang die uns angebotenen Sprachregelungen übernehmen. Das bedeutet, dass wir unser eigenständigen professionelles Denken aufgeben, denn es gibt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken. So wie wir reden, wie wir unsere Sprache gebrauchen, fangen wir auch an zu denken und schließlich zu handeln. Demgegenüber müssen wir außerordentlich sensibel sein. Die Diskussion, die hier in Hamburg gerade geführt wird zwischen „Offener Arbeit“ und „Hilfen zur Erziehung“ resultiert aus der skizzierten Dynamik. Deshalb muss in diese Diskussion die Frage hineingenommen werden: Wie verhalten wir uns gegenüber der machtbetriebenen Tendenz der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, die zu einer Hegemonie des Ökonomischen über das Soziale führen wird? Eine Hegemonie, die ohnehin schon immer besteht, nun aber auf das Soziale, auf die Soziale Arbeit selbst übertragen wird und sich im Innern dieses Systems, im Denken und Handeln der Professionellen festsetzt. Sie wissen alle, dass mit Begründungen wie EG-Entwicklung, Globalisierung, Standort Deutschland usw. die Strategie des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft begründet wird, mit der wir uns in diesem Zusammenhang auseinandersetzen müssen. Ich möchte hier keinen Horizont eröffnen, hinter den wir uns wieder vor notwendigen Veränderungen flüchten können, indem wir sagen: „Wir Armen werden betriebswirtschaftlich und ökonomisch an die Kandare genommen, nun brauchen wir nicht mehr genau hinzugucken, was wir in unserem eigenen Bereich zu verantworten haben!“ Der Blick hat sich dahin zu wenden, wo wir denn selbst diese Strukturen schon längst mitbereitet haben. Denn der „Markt“ macht die, die sich auf ihm unkritisch bewegen, zu Objekten von fremdbestimmten Tendenzen und verhindert, dass sie Subjekte ihres Handelns werden.

Die Bedeutung des KJHG …

Nun zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe: Wir haben das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und den ausgezeichneten Kommentar von meinem Kollegen Johannes Münder. In das KJHG wurden eine ganze Reihe von Forderungen, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik diskutiert und gestellt worden sind, aufgenommen. Man kann einiges kritisieren, z.B. die ungenügende Rechtsstellung von Kindern gegenüber Erwachsenen, aber in ganz zentralen Punkten hat das KJHG die Diskussion der vergangenen 30 Jahre in der BRD aufgenommen. Stünden wir heute in der Situation, das alte JWG zu reformieren, würde es das KJHG nicht schon geben – so eingesetzt würde es unter den heutigen politischen Bedingungen nicht mehr zustandekommen! Im Kontext der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird in den Zentralen pausenlos daran gearbeitet, dieses Gesetz mit seinen Ansprüchen zu boykottieren, es auszuhebeln, dafür zu sorgen, dass die in ihm benannten Standards nicht in die Praxis umgesetzt werden. In dieser Situation sollten wir uns daran erinnern, dass wir professionell sozial Arbeitenden uns zum ersten Mal in der Geschichte unseres Berufes in der glücklichen Situation befinden, dass wir uns auf gesetzlich fixierte und demokratisch legitimierte Positionen berufen und deren Umsetzung in die Praxis fordern können. Wir sollten das im § 1 KJHG formulierte „Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft“ übernehmen und darüber wachen, dass die hier artikulierten Ansprüche auch realisiert werden und nicht mit dem Hinweis auf die Knappheit der Ressourcen schlicht auf den Müllhaufen geschmissen werden.

… und seiner Leitnormen

§ 1 KJHG enthält die Leitnorm, auf die ich eingehen will: jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner – nicht irgendeiner anderen! – und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Pflege und Erziehung sind „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechtes nach § 1 …“ usw. – Wir kennen diese Formulierungen auswendig. Aber weil es so wichtige Sätze sind, lohnt es sich, sie wirklich auswendig zu lernen, damit man in den Debatten der Ausschüsse, den 78er-Kommissionen und wo auch immer, diese gesetzlich formulierten Positionen als Argumente in der Tasche hat. Wir müssen sie als Anspruchsnormen in der Auseinandersetzung um die Finanzierung und die Qualitätsstandards der Jugendhilfe parat haben, um die gravierende Diskrepanz zwischen den normativen Ansprüchen und der gesellschaftlichen Realität immer wieder bewusst zu machen. Wir sollten nicht sagen, das sei die große Politik, das seien die Präambeln, um die sich sowieso keiner kümmere. Mein Plädoyer ist, diese Ansprüche ernst zu nehmen, diese Normen beim Wort zu nehmen, um sie mit ihrer gesamten demokratischen Legitimation, die sie haben, zu einem politischen Kampfinstrument zu machen. Absatz 3 lautet: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

  1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
  2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
  3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
  4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen.“ Das sind die Leitnormen.

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

Wie immer bei allen Gesetzen in der BRD steht darüber die Leitnorm des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist das oberste Prinzip, und diese Würde soll unantastbar sein.

Wenn wir uns fragen, was Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe heißt, müssen wir das auf den Begriff der Menschenwürde beziehen, dem § 1 KJHG verpflichtet ist. Das geht soweit, dass die Leitnormen des Grundgesetzes bis in die allerletzte Entscheidung eines öffentlichen Trägers der Jugendhilfe umzusetzen sind. Das ist nicht eine Geschichte, die irgendwo auf irgendeiner abstrakten Ebene abgetan wird, sondern die heruntergeholt wird, heruntergeholt werden muss in unsere alltägliche Arbeit. Damit vertrete ich eine Position, die die UNO 1993 für die Soziale Arbeit formuliert hat: Soziale Arbeit sei eine Menschenrechtsprofession. Das heißt, die in der sozialen Arbeit Tätigen müssen AnwältInnen im Prozess der Realisierung der Menschenrechte sein, überall da, wo sie tätig sind. Man muss nicht in die weite Welt schauen, um zu erkennen, dass das eine Forderung ist, die es erst zu realisieren gilt. Wenn es heißt, Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, müssen wir übersetzen: Sie soll eine sein, weil sie in der Praxis heute noch weithin das Gegenteil ist.

Definitionsprobleme

Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit: das sind die Erziehungsziele bzw. Ziele menschlicher Entwicklung, die im KJHG festgeschrieben worden sind. Bezogen auf die Essentials im VIII. Jugendbericht muss die Frage gestellt werden: Wer definiert diese Werte in der Praxis? Wer definiert, was Förderung und was Erziehung ist im Hinblick auf die Entwicklungen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit?

In Verbindung mit § 9 spricht das KJHG primär den Eltern bzw. den Personen und Sorgeberechtigten diese Definitionsmacht zu; sie, so heißt es dort, bestimmen die Grundrichtung der Erziehung, die von der Jugendhilfe zu beachten ist. Und schon befinden wir uns in einem Dilemma. Können wir eigentlich davon ausgehen, dass in der „natürlichen Erziehung“ – gibt es denn so etwas, wie das natürliche Recht auf Erziehung? – ein derartig hochkarätiger Wert wie die Eigenverantwortlichkeit der Persönlichkeit angelegt ist? Können wir einfach davon ausgehen? Oder erleben wir nicht in unserer alltäglichen Praxis an vielen Stellen genau das Gegenteil?

Welches für ein Verständnis von „Gemeinschaftsfähigkeit“ finden wir in der Alltagspraxis von Erziehung wieder? Dieser Begriff ist noch viel schwieriger als der der Eigenverantwortlichkeit. Er hat in Deutschland eine lange, problematische und teilweise schreckliche Tradition. „Gemeinschaftsfähigkeit“ war für die Nazis der zentrale Begriff der Selektion, war Fokus ihrer Bevölkerungspolitik. Gemeinschaftsfähig waren diejenigen, die sich als Volksgenossen den nationalsozialistischen Vorstellungen von Gemeinschaft widerspruchslos einordneten und sie mittrugen. Als „gemeinschaftsunfähig“ und „asozial“ wurden alle diejenigen bezeichnet, die diesen Vorstellungen widersprachen, die sich verweigerten, die nicht konformistisch waren – überwiegend Jugendliche übrigens. Mit der Behauptung, sie seien nicht „gemeinschaftsfähig“ und mit den „Mitteln der Jugendhilfe nicht mehr in die Volksgemeinschaft zu integrieren“, wurden Tausende von Mädchen und Jungen in speziell für sie eingerichtete KZ gebracht; Jugendliche, die inmitten der faschistischen Barbarei auf ihrem Subjekt-Sein bestanden haben. Und mit Unterstützung der Jugendhilfe sind in jedem einzelnen Fall Mädchen und Jungen in die KZ gebracht worden. Kein Mädchen, kein Junge kam ohne ein Gutachten des jeweiligen zuständigen Jugendamtes und der Fachkräfte der Jugendhilfe – trotz aller Mitwirkung der SS – in eines dieser Konzentrationslager. Das ist ein Teil der Geschichte unserer Profession, der bis heute so gut wie nicht bekannt ist. Grundlage dieser Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung waren solche Begriffe wie „gemeinschaftsfähig“. Es gab fachliche Kriterien, mit denen sie operationalisiert wurden. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein dominierte dieses Denken in der alten Bundesrepublik wie auch der DDR. Mitte der fünfziger Jahre gab es in Bonn eine Debatte, dass ein „Bewahrungsgesetz“ gebraucht würde, für die „nicht mehr mit den Mitteln der öffentlichen Erziehung Besserungsfähigen“. Die Nazis hatten ein solches Bewahrungsgesetz schon fix und fertig; es ist nur nicht zum Zuge gekommen, weil am 8. Mai 1945 mit ihrer Herrschaft Schluss war.

Lebensentwürfe junger Menschen und die Rolle der Pädagogik

Als ich 1959 in die Soziale Arbeit ging, habe ich eine Praxis vorgefunden, die aus diesem Denken resultiert. Die Debatte um den Verwahrlosungsbegriff und was damit verbunden war, ist bekannt.

Was eine „gemeinschaftsfähige Persönlichkeit“ ist, das ist eine hochambivalente Angelegenheit. Da wir diejenigen sind, die zum Schluss diese Ziele, die im § 1 KJHG definiert sind, in die Praxis umsetzen, da wir diejenigen sind, die zum Schluss das Wächteramt auszuüben haben – wenn nämlich die Wahrnehmung des „natürlichen Rechts der Erziehung“ auf irgendeine Weise nicht funktioniert – kommt die Sache zuletzt immer zu uns. Die Jugendhilfe ist das System, das am Ende die Definitionsmacht in der Praxis besitzt. Das sind konkret die professionell handelnden Frauen und Männer. Nicht alleine die bürokratischen, rechtlichen und politischen Systeme, in denen die Handelnden angesiedelt sind und in denen sie sich bewegen müssen, von denen sie beeinflusst werden in ihren Entscheidungen, bestimmen die praktische Umsetzung der Leitnormen. Letztendlich sind es wir als Subjekte, die lebendigen SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, die bezogen auf lebendige Kinder und Jugendliche als Subjekte ihre Entscheidung treffen müssen.

Da kommen wir mit allgemeinen Vorstellungen von „Grenzsetzungen“ nicht mehr weiter. Wir müssen uns auf einer grundsätzlichen Ebene der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten den Anforderungen stellen und uns darüber klar werden, wie wir im Alltag damit umgehen wollen.

Da das KJHG solche Leitnormen aufstellt, sie aber nicht lebendig machen kann, sind wir in der Verantwortung und müssen das in unserer praktischen Arbeit mit den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, gestalten. Weil uns der Gesetzgeber, wie ich finde, zurecht misstraut, ob wir das immer wollen und können, gibt es den § 8 KJHG: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – der nur dann einen Sinn hat, wenn wir ihn als die Anerkennung des Subjektstatus für die Minderjährigen begreifen. Das kann nur bedeuten, dass die Lebensentwürfe und die Selbstdefinitionen der Kinder und Jugendlichen gefragt sind. Und dort, wo sie von ihnen nicht offensiv geäußert werden können, müssen wir sie im Kontakt mit ihnen in Erfahrung bringen. Wenn die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Vorstellungen nicht offensiv an uns herantragen, dann sind wir aufgefordert – das ist Teil unserer Professionalität – uns mit ihnen auf die Suche zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir – sollten die nicht sagen können, was jetzt im Moment für sie das Richtige ist – uns die Kompetenzen zubilligen, den richtigen Weg, die richtige Entscheidung für sie schon zu wissen. Das Gesetz nimmt uns in die Pflicht, und wir müssen uns selbst in die Pflicht nehmen, diese Suchbewegung mit ihnen zu manhen.

Demokratisierung der Instrumente

Was das für die Ausgestaltung sozialpädagogischer Praxis bedeutet, kann man sich vorstellen: welches Setting muss ich für die tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich haben, um mich auf derartige Suchbewegungen einlassen und sie mit den Kindern, den Jugendlichen und den Familien machen zu können? Die Leitnormen des KJHG müssen wir also zurückbeziehen auf die materielle Ausgestaltung unserer Arbeitsbedingungen.

Es gibt ein Instrument im KJHG, das dafür vorgesehen ist: die Hilfeplanung und die Hilfekonferenz. Diese haben von der Idee her die Funktion, die Definitionsgewalt des einzelnen, der an diesem Prozess beteiligt ist, zu begrenzen. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass in den alten RJWG- und JWG-Zeiten die einsame Fürsorgerin in ihrer Amtsstube, vielleicht noch kontrolliert durch das Vormundschaftsgericht, die Definitionsmacht darüber hatte, was zu erfolgen habe. Damit hier kein Missbrauch von Definitionsmacht mehr entstehen kann, existiert eine demokratische Institution: Hilfeplan und Hilfekonferenz. Alle Beteiligten sollen sich darüber austauschen, wie sie die Situation sehen; und wenn ich von Sichtweisen rede, wird schon deutlich, dass es sich um subjektives Hinschauen und Beurteilen handelt, im Kontext der jeweiligen Biographie dessen, der da schaut. Wenn er oder sie noch so viele professionelle Instrumente in der Hand hat, ist es zum Schluss immer ein Subjekt mit subjektiven Sichtweisen, das hier Situationen von anderen zu verstehen meint und sie beurteilt. Die Hilfekonferenz ist also ein Instrument der Annäherung an das Fremde. Was wir im großen und ganzen heißt, dass wir uns mit unseren mittelschichts-sozialisierten Sichtweisen in der Praxis mit Lebensbedingungen und Erfahrungen auseinandersetzen müssen, die nicht unsere sind, die wir nicht durch bloßes Draufschauen einfach schon verstehen können. Deshalb ist die Hilfekonferenz ein Instrument der Annäherung. In ihr steckt die Idee, dass wir vorsichtig in unseren Beurteilungen und Zuschreibungen sein müssen. Die Beteiligten sollen ihre Sichtweisen offenlegen; dann soll darüber beraten werden, was zu tun sei. Bezogen sich auf die Zusammensetzung dieser Konferenzen kann das heißen: wer ist denn da alles beteiligt? Da sitzen eben acht Professionelle mit ihrer Mittelschichtorientierung. Ihre Blicke unterscheiden sich also gar nicht so sehr voneinander, wenn sie vielleicht auch institutionenspezifisch unterschiedlich sind – wenn da etwa die LehrerIn aus der Schule, die die „Meldung“ an das Jugendamt gemacht hat, wenn da die Erzieherin aus der Kindertagesstätte sitzen (oder wer sonst noch aus dem pädagogischen Feld). Das gibt es zwar institutionenspezifische Unterschiede, denn die Schule hat beispielsweise andere Beurteilungskriterien für konkretes Handeln von Mädchen und Jungen, hat andere Ansatzpunkte für „Meldungen“ an die Ämter als die PädagogInnen aus der offenen Jugendarbeit. In diesem Sprachgebrauch kommt aber die alte Kontrollfunktion des Jugendamtes, dem man „etwas meldet“, damit es in Ordnung gebracht werde, zum Ausdruck. In dieser Runde nun von Professionellen sitzen auch Angehörige der Familie des Kindes oder des Jugendlichen wie auch die Kinder und jugendlichen selbst (sofern sie, was eigentlich grundsätzlich gilt, dazu eingeladen werden). Man muss sich fragen, ob die Idee der Hilfekonferenz so eigentlich wirklich zu realisieren ist? Für mich steht hier die Frage auf der Tagesordnung, wie man dieses Instrument weiter demokratisieren könnte.

Beteiligungsrechte

Zwei weitere Bemerkungen zu den Beteiligungsansprüchen nach § 8 KJHG von Kindern und Jugendlichen. Es heißt da: „Sie sind zu beteiligen entsprechend ihrem Entwicklungsstand“. Und weiter: „Sie sind zu beteiligten und über ihre Verfahrensrechte gegenüber den Gerichten in geeigneter Weise“ aufzuklären. Da haben wir wieder die Ambivalenz, die einfach nicht wegzukriegen ist.

Es gibt die Entwicklungstatsache von Kindern und Jugendlichen, d.h. sie wachsen heran und machen ihre Erfahrungen. Zugleich haben wir den Begriff der Sozialisation als einen Prozess des allmählichen Hineinwachsens in die Gesellschaft und des Kennenlernens der gesellschaftlichen Erwartungen. Andererseits wissen wir, wie problematisch die Normsetzungen sind, mit denen dieses „Hineinwachsen“ beurteilt wird; dass es immer heimliche Messlatten gibt, die an das konkrete Handeln von Kindern und Jugendlichen angelegt werden. Wenn wir also im Gesetz lesen „entsprechend ihrem Entwicklungsstand“, dann hört sich das so an, als sei der Entwicklungsstand eine klare Sache, als könne man mit den Mitteln, die die Profession entwickelt hat, mit quasi objektivierten Verfahren und Standards messen, was denn der Entwicklungsstand (Entwicklungsquotient!) in jedem einzelnen Fall ist. Wenn Kinder und Jugendliche „angemessen an ihrem Entwicklungsstand“ beteiligt werden sollen, dann gibt es zuletzt wieder die Instanz, die das beurteilt und möglicherweise ihre Kriterien im Prozess der Hilfeplanung nicht offenlegt. Das heißt, die Beteiligten müssen sich darüber verständigen, was sie denn für Kriterien anlegen, wenn sie den „Entwicklungsstand“ beurteilen. Da wird sehr viel einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, so als würden sich alle in der Runde verstehen, was mit „angemessen“ gemeint ist.

Man muss sich fragen, ob denn der in § 1 artikulierte und in § 8 verstärkte Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen einer ist, der von einem durch uns zu beurteilenden „Entwicklungsstand“ abhängig ist? Erwirbt ein Mensch seinen Subjektstatus erst im Prozess seiner „Reifung“? Ist man denn erst dann ein „vollwertiger Mensch“, wenn die gesellschaftlich definierten sogenannten Entwicklungsaufgaben, die an die Heranwachsenden getragen werden, von ihnen erfüllt werden? Wenn sie das Zertifikat der „Reife“ bekommen?

Angeborener Subjektstatus?

Nein! Der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen ist völlig unabhängig – das ist mir außerordentlich wichtig – von jedem irgendwie definierten Entwicklungsstand, auf den hier Bezug genommen wird. Der Subjektstatus ist die praktische Seite dessen, was im Grundgesetz die Würde des Menschen genannt wird, die unantastbar sein soll. Kinder und Jugendliche müssen sich ihren Subjektstatus nicht erst erwerben oder erarbeiten oder verdienen durch ein irgendwie von den Erwachsenen oder von gesellschaftlichen Institutionen zu akzeptierendes Verhalten. Sie haben diesen Status, er ist ihnen angeboren; sie bringen ihn als Menschen mit auf die Welt. Sie können ihn auch nicht von sich aus aufgeben oder an den Nagel hängen. Und es hat niemand das Recht, ihnen ihren Subjektstatus abzusprechen. Auf jeder denkbaren und von uns definierten Stufe von Entwicklung haben Kinder und Jugendliche und natürlich alle Menschen diese Subjektposition. Das ist ein Kriterium, das uns herausfordert, das uns zwingt, jeweils genau darüber nachzudenken, wie bezogen auf diese Subjektposition das Handeln der Professionellen im Sinne von Unterstützung und Hilfe gestaltet werden muss.

Ich bin auf die Bedeutung des Subjektstatus gekommen, weil ich mir überlegt habe, was denn eigentlich im gegenwärtigen Prozess der Ökonomisierung Sozialer Arbeit eine politische Position und Kategorie sein könnte, auf die sich die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe gemeinsam verständigen können, um sie öffentlich in die Diskussion zu werfen. Ich glaube, dass das diese Position ist. Wir sind dafür verantwortlich, uns wird darüber ein Wächteramt zugesprochen, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft öffentlich zu machen und zu unterstützen, zu verteidigen, zu helfen, ihn zu realisieren usw. Wenn wir davon ausgehen, muss jeder Bereich von den Hilfen zur Erziehung bis hin zur offenen Jugendarbeit sich fragen, was denn diese Position bezogen auf die von uns betriebene Arbeit jeweils für Anforderungen stellt. Wenn wir das als gemeinsame Ausgangsbasis nehmen, dann haben wir eine Ebne der Verständigung, auf der wir uns gegenseitig kritisch befragen können. Je vereinzelter wir in diesem Geschäft tätig sind, desto größer ist die Gefahr, diese Position nicht entwickeln zu können oder sie zu verlassen. Denn zur Realisierung dieses Anspruchs benötigen wir die Kommunikation, den fachlichen Austausch und vor allem die öffentliche Debatte über unser Scheitern in unserer Arbeit; unser Scheitern auf der politischen Ebene, auf der individuellen Ebene, im Teamprozess usw. Um darüber zu diskutieren, wie wir uns der Position annähern, müssen wir über unsere Grenzerfahrungen reden können; müssen wir darüber reden, wo wir in Ambivalenzen geraten. Bin ich jetzt derjenige, der weiß, wo der richtige Weg für das Kind ist, welche Zeit ich habe, das herauszufinden, wie schnell „eingegriffen“ werden muss? Wenn ich mit all diesen schwierigen Fragen und Erfahrungen mit mir alleine klarkommen muss, dann bin ich mit der Zeit enorm gefährdet, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen aus dem Bewusstsein zu verlieren und in den Bedingungen und Zwängen meiner alltäglichen Arbeit nur noch zu funktionieren.

„Totalverweigerung“ von Jugendlichen …

Vor ein paar Wochen gab es in Berlin im Landesjugendamt eine Diskussion darüber, wie SozialpädagogInnen mit „Straßenkindern“ (einem, wie ich finde, schwierigen Begriff angesichts der Existenzformen von Kindern in Sao Paulo, in Bogotá, in Lima oder woanders in der so genannten Dritten Welt) im städtischen Untergrund umgehen können. Mit Kindern also, die aus Familien, Wohngemeinschaften oder sonstigen Formen stationärer „Unterbringung“ weggelaufen sind, es also aus welchen Gründen auch immer dort nicht mehr aushalten konnten. Durch die Skandalisierung ist der Berliner Senat darauf gestoßen, dass es in Berlin ungefähr dreitausend so genannte Straßenkinder gibt. Wie soll die Jugendhilfe nun mit diesen Kindern umgehen? Welche Angebote soll sie ihnen machen?

In der Diskussion stellte sich heraus, dass nahezu die gesamte Jugendhilfe, ob nun offene Arbeit oder Hilfen zur Erziehung, diesen Kindern lediglich Angebote unter der Voraussetzung der Sesshaftmachung bieten können und wollen. Nun gibt es aber unter diesen dreitausend eine beträchtliche Gruppe von ungefähr 10 Prozent, die diese Angebote radikal zurückweisen; die sagen, dass die Angebote der Jugendhilfe, die auf Sesshaftigkeit basieren und hinzielen, ihren Vorstellungen vom Leben hier und jetzt nicht entsprechen. Es gibt auch schon einen neuen Begriff für diese Jugendlichen: das sind die „Totalverweigerer“ in der Jugendhilfe. Sie verweigern alles: sie ignorieren die Schulpflicht, wie wollen nicht mehr in der Familie leben, sie weisen sämtliche gängigen Angebote der Jugendhilfe zurück; sie sind in einem qualitativen Sinne wirklich Totalverweigerer und bringen uns als Jugendhilfe-Menschen in Grenzsituationen. Wie nun darauf reagieren?

… und die „Dequalifizierung“ Sozialer Arbeit

Die „Totalverweigerer“ praktizieren in einer zugespitzten Form gegenüber den VertreterInnen der Jugendhilfe ihre Subjektposition. Nun hilft es uns überhaupt nichts, danach zu fragen, was denn dies für eine Existenzform sei? Ob man da überhaupt von einer Subjektposition reden könne? Ob es nicht eher entsetzlich ist, wie diese Jugendlichen da existieren, unter wirklich menschenunwürdigen Lebensbedingungen? Sie müssen sich doch prostituieren, sie müssen mit Drogen handeln usw.? Kann man das überhaupt noch eine Subjektposition nennen? Ist denn da überhaupt noch Subjektives, d.h. Selbstbestimmtes in der Lebensführung vorhanden?

Das haben wir nicht zu entscheiden. Und exakt das ist das Dilemma. Diese Grenzsituationen gibt es immer wieder. Die einzig mögliche Annäherung an solche Jugendlichen ist die schlichte Frage: Wie kannst Du unter solchen Bedingungen überleben? Wie kann ich Dich dabei unterstützen? Als wir in Berlin in der Diskussion an diesem Punkt waren, wurde von TeilnehmerInnen eine Position formuliert: dass die zunehmende soziale Verweigerung von Kindern und Jugendlichen PädagogInnen immer mehr in die Situation bringt, „dequalifizierende“ Arbeit leisten zu müssen, die sich im Begriff der „Überlebenshilfe“ erschöpfe. Das würde doch bedeuten, dass wir uns auf den Stand des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen ließen, wo wir wie die Heilsarmee mit Suppenküchen und allen möglichen Überlebensveranstaltungen nichts anderes getan hätten, als auf die unmittelbar geäußerten Alltagsbedürfnisse irgendwie materiell zu reagieren. Das sei eine Dequalifizierung Sozialer Arbeit.

Verständnis dafür zu schaffen, dass diese Form der radikalen offenen Annäherung an solche Kinder und Jugendlichen große Anforderungen an das professionelle Know How von SozialpädagogInnen stellt, ist außerordentlich schwierig. An keiner anderen Stelle professioneller Arbeit müssen wir so sehr reflektiert unser Denken und Handeln überprüfen wie in diesen Grenzsituationen. Und an keiner Stelle ist es so schwer, diesen einen Satz nicht zu sagen: dass doch irgendwo auch eine Grenze und Schluss mit der Toleranz sein müsse.

Akzeptanz, nicht Toleranz!

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz herauszuarbeiten. Toleranz heißt: zu dulden, was uns nicht passt. Es ist eine Position, die besagt, dass solche Jugendlichen auch hier leben dürfen mit ihren Minderheitenpositionen, solange sie bestimmte Grenzen nicht in Frage stellen. Dagegen ist Akzeptanz eine hochqualifizierte Geschichte, die allerdings in der Diskussion oft diskriminiert wird als Gewährenlassen, Gefälligkeitspädagogik, einfach alles nur hinüberschicken, ohne noch Ansprüche zu stellen usw. So geht es nicht!

Wenn wir Akzeptanz in einem professionellem Sinne begreifen wollen, dann steckt darin die Frage nach der Offenheit unserer Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten – bezogen auf Lebensbedingungen und subjektive Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen, die sich in anderen Lebenswelten bewegen als den unseren. Dazu gehört auch, dass wir ihre Entscheidungen und Schritte, die wir als „Notlösungen“ empfinden, so verstehen, dass auch die Notlösung eine Lösung ist, in diesem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Im weiteren ist zu sehen, in welche Situationen von Not dieser Weg der Lösung sie wieder bringt. Das ist unsere Aufgabe, sie damit zu konfrontieren; aber nicht, um ihnen den Weg vorzuschreiben, sondern um zu klären, wie sie das durchstehen und überleben können. Wenn wir eine solche Haltung einnehmen in den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, dann haben wir eine gemeinsame Klammer, die Ernst mit dem Ansatz gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und mit der Realisierung des Subjektstatus macht. Dann haben wir einen Bezugspunkt, auf den hin wir unser Denken und Handeln qualitativ überprüfen können. Politisch wäre das eine Basis, ein Punkt, an dem wir gemeinsam auftreten können und müssen.

Das Elend der Prävention

In Hamburg ist in einer „gemeinsamen Kommission Jugendhilfe und Polizei“ kritisiert worden, dass die Polizei eine Sonderkommission Graffiti eingerichtet hat, was von der Jugendhilfe nicht verhindert werden konnte. Die Jugendbehörde reagierte darauf mit einem präventiven Angebot in der Form der Zur-Verfügung-Stellung von Freiflächen und Sprayfarben, die bekanntlich – weil teuer – von vielen Jugendlichen geklaut werden müssen. Gegen solch ein Angebot ist nichts zu sagen. Aber ich finde es problematisch, wenn damit gegenüber den Politikern dieser Stadt von der Jugendhilfe ein Präventionsversprechen abgegeben wird. Anstatt zu vertreten, dass es Jugendliche gibt, die im Rahmen der offenen Angebote der Jugendarbeit ihre kreativen Fähigkeiten in Form von Graffiti ausprobieren – eine genuine Aufgabe von Jugendarbeit auch im Hinblick auf den Subjektstatus – sagt die Jugendhilfe, sie würde mit diesem Angebot Jugendliche davon abhalten können, an öffentlichen Gebäudeflächen die gesellschaftliche Grundnorm des Eigentums zu verletzen. So werden durch die präventive Strategie der Jugendhilfe die jugendlichen Sprayer, die im Prinzip alle dasselbe machen, aufgeteilt in diejenigen, die die Angebote der Jugendhilfe wahrnehmen und diejenigen, die trotz dieser Angebote weiterhin an ihrem kriminellen Handeln festhalten. Letztere sind dann die Zielgruppe kriminalpolizeilicher Strategien. So geht es nicht!

Wieso lässt sich die Jugendarbeit in die Position treiben, Präventionsversprechen öffentlich abzugeben, die genau den Kriterien entsprechen, die in der „Klientelisierung“ dieser Gruppe von Jugendlichen enthalten sind? Warum wird nicht dagegen aufgestanden und gesagt, dass diese Aktion gegen Graffiti-„Kriminalität“ eine Sauerei ist? Die öffentlichen Räume müssen doch auch Jugendlichen zur Aneignung zur Verfügung stehen. Und die Verregelung und Verrechtlichung des öffentlichen Raumes wird von Jugendlichen immer wieder nicht akzeptiert werden. Wer darauf mit kriminalpolizeilichen Strategien antwortet und diese Strategien mit Präventionsstrategien ergänzt, betreibt eine absolut verfehlte Jugendpolitik.

Wenn wir, die wir diese Gesellschaft so gestaltet haben wie sie ist, dafür sorgen, dass die Aneignungsfähigkeit öffentlicher Räume für Kinder und Jugendliche gegen Null geht, dann dürfen wir uns doch nicht wundern, dass diese Kinder und Jugendlichen sich in teilweise auch aggressiven Aktionen ihren Aktionsraum zurückholen und den öffentlichen Raum als Bühne zur Selbstinszenierung vorführen und sagen: Ihr könnt uns mal! Darauf mit Präventionsstrategien zu antworten, ist das Letzte!

Es ist das Gegenteil von Anerkennung des Subjektstatus. Damit betreibt die Jugendhilfe und Jugendarbeit die Klientelisierung der nonkonformistischen Gruppen von Jugendlichen. Die Jugendarbeit hat das nicht nötig. Sie kann sagen: Unsere Graffiti-Aktionen sind ein Angebot für diejenigen, die nicht im öffentlichen Raum ihre Bedürfnisse realisieren wollen; die Lust haben, dies in unseren von der Jugendarbeit zur Verfügung gestellten Räumen zu machen. Dann entgehen wir auch dem berechtigten Vorwurf der Gettoisierung, die immer wieder – in bester Absicht – von der Jugendhilfe betrieben wird!

Der Autor Dr. Manfred Kappeler ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der TU Berlin.

Der vorstehende Beitrag erschien in DER NAGEL 59/1997 und wurde im Juli 2003 hier eingestellt.

Armut und Gesundheitsgefährdungen im Kindes- und Jugendalter

Von Klaus Hurrelmann und Andreas Klocke

Einleitung

Mit dem Begriffspaar Armut und Gesundheit ist ein Zusammenhang thematisiert, der in der – nach wie vor – reichen Bundesrepublik gerne verdrängt wird. Der Armut wird in den Sozialwissenschaften und in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie tritt in der Bundesrepublik überwiegend als Gegenstand sozialpolitischer Regulierung auf und ist damit zu einem großen Teil dem gesellschaftlichen Diskurs entzogen. Armut kann als unterstes Segment der sozialen Stratifikation angesehen werden und bezeichnet damit nicht Menschen, die quasi außerhalb der Gesellschaft leben, sondern eine inferiore Randstellung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens einnehmen Das Phänomen der Armut verweist eine Gesellschaft zugleich auf ihre normativen Standards, auf das Maß an Armut, das eine Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren. Die Ursachen der Armut werden sowohl in strukturellen Gegebenheiten („Modernisierungsverlierer“) als auch im individuellen Versagen der einzelnen gesehen.

Im Kindes- und Jugendalter wirken sich gesundheitliche Beeinträchtigungen besonders nachhaltig aus. Mangelnde Teilhabe der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen an Aktivitäten der Gleichaltrigengruppe gehen oftmals mit Deprivationen einher, die für die weitere Entwicklung von nachhaltiger Bedeutung sein können. Neben körperlichen Beschwerden treten insbesondere soziale und psycho-soziale Störungen auf.

Um den Zusammenhang von Armut und Gesundheit zu erschließen, müssen beide Begriffe umfassend verstanden werden. Dabei wird Armut nicht lediglich als Einkommensarmut gesehen, unter die solche Personen fallen, die über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügen. In neueren Konzeptionen wird Armut mehrdimensional als Kumulation von Unterversorgungslagen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Arbeitsbedingungen, Versorgung mit technischer und sozialer Infrastruktur sowie Einkommen verstanden. So betrachtet, ist der Zusammenhang von Armutsbetroffenheit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen naheliegend. Wohl ist dieser Zusammenhang als wechselseitiger Einfluss zu verstehen, d.h. sowohl Armut kann zu Krankheit führen als auch Krankheit Armut bedingen, jedoch ist in sehr vielen Fällen eine soziale Randstellung oder Armutslage für gesundheitliche Beeinträchtigungen verantwortlich. Dieser kausale Einfluss erschließt sich, wenn Gesundheit bzw. Krankheit in einem umfassenden Verständnis von physischen, psychischen und sozialen Komponenten konzeptionalisiert wird. Mangelnde Teilhabe an den gesellschaftlichen Werten und Errungenschaften auf Grund der Armutslage bedingen oftmals eine soziale und psychische „Verarmung“, die sich in psychosomatischen Störungen und allgemein mangelndem Wohlbefinden äußern. Nicht selten geraten Menschen über diesen Mechanismus in einen nur schwer entrinnbaren Kreislauf von materieller Verarmung und psychischer und physischer Krankheit.

Inwieweit sind nun Kinder und Jugendliche von Armut betroffen und wie wirkt sich dies auf den Gesundheitszustand aus? Wie verschiedene Studien gezeigt haben, besteht generell ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Gesundheitszustand der Menschen. Es gibt gute Gründe dafür, anzunehmen, dass sich die soziale Lage auch auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen auswirkt.

Wir werden:

  • zunächst die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und den Grad ihrer Armutsbetroffenheit in der Bundesrepublik betrachten;
  • sodann in empirischen Analysen den Einfluss sozialer Ungleichheit auf die wahrgenommene Gesundheit und auf die Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen überprüfen und
  • abschließend Fragen der gesundheitspolitischen Intervention aufgreifen, da gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter erhebliche Auswirkungen auf deren Entwicklungsgang und Lebenschancen haben.

Armut – Wer ist betroffen?

Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders von Armut betroffen? Alle statistischen Unterlagen zeigen ein deutliches Ansteigen der Sozialhilfeempfänger seit 1980. Im Zeitraum von 1980 bis 1990 sind nach Angaben der nationalen Armutskonferenz 1993 die Anteile der Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung um 76 % gestiegen. Heute, so wird geschätzt, nehmen schon fast 5 Mio. Menschen Sozialhilfe in Anspruch, weitere 1 bis 2 Mio. Menschen hätten diesen Anspruch nach den rechtlichen Grundlagen, lösen ihn aber aus verschiedenen Gründen nicht ein. In unserer Gesellschaft geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Bei einer im Durchschnitt steigenden Wohlstandsmarge wächst zugleich Armut und Benachteiligung, eben weil sich die Spanne zwischen den sehr gut privilegierten und den ganz schlecht gestellten Menschen in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander bewegt.

Waren noch bis vor etwa 10 Jahren vor allem die Menschen in Armutssituationen, die das Kriterium „nicht mehr im Erwerbsleben“ erfüllten, also die alten Menschen, so gilt das heute nicht mehr. Immer stärker rückt die Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen in die Armutsgruppe vor, insbesondere durch das Ereignis Arbeitslosigkeit. Von dieser Entwicklung sind ganz besonders stark auch die ausländischen Bevölkerungsgruppen betroffen. Und schließlich gibt es eine historisch neue Gruppe, die ebenfalls zur Armutsbevölkerung zu rechnen ist, nämlich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Armut trifft vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens haben. Insofern ist die neue Entwicklung, wonach Kinder und Jugendliche in hoher Zahl zu der Armutsbevölkerung zu rechnen sind, ganz besonders ernst zu nehmen. Denn Kinder haben, wie vielleicht sonst nur noch die ausländischen Bevölkerungsgruppen, kaum verbriefte Rechte, die ihre Teilhabe an wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen sichern könnten. Sie haben ja noch nicht einmal die elementarsten Rechte der politischen Partizipation, geschweige denn Wahlrechte. Sie können deswegen auch im politischen System praktisch vernachlässigt werden, da sich aus ihrer Vernachlässigung keine unmittelbaren politischen bzw. machtpolitischen Konsequenzen ergeben.

Die strukturelle Armutsentwicklung betrifft immer mehr junge Menschen und Kinder

Die strukturellen Veränderungen in der Gruppe der Armutsbevölkerung sind auf drei große Ursachenkomplexe zurückzuführen, die in den letzten Jahren besonders auch Kinder und Jugendliche stark betroffen haben:

  1. Bis etwa Mitte der 1980er Jahre lebten überwiegend ältere Menschen und insbesondere Frauen mit unzureichender Rente in Armut. Heute ist die Hauptursache für die Betroffenheit von Armut die Massenarbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bezieht sich definitionsgemäß auf Personen im erwerbsfähigen Alter, also Menschen im Alter von etwa 20 bis 55 Jahren, die in der überwiegenden Zahl in Familien leben. Und dies ist der Grund, warum immer mehr Kinder über eine kürzere oder längere Zeit in Armut aufwachsen.
  2. Des weiteren hat der Anteil von Alleinerziehenden in den letzten Jahren stark zugenommen. Insgesamt sind etwa 15 % aller Familien in der Bundesrepublik Einelternfamilien, und von diesen Familien lebt ungefähr ein Drittel an der Armutsgrenze.
  3. Kinderreiche Familien stellen eine weitere Bevölkerungsgruppe, die von Armut bedroht ist. Kinder verursachen in der Bundesrepublik monatliche Kosten, die gegenwärtig mit etwa 500 bis 800 DM pro Kind zu veranschlagen sind. Bei drei und mehr Kindern kommen schnell monatliche Ausgaben zusammen, die eine Normalverdiener-Familie in den Bereich der Einkommensarmut drängen. Familien mit drei und mehr Kindern gelten dementsprechend zu 42 % in Ostdeutschland und zu 22 % in Westdeutschland als arm.

Diese drei Entwicklungen in den letzten Jahren machen deutlich, warum Kinder und Jugendliche so stark von Armut betroffen sind. Armut ist eben heute nicht mehr auf die älteren Bevölkerungsgruppen konzentriert und beschränkt, sondern betrifft vor allem die jüngeren ganz stark: Kinder unter 11 Jahren sind inzwischen diejenige Altersgruppe, die am häufigsten von Armut bedroht ist. Die psychischen Belastungen sind bei den jüngeren teilweise ganz ähnlich wie bei den älteren Bevölkerungsgruppen: Soziale Auffälligkeit, Angst vor Stigmatisierung, Verleugnung der Armut in Außenkontakten. Leistungsstörungen, Abbruch sozialer Kontakte, Delinquenz, soziale Isolation und psychosomatische Störungen werden in Untersuchungen berichtet. Während alte Menschen vielleicht noch den Vorteil haben, dass sie ihre Armutssituation verschweigen können, gilt das für jüngere Menschen meist nicht. Auch deswegen sind die psychischen Belastungen durch Armut, die Kinder und Jugendliche zu ertragen haben, möglicherweise sogar höher als die bei älteren Menschen.

Gesundheitsgefährdungen durch Armut

Ist der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit im Erwachsenenalter in vielen Industriegesellschaften belegt, so wird offenbar mit Blick auf den vergleichsweise guten Gesundheitszustand Jugendlicher dieser Einfluss als eher gering eingestuft. Der Befund eines allgemein guten Gesundheitszustandes Jugendlicher ist nicht überraschend, da die Jugendphase im Lebensverlauf eines Menschen in der Regel die Lebensphase mit der geringsten Krankheitshäufigkeit darstellt. Dieser Befund muss aber relativiert werden, denn Untersuchungen haben gezeigt, dass Jugendliche nicht in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen Erkrankungen durch medizinische oder psychosoziale Versorgungseinrichtungen behandeln lassen und so der Gesundheitszustand der Gruppe der Jugendlichen systematisch überschätzt wird.

Gesundheitsbeeinträchtigungen Jugendlicher basieren auf verschiedenen Ursachen. Neben physiologischen und psychobiologischen Beeinträchtigungen spielen im Jugendalter insbesondere soziale Rahmenbedingungen eine Rolle. Kinder und Jugendliche reagieren von jeher sehr sensibel auf gesellschaftliche Klimata. Ein sozioökonomisch und soziopolitisch bedingtes Schwinden von individuellen Zukunfts- und Berufsperspektiven verlangt von den Jugendlichen eine Anpassung an einen so nicht geplanten Lebensweg, der nicht selten mit psychosomatischen Störungen und körperlichen Krankheiten einhergeht. Individuell erfahrene Lebensbedingungen, psychosoziales Wohlbefinden und erwartete Lebens- bzw. Zukunftschancen umreißen die alltägliche Lebenssituation der Jugendlichen. Gesundheit, als Balancezustand sozialökologischer, physiologischer und seelisch-psychischer Faktoren verstanden, steht in unmittelbarem wechselseitigen Bezug zu diesen Rahmenbedingungen. Entsprechend lässt sich der Gesundheitszustand Jugendlicher auf die erfahrenen Lebensumstände zurückführen.

Studie

Die Fragestellung nach sozialer Ungleichheit und dem Gesundheitszustand Jugendlicher steht vor dem Problem, die soziale Ungleichheitslage von Kindern und Jugendlichen erfassen zu müssen, ohne das klassische Instrumentarium anwenden zu können. Soziale Ungleichheit wird konventionell in empirischen Studien mit einem Schichtindex operationalisiert. Hierzu zählen die Dimensionen: Einkommen, Bildung und Berufsstatus. Alle drei Dimensionen lassen sich nicht auf Kinder und Jugendliche anwenden. Da in unserer Befragung ausschließlich die Kinder und Jugendlichen selbst befragt werden, also nicht zugleich auch deren Eltern, muss folglich mit vergleichsweise robusten und einfachen Indikatoren sozialer Ungleichheit gearbeitet werden. Es bietet sich an, die Kinder und Jugendlichen nach ihrem sozialen Herkunftsmilieu zu befragen. Das Wohlstandsniveau des Haushalts berührt direkt die Kinder und Jugendlichen. Ungünstige, beengte Wohnverhältnisse, finanzielle Restriktionen, die zur sparsamen Haushaltsführung (Ernährung und Kleidung) nötigen, sowie geringe Mittel für Freizeitaktivitäten beschneiden Kinder in ihren Entfaltungs-. und Teilnahmemöglichkeiten. Weiterhin wirkt sich die Milieuzugehörigkeit, über das Berufsprestige und die Bildung der Eltern indiziert, auf die Lebensbedingungen, auf die kognitive und die evaluative Entwicklung sowie auf die psychische, soziale und körperliche Gesundheit der Jugendlichen aus. Aus diesen Überlegungen kann ein Einfluss der sozialen Herkunft – und damit von sozialer Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter – auf den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen abgeleitet werden. Der so gebildete Schichtindex umfasst 5 Stufen und repräsentiert in der untersten Stufe eine Armutsgruppe. Datenbasis ist die Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“, die Teil eines internationalen Forschungsverbundes ist, der von der WHO gefördert wird und an dem gegenwärtig 24 Länder beteiligt sind. Die Studie richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von 11, 13 und 15 Jahren. Die Befragung der Kinder und Jugendlichen fand in der Zeit von März bis Mai 1994 an Schulen in Nordrhein-Westfalen statt. Es wurde eine kombinierte Quotenstichprobe anhand der Merkmale Alter, Schultyp und Region gebildet. Die Fallzahl beträgt N=3.328.

Gesundheitsbefinden 11-15 jähriger SchülerInnen

Soziale Ungleichheit

Gesundheitsindikatoren

1
unten

2

3

4

5
oben

Insg

Gesundheitszustand

 

 

 

 

 

 

Subjektiv bewerteter Gesundheitszustand
sehr gesund

21

34

37

43

47

37

Subjektiv bewertetes Wohlbefinden
sehr glücklich

17

25

30

35

37

29

Selbstvertrauen
immer/ sehr oft

58

73

72

80

86

75

Hilflosigkeit
immer/ sehr oft

14

7

6

5

3

6

Einsamkeit
sehr/ ziemlich oft

19

14

9

8

9

11

Gesundheitsverhalten

 

 

 

 

 

 

Rauchen
täglich/ öfters die Woche

17

14

10

9

7

12

Alkohol trinken (Bier)
täglich/ öfters die Woche

9

9

8

8

12

9

Zähneputzen
mehrmals täglich

64

71

73

81

79

74

Sport
täglich/ öfters die Woche

35

38

43

46

48

42

Ernährung
Obst täglich

65

67

68

71

73

68

Pommes Frites täglich

13

8

8

7

5

8

Gesundheitsbeschwerden

 

 

 

 

 

 

Kopfschmerzen
täglich/ öfters die Woche

22

11

13

11

9

12

Rückenschmerzen
täglich/ öfters die Woche

16

10

9

7

7

9

Allgemein schlecht
täglich/ öfters die Woche

16

7

8

5

1

7

Nervös
täglich/ öfters die Woche

22

12

15

13

8

13

Schlecht Einschlafen
täglich/ öfters die Woche

26

17

18

15

16

17

Studie: Health Behaviour in School-Aged Children – A WHO Cross-National Survey, Universität Bielefeld

Alle Zusammenhänge sind statistisch signifikant. Geschlecht und Alter auspartialisiert. N=2.491

Ergebnisse

Die Analyse des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11-15 Jahren basiert auf den subjektiven Bewertungen ihres Gesundheitszustandes und den Selbstberichten über ihr Gesundheitsverhalten. Obwohl es sich bei den Selbstberichten nicht um epidemiologisch abgesicherte Daten handelt, sehen wir gleichwohl in der Befragungsmethode einen validen und aussagekräftigen Ansatz zur Erforschung der gesundheitlichen Situation im Jugendalter. Das hier verwendete „Maß der Gesundheit“ auf Basis der subjektiven Bewertung muss jedoch mit dieser Einschränkung gelesen werden. Es werden im folgenden die Verteilungen nach der sozialen Ungleichstellung aufgeschlüsselt und die Angaben „sehr positiv“ bzw. „sehr oft“ ausgewiesen.

Wie in Tabelle 1 ausgewiesen, zeigt sich durchgängig, über alle Bereiche, ein Einfluss der sozialen Lebenslage auf die berichtete Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Besonders deutlich tritt der Einfluss der sozialen Lage zwischen den beiden Extremgruppen („unten“ und „oben“ im sozialen Ungleichheitsspektrum) hervor. Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Positionen zeigen in nahezu allen Gesundheitsindikatoren eine schlechtere Bewertung ihrer gesundheitlichen Situation. Nicht selten beträgt die Prozentsatzdifferenz zwischen diesen beiden Extremgruppen über 20 Punkte. Die geringsten Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen zeigen sich im Gesundheitsverhalten. Hier wirkt, so können die Ergebnisse interpretiert werden; die Leitbildfunktion jugendlicher Lebensweisen nivellierend auf das Verhalten der einzelnen. Deutlicher sind die Unterschiede in der Bewertung des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsbeschwerden. Nur jedes fünfte Kinder aus der unteren, aber jedes zweite Kind aus der oberen sozialen Position bewertet den Gesundheitszustand mit sehr gut. Gesundheitliche Beschwerden werden von Kindern erheblich häufiger berichtet, die aus sozial niedrigeren Positionen kommen. Da den Kindern niedrigerer sozialer Herkunft oftmals eine geringere Sensibilität und Berichtsfähigkeit über psychosoziales Wohlbefinden zugesprochen wird, sind die deutlich höheren Prävalenzraten der berichteten gesundheitlichen Beschwerden und der schlechter bewertete Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen niedrigerer sozialer Herkunft um so erstaunlicher.

Unsere Untersuchung zeigt noch ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis. Ebenso wie jüngst eine amerikanische Studie für eine Erwachsenenpopulation auswies, zeigt sich auch schon im Kindes- und Jugendalter ein direkter, linearer Zusammenhang zwischen dem Grad der sozialen Privilegierung und dem Ausmaß von Gesundheit. Wie die überwiegend stetig ansteigenden oder fallenden Prozentzahlen zwischen den sozialen Indexpositionen in Tabelle 1 ausweisen, haben wir es bei den meisten Gesundheitsindikatoren mit einem linearen Zusammenhang über alle Positionen der sozialen Stufenleiter zu tun. Dies bedeutet: Je niedriger die Position in der Privilegienstruktur einer Gesellschaft, desto niedriger ist auch die Qualität der Gesundheit; je höher die Position in der Privilegienstruktur, desto größer die Qualität der Gesundheit. Bemerkenswert ist, dass diese Abhängigkeit nicht nach qualitativen Stufen gegliedert ist, sondern einen gleichförmigen Verlauf hat. Die lineare Beziehung zwischen sozialer Lebenslage und individuell erfahrener Gesundheit unterstreicht den fließenden Übergang von absoluter über relativer Armut zu den sozial in den unteren Segmenten der Gesellschaft stehenden „Normalfamilien“.

Schlussfolgerungen

Was lässt sich hieraus ableiten? Zunächst einmal ein wichtiger Hinweis auf die angemessene Definition und Konzeptionalisierung von Gesundheit. Gesundheit ist eindeutig ein Indikator für das subjektive und das objektive Wohlbefinden, teilweise wahrscheinlich sogar mit diesem Wohlbefinden gleichzusetzen. Gesundheit ist von den Lebensbedingungen abhängig und sie muss ganz offensichtlich mehrdimensional verstanden werden, nämlich als der Balancezustand sowohl im körperlich-physischen als auch im seelisch-psychischen wie im sozialen Bereich. Es spricht also sehr viel für eine mehrdimensionale Konzeption von Gesundheit, wie sie etwa von der Weltgesundheitsorganisation seit vielen Jahrzehnten proklamiert wird. Gesundheit hängt ganz offensichtlich von den Ressourcen ab, die ein Mensch zur Verfügung hat. Dabei sollten die personalen von den sozialen Ressourcen unterschieden werden. Zu den personalen Ressourcen sind insbesondere das Temperament einer Person zu rechnen, die Intelligenz mit all ihren verschiedenen Facetten, die Selbststeuerungsfähigkeit und die Fähigkeit, die eigene Lebenssituation zu kennen und zu interpretieren, verbunden mit der Kompetenz, sich in komplizierten Situationen körperlicher, psychischer und sozialer Art in effektiver Weise selbst zu managen. Neben diesen personalen Ressourcen sind insbesondere die sozialen Ressourcen angesprochen, und sie sind sehr stark in den schon angesprochenen Lebensbedingungen des Menschen abgebildet. Hier ist an erster Stelle natürlich die finanzielle Komponente von sozialen Ressourcen zu nennen, denn mit finanziellen Mitteln kann ein Individuum in unserer Gesellschaft sich Informationen und Leistungen erkaufen, die für Wohlbefinden und Gesundheit von großer Bedeutung sind. Eine weitere Dimension ist die emotionale und die soziale Unterstützung, die nach allen vorliegenden Untersuchungen von großer Bedeutung für die Stabilisierung des Balancezustandes „Gesundheit“ ist, da sie die nötigen Stützungen zur Verfügung stellt, wenn es z.B. zu Krisen- und Belastungssituationen kommt. Weiterhin ist auf die soziale Ressource „Bildung“ hinzuweisen, die dafür sorgt, dass ein Individuum selbstgesteuert und flexibel in Belastungssituationen reagieren kann und die selbstverständlich auch von erheblicher Bedeutung ist, wenn es um das Heranziehen von Informationen und Wissen geht. Das Zusammenspiel von sozialen Ressourcen und personalen Ressourcen, die selbstverständlich auch in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, entscheidet also ganz offensichtlich über den Grad von Gesundheit, über den ein Individuum verfügt. Und die Befunde aus unserer und anderen Untersuchungen unterstreichen, wie stark gradiert der Zusammenhang zwischen den sozialen Lebensbedingungen und der Gesundheit ist.

Sozialpolitische Konsequenzen

Was ist politisch zu tun? Armut entsteht, wie die bisherige Analyse zeigt, eindeutig aufgrund von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen in der Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft. Die Bekämpfung der Armut kann deswegen auch nur politisch geregelt werden und ist eine Frage der Verteilungspolitik insgesamt. Wie die nationale Armutskonferenz betont hat, wächst die Zahl derer, die Gefahr laufen, keinen ausreichenden Schutz in der Sozialversicherung zu erhalten, und die beim Eintreten von Existenzrisiken auf Sozialhilfe verwiesen sind. Darüber hinaus werden angesichts einer Tendenz zur Pluralisierung von Lebensformen die traditionellen Sicherungsnetze von Ehe und Familie in ihrer Schutzfunktion immer brüchiger. Sie stellen daher die bisherige indirekte Existenzsicherung von Familienmitgliedern, z.B. von Frauen, in Frage. Zugleich ist in den letzten Jahren der sozialpolitische Schutz vor Verarmungsrisiken eher verringert worden, z.B. durch die Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes und des Renten- und Gesundheitsgesetzes. Die politische und soziale Zuständigkeit für soziale Problemlagen hat sich von der Sozialversicherung auf die Sozialhilfe verschoben und damit von der Bundesebene auf die Ebene der Gemeinden. Die Gemeinden aber sind z.Zt. die finanziell am ungünstigsten ausgestatteten Institutionen unseres politischen Systems.

Bündnispartner für eine Lobby der Armen

Die Bevölkerungsgruppen in Armut sind aus den oben angegebenen Gründen nicht in der Lage, sich miteinander zu solidarisieren. Sie sind auch kaum in der Lage, auf ihre eigene prekäre Situation hinzuweisen. Sie können sich deswegen kaum eine wirksame öffentliche Lobby aufbauen. Deswegen sind potentielle Bündnispartner gefordert, diesen Prozess zu unterstützen und öffentlich Position zu beziehen. Als Bündnispartner kommen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und die Gewerkschaften in Betracht. Als Bündnispartner ist aber auch die Wissenschaft gefragt. Durch kontinuierliche öffentlichkeitswirksame Aktionen kann auch sie sich um benachteiligte Bevölkerungsgruppen kümmern und das Tabu brechen, das immer noch über der Armut liegt. Durch öffentliche Diskussion und durch sachlichen Hinweis auf die Verursachung von Armut als eines kumulativen Prozesses kann auch von wissenschaftlicher Seite ein nachdrücklicher Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der Schwächsten geleistet werden.

Gesundheitspolitische Intervention

Einen besonderen Stellenwert muss dabei schließlich auch eine gezielte Veränderung des Versorgungssystems, ganz besonders auch im gesundheitlichen Bereich, einnehmen. Wir brauchen spezifisch zugeschnittene Angebote der gesundheitlichen Versorgung für die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen. Dabei müssen viel stärker als heute auch ambulante und mobile Dienste eingesetzt werden. Denn das gehört zu den Charakteristiken der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen, dass sie sich die Leistungen des Versorgungssystems nur schwer aktiv erschließen können. Die Konsequenz ist, dass die Angebote zu den armen Bevölkerungsgruppen hin orientiert werden müssen, z.B. – sofern es um Kinder und Jugendliche geht – durch die Integration von Versorgungsangeboten in Kindergärten und Schulen.

Dr. Klaus Hurrelmann ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Dr. Andreas Klocke ist Direktor am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg.

Vorstehender Artikel wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998, ins Internet gestellt im Juni 2003.

Perspektiven der kommunalen Haushaltskonsolidierung

Von Robert Schmitz

Sowohl in den Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen als auch im übrigen Bundesgebiet steht ein Thema ganz oben auf der Tagesordnung: die Konsolidierung des Haushalts. Die konjunkturelle Lage mit ihren Auswirkungen auf die Steuereinnahmen und Sozialausgaben, die finanziellen Belastungen der Vereinigung, die mit diesen Entwicklungen in Zusammenhang stehenden Verlagerungen von Aufgaben und Ausgaben von Bund und Land auf die kommunale Ebene sowie die erheblichen, heute Folgekosten verursachenden Ausgabensteigerungen der Städte und Gemeinden zu Beginn der 90er Jahre haben insgesamt zu teilweise dramatischen Differenzen zwischen Ausgaben und Ein-nahmen geführt.(1) Die aktuelle Zuspitzung dieser Situation und die zu erwartende weitere Entwicklung zwingen die Kommunen zur Einleitung von Konsolidierungsmaßnahmen, wenn sie ihre Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit wiedergewinnen wollen.

Die dabei zu ergreifenden Maßnahmen sind nicht an einer kurzfristigen Entlastung des Haushalts, sondern vielmehr an einer mittel- bis langfristigen Wirksamkeit zu orientieren. Denn auf der Ausgabenseite sind weitere Belastungen aufgrund der vollen Einbeziehung der ostdeutschen Länder und Gemeinden in den Finanzausgleich ab 1995 bereits abzusehen (2), und auf der Einnahmenseite sind ausreichende Steigerungen frühestens in einigen Jahren zu erwarten. Eine Verbesserung der Haushaltssituation für die Kommunen durch Maßnahmen des Bundes oder Landes, die selber mit enormen finanzwirtschaftlichen Problemen konfrontiert sind, ist nicht in Sicht. Auch die Hoffnung auf eine baldige Entspannung der Haushaltslage durch einen Konjunkturaufschwung ist unbegründet. Auf der Einnahmenseite wird er sich mit höheren Steuereinnahmen erst mit einiger Verzögerung bemerkbar machen, und auf der Ausgabenseite wird eine Entlastung im Bereich der Sozialausgaben angesichts der Arbeitsmarktlage erst mit erheblichem Zeitverzug eintreten.

Damit stehen die Kommunen vor der Herausforderung, aus eigener Kraft eine längerfristig wirksame Konsolidierung herbeizuführen. Dazu stellt eine weitere Erhöhung der Verschuldung keinen geeigneten Ansatz dar. Abgesehen davon, dass die Aufnahme von Krediten nur für Umschuldungsmaßnahmen oder, ihrerseits Folgekosten verursachende, investive Zwecke zulässig ist (3), führen die fälligen Zins- und Tilgungszahlungen zu zusätzlichen Belastungen der Haushaltslage in den kommenden Jahren. Daher sind Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer dauerhaften Haushaltsentlastung führen, wobei der entscheidende Ansatzpunkt in einer Reduktion der Ausgaben liegt.

Die Erhöhung der Kommunalabgaben, soweit durch die einzelne Kommune beeinflussbar (Gewerbe- und Grundsteuer, Benutzungs- und Verwaltungsgebühren, Beiträge, Benutzungsentgelte), könnte zwar zur Steigerung der Einnahmen und im Einzelfall auch zu einer dauerhaften Entlastung der angespannten Haushaltslage führen; sie dürfte aber angesichts der Diskussion um den Standort Deutschland und die bereits erreichte Steuer- und Abgabenbelastung nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung auf Verständnis stoßen. (4) Eine Einnahmensteigerung müsste sich dabei primär auf die weitere Erhöhung der Hebesätze der Gewerbe- und Grundsteuer stützen, da Gebühren und Beiträge zum volumenmäßig größten Teil (Abwasser und Abfall) aufgrund der weitgehend erreichten Kostendeckung nur noch wenig Spielraum für Erhöhungen bieten. Die weiteren Gebühren und Benutzungsentgelte ließen zwar teilweise erhebliche Steigerungen zu, erreichten aber auch dann nur einen sehr geringen Umfang. (5) Da höheren Kommunalabgaben entgegenwirkende Parteien großen Zulauf und entsprechenden Einfluss gewinnen dürften, ist eine langfristig wirksame Lösung der Haushaltsprobleme mit diesem Mittel nur schwer vorstellbar.

Geeignetere Maßnahmen sind daher in nachhaltigen Senkungen von Ausgaben zu suchen. Ansatzpunkte könnten Verringerungen des Leistungsangebots bei der Erfüllung pflichtiger Selbstverwaltungsaufgaben sowie der Abbau von nicht zu den Pflichtaufgaben gehörenden, also freiwilligen kommunalen Dienstleistungen sein. In Verfolgung dieser Ansätze stehen in mehreren Städten und Gemeinden Einrichtungen und Angebote in den Bereichen Soziales, Jugend, Kinder, Sport, Erholung, Kultur und Freizeit in der Diskussion, wobei die Trennlinie zwischen pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und freiwilligen Leistungen nicht immer ausreichend berücksichtigt wird. (6) Leistungsverringerungen oder -abbau verlangen mit Blick auf die längerfristige Wirksamkeit, dass kurzfristig realisierbare Ausgabensenkungen nicht mit künftigen Mehrausgaben erkauft werden. So wäre es beispielsweise verhängnisvoll, zur kurzfristigen Haushaltsentlastung in der Prävention tätige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu schließen. Denn in der Folge ist vermutlich die vermehrte Unterbringung in Heimen zu finanzieren, was kumuliert die Ausgabenreduktion um ein Vielfaches überkompensieren würde; zusätzlich wären Begleiterscheinungen und Spätfolgen im sozialen Umfeld und bei den Betroffenen zu berücksichtigen. Dass dennoch solche und ähnliche Ratsentscheidungen gefällt werden, wirft sowohl ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Durchsetzung starker, gut organisierter Interessen zu Lasten schwächerer, schlecht organisierter als auch auf das Vorherrschen kurzfristigen Denkens in Jahreshaushalten bei den Verwaltungen. Schließlich entscheidet der Rat auf der Grundlage von Verwaltungsvorlagen.

Als ähnlich problematisch hinsichtlich einer mittel- und langfristigen Haushaltskonsolidierung stellt sich die als „Rasenmähermethode'“ bekannte Kürzung sämtlicher Ausgabenansätze um einen einheitlichen Prozentsatz dar. Aus ihr resultiert ganz unmittelbar eine Senkung der Leistungsintensitäten, womit die Wirksamkeit der Leistungen selber in Frage gestellt ist. Zusätzlich können damit auch zeitlich versetzte Ausgaben in anderen Bereichen verursacht werden, die künftige Handlungsspielräume begrenzen. Beispielsweise kann in Folge einer solchen globalen Kürzung die zur Gewährleistung der Sicherheit und zum Substanzerhalt notwendige Unterhaltungsintensität von Spielplätzen nicht mehr aufrechterhalten werden. Dies führt zu einem erhöhten Haftungsrisiko und beschleunigtem Substanzverlust aufgrund unterlassener Reparaturen und Pflegearbeiten und damit letztlich zu aufwendigen Neubau- oder Restaurierungsmaßnahmen. Unter rein finanzwirtschaftlichen Aspekten wäre es in einem solchen Fall sinnvoller, die Ausgabenkürzung durch die Schließung von einigen Spielplätzen, bei Erhaltung der Pflegeintensität auf den verbleibenden, zu realisieren.

Selbstverständlich existieren Bereiche, in denen eine Senkung der Leistungsintensität, eine Verringerung des Leistungsangebots oder die Einstellung freiwilliger Leistungen keine Abnahme der Wirksamkeit oder erhöhte Ausgaben verursachen. Dies ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen. Daneben sind nicht finanziell messbare Wirkungen zu beachten, die sich im sozialen, kulturellen, politischen oder optischen Erscheinungsbild, der Lebensqualität und Attraktivität einer Stadt oder Gemeinde niederschlagen.

Eine wichtige Rolle in der Diskussion um die Haushaltskonsolidierung spielt die Privatisierung von Leistungen. Sie ist aber nur dann finanzwirtschaftlich sinnvoll, wenn einwandfrei festgestellt wurde, dass die entsprechende Leistung durch private Unternehmen kostengünstiger als durch die Verwaltung selber erbracht werden kann, wobei die der Kommune entstehenden Mehrkosten aufgrund zusätzlicher Vergabe- und Kontrolltätigkeiten infolge der Privatisierung zu berücksichtigen sind. Eine solche Angaben bereitstellende, umfassende Kostenrechnung ist nur in wenigen Kommunalverwaltungen in Angriff genommen worden. Ohne eine entsprechende Datenbasis erhält die Behauptung, dass bestimmte Leistungen durch privatwirtschaftliche Unternehmen kostengünstiger als durch die Kommunalverwaltungen zu erbringen sind, auch durch ihre stereotype Wiederholung keinen größeren Wahrheitsgehalt. (7) Weiterhin ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Gefahr einer zukünftigen Abhängigkeit von einem Anbieter besteht, der dann in der Lage ist, Monopolpreise zu setzen. Eine derartige Situation befürchten die Kommunen, die ihre Müllabfuhr privatisiert haben und sich nun insgesamt einem Oligopol und, bezogen auf das jeweilige Gemeindegebiet, einem Monopol gegenübersehen. Ein weiterer, hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung breit diskutierter Punkt ist die Umstrukturierung der Verwaltungen analog zu Organisationsstrukturen in der Privatwirtschaft und Vorbildern ausländischer Kommunalverwaltungen. Schlagworte wie „von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen“, „lean-administration“ oder „Konzern Stadt“ geben die Diskussionsrichtung an, und in einigen Kommunalverwaltungen sind auch entsprechende Schritte eingeleitet worden. Inwieweit ihre Realisation im Ergebnis den privatwirtschaftlichen und ausländischen Verwaltungsvorbildern entsprechen wird, bleibt abzuwarten.

Im Rahmen dieser Umstrukturierungen werden die klassischen Ämterstrukturen überdacht und aufgebrochen, indem Leistungen gebündelt und zu Leistungsbereichen zusammengefasst werden. Die weitgehende Delegation von fachlichen Entscheidungskompetenzen und Verantwortungen auf niedrigere bis hin zu untersten Hierarchiestufen lassen eine Verringerung der Leitungsstellen und eine Abflachung der Hierarchie zu. Insgesamt können damit verwaltungsinterne Abläufe vereinfacht, Dienstwege verkürzt und damit Verfahren beschleunigt werden. Mit einer schnelleren Antragsbearbeitung lässt sich außer einem Kostensenkungseffekt auch eine höhere Bürgerfreundlichkeit erreichen. (8) Einen weiteren Schritt in Richtung größere Bürgernähe kann die Zusammenführung von Leistungen und Beratungen nach dem Vorbild der Bürgerämter und Bürgerläden darstellen. (9)

Ergänzt wird diese Umstrukturierung durch die unter dem Stichwort „dezentrale Ressourcensteuerung“ diskutierte Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen hinsichtlich der Organisation und Sachmittelausstattung sowie der finanziellen und personellen Ressourcen von den Querschnittsämtern auf die neu zu bildenden Leistungsbereiche. Eine derartige Dezentralisation beschränkt auf die finanziellen Ressourcen ist auch als isolierte Maßnahme ohne weitgehende Umstrukturierung möglich und wird auch unter dem Stichwort „Budgetierung“ praktisch umgesetzt. Im Kern geht es dabei um die Zuweisung eines bestimmten, festgelegten Betrages für einen Leistungsbereich, ein Dezernat oder ein Amt, den diese für ihre Aufgabenerfüllung zur Verfügung gestellt bekommen und für dessen Nichtüberschreitung sie verantwortlich sind. Soweit in einem Verwaltungsbereich Einnahmen vorgesehen sind, werden diese bei der Bemessung des Budgets in Ansatz gebracht, wobei die Realisation und wenn möglich die Steigerung der Einnahmen der Verwaltungseinheit übertragen werden. Bei der gegenwärtigen Haushaltslage wird die Budgetierung häufig mit einer globalen oder nach Leistungsbereichen, Dezernaten oder Ämtern differenzierten Ausgabensenkung verbunden. Dahinter steht die berechtigte Erwartung, dass die Mitarbeiter in den Verwaltungseinheiten selber am besten wissen, in welchen Leistungsbereichen Ausgabenkürzungen ohne negative Konsequenzen vertretbar sind bzw. wie die Leistungserstellung effizienter (wirtschaftlicher) gestaltet werden kann, sodass keine Verminderung von Leistungsintensitäten erforderlich ist. Die Umsetzung dieser Erwartungen verlangt aber auch eine über die Budgetierung hinausgehende Dezentralisation von Entscheidungskompetenzen in den Bereichen Personaleinsatz, Organisation und Sachmittelausstattung. Unabhängig davon, ob eine Kürzung der Ansätze erfolgt, besteht durch die Schaffung entsprechender Anreize die Chance, Einsparungen durch eine Erhöhung der Effizienz zu realisieren. Ein entsprechender, teilweise in der Praxis eingesetzter Anreiz für solche Einsparungen besteht dann, wenn die Verwaltungseinheit, die ihr Budget nicht ausschöpft, zumindest über einen Teil der verbleibenden Mittel frei verfügen, ihn für zusätzliche Leistungen, für die eigene Ausstattung, als Übertragung in das nächste Jahr oder als Rücklage für spätere Jahre einsetzen kann. Auf diesem Weg lässt sich eine Motivation für die Verbesserung der Effizienz der Leistungserstellung schaffen, womit eine auch längerfristig wirksame Ausgabensenkung einhergeht. Zusammen mit einer weitergehenden Umstrukturierung dürfte sich dieser Effekt erheblich steigern und mit größerer Bürgernähe verbinden lassen.
Die erfolgreiche Einführung solcher Strukturen kann nur unter Beteiligung der Mitarbeiter erfolgen, denn ihr Verhalten entscheidet, ob die beabsichtigten Effekte realisiert werden; sie kennen am ehesten die Probleme und Bedürfnisse der Bürger und vorhandene Rationalisierungspotentiale. Zudem fördern eine Beteiligung und weitgehende Entscheidungskompetenzen die Motivation und erhöhen die Attraktivität der Arbeitsplätze.

Zur Bewältigung der finanzwirtschaftlichen Herausforderung durch die Kommunen scheint eine weitgehende Umstrukturierung in Verbindung mit einer Dezentralisation der Ressourcensteuerung wesentlich geeigneter als die Verfolgung einer der vorher genannten isolierten Maßnahmen. Denn im Gegensatz zu diesen, geht es nicht um die Verringerung, Einstellung oder Privatisierung von Leistungen oder die Verminderung von Leistungsintensitäten, sondern um die Mobilisierung des gesamten Rationalisierungspotentials der Verwaltung im Bereich der Pflichtaufgaben und der freiwilligen Leistungen unter Einbeziehung der Querschnittsfunktionen möglichst ohne Einschränkungen des Leistungsangebots für die Bürger. Zur Steuerung einer so veränderten Kommunalverwaltung, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf die Leistungserstellung, müsste ein Controllingsystem eingeführt werden, das sich auf eine ausgebaute Kostenrechnung und ein durchgängiges Berichts- und Planungssystem stützt. Mit einer solchen Umstrukturierung und Verlagerung von Entscheidungskompetenzen erhalten Führungskräfte und Mitarbeiter der Kommunalverwaltung neue Rollen und stehen vor veränderten Anforderungen, zu deren erfolgreicher Bewältigung entsprechend Qualifizierungsmaßnahmen in breitem Umfang anzubieten sind.

Das Ausmaß, in dem mittels eines solchen Modernisierungsprozesses eine Haushaltskonsolidierung gelingt und der Aufbau eines durchgängigen Planungssystems, hängen aber nicht nur von Veränderungen in der Verwaltung, sondern ebenso von einem geänderten Zusammenspiel von Politik und Verwaltung ab. Die Steuerung der Verwaltung durch die Politik geschieht bislang über die Zuteilung von Finanzmitteln durch Verabschiedung eines Haushaltsplanes sowie durch vielfältige Einzeleingriffe in das Verwaltungshandeln, immer auf der Grundlage von Entscheidungsvorlagen durch die Verwaltung. Bei der mit dieser Art der Steuerung verbundenen Detailfülle gerät die Orientierung an Zielvorstellungen für die das Verwaltungshandeln bestimmenden, politischen Entscheidungen leicht aus dem Blickfeld. Sinnvoller als die Steuerung über den finanziellen Input und die im Detail scheint die Vorgabe von klaren Zielen für das Verwaltungshandeln, wobei die Erreichung dieser Ziele der Verwaltung überlassen und lediglich durch den Rat kontrolliert wird. Auf der Basis längerfristiger Zielvorstellungen, die einen Schlingerkurs von Politik und Verwaltung verhindern, lassen sich klare Prioritäten formulieren, anhand derer gegebenenfalls auch Entscheidungen über die Kürzung oder Einstellung von Leistungen, die Verringerung von Leistungsintensitäten und die Privatisierung von Leistungsbereichen getroffen werden können. Ein derart geändertes politisches Entscheidungsverhalten verlangt von der Verwaltung eine andere Art der Entscheidungsvorbereitung: Die zu erbringenden Leistungen sind als Produkte der Verwaltung klar zu definieren und abzugrenzen, die Kosten ihrer Produktion und die damit verbundenen Ausgaben sind zu beziffern und in übersichtlicher Form auszuweisen. Mit einem derart veränderten Zusammenspiel von Rat und Verwaltung lassen sich problematische Entscheidungen wie die oben beschriebenen verhindern, da die Verwaltung zur Entscheidungsfindung abgesicherte Daten liefern und der Rat sich an klaren Zielvorstellungen orientieren kann.

Das hier skizzierte Konzept entspricht im wesentlichen dem „neuen Steuerungsmodell“, (10) das derzeit die Diskussion um die Verwaltungsmodernisierung beherrscht, die durch die Zuspitzung der Finanzlage der Kommunen einen erheblichen Auftrieb erfahren hat. Zielsetzung des Modells ist die Steigerung von Effektivität (Wirksamkeit), Effizienz und Bürgernähe des Verwaltungshandelns bei der Umsetzung des politischen Willens. Soweit eine Umsetzung dieses Modells gelingt, besteht die Chance, dass die Kommunen mittelfristig ihre Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit nicht nur in finanzieller Hinsicht wiedergewinnen und der geforderten Bürgernähe Rechnung tragen. Zwar verstärkt die derzeitige Haushaltslage den Handlungsdruck auf die Kommunen, sich in diese Richtung zu verändern; gleichzeitig besteht damit aber auch die Gefahr der finanzwirtschaftlichen Verkürzung des Ansatzes, so dass den Herausforderungen des beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses ebenso wenig Rechnung getragen wird, wie den Chancen zur Wiedergewinnung der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit die Möglichkeit der Realisation gegeben wird, die ein bürger- und mitarbeiterorientierter, Rat und Verwaltung umfassender Modernisierungsprozess bietet.

Vorstehender Artikel wurde von Robert Schmitz für den NAGEL verfasst und in der Ausgabe 56/1994 veröffentlicht. Ins Internet gestellt wurde er im August 2002. Robert Schmitz ist Dipl.-Ökonom, studierte in Bochum Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er betrieb eine mehrjährige Forschungstätigkeit im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung und ist Referent am Institut für Kommunal- und Verwaltungswissenschaften (IKV) in Bochum.

Anmerkungen:

1 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.; Wer im Glashaus sitzt – Finanzen der Gemeinden, in: iwd vom 20. Jan. 1994; Leistungen des Landes an die Kommunen im Rahmen der Finanzplanung 1993-1997, in: Mitteilungen NWStGB vom 05.11.1993, S. 355.

2 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.

3 vgl. Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (III), in: Eildienst LKT NW 22/1993, S. 421 ff.

4 vgl. Tacke, Walter: Gewerbesteuer hoch – Nein! Personalabbau – Ja!, in: Kommunalpolitische Blätter 1/1994, S. 27 ff.

5 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.

6 So sind beispielsweise die im KJHG genannten Aufgaben insgesamt Pflichtaufgaben, darunter auch pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben, bei denen nur die Art der Durchführung in die Entscheidungskompetenz der Kommune gelegt ist. Zu den Bestimmungen des KJHG im Einzelnen vgl. ABA-TEXTEDIENST Nr. 12/1994 (Prof. Dr. Ulrich Preis: Bleibt das Kinder- und Jugendhilfegesetz auf der Strecke?) und Stellungnahme des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, in: ABA Fachverband: Der Zug fährt ab. Teil 1/1994 (Dokumente und Materialien), S. 52 ff.

7 Zur Problematik der Privatisierung siehe auch Banner, Gerhard: Neue Trends im kommunalen Management, in: VOP 1/1994, S. 5-12, 8-10.

8 vgl.: Banner, Gerhard: Neue Trends im kommunalen Management, in: VOP 1/1994, S. 5-12, 10.

9 vgl. Liesenfeld, Joachim; Loss, Kay: Die Modernisierung von Stadt- und Gemeindeverwaltungen in den achtziger Jahren, in: WSI Mitteilungen 7/1993, S. 448-455, 451.

10 Einen kurzen Überblick über die Diskussion um ein „neues Steuerungsmodell“ gibt Blume, Michael: Zur Diskussion um ein neues Steuerungsmodell für Kommunalverwaltungen – Argumente und Einwände, in: Der Gemeindehaushalt 1/1993, S. 1-9.

Kinder wollen draußen spielen

Die Bedeutung des Wohnumfeldes für das Heranwachsen junger Menschen – Städte brauchen außerhäusliche Aktionsräume

Von Baldo Blinkert

Eine Freiburger Studie¹ legt dar, dass Kinder in der Stadt immer weniger Möglichkeiten zum Spielen im Freien finden. Die Untersuchung zeigt aber auch, was kommunalpolitisch dagegen getan werden kann. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Neil Postman hat das “Ende der Kindheit” postuliert. Diese These ist missverständlich, denn es spricht viel für die Vermutung, dass sich Kindheit als soziale und ökonomisch verwertbare Institution erst richtig etabliert und immer mehr die Form einer “inszenierten Kindheit” annimmt.

Die in Großstädten lebenden Kinder verlieren immer mehr die Möglichkeit zum spontanen und unbeaufsichtigten Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld ihrer Wohnung. An die Stelle von unmittelbaren Erfahrungen treten immer mehr Erfahrungen aus zweiter Hand und mit Simulationen.

Kinder leben immer mehr in Reservaten, in Welten, die für sie inszeniert und simuliert werden: auf Spielplätzen, in Organisationen, in den künstlichen Welten der Medien. Immer mehr Kinder wachsen in einer Umwelt auf, die entweder gefährlich ist oder in der man nichts erleben kann. “Wirklichkeitsverlust” und “Erlebnismangel” werden für immer mehr Kinder zu zentralen Merkmalen ihrer Lebenswelt.

Wie man Kommunalpolitik für Kinder macht

In Freiburg im Breisgau wurde im Auftrag der Stadtverwaltung eine Untersuchung durchgeführt, um diese Probleme zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu entwickeln (in dieser Untersuchung wurden Informationen über die Spielmöglichkeiten von über 4.000 Kindern erhoben). Die folgenden Fragen standen im Vordergrund:

  • Über welche Aktionsräume können Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren verfügen?
  • Welche Konsequenzen hat eine schlechte Aktionsraumqualität für die Lebensqualität und für die Entwicklungschancen von Kindern?
  • Welche politisch veränderbaren Merkmale von städtischen Umwelten sind für die Aktionsraumqualität von Kindern verantwortlich?

In der Untersuchung ging es um praktische Fragen. Denn nicht alles, was wissenschaftlich interessant ist, ist auch unter politischen Gesichtspunkten wichtig. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass die Situation von Kindern durch Veränderung in Ehe und Familie beeinflusst wird oder durch das Bildungsmilieu der Eltern oder durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile, so sind das wertvolle Erkenntnisse – aber keine Kommunalverwaltung wird diese Verhältnisse ändern können. Wir haben uns also auf Bedingungen konzentriert, die sich auch kommunalpolitisch beeinflussen lassen. Und dazu gehört alles, was mit dem Begriff des Aktionsraumes beschrieben werden kann. Unter einem Aktionsraum verstehen wir ein Territorium, das Kindern zugänglich ist, das für Kinder dieser Altersgruppe gefahrlos ist, das den Gestaltungsmöglichkeiten dieser Altersgruppe entspricht und wo es Interaktionschancen mit Gleichaltrigen gibt.

Die Untersuchung zeigt, dass von allen berücksichtigten Bedingungen die Aktionsraumqualität den Kinderalltag am stärksten beeinflusst (siehe Kasten „Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie“). Das gilt besonders für die frei disponierbare Zeit am Nachmittag und frühen Abend. Die Merkmale der unmittelbaren Wohnumgebung haben auf die Zeitverwendung von Kindern einen erheblich größeren Einfluss als die Merkmale Alter, Geschlecht, Familienstatus, Erwerbstätigkeit und Bildungsmilieu der Eltern. Das ist ein außerordentlich bedeutsames Ergebnis, denn es zeigt, dass die wichtigste Determinante für den Kinderalltag kommunalpolitisch gestaltbar ist. Wenn man etwas verändern will, so ist das auch möglich.

Wie man Kindern zu Defiziten verhilft

Die Annahme scheint plausibel, dass die dauerhafte Erfahrung ungünstiger Aktionsraumbedingungen zu Autonomie- und Kreativitätsdefiziten bei Kindern führen kann. Drei Argumente sprechen dafür:

  • Eine dauerhaft schlechte Aktionsraumqualität im Wohnumfeld trägt vermutlich dazu bei, dass Kinder nur wenig Selbstständigkeit entwickeln. Es kommt zu einer Art „Bedürfnisfixierung“: eine unzureichende Lösung von Sicherheitsbedürfnissen und ein geringes Interesse am Ausprobieren, Entdecken und Problemlösen. Dieses Phänomen ist uns bei den Begehungen von Wohnquartieren mit Kindern begegnet. Auf die Frage, was sich denn auf einem Spielplatz ändern müsste, erhielten wir nicht selten die Antwort: noch eine Schaukel, eine Rutsche, eine Wippe, ein Wackeltier.
  • Von allen Fachleuten wird betont, wie wichtig für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter die Möglichkeit zum Herstellen ist – Herstellen von Dingen, aber auch soziales Herstellen von Regeln und Beziehungen. Kinder, die diese Möglichkeit besitzen, können Selbstbewusstsein, Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, aber auch Einsicht in die Grenzen ihres Handelns gewinnen. Anregende und offene Aktionsräume bieten Kindern vielfältige Möglichkeiten zum Herstellen, zum dinglichen und sozialen Herstellen. Das Fehlen von Aktionsräumen regt dagegen eher zum Konsumieren fertiger Dinge und Dienstleistungen an.
  • Eine dritte Vermutung bezieht sich auf die Kompetenz von Kindern. Kinder entwickeln möglicherweise unter dauerhaft ungünstigen Aktionsraumbedingungen ein Defizit, das eine Ähnlichkeit mit den Defiziten der künstlichen Intelligenz bei Computern hat: sie erwerben hochentwickelte formale Fähigkeiten, aber nur eine unterentwickelte Semantik. Sie können immer besser und differenzierter kommunizieren, aber sie wissen nicht, worüber – ihnen fehlen die Bedeutungen und Inhalte.²

Ein Symptom für dieses Defizit ist die Unfähigkeit zum Erzählen. Inhalte und Bedeutungen, also etwas Erzählenswertes, kann man nur erwerben, wenn man etwas erlebt. Viele Kinder leiden heute unter einem extremen Erlebnismangel. Welche Erlebnisse haben Kinder, worüber sollten sie sich den halben Nachmittag auf einem Spielplatz mit Rutschen, Wippen, Kriech- und Wackeltieren beschäftigt haben?

Hinter der Freiburger Untersuchung stand, wie erwähnt, eine praktische Fragestellung: Was kann eine Stadt tun, um die Situation von Kindern zu verbessern? Was also kann getan werden, wenn man nicht die Politik der 70er und 80er Jahre fortsetzen will, in der immer mehr Kinderreservate eingerichtet und immer mehr Therapien für Kinder angeboten wurden?

Eine sinnvolle Alternative ist die politische Gestaltung einer kinderfreundlichen städtischen Umwelt. Die von uns formulierten Vorschläge konzentrieren sich auf drei Bereiche:

  • auf die Gefährdung durch den Straßenverkehr
  • auf die Frage, wie sich soziale Risiken für Kinder verringern lassen
  • auf die Frage, wie sich gestaltbare Spielorte in erreichbarer Nähe einrichten lassen.
    Wie man die Gefahren des Straßenverkehrs verringert

Wichtig erscheint die Schaffung von bespielbaren und sicheren Übergangszonen zwischen Haustür und Straße. Dazu gibt es schon eine Reihe von guten Vorschlägen. In einigen Wohngebieten würde es sich anbieten, die Vorgärten stärker für Kinder zugänglich zu machen.

Wichtig ist ferner eine konsequente Fortsetzung der Politik umfassender Verkehrsberuhigungen. Unsere Untersuchung zeigt, dass die Lebensqualität von Kindern durch die Einrichtung von Spielstraßen erheblich verbessert werden kann. In Großstädten wie Freiburg gibt es noch viele Möglichkeiten, autofreie Straßenplätze und Spielstraßen zu schaffen. In den verdichteten Wohnquartieren wird das im übrigen die einzige Möglichkeit sein, wie man für Kinder mehr Freiräume schaffen kann. Baulücken für Spielplätze sind in diesen Gebieten kaum mehr vorhanden.

Die Befürchtung, dass Kinder beim Spielen draußen durch andere Menschen gefährdet sein könnten, spielt insgesamt eine geringere Rolle als die Furcht vor dem Straßenverkehr. Nur zehn Prozent der Eltern erwähnen soziale Risiken als Gründe für schlechte Spielmöglichkeiten. In einigen Stadtgebieten besitzen aber gerade diese Risiken eine erhebliche Bedeutung, und es wäre wichtig, dafür jeweils Lösungen zu finden. Im wesentlichen haben diese Risiken zwei Gründe:

  • In vielen Wohngebieten sind informelle soziale Kontrollen nicht mehr wirksam – „Quartierswächter“ fehlen.
  • In einigen Wohngebieten werden Probleme durch “zwielichtige Gestalten” befürchtet: Stadtstreicher, Alkoholiker, Drogenabhängige, die sich auf Spielplätzen aufhalten.

Da sich informelle Kontrollen kaum wieder beleben lassen werden, schlagen wir in der Studie zwei Lösungen vor: Zum einen sollte der Einsatz von “Quartierspolizisten” überprüft werden. Zum anderen erscheint eine Einrichtung interessant, die es in Australien gibt: “safety houses”. Das sind Häuser oder Wohnungen von Privatleuten, die Kinder anlaufen können, wenn sie sich bedroht fühlen.

Das Problem der “zwielichtigen Gestalten” lässt sich nicht durch mehr Kontrolle lösen. Wir empfehlen deshalb, für diesen Personenkreis Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen, damit sie nicht die Spielplätze von Kindern nutzen müssen.

Wie man gestaltbare Spielorte für Kinder schafft

Alle Spielorte für Kinder sollten erstens durch begeh- und bespielbare Wege miteinander verbunden sein. Zweitens ist es nicht ausreichend, wenn Kinder nur einen bestimmten Typ von Spielort regelmäßig nutzen können. In den verdichteten Innenstadtgebieten ist Vielfalt sicher nur möglich, wenn es zu einer weiteren Verkehrsberuhigung kommt. Große Bedeutung hat auch die Möglichkeit, noch mehr als bisher schon die Schulhöfe für Kinder am Nachmittag zu öffnen. Drittens sollten Spielorte den Kindern die Möglichkeit zur Gestaltung bieten. Die herkömmlichen Spielplätze können das nicht. In einem Experiment soll in Freiburg versucht werden, in einigen Wohngebieten die Spielplätze „zurückzubauen“ – mit verformbarer Erde, mit ein paar Hügeln aus Bauaushub, mit Vertiefungen, in denen sich Regenwasser sammeln und Matsch bilden kann, mit einer sich selbst überlassenen Vegetation – also keine Zierpflanzen und künstliche Biotope, und mit beweglichen Gegenständen: Bretter, Balken, Steine, nach Möglichkeit mit fließendem Wasser und als Zugabe ein Autowrack.

Ein Spielort dieses Typs wird vielleicht Protest hervorrufen – bei Eltern, aber auch bei Kindern, von denen einige den vertrauten Kriech- und Wackeltieren nachtrauern werden. Dennoch sollte solch ein Versuch gewagt werden. Und das nicht nur in Freiburg.

 

Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie

  1. Freies und unkontrolliertes Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld der Wohnung – also in einem Umkreis von 150 bis 200 Metern – ist für Kinder zwischen fünf und elf Jahren von herausragender Bedeutung und durch nichts zu ersetzen.
  2. Im Durchschnitt wenden Kinder für dieses Spielen nicht mehr als fünf Prozent ihres Alltags auf – rund 40 Minuten pro Tag.
  3. Von diesem Durchschnittswert gibt es beachtliche Abweichungen. Diese hängen stark von der Aktionsraumqualität im Wohnumfeld ab: Wenn die Bedingungen sehr schlecht sind, können Kinder nicht mehr als 20 Minuten draußen spielen. Unter guten Bedingungen dagegen nahezu eineinhalb Stunden.
  4. Auch andere Komponenten des Kinderalltags werden in deutlicher Weise von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Der Bedarf für eine organisierte Nachmittagsbetreuung hängt beispielsweise nicht allein vom Familienstatus oder vom Alter der Kinder ab, sondern auch davon, ob es im unmittelbaren Wohnumfeld zugängliche und gefahrlose Freiräume zum Spielen gibt.
  5. Auch der Medienkonsum von Kindern wird von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Ist das Wohnumfeld gefährlich oder erlebnisarm, sitzen diese Kinder sehr viel länger vor dem Fernseher oder an Computerspielen als unter günstigen Bedingungen.

Vorstehender Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 57/1995. Dr. Baldo Blinkert arbeitet an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Anmerkungen:

¹Anm. d. Red.: Inzwischen wird regelmäßig von d e r “Freiburger Studie” gesprochen.

²Anm. d. Red.: Wie weit dieser Prozess inzwischen vorangeschritten ist, konnte die PISA-Studie (2001) belegen.

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