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NAGEL-Redaktion – Beobachtete Bewegung – Bewegte Beobachtung – Grundsätzliche Überlegungen

Von Ulla Keienburg 

Die Diskussionen um Bildung bleiben bewegt. Kaum wieder am Schreibtisch, erinnere ich mich an einen Text, der nicht erst einmal publiziert wurde. Es scheint Erkenntnisse zu geben, die relativ unabhängig von der Zeit sind.

Beobachtete Bewegung – Bewegte Beobachtung – Grundsätzliche Überlegungen

Wenn Tränen tropfen, glauben wir, ein Mensch sei traurig. Das stimmt, statistisch gesehen, sicherlich auch. Doch haben wir diesen Menschen gefragt? Oder haben wir in unseren Biografien gelernt, etwas anzunehmen und auf der Basis dieser Annahmen zu (re-)agieren? „Ich habe gedacht, du hättest gedacht, ich hätte gedacht … Und deshalb habe ich …“ Wie oft verlieren wir uns in Erklärungen! Wer hat heute den Mut, hinzuschauen? Was könnten wir alles entdecken, Großes, Kleines, Wichtiges, wenn wir uns die Zeit nähmen, hinzuschauen, hinzuhören, hinzufühlen, zu fragen?

Kinder haben uns gegenüber einen riesigen Vorteil. Sie lernen viel schneller, sie verarbeiten zügiger, sie sind aufmerksamer, mutiger, neugieriger – wenn wir Großen sie lassen. Die Natur hat sich schon etwas dabei gedacht, wenn sie den Kindern in den ersten vier Jahren abverlangt – und gleichzeitig die psychischen und hirnphysiologischen Voraussetzungen dafür geschaffen hat –, so schnell und so viel wie möglich zu lernen, unter welchen Bedingungen auch immer.

Die Hirnforschung verifizierte in den letzten Jahren mit viel Aufwand, was Freud und Kollegen längst als Grundlage ihrer Betrachtung des Menschen und des Umgangs mit ihm verstanden. Die ersten Jahre sind die entscheidenden. Nun bekommen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie endlich die Wertschätzung, die sie schon lange verdient haben. Vertreterinnen und Vertreter dieser Disziplinen hatten bereits gewagt, „mindestens ein halbe Stunde am Tag das Gegenteil von dem zu denken als das, was in der Wissenschaft als gesichert gilt“, um Albert Einstein zu zitieren. Sie hatten gewagt, hinzuschauen, haben viele Menschen beobachtet, haben das ausführlich getan, haben sich davon bewegen lassen, haben erkannt und tun das heute ebenso.

Kinder lernen anders, schneller und mehr als wir Erwachsenen. Sie sind die Meister ihrer Lernprozesse, solange sie in Beziehung zu sich, zu den Menschen, zu den Dingen und zur Natur sind. Dann können sie nichts anderes als lernen. Nicht lernen geht nicht.

So haben Kinder seit Olims Zeiten gelernt, was sie sollen, nicht unbedingt, was sie wollen und hätten lernen können. Normen entstanden. Keiner weiß so recht, wie. Naturverhältnisse, Kulturen, Traditionen, politische Verhältnisse und ihnen entsprechende Menschenbilder waren es, die diese Normen beeinflussten.

Im vorletzten Jahrhundert bereits hatten Fröbel und Pestalozzi dafür plädiert, Kinder als aktive Mitgestalter ihrer Lernprozesse zu sehen, hatten erkannt, dass Kinder alles, was man ihnen beibringt, nicht mehr selbst lernen können. Später wurden Inhalte, Bewegungsformen, Regeln, Zeiten und Ziele festgelegt, aus denen fast jeder herausfallen muss, weil kaum ein lebendiger Mensch hineinpasst.

Angst vor Eigenständigkeit und Überraschendem hat Menschen im Bereich der Bildung und Betreuung verführt, zu regulierenden Maßnahmen zu greifen, anstatt die Lernprozesse, die Kinder durchlaufen, zu achten und sie zu steuern, indem sie Umwelten der Kinder zu Lernumwelten werden lassen. Andererseits: Der Mensch ist in seinem Berufsalltag einem hohen Maß an Fremdbestimmung ausgeliefert. Wie soll er, eingedenk dessen, gegenüber emotionalen und unkonventionellen Lernprozessen von Kindern offen sein?

Grundannahmen über Kinder

Die Psychomotorik z.B. geht davon aus, dass jeder Mensch sich jede Erfahrung merkt, dass sich jede Erfahrung in den Bewegungen niederschlägt, dass man selbst in späten Jahren zum Beispiel noch den Schmerz fühlt, den ein aufgeschlagenes Knie verursachte, eine Ohrfeige oder ein verschlucktes Apfelstück. Aber auch ein Streicheln, einen Gute-Nacht-Kuss. Der Körper speichert jede Erfahrung psychischer und physischer Natur.

Die Bewegung ist das Erste und Wichtigste, das Kinder entwickeln. In ihren ersten Lebensjahren lernen sie, den Kopf zu heben, sich abzustützen und aufzusetzen, zu greifen, zu sitzen, zu krabbeln, zu laufen. Zu essen und zu trinken. Jeder Entwicklungsschritt geschieht, weil sie etwas erreichen wollen.

Häufig werden die Kleinen hingesetzt, bevor sie sich aufsetzen können. Sie werden aufrecht durch die Weltgeschichte getragen, bevor sie sich selbst aufrichten können. Sie werden aufgestellt, ohne dass sie eine Motivation oder gar die körperlichen Voraussetzungen haben, sich an etwas hochzuziehen, geschweige denn die psychische Stabilität, die Eindrücke zu verarbeiten, die sie nun empfangen.

Jede körperliche Entwicklungsphase ist gekoppelt an die psychische und intellektuelle Entwicklung. Kinder, die nicht die Chance hatten, sich ausgiebig zu bewegen, selbst zu entdecken, wie man sich hinsetzt, läuft, krabbelt, haben nachweislich später Schwierigkeiten mit der Sprach- und Zahlenwelt. Wem zuliebe also setzen wir die Kinder hin, beschleunigen wir via Krankengymnastik die Bewegungsentwicklung?

Kinder brauchen ihre Zeit. „Entwicklungsrückstände“, also eine defizitäre Betrachtung und Bewertung der kindlichen Entwicklung, sind Grund für die endlosen „Reparatur“-Maßnahmen, die es niemand anderem als den Erwachsenen ermöglichen sollen, die Eigenwilligkeit der Kinder leichter auszuhalten. Erst müssen die Kinder den Erwachsenen zuliebe stehen, bevor sie sich selbst hinstellen können, und dann müssen sie zur Therapie, weil ihnen Entwicklungsschritte wie Krabbeln oder Aufrichten fehlen, was sich womöglich auf die Sprachentwicklung oder die feinmotorischen Fähigkeiten auswirkt. Immer öfter müssen sie etwas tun, das ihrer natürlichen Entwicklung nicht entspricht. Eine gemeine Falle…

Grundlegende Kenntnisse über die körperliche und seelische Entwicklung der Kinder sollten verpflichtend sein für Menschen, die mit Kindern arbeiten.

Grundannahmen über Menschen, die mit Kindern arbeiten

Menschen, die mit Kindern arbeiten, müssen sich selbst begegnen, um zu einer befriedigenden Bewältigung ihres (Arbeits-)Alltags zu gelangen. Da sie dies aufgrund eines hohen Maßes an Fremdbestimmung nicht gewohnt sind und es, verschiedener Ängste wegen, nicht von sich aus tun, muss einer solchen Begegnung mit sich selbst ein hohes Maß an Versorgung vorausgehen.

Erzieherinnen und Erzieher, Pädagoginnen und Pädagogen haben ihren Beruf und den entsprechenden Arbeitsbereich aufgrund ihrer persönlichen Geschichte gewählt. Wenn auch zunächst vielleicht unbewusst, streben sie damit eine Begegnung mit ihrer eigenen Person an.

Über die grundlegenden emotionalen und fachlichen Fähigkeiten, um diese Begegnung zu vollziehen und sie für sich, im Team und für die Arbeit mit den Kindern und deren Eltern zu nutzen, verfügen sie. Deshalb verstehen wir eine Arbeitsweise wie zum Beispiel in diesem Workshop als „Verständigungsangebot an als zumindest potenziell kompetent und aktiv gedachte Persönlichkeiten“1. Daraus rekrutieren sich auch die Kompetenzen, die wir den Menschen, die in dem wichtigen Bereich der frühkindlichen Förderung tätig sind, zutrauen und abfordern. Sie kennen den Katalog der Kompetenzen aus den Zielen der frühkindlichen Förderung für Kinder:

● Wahrnehmungskompetenzen;
● Bewegungskompetenzen;
● emotionale Kompetenzen;
● soziale Kompetenzen.

Die genannten Kompetenzen beziehen sich jedoch nicht ausschließlich auf prüfbare Fähigkeiten der Kinder. Jeder beobachtende Mensch, insbesondere in Lernkontexten, sollte sie auch bei sich selbst überprüfen, verifizieren und erweitern.

Dazu schlage ich folgende Fragen vor:

● Welche Grundhaltungen bewegen mich, treiben mich an?
● Kann ich die Unterschiedlichkeit der Menschen wirklich akzeptieren?
● Nach welchen Vorgaben wurde ich selbst erzogen?
● Was rührt der Blick, insbesondere der längere und zielgerichtete, auf das mir anvertraute Kind in mir selbst an?
● Definiere ich mich über die Erfolge, die ein Kind dank meiner „Förderarbeit“ erbringt?
● Wie nah bin ich damit dem Bild der Mutter, die das „gelungene“ Kind für ihre „Leistung“ und das „gestörte“ Kind für ihr „Versagen“ hält?
● Welchen Druck erzeugt es bei mir, Kinder fördern zu sollen?
● Wozu will ich Kinder „fördern“?
● Wonach halte ich Ausschau, wenn ich ein Kind beobachte?
● Welche Ressourcen entdecke ich, welche bleiben mir vielleicht verborgen?
● Was verstellt möglicherweise meinen Blick?
● Wie viel mehr achte ich auf Probleme als auf Lösungen?
● Was bedeutet für mich Elternarbeit? Arbeit mit Eltern? Bearbeitung von Eltern? Gar eine Last, eine Störung, Kontrolle? Oder Hilfe, Partnerschaft?
● Wie weit ist der Beruf der Erzieherin für mich ein Kompromiss zwischen halbmännlichem Karrierewunsch und exklusiver Mutterschaft? Immerhin liegt das Erzieherinnendasein so dicht am „Mutterarbeitsbereich Liebe“, dass die Tätigkeit inklusive der relativ geringen Bezahlung am unteren Ende des pädagogisch-professionellen Bereichs rangiert.
● Gestehe ich mir Ängste, Inkompetenz, Unsicherheit zu und (wie) äußere ich diese?
● Die Bildungsvereinbarungen verpflichten mich plötzlich zur Beobachtung und Dokumentation von kindlichen Lernprozessen. Kann ich überhaupt beobachten, ohne selbst beteiligt zu sein?

Grundannahmen zur Beobachtung

„Dabei geht es zunächst darum, das, was uns bewegt, zuzulassen und bewusst zu beschreiben. Dadurch sind wir eng mit dem Geschehen verbunden; wir spüren, wenn uns das Verhalten eines Kindes berührt, eine ganz persönliche Nähe zu den Ereignissen. Wir werden an unsere Kindheit erinnert, Ereignisse, die wir schon vergessen haben, werden neu belebt, aber auch Lebensprobleme, die uns im Alltag bewegen, tauchen gleichsam in der Beobachtungssituation auf und beschäftigen (bewegen) uns: Wir nehmen Ähnlichkeiten zwischen unserer und der Situation des beobachteten Kindes wahr und merken, dass das Geschehen auch mit uns etwas zu tun hat. Dieser Blick kann uns den Blick auf die Struktur der Entwicklung des Kindes versperren. (…) Wir sind keine Apparate, die seelenlos, unbeteiligt, ,objektiv΄ registrieren, was ist. Wir sind immer beteiligt, das heißt, Teile des Prozesses.“2

Was bedeutet das für uns?

● Dass wir unser pädagogisches Verhalten und unsere Rolle regelmäßig überdenken.
● Dass wir den Mut haben sollten, die Ereignisse auch aus der Perspektive der Kinder, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu betrachten.
● Dass wir uns als Lernende verstehen.
● Dass wir uns als Begleiterinnen und Begleiter der Kinder verstehen.
● Dass wir uns die Frage stellen, was uns persönlich im schlimmsten und im besten Falle passiert, wenn wir unsere Haltung auf diese Weise verändern.
● Dass wir unser Handeln jederzeit auch in Frage stellen.

Mütter, Väter, Erzieherinnen, Erzieher und andere Erwachsene schaffen ein förderliches Umfeld für Kinder, wenn sie selbst in den Spiegel schauen, ihre eigenen Begrenzungen, Chancen und Fähigkeiten erkennen und zunehmend unabhängiger davon die Potenziale der Kinder wahrnehmen, ihnen also mehr Raum, Zeit und Gelegenheit für selbsttätige Erfahrungen schaffen und lassen.

Aufgabe der Erwachsenen ist es, gesellschaftliche Vereinbarungen zu kennen und sie verantwortlich als Ziel und Rahmen anzusehen. Wenn Erwachsene sich als Lernende verstehen und mit Kindern dem Bedürfnis nachgehen, sich zu entwickeln, steht Bildung tatsächlich nichts im Wege.

In dem rasanten Tempo, in dem Wissen veraltet, ist Bildung die wichtigste Grundlage, um Strategien zu entwickeln, mit denen der Mensch, ob klein oder groß, sich neues und notwendiges Wissen aneignen kann. Wir als Erwachsene haben die Aufgabe, uns selbstverständlich als Vorbild zu verhalten. Das sollte beinhalten, dass wir uns als Lernende zeigen, dass wir akzeptieren, dass nicht alles gelingt, dass wir warten, wenn es sich lohnt, dass wir uns ein Bewusstsein über unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, Chancen, Wünsche und Begrenzungen verschaffen.

Grundannahmen zur Selbstbeobachtung

● Wie habe ich mich selbst bei der Beobachtung erlebt?
● Was fühle ich?
● Was denke ich?
● Was halte ich für gefährlich? Ist es das wirklich? Woher weiß ich das?
● Um was geht es eigentlich?

Die Selbstbeobachtung ist die wichtigste Erfahrung und ein unverzichtbares Instrument in der Arbeit mit Kindern, insbesondere mit ganz kleinen Kindern. Niemand hat diese Forderung in seiner Ausbildung zur Pädagogin, zum Pädagogen – welcher Kategorie auch immer – angetragen bekommen. Erst der therapeutische Bereich hat als notwendig erachtet, die eigene Biografie als Grundlage für die Struktur der eigenen Handlungs- und Denkweisen und die Berufswahl zu erachten und sie entsprechend zu reflektieren. Erst durch den Bereich der therapeutischen Arbeit sind das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich zu entwickeln, identifiziert worden. Die Tradition der Supervision hat sich daraus entwickelt. Leider wurde sie lange zum Zweck der Intervention genutzt und wird erst gewährt, wenn intern unlösbare Probleme in Einrichtungen und bei Trägern auftauchten.

Doch heute verfügen wenige einzelne Menschen in den Einrichtungen über entsprechende Ausbildungen und lassen ihre (Er-)Kenntnisse in ihre Arbeit einfließen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Instrumente, die zunächst zur eher unbeteiligten Beobachtung von Kindern und deren Lernprozessen gedacht waren, auch als Selbstbeobachtungsinstrumente einsetzen. Bildungs- und Lerngeschichten zum Beispiel kann jedes Team, jede Erzieherin und jeder Erzieher für sich als Spiegel benutzen. Teamspiele wurden entwickelt, die zur Reflexion der Stimmung in den Teams dienen. Mitarbeiterbesprechungen werden genutzt, um einander zu spiegeln.

Eines ist sicher: Die Kinder sind mit ihrem sichtbaren Verhalten Spiegel der Stimmung und Haltung in den Einrichtungen, Spiegel der Beziehungen zwischen den Erzieherinnen und Eltern, und sie sind ein Spiegel der inneren Haltung ihnen gegenüber. Wenn wir das akzeptieren, bleibt uns nur, Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen zu finden:

● Warum sehe ich, was ich sehe, und wozu sehe ich es so, wie ich es sehe?
● Warum rege ich mich auf?
● Warum und wozu bewegt mich das Erkannte?

Wir werden schnell hinter alte Setzungen kommen, schnell auf die Werte, die uns, vielfach unbewusst, regieren. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Die uns anvertrauten Kinder zeigen deutlich, welchen Interessen sie gerade nachgehen.

Unsere Aufgabe ist es, ihre Handlungslogik zu entschlüsseln. Nur dann können wir sie begleiten und Prozesse steuern mit dem Blick auf das Ziel. Wenn wir diese Aufforderung ernst nehmen, sollten sich bald unsere Angebote an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder und der jeweiligen Situation orientieren.

Literatur

Dorothee Eichendorf und Ulla Keienburg „Beobachtete Bewegung – bewegte Beobachtung“ in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) „Guck mal“, ©Verlag Bertelsmann Stiftung , Gütersloh 2005, S. 124-136

Westphal, Erich: Bewegen als Lebensweise. Unveröffentlichtes Manuskript, Universität Oldenburg, 1989

Keienburg, Ulla: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998, 61ff.

Hunger, Ina und Zimmer, Renate (Hg.): Bildungschancen durch Bewegung – von früher Kindheit an. Verlag Hofmann, ISBN 978-3-7780-8620-9

Fußnoten

1 Funke, J. Zit in. Keienburg, U.: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998

2 Westphal, E. Zit. in: Keienburg, U.: „Dass ich mich habe, darauf wäre ich nie gekommen“. Zeitschrift für Humanistische Psychologie, Heft 2/1998

 

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NAGEL-Redaktion – Inklusive Grundschule: ein starkes Glied in der „Kommunalen Präventionskette“ gegen Kinderarmut

Von Dr. Brigitte Schumann

Deutschland tut zu wenig für die frühkindliche Bildung und vernachlässigt geradezu sträflich die präventive Förderung von Kindern in Armutslagen. Aus dem Mangel an frühzeitiger öffentlicher Verantwortungsübernahme für das Wohlergehen aller Kinder erwachsen den Kommunen, den Ländern und dem Bund tendenziell steigende Kosten wegen teurer und ineffektiver nachsorgender Unterstützungsmaßnahmen für unzureichend qualifizierte und integrierte Jugendliche.

Deshalb haben sich AWO, DGB, GEW, Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen 2009 zu einem landesweiten Bündnis gegen Kinderarmut zusammengeschlossen: Sie fordern die staatliche Pflicht zur Prävention. Der politische Appell des Bündnisses „Zum Auf- und Ausbau kommunaler Präventionsketten“ ist nicht ungehört geblieben. Die Landesregierung von NRW hat am 9. November 2011 in einer Auftaktveranstaltung das Modellvorhaben „Kommunale Präventionsketten“ ins Leben gerufen.

In dem folgenden Beitrag geht es darum, die Funktionsweise der Präventionskette zu skizzieren, das Verhältnis von Prävention und Inklusion zu bestimmen und die inklusive Grundschule als unverzichtbares Glied innerhalb der Präventionskette bildungspolitisch einzufordern.

Die Idee der Präventionskette

Sie orientiert sich an dem erfolgreichen Projekt „Mo.Ki – Monheim für Kinder“, das 2002 startete. Die Kommune am Rhein hat zusammen mit der AWO Niederrhein beispielhaft eine kind-/jugendbezogene durchgängige (Armuts-)Präventionskette entwickelt. Diese will von Geburt an bis zum Übergang Schule-Beruf Begleitung und Unterstützung für besonders gefährdete Kinder und Jugendliche und deren Familien sicherstellen. Das Motto lautet: frühe Förderung und Partizipation anstelle von später Krisenintervention. Das Konzept zielt auf die Vermeidung von Armutsfolgen – wie z.B. hohe Gesundheitsrisiken, soziale und emotionale Entwicklungsprobleme, geringe Bildung – und auf die Gewährleistung gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe.

Heute arbeiten mehr als 50 Netzwerkpartner mit der Stadt Monheim und der AWO zusammen. Sie werden wissenschaftlich begleitet und unterstützt von dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS – Frankfurt a.M.). In Kooperation von öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, der Familienhilfe, des Gesundheitswesens und des Bildungssystems werden praxisnahe und bedarfsgerechte Maßnahmen im Rahmen eines abgestimmten Gesamtkonzeptes für den Einzelfall entwickelt, das die Situation des Kindes bzw. des Jugendlichen und die Stärken und Schwächen der zugehörigen Familie berücksichtigt. Die Netzwerksteuerung liegt in der Hand der Kommune, die per Gesetz für die Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich ist. Die Steuerung basiert auf Verhandlung und Abstimmung mit den Kooperationspartnern und entwickelt sich an den Aufträgen, die sich die Partner geben.

Gerda Holz, die Verantwortliche für die wissenschaftliche Begleitung durch das ISS, betont: „Präventionsnetzwerke sind Produktionsnetzwerke.“ Präventionsorientierte Produkte sind z.B. der Begrüßungsbesuch bei Geburt eines Kindes mit einem verlässlichen bedarfsgerechten Angebot für die „Neueltern“, die systematische frühe Förderung ab Geburt in Gruppen, Krippen, KiTas als Grundlage für Bildungsteilhabe von Anfang an und einen erfolgreichen Schulverlauf sowie die besondere Unterstützung an den Übergängen des Bildungssystems KiTa – Grundschule, Grundschule – weiterführende Schule, Schule – Beruf.

Das Monheimer Projekt versteht sich als ein Erfolgsmodell. Die Sprachkenntnisse und die Gesundheitsdaten armer Kinder haben sich verbessert. Die Zahl der Schulabbrecher ist gesunken, immer mehr jungen Menschen gelingt der Einstieg in das Berufsleben.

Das Modellvorhaben der Landesregierung, das auch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden soll, will bis zu 15 Kommunen in NRW darin unterstützen, ebenfalls ressort- und institutionsübergreifende Netzwerkstrukturen für präventive sozialräumliche Konzepte zur Unterstützung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien aufzubauen. Die Landesregierung hat beim Start den Willen bekundet, nach Auswertung des Modellvorhabens das Projekt in die Fläche bringen zu wollen.

Die Landesregierung von NRW hat sich zu einer sozialen Präventionspolitik und damit zu einem Paradigmenwechsel in der Sozial-, Kinder- und Bildungspolitik bekannt. Sie setzt ein wichtiges Signal für andere Bundesländer. Angesichts der Tatsache, dass nach Angaben des Bildungsberichts Ruhr, dem ersten regionalen Bildungsbericht in Deutschland, allein 30 Prozent der Kinder in der Metropole Ruhr zwei Jahre vor der Einschulung einen erheblichen Sprachförderbedarf haben, ist offensichtlich, dass die neue Landesinitiative für sich allein nicht greifen kann. Sie muss unterfüttert werden mit abgestimmten ressortübergreifenden Maßnahmen des Landes und der Kommunen. Das kostet zusätzliches Geld. Vor dem Hintergrund kommunaler Nothaushalte und begrenzter Möglichkeiten des Landeshaushalts muss auch der Bund mit ins Boot geholt werden.

Zum Zusammenhang von Prävention und Inklusion

Soziale Inklusion ist ein allgemeines Menschenrecht und meint das Recht auf ein selbstverständliches Zusammenleben und eine gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen, unabhängig von sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Religion, Geschlecht, Fähigkeiten und Behinderungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention macht dieses Recht aus gutem Grund explizit geltend für die besonders stark von sozialem Ausschluss betroffene Gruppe der Menschen mit Behinderungen. Es aber auf diese Zielgruppe zu verkürzen, wie dies derzeit im Diskurs der deutschen Bildungspolitik üblich ist, ist unzulässig.

Da Prävention auf die Vermeidung und Abwehr von Benachteiligung, Behinderung und sozialer Exklusion abzielt, ist sie ein unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Inklusionskonzeptes. Sie ist – positiv gesprochen – „vorsorgende Inklusion“ und muss besonders in der lernsensiblen Phase der frühkindlichen Bildung und der sich anschließenden Phase der Grundschulbildung stark gemacht werden. Wegen der untrennbaren Verbindung zu Inklusion besteht auch ein menschenrechtlicher Anspruch auf Prävention. Der Staat ist dazu verpflichtet, ihn so auszugestalten, dass er individuell einklagbar ist und von keinem Kämmerer mehr kassiert werden kann.

Die UNESCO hat in ihrer Veröffentlichung „Inklusion- Leitlinien für die Bildungspolitik“ (2009) diesen Zusammenhang pointiert herausgehoben, wenn sie dort betont: „Das Fundament für Inklusion wird durch einen frühen Bildungsbeginn gelegt, denn die frühe Kindheit ist – wie die kognitiven Neurowissenschaften belegen – eine wichtige Phase für das Erlernen kognitiver Fähigkeiten. Gut konzipierte Programme zu frühkindlicher Förderung sind also zwingend erforderlich. Insbesondere für die am stärksten benachteiligten Kinder.“ Natürlich werden auch emotionale und soziale Kompetenzen in dieser Phase angebahnt.

Um dem Präventionsgedanken auf allen politischen Handlungsebenen – Bund, Länder, Kommunen – endlich zum Durchbruch zu verhelfen, ist unbedingt auf die menschenrechtliche Begründung für eine staatlich verpflichtende Prävention zu verweisen.

Die Grundschule heute – eine Schule für fast alle Kinder

Der Grundschule kommt innerhalb der Präventionskette eine besonders wichtige Bedeutung zu. Mit ihr beginnt das verpflichtende formale Lernen. Sie hat nicht nur die Grundbildungskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln, sondern auch grundlegende soziale, personale Kompetenzen und eine positive Einstellung zum Lernen zu fördern.

Zu Recht darf die deutsche Grundschule für sich in Anspruch nehmen, dass sie anders als die weiterführenden Schulen im gegliederten Schulsystem erfolgreiche pädagogische Konzepte im Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Kinder entwickelt hat. Dennoch muss einschränkend konstatiert werden, dass bis heute Kinder mit Behinderungen keinen selbstverständlichen Zugang zu ihr haben und sie derzeit noch nicht allen Grundschulkindern eine solide Grundlage für eine erfolgreiche Schulbiografie sichert.

Kinder aus sozial benachteiligten Milieus scheitern in und an der Grundschule, weil es an Vorsorge für sie fehlt. Sie werden aufgrund verpasster „Zeitfenster der Entwicklung“ im Elementarbereich häufiger als andere Kinder mit umfangreichem Förderbedarf eingeschult. Unter den bestehenden Rahmenbedingungen kann die Grundschule diesen Bedarf nicht adäquat abdecken. Das frühe Scheitern von Grundschulkindern bedeutet in der Regel, dass sie lebenslang in ihren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt bleiben.

Die jüngste Literalitätsstudie LEO 2011 der Universität Hamburg im Auftrag des Bundesbildungsministeriums hat ergeben, dass von den 18-29-Jährigen etwa 13 Prozent zu den funktionalen Analphabeten gehören. Ihre begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen reichen nicht aus für eine erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Im Rückschluss heißt das: Ein relativ großer Teil hat als Kind in der Grundschule keine hinreichenden Kenntnisse im Lesen und Schreiben erworben und die nachfolgenden Schulen haben ein nachholendes Lernen nicht ermöglicht.

Aufschlussreich ist auch eine Langzeitstudie über Armutsfolgen bei Grundschulkindern, die das ISS im Auftrag des AWO- Bundesverbandes durchgeführt hat. Es ist die erste Studie dieser Art in Deutschland. Der Endbericht wurde im Dezember 2005 vorgelegt. Danach unterscheiden sich die Bildungsverläufe von armen und nicht-armen Grundschulkindern erheblich.

Armen Kindern bleiben erfolgreiche Bildungswege weitgehend verschlossen. Jedes dritte in Armut lebende Kind bleibt schon in der Grundschule sitzen und nur 4 Prozent der armen Kinder erreichen das Gymnasium. Das Risiko von armen Kindern, während oder am Ende ihrer Grundschulzeit in eine Förderschule für Lernen, emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache überwiesen zu werden, ist dagegen dreieinhalb mal so groß wie das von Kindern, die nicht in Armut leben. Eine zuverlässige wissenschaftliche Definition von „Lernbehinderung“ liegt dabei nicht vor. Sie wird ausschließlich relational als negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen der Kinder der betreffenden Klasse, Schule oder des betreffenden Altersjahrgangs bestimmt.

In der Förderschule bleiben Kinder mit Leistungsschwächen und Verhaltensproblemen unter sich und lernen in einem sozial entmischten, relativ anregungsarmen und mit vielen sozialen Problemen belasteten Lernmilieu. Sie sind, wie in wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder nachgewiesen, in ihrem Kompetenzerwerb dadurch extrem benachteiligt und, wie die Statistiken der Schulabschlüsse ausweisen, zur Erfolglosigkeit verurteilt. In der modernen Wissensgesellschaft stellen Förderschulabsolventen als gering Qualifizierte eine normabweichende Minderheit dar und sind stärker als in früheren Zeiten von Stigmatisierung und sozialem Ausschluss bedroht.

2008 waren nach einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm mehr als die Hälfte der Jugendlichen ohne Abschluss Förderschüler, rund ein Viertel der Schulverlierer gingen auf eine Hauptschule. Klemm fand in seiner Studie auch heraus, dass rund die Hälfte der Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, diesen später nachholen. Dies gelingt ihnen vor allem im Übergangssystem, das für schwer vermittelbare Jugendliche geschaffen wurde, um deren Ausbildungsreife zu fördern. Das sei einerseits ein Erfolg, schreibt Klemm, er werde jedoch teuer erkauft. Der Experte schätzt die zusätzlichen Kosten auf über 200 Millionen Euro pro Altersjahrgang. „Würden diese Ressourcen im allgemeinbildenden Schulwesen präventiv eingesetzt, könnte vielen Schülern das Erlebnis des Scheiterns und die Vergeudung von Lebenszeit erspart bleiben.“

Die inklusive Grundschule – eine Schule für alle Kinder

Die inklusive Schule in einem inklusiven Schulsystem ist eine völkerrechtliche Verpflichtung, zu der sich die Bundesregierung und mit ihr die Länder durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention bekannt haben. Das Fundament dafür muss in der Primarstufe mit der inklusiven Grundschule gelegt werden.

Die inklusive Grundschule ist eine Schule für alle Kinder. Kein Kind wird wegen seiner Lernprobleme, seiner emotionalen und sozialen Entwicklung, seiner Hochbegabung, seiner Behinderung auf eine Förderschule überwiesen. Kein Kind wird kategorisiert. Jedes Kind ist unabhängig von seiner sozialen Herkunft, seiner ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit willkommen und wird in seiner individuellen Lernentwicklung im gemeinsamen Unterricht gefördert. Die Grundschule passt sich den Kindern an und arbeitet mit den KiTas ihres Einzugsbereichs eng zusammen, um den Übergang für Kinder und Eltern vorzubereiten. Die Kinder werden im wahrsten Sinne da abgeholt, wo sie stehen.

Wie muss man sich Arbeitsbedingungen und Arbeitsweise der inklusiven Grundschule im Vergleich zu der heutigen Grundschule vorstellen? Die inklusive Grundschule verfügt über die notwendigen sonderpädagogischen Ressourcen, um alle Kinder, auch Kinder mit sozialen Entwicklungsproblemen, bestmöglich zu fördern. Die Mittelzuweisung erfolgt pauschal und ist nicht mehr an das einzelne Kind gebunden. Die stigmatisierende Feststellungsüberprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf entfällt. Arme Kinder müssen nicht als „behindert“ etikettiert werden, damit die Schule zusätzliche Fördermittel bekommt. Der Ressourcentransfer von den Förderschulen zu den Grundschulen geht einher mit dem jahrgangsweisen Auslaufen der Förderschulen für die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache.

Dazu schreiben die Bildungsforscher Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz in ihrem Gutachten für das nordrhein-westfälische Schulministerium (2011): „Um die schulische Absonderung von Armutskindern zu vermeiden, die sich zudem sowohl kognitiv als auch für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung negativ auswirkt, kann nur das generelle Auslaufen der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache die Anhebung der Schulabschlüsse und damit das Erreichen normaler Ausbildungsgänge wie auch die Stärkung sozialer Partizipation erreicht werden. Die Kompetenz der Sonderpädagogen kommt unter den strukturellen Bedingungen des gemeinsamen Unterrichts wirksamer zur Geltung.“

In prekären Einzugbereichen mit vielen Kindern in benachteiligten Lebenslagen ist der Unterstützungsbedarf besonders groß. Dem muss personell, sächlich und konzeptionell Rechnung getragen werden. Die Zuweisung der sonderpädagogischen Ressourcen erfolgt daher differenziert nach Sozialindex des Einzugsbereichs und nach der konkreten Zusammensetzung der Schülerschaft einer Grundschule. Auch die Klassengrößen müssen darauf abgestimmt werden. Die Priorisierung folgt dem Grundsatz, dass Ungleiche nicht gleich behandelt werden dürfen.

Die dauerhafte Beschäftigung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern an Grundschulen in schwierigen sozialräumlichen Kontexten ist notwendig. Diese Grundschulen müssen sich wie die KiTas, mit denen sie im Quartier eng zusammenarbeiten, zu Familienzentren entwickeln und Eltern- und Kindberatung in der Präventionskette weiterführen. Niederschwellige Angebote wie Elterncafes, Anlaufstellen für Elternberatung in der Schule sowie Hausbesuche bei Eltern sind wichtige präventive Bausteine einer inklusiven Grundschule.

Die befristete Finanzierung der Schulsozialarbeit im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets bis 2013 durch den Bund muss verstetigt werden. Das derzeitige Konzept muss allerdings radikal umgestellt werden. Die finanziellen Leistungen, die jetzt an die Bedürftigkeit des einzelnen Kindes gebunden sind und damit über bürokratische Umwege von den Eltern einzeln abgerufen werden müssen, müssen direkt den Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden, damit diese inklusionsfähig sind.

Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache sind besonders häufig von frühem Scheitern in der Grundschule bedroht, wenn ihre Eltern einen niedrigen Bildungsstatus haben und in sozial prekären Verhältnissen leben. Für die spezifischen Lern- und Sprachbedürfnisse dieser Kinder gibt es durchgängig verankerte interkulturelle Sprachförderkonzepte. Entsprechend ausgebildete Lehrkräfte verstärken das Kollegium der inklusiven Grundschule. Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gehören dazu. Die inklusive Grundschule sieht in der natürlichen Mehrsprachigkeit der Kinder einen Schatz, der gehoben werden muss. Sie lässt sich grundsätzlich von der Überzeugung leiten, dass jedes Kind Potenziale hat. Es ist Aufgabe der Pädagogen, gemeinsam die Talente eines jeden Kindes zu erkennen und zu fördern.

Durch die Inklusion von Kindern, die heute den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören und Sehen zugeordnet werden, werden die Grundschulen mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet. Diese orientieren sich an den angemessenen Vorkehrungen, die für das einzelne Kind mit seinem individuellen Förderbedarf bereit gestellt werden müssen. Neben den Sonderpädagogen und Sozialpädagogen werden auch Integrationshelfer und Assistenten Bestandteile des Kollegiums. Therapeuten und Spezialkräfte besuchen bei Bedarf die Kinder in der inklusiven Grundschule. Auch die Gebäude und die räumliche Ausstattung werden bedarfsgerecht angepasst.

Inklusive Grundschulen bringen die Vorzüge ihres multiprofessionellen Personals zum optimalen Einsatz durch die Organisation verbindlicher multiprofessioneller Teamarbeit. Dafür muss das pädagogische Personal aus- und fortgebildet geben. Schulleiter/innen werden im Rahmen von Fortbildungen darin unterstützt, Teamstrukturen aufzubauen. Die Gutachter Klemm und Preuss-Lausitz empfehlen die Einrichtung eines Zentrums für unterstützende Pädagogik (ZuP) an jeder inklusiven Schule als organisatorische Lösung. Die Arbeit im Team ermöglicht einen intensiven Austausch über die individuelle Entwicklung der einzelnen Kinder. Ein Förderplan für jedes Kind dokumentiert die jeweilige Lernentwicklung und ist Grundlage für Gespräche mit Eltern und Kind. Durch die Vernetzung mit außerschulischen Netzwerkpartnern wird es möglich, bei Problemen, die nicht allein schulisch gelöst werden können, bedarfsgerechte Hilfe und Unterstützung zu organisieren. Die Kooperationszeit wird in der Arbeitszeit des Personals berücksichtigt.

Die Einführung des gebundenen Ganztags ist ein weiteres zentrales Element zur Stärkung der präventiven und inklusiven Arbeit der Grundschule. In einem allerersten Schritt ist er für Grundschulen in sozial belasteten Einzugsbereichen einzurichten. Der offene Ganztag der Grundschule gleicht derzeit einem bunten Flickenteppich an Angeboten, den die Grundschule in Eigenregie zusammenstellen und organisieren muss. Eine gezielte pädagogische Lernförderung ist über den Einsatz von wechselnden Honorarkräften in einem vom schulischen Vormittag abgetrennten Nachmittagsbereich nicht gewährleistet.

Der gebundene Ganztag hingegen schafft Rahmenbedingungen für die lernförderliche Individualisierung im Unterricht und gibt Raum für forschendes, handlungsorientiertes Lernen. Er passt sich den biologischen Bedürfnissen der Kinder an durch eine rhythmisierte Struktur von Phasen der Konzentration und Entspannung. Er sichert allen Kindern ein gesundes Mittagessen und ermöglicht eine ganzheitliche Ausgestaltung des erweiterten Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebots durch die Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer an den individuellen Fördermaßnahmen im Nachmittagsbereich. Kulturelle Bildung muss groß geschrieben werden. Aktive Teilhabe an kulturellen Angeboten wie Tanz, Theater, Musik und Chor regt die kreativen Kräfte der Kinder an, stärkt ihr Selbstwertgefühl und erschließt ihnen Welten, die sie durch ihre Familien in der Regel nicht kennenlernen.

Das Jahrgangsprinzip für die Zusammenstellung von Klassen bzw. Lerngruppen wird ersetzt durch die Jahrgangsmischung. Die Mischung von Kindern aus den Jahrgängen 1-4 hat sich pädagogisch bewährt und sorgt dafür, dass auch eine vorwiegend sozial benachteiligte Schülerschaft in anregungsreichen Lerngruppen mit- und voneinander lernen kann. Lerneffektive Verfahren der Individualisierung und des kooperativen Lernens sichern angesichts der großen Leistungsunterschiede individuelle Lernerfolge für alle.

Altergemischte Gruppen sind hervorragend geeignet für das Erlernen und Leben von Verantwortung für sich und andere. Gerade Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten brauchen die Erfahrung, dass ihnen verantwortungsvolle Aufgaben für die Gemeinschaft übertragen werden. Altersgemischte Gruppen sind hilfreich für die Entwicklung einer demokratischen partizipativen Schulkultur. In der inklusiven Grundschule sind die Kinder und ihre Eltern aktiv beteiligt an der Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts. Konflikte im Schulalltag werden gemeinsam mit den Kindern reflektiert und bearbeitet.

Die inklusive Grundschule kennt nicht die undifferenzierte und entmutigende, defizitorientierte Leistungsbewertung mit Ziffernnoten. Sie gibt den Kindern eine sichere, anregungsreiche und anspruchsvolle Lernumgebung und dazu individuelle prozess- und kompetenzorientierte Leistungsrückmeldungen. Diese werden ergänzt durch unterschiedliche Formen der Selbstevaluation.

Elemente der inklusiven Lernkultur gehören heute schon zu den Bausteinen der guten Grundschulpädagogik. Sie müssen nicht erst erfunden werden. In der inklusiven Grundschule sind sie jedoch systemisch verankert und werden von allen Lehrkräften auch angewendet, weil Aus- und Fortbildung in Qualität und Umfang darauf abgestellt sind.

Zusammen mit der präventiven frühkindlichen Förderung kann die inklusive Grundschule eine stabile und belastbare Förderkette von 0-10 bilden. Sie kann Lernfreude, Lernmotivation und Anstrengungsbereitschaft wecken bzw. erhalten, zur Vermeidung von frühem Scheitern und späterem Schulabbruch beitragen und der Entstehung eines umfangreichen langfristigen Förderbedarfs entgegenwirken. Fragt man finnische Experten nach dem Geheimnis ihres Schulerfolgs, dann verweisen sie auf ihr Credo: Auf den Anfang kommt es an!

Es ist ein Gebot der Vernunft und der Menschenrechte, die Grundschule in Deutschland zu einer Schule für alle zu machen. Die Politik ist aufgefordert, das zu realisieren.

Inklusive Grundschule – und danach?

Bislang wird die Grundschule von vielen hierzulande immer noch als bloßer „Zubringer“ zu den weiterführenden Schulen betrachtet. Sie hat sich – je ach Bundesland – übe mehr oder weniger verbindlich geltende Grundschulempfehlungen an der Selektion zu beteiligen. Obwohl die Aufteilung der Kinder auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge dem Inklusionsgebot widerspricht und zur Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt, ist man in Deutschland noch weit von einem einheitlichen inklusiven Schulsystem entfernt. Die integrierte Gesamtschule und neue Schularten des längeren gemeinsamen Lernens können sich bis auf Weiteres nur in Konkurrenz zu den selektiven Schulformen als Schulen für alle Kinder anbieten und weiterentwickeln.

Der bildungspolitische Fortschritt in Deutschland ist eine Schnecke!

In NRW können sich demnächst im Rahmen eines Modellvorhabens bis zu 15 Grundschulen mit Schulen der Sekundarstufe I und II auf Antrag des Schulträgers zusammenschließen. Zu diesem im Sinne der Prävention und Inklusion unterstützenswerten bildungspolitischen Vorstoß liegen u. a. Initiativen von Grundschulen mit durchgängigen Lernkonzeptionen von 1-10 bzw. 1-13 vor. Diese Variante hat gegenüber dem Zusammenschluss von bestehenden Schulen des Primar- und Sekundarbereichs den pädagogischen Charme, dass Geist und Konzept der inklusiven Grundschularbeit naht- und bruchlos fortgeführt und für die nachfolgenden Jahrgänge altersgemäß ausgestaltet werden können. Wie wäre es, wenn auch der Vorschulbereich mit einbezogen werden dürfte?

Literatur

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bund und Länder planen Grundbildungspakt für Alphabetisierung. Pressemitteilung 025/2011

Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn 2009

ISS – Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.): Fachliche Maßstäbe zum Auf- und Ausbau von Präventionsketten in Kommunen. Abzurufen unter: www.iss-ffm.de/veröffentlichungen/publikationen.html

Holz, G. et al.: Zukunftschancen für Kinder!? Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Zusammenfassung des Endberichts der 3. AWO-ISS-Studie. Im Auftrag der AWO Bundesverband e.V. Bonn/Berlin/Frankfurt 2005

Klemm, K./Preuss-Lausitz, U.: Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in NRW. Juni 2011. Abrufen

Klemm, K.: Sonderweg Förderschulen. Hoher Einsatz, wenig Perspektiven. Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit der Förderschulen in Deutschland. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2011

RVR – Regionalverband Ruhr (Hrsg.): Bildungsbericht Ruhr. Münster 2012

Schumann, B.: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle. Bad Heilbrunn 2007

Stähling, R.: „Du gehörst zu uns“. Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Hohengehren 2006

Dr. Brigitte Schumann, Essen, arbeitet als Bildungsjournalistin.

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NAGEL-Redaktion – Recht auf Bildung statt Schulpflicht

 

Wagen wir einmal das Gedankenexperiment, dass es keine Schulpflicht mehr gibt, sondern ein Recht auf Bildung. Erste, spontane Antwort: Keiner geht mehr zur Schule, weil sie ja nicht verpflichtend ist. Mag sein, dass keiner mehr in diese Schule geht; das spricht aber nicht gegen die Schüler/innen, sondern in erster Linie gegen die Schule. Weil so, wie sich Schule derzeit gibt, ist sie eine Qualifizierungsmaschine und keine Bildungswerkstatt.

Und da kommt dann die zweite Antwort, die nach längerem Nachdenken logisch erscheint: Wenn Bildung ein Recht ist, wird sich unser Bildungssystem verändern, weil alle Beteiligten mit einer anderen Perspektive bzw. einer anderen Einstellung an die Sache herangehen. Und da ist nicht einmal sicher, dass es Schule noch geben wird. Ivan Illich, Naturwissenchafter, Philosoph und Theologe, hat diesen Gedanken in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch „Entschulung der Gesellschaft“ (es ist nach seinem Tod im Jahr 2003 in der 5. Auflage erschienen und auch online einblickbar) (1) aufgegriffen und ist zu interessanten Schlussfolgerungen gekommen: Für ihn ist die weltweite Verfügbarkeit des ganzen Wissens, das derzeit existiert, für alle Menschen wichtig; also Inklusion statt Exklusion. Das Internet machte dieses sicher möglich. Und dann ging es noch darum, Lernzirkel zu gründen, in denen dieses Wissen im Austausch miteinander erarbeitet bzw. weiterentwickelt wird.

Nun: Ob jeder auf genau diese Gedanken kommen würde, sei dahingestellt. Aber: Ein Recht auf Bildung würde unsere Lernkultur nachhaltig verändern, und lebenslanges Lernen wäre dann keine Drohung mehr, sondern ein Gebot der Stunde. Zumal der Mensch ja als neugieriges, lernfreudiges Wesen geboren wird (siehe die ersten Lebenswochen, -monate und -jahre, in denen eine Fülle an Synapsen durch eine Menge an Lernprozessen entstehen). Und – wie Wissenschafter sagen – unser Gehirn nützen wir ja nur zu einem Bruchteil. Daher: weg mit der Schulpflicht und der Schule in der heutigen Form, hin zu einem Recht auf Bildung für alle! (20. Februar 2012)

Schulpflicht, die Zweite 

Mein vorwöchiger Beitrag mit dem Titel „Recht auf Bildung statt Schulpflicht“ hat hinter den Kulissen teils heftige Reaktionen hervorgerufen. Das freut mich, denn dann liege ich bei diesem Thema offenbar ganz richtig. In den Diskussionen wurde sogar bis auf Maria Theresia zurückgegriffen, deren große Leistung es war, die Schulpflicht in Österreich einzuführen – und zwar nicht als Folterinstrument für die Kinder und Jugendlichen ihres Landes, sondern als Schritt in die Emanzipation und gegen die Kinderarbeit.

Da ich es in meinem Blog nicht angeführt habe, möchte ich nun diese Sichtweise gerne bestätigen. Denn das ist ja nicht das Problem mit der Schule in der Gegenwart. Sehr bald schon nämlich zeigte sich, was man alles mit der Schule und vor allem mit den SchülerInnen im Rahmen von Schule machen kann. Und da sind wir durchaus noch in den theresianischen Zeiten, in denen Drill und Vorbereitung auf die zukünftige Rolle in der Gesellschaft (2) sowie das Funktionieren im heutigen Wirtschafssystem zentrale Inhalte sind. Nur: Es klappt nicht mehr so richtig, es gibt immer mehr „schwierige“ SchülerInnen. Aus meiner Sicht sind das Kinder und Jugendliche in und mit Schwierigkeiten und solche, die uns knallhart vor Augen führen, was „unser“ Problem ist.

So kann weder Bildung vermittelt werden noch Ausbildung stattfinden. Und da geht es leider nicht nur um Strukturreformen im Schulsystem, sondern um einen grundlegenden Bewusstseinswandel aller Beteiligten, vor allem der PolitikerInnen und LehrerInnen.

Darum wage ich meine Forderung zu erneuern: Wenn wir ein Recht auf Bildung postulieren, dann brauchen wir die Schulpflicht nicht mehr. Denn dann sind ohnehin alle in der Pflicht, einerseits wirkliche Bildung zu bieten und dieses Angebot auch anzunehmen. Denn jedes Recht ergibt auch Pflichten. Nur werden sie dann als Selbstverständlichkeit gesehen. Und das ist gut so!

Michael Karjalainen-Dräger (c) 2011 – Mit freundlicher Genehmigung (Quelle: karjalainen-draeger.jimdo.com)

Übernommen in i-Punkt 4/2012 (Informationsdienst des ABA Fachverbandes)

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Fußnoten:

(2) siehe meinen Männer-Blog vom 2. März 2012 „Rollenbilder der Gegenwart“

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NAGEL-Redaktion – Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetz (KiWaBez) – Eine Satire

Von Detlef Träbert

 

Als Ergänzung zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), in Abstimmung mit Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Maßnahmen zur Förderung des Wachstums von Kindern und ihrer Bildung beschlossen. Der Entwurf eines Kinderwachstumsbeschleunigungsgesetzes (KiWaBez) soll dem Kabinett gleich nach der Sommerpause vorgelegt werden.

 

In Anerkennung der Tatsache, dass die Kinder aufgrund ihres immer jüngeren Einschulungsalters am ersten Schultag immer kleiner sind, empfiehlt das Bundesbildungsministerium, dass sie im Vorschulalter schneller wachsen müssten. Dies entlaste nicht zuletzt die Gemeinden als Schulträger, die ansonsten zusätzliche kleinere Schulmöbel anschaffen müssten. Zu diesem Zweck sollen vorschulische Betreuung und Bildung von Kindern effizienter betrieben werden.

Es werde künftig zum Aufgabenbereich der Kindertagesstätten gehören, Wachstumsförderung zu betreiben durch ein verbessertes Essensangebot mit Kraftfutterbeimischung, tägliche Spezialgymnastik mit Streckübungen sowie Elternschulung. „Eltern müssen sich wieder ihrer Rolle besinnen und den Auftrag ernst nehmen, die Kinder großzuziehen“, erläuterte Bildungsministerin Schavan. Kindern täglich die Hammelbeine lang zu ziehen sei eine gute Vorbereitung auf den Schulstart, wenn es auf liebevolle Weise erfolge. Ziel sei, dass alle I-Dötzchen wenigstens 1,29 m und alle Schulkinder beim Übergang auf die weiterführende Schule mindestens 1,56 m groß sein sollten.

 

Zur Förderung des Bildungswachstums seien zusätzlich intelligenzfördernde Maßnahmen beabsichtigt, um einen Mindest-IQ von 120 bei der Einschulung für jedes Kind zu gewährleisten. Dafür sollen ehrenamtliche Senior-Intelligenztrainer aus den Reihen pensionierter Akademiker gewonnen werden. Darüber hinaus werde ein Qualitätssiegel entwickelt, um besonders intelligenzförderndes Spielzeug damit auszuzeichnen. „Das Siegel ‚Genius Plus’ wird Eltern die heutzutage schwierige Kaufentscheidung bei Spielsachen erleichtern“, ist Schavans Kabinettskollegin Schröder vom Familienministerium überzeugt. Um das Bildungswachstum auch während der Grundschulzeit zu beschleunigen, werde es laut Schavan künftig ab dem 2. Schuljahr bundesweit einheitliche halbjährliche VerA (Vergleichsarbeiten) geben.

 

In einem ersten Kommentar begrüßte der Bundesverband der Nachhilfewirtschaft die geplanten Maßnahmen. Man werde sie mit einem bedarfsorientierten Angebot an VerA-Vorbereitungskursen flankierend begleiten und dafür nötigenfalls das Filialnetz ausweiten. Auch die Pharmaindustrie äußerte sich zuversichtlich und sieht Wachstumspotenzial bei den Umsätzen für Wachstumshormone. Während der Bundesverband der Kinderärzte vorsichtige Kritik an den geplanten Maßnahmen äußerte, freut sich die Vereinigung der Kurkliniken auf ein Wachstum ihrer Belegungsquoten. Ihr Sprecher sagte: „Neben dem jetzt schon sicheren Geschäft mit Burnout bei Lehrkräften und Erzieherinnen rechnen wir mit einer wachsenden Zahl von Nervenzusammenbrüchen bei Eltern.“ Unterdessen sehen sich Bildungs- und Familienministerium mit ihrer ganzheitlichen Interpretation des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes auf einem guten, zukunftsweisenden Weg.

 

Detlef Träbert, Dipl.-Päd. aus Niederkassel betreibt den Schulberatungsservice. Beste Empfehlung!

 

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NAGEL-Redaktion – Arbeitszwang: Sklavenmarktgeschrei aus dem Hause von der Leyen

 

Von Lotar Martin Kamm

 

Jeder von uns kennt aus der Beobachtung, was geschieht, wenn bei der Drehbewegung des Schraubstocks unaufhörlich die Backen das festzuklemmende Werkstück sehr kräftig zusammenpressen. Diesem Druck sind tatsächlich all jene ausgesetzt, die, mittels Erpressbarkeit in Arbeitslosigkeit gekommen, sich gefälligst der Bundesanstalt für Arbeit und den Jobcentern bzw. Argen zur Verfügung zu stellen haben.

Nach kurzer Phase der Arbeitslosengeldzahlung mit halbwegs gesichertem Schutz der Menschenwürde folgt die Entrechtung auf dem Hartz-IV-Tablett, wo die „gestrauchelten, unfähigen Versager“, schließlich waren sie nicht in der Lage, einen Job zu ergattern, Zwangsmaßnahmen, Bewerbertrainings, Ein-Euro-Jobs und Bürgerarbeit widerstandslos ausüben müssen.

Schlecker-Angestellte, die ohnehin bereits dem Martyrium einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik seitens des inzwischen pleite gegangenen Familienkonzerns sich unterziehen mussten (denken wir nur an interne Videoüberwachung, Dumpinglöhne, die etlichen Raubüberfälle und das Hin- und Her eines möglichen Jobverlusts) befinden sich nunmehr im Visier. Aus dem Hause von der Leyen wird Arbeitszwang per Sklavenmarktgeschrei mit einer neuen Idee salonfähig gemacht. Da auf der einen Seite in strukturschwachen Regionen Erzieher- und Altenpflegerinnen fehlen, benutzt man doch einfach ähnlich wie auf einem Verschiebebahnhof die just arbeitslos gewordenen Schlecker-Frauen, um diese Lücken zu füllen.

Freie Berufswahlentscheidung steht nicht zur Diskussion

Wunderbar einfach schnappt die Falle zu. Die unheimliche Saat der Agenda 2010 scheint in Gänze aufzugehen Gut neun Jahre nach ihrer Verkündung durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder in der bezeichnenden Regierungserklärung verhandeln heute öffentlich fast schon „prangerähnlich“ Regierung und die Gewerkschaften über das Schicksal der Schlecker-Frauen. Die Gewerkschaften haben sich ohnehin längst einer Wirtschaftspolitik untergeordnet, in der nicht die Interessen der Menschen, also der Arbeitnehmer zählen, sondern die Belange der Arbeitgeber bzw. die Finanzinteressen des Großkapitals und der Konzerne.

Müssen wir davon ausgehen, dass sämtliche sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte endgültig zu Grabe getragen werden? Und nicht nur das? Selbst ganz selbstverständliche Grundrechte wie die Menschenwürde (Art. 1 GG) und die freie Berufswahl (Art. 12 GG) werden einfach ausgehebelt, da über die vorgeschobene Gefälligkeit einer Auszahlung des Existenzminimums bei „Verweigerung“ eine Sanktionierung folgt, die sogar den Hungertod der Betroffenen in Kauf nimmt, wie längst schon vorgekommen. Sicherlich werden sich die Schlecker-Frauen breitschlagen lassen und den Vorschlägen willenlos zustimmen, weil die wenigsten den Kampf mit den Zwangsbehörden aufnehmen und durchstehen können und wollen. Das wird von einer ohnehin hämisch gaffenden Bevölkerungsschicht vorausgesetzt, die das Instrument der Hartz-IV-Gesetzgebung eher gutheißen, als die Missachtung der Menschenwürde zu erkennen.

Erzieher und Altenpfleger – keine Berufung per Crashkurs

Möchten Sie Ihre Kinder in die Obhut geben lassen von unfreiwillig und hektisch geschulten Erzieherinnen? Oder die Fortsetzung einer ohnehin dramatisch menschenverachtenden Altenpflege mitverantworten, wenn ehemalige Verkäuferinnen nach einem Crashkurs plötzlich eine Berufung erlangen? Beide Berufe bedingen vor allem eines: Sie können nur dann wirklich erfolgreich ausgeübt werden, wenn dies mit viel Herz und Liebe, starkem Nervenkostüm, der Voraussetzung zur physischen Belastung und mit entsprechender Freude und Elan geschieht. Im übrigen gilt das sowieso für sämtliche Berufe, nicht zufällig gibt es den Artikel 12. Das scheint aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, eines Pflegenotstandes und einem Mangel an Erzieherinnen irrelevant zu sein, Hauptsache, sensenartiger Pragmatismus führt zum Erfolg. Es fragt sich nur: für wen? Die Schlecker-Frauen ordnen sich unter, Kinder und Alte werden gleich gar nicht gefragt, und schon geht die Rechnung auf?

Nach Schleckerpleite ein Tor sperrangelweit aufgerissen

Denken wir doch mal weiter und spielen die Möglichkeiten durch, die da noch vor sich hinschlummern. Jetzt war die Schleckerpleite, und Tausende Arbeitslose haben sich zu fügen, wer keinen Job kriegt, wird einfach mal Erzieher oder Altenpfleger. Wenn morgen aber zwei oder drei heftige Weltkonflikte einen Nachschub an Soldaten brauchen, weil die BRD ohnehin zunehmend den Kurs einer Verteidigungsarmee verlassen hat, werden dann in der Logik einer Mangelsituation aus dem Hause von der Leyen mal eben per Crashkurs zumindest Sanitäter und Bereiche in der Logistik ausgebildet, um auszuhelfen? Das einmal sperrangelweit geöffnete Tor dieser sozialrassistischen Politik lässt sich unschwer schließen in einer Erwartungshaltung von Gehorsam, Arbeitszwang und Sanktionierung. Da bedarf es unbedingt einer grundlegenden Änderung der Wirtschaft selbst, die per Lohndumping, neoliberaler Konzernpolitik und Überreichtum die Schere zwischen Armut und Reichtum zu verantworten hat. Solange die gewählten Politiker sich ihr unterordnen und das Volk missachten, sollten wir mit einer Fortsetzung und Steigerung der dramatischen Arbeitszwangpolitik rechnen.

Lotar Martin Kamm ist Lektor, Übersetzer und Journalist bei der Buergerstimme sowie 1. Vorsitzender Vereins Buergerstimme.

 

Anmerkung der NAGEL-Redaktion: Lotar Martin Kamm hat seinen Beitrag zunächst in der Internet-Zeitschrift „BUERGERSTIMME – Zeit für Veränderungen“ veröffentlicht. Er uns ihn uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür wir ihm herzlich danken. Das engagierte Team der „Buergerstimme“ ist hier zu finden.

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