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NAGEL-Redaktion – Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Bettina Lischewski

Vor wenigen Tagen berichtete mir ein Jugendlicher, dass er eine ältere Dame auf der Straße nach der Uhrzeit fragte. Diese drehte sich erschrocken um, hielt ihre Handtasche fest mit beiden Händen und begann, um Hilfe zu rufen. Wie gut für den Jugendlichen, dass keine Polizei in der Nähe war.

Die Schlagzeilen in den Zeitungen, gerade vor der Wahl: „Jugendkriminalität steigt“,. „Jugend immer gewaltbereiter“ oder „Mit 14 schon ein schwerer Junge“. Die Botschaft: Sie werden immer jünger, lassen alte Damen um Hilfe schreien und geben vor, nach der Uhrzeit zu fragen. Für die Medien sind derartige Nachrichten Waren, die anschaulich und mit dramatischen Überschriften verziert sein sollen, damit sie gelesen und die Blätter verkauft werden. Diese vorgebliche Lebendigkeit scheint das Leben spannender, die alltäglichen Dramen kleiner zu machen. Das Resultat ist Angst und Unsicherheit der älteren Generation.

Mit Angst hat sich immer schon gut Politik machen lassen. Der Ruf dieser Art von Politik geht in Richtung nach mehr Polizei, nach Stärkung der Inneren Sicherheit, nach sofortigem Handeln, nach dem Ende des angeblichen „Immer-nur-Reden“. Mit härteren Strafen bekäme man die kriminelle Jugend schon in den Griff. Ein guter Weg, von den eigentlichen Problemen abzulenken: Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und damit verbundene Gefühle von Ohnmacht und fehlender Anerkennung. Die Polizei hat mit höheren Präsenzanforderungen genug zu tun und muss sich um Stellenstreichungen nicht kümmern. In Zeiten der hohen Arbeitslosigkeit eine dankbare Angelegenheit. Hätten die Jugendlichen die Möglichkeit, etwas zu sagen, dann würde man vielleicht wissen, dass sich viele vergessen und nicht verstanden fühlen.

Die Beweise der dramatischen Realität liefert die Polizei mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Besonders aussagekräftig ist diese nicht: vergegenwärtigt man sich, dass circa 90 Prozent der Delikte auf Anzeigen aus der Bevölkerung zurückgehen, wird klar, dass für Anstieg und Fallen der Kriminalitätszahlen besonders die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung eine größere Rolle spielt als das wirkliche Geschehen. Nicht richterliche Verurteilungen, sondern vermeintliche Kriminalitätswahrnehmungen werden in der PKS abgebildet. Ganz abgesehen davon, dass auch Kinder erfasst werden, die nicht strafmündig sind.

Mehr als die „wirkliche“ Entwicklung der Kriminalität scheint die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung von der Vorstellung über Umfang und Schwere sozialer Probleme abzuhängen. Damit setzt das Dauerthema „Innere Sicherheit“ erst die Probleme, die es zu lösen vorgibt, in die Welt. Nicht die objektive Bedrohung älterer Menschen ist das Problem, sondern deren Bedrohtheitsgefühl und die gleichzeitige Senkung der Hemmschwelle zur Anzeigenerstattung.

Die Konsumgesellschaft lebt es den Jugendlichen vor: Nur wer Arbeit hat und Geld, sitzt vorne in der Reihe. Was da eigentlich zählt, unterstrich der ehemalige Bürgermeister Hamburgs in diesem Jahr bei einem Besuch des Jugendklubs Burgwedel. Neben guten Ratschlägen an die jungen Leute („Hört auf zu rauchen!“ oder „Ernährt euch gesund!“) gab er ihnen mit auf den Weg, sie müssten sich nur viel Mühe geben, dann würde auch bei ihnen bald ein Mercedes vor der Tür stehen. Welche Mühen er damit gemeint hat, liegt auf der Hand, aber: unter den gegenwärtigen Bedingungen dürfte es nachvollziehbar sein, daß Jugendliche schneller mit fünf geklauten Autoradios ans Ziel kommen als mit der Hoffnung auf ein Taschengeld oder auch 480 Mark Ausbildungsvergütung.

Es geht im Rahmen der Kriminalitätsdiskussion um alle Jugendlichen, auch um die „einfachen“ Normabweichler. Dass für junge Menschen vielleicht andere Normen und Werte existieren als für Erwachsene, wird kaum mehr berücksichtigt. Es ist schon klar, daß Bürgerschafts-Spitzenkandidaten einen anderen Geschmack als die Kids haben, wenn sie sich im Wahlkampf aufmachen, Hamburg von Tags und Graffitis zu befreien. Wo Jugendliche ihre Art moderner Kunst im öffentlichen Raum ausleben, mit sogenannten „Schmierereien“ ihre Duftmarke nach dem Motto „Mich gibt es! Vergesst mich nicht!“ setzen wollen, wird kriminalisiert und verfolgt. Den Kick, den Jugendliche bei ihren Aktionen brauchen, mit dem sie ihre Grenzen und Möglichkeiten austesten, ist ein Bedürfnis, das ohne Sanktionen anscheinend nicht mehr auskommen darf.

Statt die gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt zu stellen, an ihnen etwas zu ändern, wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Mehr Einsatz von Polizei wird nur mehr Unsicherheit schaffen. Bei derartigen Stammtischparolen werden sich Jugendliche wohl bald nicht mehr auf die Straße trauen dürfen.

Die Autorin war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im NAGEL Mitarbeiterin im Jugendclub Burgwedel des Verband Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg.

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NAGEL-Redaktion – Vom Gejaule, vom Zorn und vom aufrechten Gang

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Rainer Deimel

Gejaule bringt uns überhaupt nicht weiter. Uns? Die Pädagogik, die Fachwelt und die, für die, mit denen wir aktiv werden: Kinder, Jugendliche, Familien. Aufhänger meines Beitrags soll hier das Lamento über die Zunahme kindlicher und jugendlicher Kriminalität sein. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin fährt nach New York, um sich dort zu informieren, wie es die harte New Yorker Hand geschafft hat, das ehedem überdimensioniert kriminelle Gemeinwesen anscheinend wieder zu befrieden. Petra Roth muss feststellen, dass die Rigidität, mit der in der US-Metropole mit dem Drahtbesen die Habenichtse, Organisierer und „andere Elemente“ auf den Kehricht verbracht werden, zwar auf gewisse Weise eindrucksvoll, aber auf westeuropäische Verhältnisse kaum übertragbar ist.

Zum Thema Kinder- und Jugendkriminalität gibt es inzwischen zahlreiche Verlautbarungen. Ich möchte mir ein weiteres Eingehen darauf deshalb hier sparen, als Resümee aber folgende Thesen aufstellen:

  • Kriminelle Handlungen junger Menschen gegenüber älteren Menschen stagnieren.
  • Gewalttätige Handlungen zwischen nahezu Gleichaltrigen nehmen beunruhigend zu.
  • Die Verantwortlichen für möglicherweise zunehmende Verwahrlosungserscheinungen sind nicht bzw. selten in den Institutionen zu finden, die sich mit jungen Menschen beschäftigen (ergo Familie, Schule, Jugendarbeit usw.). Verantwortlich für Verwahrlosungserscheinungen, Kriminalität, Gewalt, Gewaltbereitschaft usw. ist das System der skrupellosen Marktwirtschaft, das es mittlerweile soweit gebracht hat, daß 80 Prozent der Weltbevölkerung überflüssig geworden sind.

Letztgenannte These provoziert möglicherweise Zorn; soll sie auch. Mein Anliegen dabei ist allerdings, die Richtung des Zorns klar zu bestimmen. Jeremy Rifkin, amerikanischer Wirtschaftskritiker, stellt in seinem Buch „Das Ende der Arbeit – und ihre Zukunft“1 fest, dass uns am „Ausgang der modernen Welt“ eine „neue Barbarei“ erwarte. Es gäbe die Alternative zwischen fundamentalen Reformen oder sozialer Katastrophe. Hans-Peter Martin und Harald Schumann2 kommen zu der Erkenntnis, dass für das Funktionieren der Weltwirtschaft nur noch 20 Prozent der arbeitsfähigen Weltbevölkerung benötigt werden. Amerikanische Manager vertreten die Auffassung, dass man die restlichen 80 Prozent durch eine Mischung aus Mindestsicherung und Entertainment durch die permanent gegenwärtige Unterhaltungsindustrie bei Laune halten müsse, vermutlich, um durch sie nicht weiter behelligt zu werden. Viviane Forrester3   glaubt, dass es sich in einer Demokratie (noch) niemand wagen würde, zu erklären, „das Leben sei kein Recht an sich und eine Vielzahl von Menschen sei einfach überflüssig“.4 Forrester macht die Verantwortlichen für den Niedergang, den wir augenblicklich erleben und gegen den wir tagtäglich zu kämpfen haben, in den Wirtschaftsmächtigen aus, die den gesamten Globus mit ihrem Terror des profitablen Wirtschaftens überziehen. Gleichzeitig bescheinigt sie der Politik deren Unfähigkeit, sich diesem zu widersetzen.

Am Beispiel junger Leute in französischen Vorstädten zeichnet Forrester ein bedrohliches Szenario, die ständig die Schmach ihrer Existenz und Hoffnungslosigkeit erleben. Und „nichts schwächt und lähmt derart wie die Schmach. Sie greift an der Wurzel an und untergräbt jede Tatkraft, sie degradiert Menschen zu beliebig beeinflußbaren Objekten und reduziert alle, die unter ihr leiden, zur wehrlosen Beute. Daher ihr Reiz für die Mächtigen, sich ihrer (Anmerkung: der Schmach) zu bedienen und sie zu verbreiten; sie erlaubt es, Gesetze aufzustellen, ohne auf Gegner zu stoßen, und sie dann zu übertreten, ohne Protest befürchten zu müssen. Die Schmach führt in eine ausweglose Situation, sie verhindert jeglichen Widerstand, führt dazu, dass jegliche Bekämpfung, jegliche rationale Beschäftigung, jegliche Auseinandersetzung mit dem Problem aufgegeben wird. Sie lenkt von allem ab, was ermöglichen würde, sich der Erniedrigung zu verweigern und eine Analyse der politischen Verhältnisse zu fordern. Und sie ermöglicht auch die Ausnutzung der Resignation und der virulenten Panik, ihrem Nebenprodukt.“5 Folgt man diesen Gedanken, ergeben sich aus meiner Sicht über den Zorn hinaus Anforderungen pädagogischen Tätigwerdens. Pädagogik ist Stimulans. Sie bringt denjenigen, die sie erreicht, Wertschätzung und Akzeptanz entgegen, eine Grundlage, gegen Hoffnungslosigkeit aktiv zu werden. Pädagogik stimuliert ferner das Denken, also die Grundlage, Zusammenhänge transparent zu machen. „Nichts mobilisiert so wie das Denken. Denken ist alles andere als ein trübsinniges Verharren, es ist vielmehr die Quintessenz des Tätigseins. Es gibt keine subversivere, keine gefürchtetere Tätigkeit. Es gibt auch nichts, was stärker verleumdet würde, und das ist weder zufällig noch harmlos: Denken ist politisch. Und zwar nicht nur das politische Denken. … Die bloße Tatsache zu denken ist politisch. Deshalb der heimtückische und dadurch um so effizientere Kampf, der heute so heftig gegen das Denken geführt wird, gegen die Fähigkeit zu denken.“6 Pädagogik muss sich als Tugend den aufrechten Gang bewahren; da, wo sie gebeugt geht, ihn sich wieder erobern.

Unseren Beobachtungen zufolge, auch unter Berücksichtigung von Aussagen renommierter Wissenschaftler, wird dies vermutlich nicht leicht. Das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und das Psychologische Institut der Universität Leipzig bilanzieren für Deutschland erschreckende Folgen zunehmender Deklassierung durch Arbeitslosigkeit. So wird festgestellt, dass Arme weniger die Chance hätten, das Rentenalter zu erreichen als solche mit ausreichendem Einkommen. „Die Feststellung krasser sozialer Ungerechtigkeit, die einen Teil der Gesellschaftsmitglieder wesentlicher Grundrechte beraubt, wirft … die Frage nach der Legitimität einer solchen Gesellschaft auf. Die liberal-kapitalistische Gesellschaft hat sich bislang mit einem Trick beholfen: Sie preist zwar – mit größter Berechtigung – die ´allgemeinen Menschenrechte´ wie Religions-, Versammlungs- oder Meinungsfreiheit, spricht aber den sozialen Menschenrechten – Recht auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnung, auf gleiche Gesundheitschancen – die Verbindlichkeit ab. Sie kommen in unserer Verfassung nicht vor. Paradoxerweise gilt, wer auch die sozialen Menschenrechte einfordert, als Gleichmacher, als wenig liberal. Als ob auf dem Gebiet der Menschenrechte weniger mehr sein könnte.“7   

Verwahrlosung und Kriminalität sind konsequente Folge von Deklassierung und menschlicher Entwürdigung. Wer nichts mehr zu verlieren hat, hat eben Nichts mehr zu verlieren. Nicht ohne guten Grund beschreibt Stephen King in seinem Roman „The Green Mile“ die Breite der Gänge in den Zellen der zum Tode Verurteilten. Denen ist „egal“, was in ihrem Leben noch geschieht. Der breite Gang soll die Wärter davor schützen, zu nahe an die Zellengitter zu geraten. Aus dem „modernen“ Amerika ist bekannt, dass Besitzende immer häufiger ihre Kinder mit Hubschraubern aus ihren schlossartigen Ghettos in ihre Nobel-Konsum-Burgen fliegen lassen, quasi damit ausreichend Abstand zu den Gittern gehalten werden kann.

Pädagogik und Kinderlobby sind aufgefordert, über das Gejaule hinaus, zornig zu sein, nicht depressiv. Der Zorn hilft mit, aufrecht zu gehen. Wir haben immer wieder betont, Pädagogik könne Machtverhältnisse nicht verändern. Dieses Denken halte ich inzwischen für einschränkend linear-kausal. Natürlich taugen pädagogische Mittel nicht dazu, materielle – sprich: finanzielle – private Ressourcen im Sinne gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu verteilen. Aber, wie gesagt, Pädagogik ist Stimulans. Indem sie sich selbst den aufrechten Gang bewahrt, indem sie denjenigen gegenüber Wertschätzung und Akzeptanz aufbringt, die qua System zum lebensunwerten – ich benutze dieses vielgeschmähte Wort ganz bewußt – Leben degradiert werden, hilft sie gerade auch diesen, ihren aufrechten Gang zu erlernen. Und dies ist allemal eine politische Kraft, die ihre Wirkung zeitigen wird. Die Formel der sechziger und siebziger Jahre „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ greift zu kurz. Erst einmal muss der aufrechte Gang erlernt werden. Danach gibt es kaum mehr einen Grund, etwas zu zerstören.

Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband und Systemischer Berater DGSF.

Eingestellt in das Internet im Juli 2003.

Anmerkungen:

1 Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1995

2 Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996

3 Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie, Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997

4 ebenda, S. 38

5 ebenda, S. 14

6 ebenda, S. 98

7 Anton-Andreas Guha: Die kranke Gesellschaft, in: Frankfurter Rundschau v. 2.1.1998

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NAGEL-Redaktion – „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund bringt“ oder Warum ein Fachverband Zustände nicht gesundbeten darf

(Kolumne aus: DER NAGEL 57/1995)

Von Rainer Deimel

Meine eigene Rolle innerhalb des Verbandes erscheint mir als ein günstiger, weil praktischer Aufhänger, einmal mehr verbandliches Handeln zwischen Theorie und Praxis zu reflektieren; eine Rolle, die breit interpretierbar ist: Experte für alles und nichts, Politiker und Neutrum, versehen mit Leidenschaft und immer hart an der Grenze zum „Ausgepowertsein“. Eine solche Reflexion ist keine Nabelschau; dient sie doch vielmehr dazu, Zusammenhänge zwischen dem Verband als solchem und denen, die sich ihm als Mitglieder und MitstreiterInnen angeschlossen haben, zu hinterfragen, Perspektiven für die nächsten Jahre zu beleuchten und eventuell eine Diskussion in Richtung „Strategien für die Zukunft“ anzuregen.
Nachdenken über die Pädagogik der neunziger Jahre provoziert, wie Nachdenken über Handeln mit Menschen immer provoziert hat. Ich komme dabei auf einige provokante Thesen.
Pädagogik ist immer geneigt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und sich dabei gleichzeitig zu glorifizieren. Seinen Ausdruck findet dies zum Beispiel in der Funktionalisierung von Pädagogik und Jugendarbeit durch die Politik: Politik ist augenscheinlich nicht in der Lage, Probleme menschengerecht zu lösen; Politik hat es vornehmlich in den letzten zehn Jahren geschafft, die Gesellschaft weitgehend zu entsolidarisieren. In der Folge treten konsequenterweise Probleme auf: zunehmende Ausgrenzung von Arbeitslosen, alleinerziehenden Müttern und anderen. Die Kluft zwischen arm und reich wird immer breiter. Der „private Ellbogen“ übernimmt das Zepter (Selbstverwirklichungs-Raserei). Hier und da spitzen sich Problemsituationen dramatisch zu: vermehrte Suchttendenzen, steigende Kriminalität, zunehmende Gewalt, Ausweitung rechtsradikaler Tendenzen. Ich bin davon überzeugt, dass Albert Scherr recht hat, wenn er der Auffassung widerspricht, dass Gewalt nicht automatisch „mitten aus der Gesellschaft“ kommt (wie Politik gern glauben machen will), sondern im Zuge von Deklassierung entsteht. Bei nicht zu übersehendem Handlungsbedarf ist Politik dann geneigt, sich Pädagogik als Handlangerin zu bestellen. Und Pädagogik ist gern bereit, sich derart funktionalisieren zu lassen. Dementsprechend bescheinigt Hartmut M. Griese aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Pädagogik eine (inzwischen) eher reaktionäre Rolle (vgl. Hartmut M. Griese: Wider die Re-Pädagogisierung …, in: Deutsche Jugend 7/8, 42 Jg. 1994, S. 310 ff.). Griese sieht Versäumnisse in Politik, Wirtschaft, Ökologie usw., wobei die Pädagogik sie sich zu eigen macht und mit Lösungen prahlt, die zu erbringen sie nicht imstande ist.
Pädagogik kann in ihrer Umgebung günstige Einflüsse entwickeln; Machtverhältnisse kann sie nicht verändern. „Eine Gesellschaft, in der humane Lebensbedingungen und damit sinnvolle Zukunftsperspektiven vorliegen, braucht sich um eine Pädagogik junger Menschen wenig Gedanken zu machen.“ (Griese, a.a.O., S. 311) Pädagogik blendet Wirklichkeit aus und gibt sich in Bezug auf politische Realitäten Illusionen hin. Wie anders ließe sich sonst der Versuch interpretieren, mithilfe immer wieder neuer Konzepte die Disziplin zunehmend verschleiert zu atomisieren? Griese hat eine Auflistung vorgenommen, aus der ich nur einige „Konzepte“ benennen will: Friedenserziehung, Umwelterziehung, Kulturerziehung, Anti-Rassismus-Erziehung usw. Das Kurioseste, was mir kürzlich untergekommen ist, war der Begriff „Gaumenpädagogik“. Geht es hierbei darum, Kinder zu „kritischen und reflektierten EsserInnen“ zu erziehen. M.E. haben alle Ansätze ihre Berechtigung. Allerdings kann kein Ansatz für sich reklamieren, bestehende Formen und Methoden zu ersetzen. Eine ähnliche Diskussion gab es bereits vor über zehn Jahren im Zusammenhang mit Sozial- und Kulturpädagogik. Alle Ansätze gehören in eine einheitliche Disziplin, sind konstitutive Teile einer pädagogischen Konzeption, von der geschlechtsspezifischen Arbeit angefangen, über Erlebnispädagogik bis hin zu Schule und Freizeit. Dieses Bewusstsein müssen sich PädagogInnen zunehmend zu eigen machen und beginnen, entsprechend ihr Profil zu entwickeln.
Eine Basisanforderung professionellen Handelns in der Pädagogik ist der Verzicht auf Erziehung. Der Widerspruch, der sich aufgrund der Nähe der Begriffe ergibt, scheint mir auflösbar: der griechische Begriff „paid-agogós“ impliziert den Erwachsenen, der jungen Menschen zur Verfügung steht, um sie bei Unsicherheiten zu schützen und zu leiten. Schließt „Pädagogik“ das Partizipationsprinzip mit ein, wird dieses bei Verwendung des Begriffs „Erziehung“ ausgeschlossen: Erziehung meint die außengeleitete Formung der Persönlichkeit junger Menschen nach bestimmten Vorstellungen und Motiven. Erziehung kann nie professionell sein, Pädagogik hat dazu gute Chancen.
Pädagogik hat die Aufgabe, junge Menschen und ihre Motivlage zu verstehen, ihnen gegenüber empathisch zu sein, Zusammenhänge herauszuarbeiten und mit ihnen Lösungsansätze zu entwickeln. Pädagogik bietet Orientierungshilfen sowie Raumaneignungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Pädagogik grenzt nicht aus. Besondere Chancen erblicke ich dabei in der bestehenden Offenen Arbeit. Pädagogik hat einen Bildungsanspruch. Der Begriff „Bildung“ ist seit Ende der sechziger Jahre zunehmend der Schule überlassen worden, wobei selbst diese sich inzwischen mit diesem Idiom abmüht. Dabei ist leicht belegbar, dass professionelle Pädagogik Aneignungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle bieten kann: Aneignung von sozialen und kulturellen Kompetenzen sowie Aneignung von ansonsten vorenthaltenen Räumen. Diese Bildungsarbeit integriert Experimente und Innovation.
Pädagogik hat sich gegenüber der Konsum- und Leistungsgesellschaft abzugrenzen. Es geht ihr nicht um Beschäftigung, Betreuung und Unterhaltung auf niedrigstem Niveau. Das leistet die Unterhaltungsindustrie besser. Pädagogik nimmt gesellschaftliche Veränderungsprozesse zur Kenntnis. „Eine (…) Pädagogik, die … die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens und die Zukunftsperspektiven der Heranwachsenden negiert, die weiter an einem irrelevanten und idealistischen Erziehungsbegriff festhält oder eine Re-Pädagogisierung fordert, die sich angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen weiter ausdifferenziert und atomisiert und damit pädagogisierend und entpolitisierend, d.h. ideologisch wirkt und gesellschaftliche Ursachen der aktuellen Probleme verschleiert, die ihre Bemühungen um einen allgemeinen Bildungsbegriff als Herzstück jeder Pädagogik zugunsten des Erziehungs-, Lern- und Qualifikationsbegriffs aufgibt, die sich als empirische Wissenschaft forschungsethisch wenig Gedanken macht um die Thematik ‚Verstehen oder Kolonialisieren?‘ und damit die Folgen ihrer Forschung für die Praxis und die Betroffenen ausklammert, ist als theoretische Wissenschaft, als Forschungsdisziplin und als auf Handeln abzielende Sozialtechnik ‚am Ende‘.“ (Griese, a.a.O., S. 316)
Die pädagogische Praxis und mithin ihre Zusammenschlüsse, die Fachverbände, haben ihre Kolonialisierungstendenzen zu überprüfen, ggf. ihre Rolle als innergesellschaftliche Entwicklungshelfer aufzugeben. Die Fachverbände wirken wie ein Katalysator, stützen Autonomiebestrebungen, helfen mit, nachdenklich und selbstkritisch zu machen, die Dinge in Bewegung zu halten; sie halten sich von dem gegenwärtigen „Betroffenheits-Kult“, dem offensichtlich die „professionelle“ Politik zum Opfer gefallen ist, fern, was nicht bedeutet, dass sie ihre soziale und gesellschaftliche Kompetenz nicht permanent reflektieren und weiterentwickeln. Sie erkennen ihre Rolle (im Sinne von Paulo Freire) als „Politiker und Künstler“. Diese Rolle impliziert eben, Zustände nicht gesundzubeten, äußerst sensibel für gesellschaftliche Vorgänge zu sein, aber auch Gelassenheit zu üben, Grenzen zu erkennen (Hermann Giesecke: „‚Ganzheitlichkeit‘ und Professionalität schließen sich aus.“) und Funktionalisierungstendenzen wahrzunehmen. Um weiterhin für Bewegung zu sorgen, halte ich es für unumgänglich, dass Fachverbände nicht aufhören, zu ketzern und gemeine und hinterhältige Fragen zu stellen. „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund führt,“ hätte Adorno zu ergänzen gehabt. Wer versucht, Positives zu sagen, sollte sich eventuell einmal Gedanken über die Rente machen. Die Zukunft gehört den Ketzern und Narren.

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NAGEL-Redaktion – „Der Krieg der Schimpansen“ oder „Erziehung zur Gewalt“

Konservative Tendenzen in der gegenwärtigen Diskussion um

Gewalt, Erziehung, Jugend und Rechtsradikalismus

(Kolumne aus: DER NAGEL 56/1994)

Von Steffen Moderau

In der Absicht eine gewisse „Tiefendimension“ in die Diskussion um die Entstehungsbedingungen von Gewaltformen zu bringen, auch verstanden als Gegenthese zu den Gesellschaftstheoretikern à la HEITMEYER, kolportiert der SPIEGEL jene evolutionsbiologischen Axiome erneut, die einen genetischen Zusammenhang von menschlicher Aggression und Zivilisation behaupten. Der sozialdarwinistische Verweis auf jenen „genetischen Eigennutz“ (Richard DAWKINS), der der aggressiven Potenziale bedarf, um seine überlegene Genstruktur seinen Nachkommen weiterzugeben, gerät, da er bewusst in den Zusammenhang des Gewaltdiskurses  gestellt wird, schnell in das Fahrwasser rechtsradikalen Rassismustheorien. 
Vollends abstrus werden solche reduktionistischen „Theorien“, wenn sie ihren Geltungsbereich in die Zivilisations- und Gesellschaftskritik hinein ausweiten. Sie enden dann in schöner Regelmäßigkeit in ordnungspolitischen Diskursen autoritärer Provenienz, in denen dem Menschen dann jedwede Zivilisierung abgesprochen wird oder nur im Kontext autokratischer Institutionen und rigider Moral von Herrschaft und Unterwerfung. Diese monokausalen und eindimensionalen Erklärungsversuche haben gewissermaßen einen „anti-demokratischen“ Strukturdefekt schon innerhalb dessen, was ihre Theorien politisch implizieren.
Nicht nur Gewalt, sondern auch Fremdenfeindlichkeit solle sich im Rahmen solcher Theorieansätze begründen lassen (vgl. EIBL-EIBESFELD). Damit wird rassistisches Verhalten gleichsam zum „Normalzustand“ erhoben. Alle nicht-rassistischen Reaktionen bekommen so quasi „pathologische“ Züge, werden „entmenschlicht“, da sie ja eigentlich nicht der „Natur der Menschen“ entsprechen.
Solche deterministische Konstruktionen bringen lediglich Mythologien hervor, die die „Ethnie“ zur „imaginierten Gemeinschaft“ (Benedict ANDERSON) erheben, angefüllt mit nationalem Pathos. „Das Böse lässt sich weder erklären noch ändern, sondern nur zähmen, bekämpfen, ausgrenzen“ 
(1), könnte man das Programm der Anhänger solcher Theoreme zusammenfassen. „Was wir brauchen, ist nicht die Illusion der Gewaltlosigkeit, sondern eine Erziehung zur Gewalt, die das Böse nicht leugnet, sondern den Umgang mit ihm übt“. (2) SPIEGEL Essayist Dietmar PIEPER begreift „Gewalt (als) menschliche Konstante“ (3), deren Formen mal mehr, „mal weniger gesellschaftsschädigend sind. In der Differenz liegt das ganze Potenzial erzieherischer Wirkung… Deshalb erleben wir derzeit gesellschaftlich weniger einen Zuwachs von Gewalt als einen ersatzlosen Abbau von Illusionen christlich-abendländisch-kommunistischer Art“(4). Damit werden die Einfallstore für jene zeitgenössische konservative „Kritik“ geöffnet; erstens: Jedwede kritische Gesellschaftstheorie soll durch Ethik und Moral ersetzt werden (5); zweitens: Die Idee der Veränderung (nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit), d.h. die Abschaffung der Ursachen gesellschaftlicher Widersprüche wird mit der Behauptung des „Endes aller Utopien“ gleichsam mit verabschiedet.
„Wo nach dem Krieg die moralisierenden Konservativen zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft auf die vormodernen Prinzipien der Gemeinschaft, der Religion und des starken Staates zurückgreifen, da entdecken die Neukonservativen seit Mitte der 50er Jahre, dass die kapitalistische Industrialisierung wider alle Erwartungen selber in der Lage ist, haltbare Integrationsmedien auszubilden. Über Arbeit und Konsum gelingt es, den ´Aufstand der Massen´ zu beenden“ 
(6).
Schon die konservative Massenkritik beklagte das entwurzelte Individuum und die „Kräfte der Selbstzerstörung“ der Gesellschaft. An die Stelle „seelenloser Kollektive“ (GLASER, 1956) sollte wieder „echte“ Gemeinschaft treten. Aber das „Pathos der natürlichen Gemeinschaft schlägt um in die Apologie autoritärer Herrschaft. Es nimmt damit eben die Züge an, die man seinem Gegenteil: der Masse, zugeschrieben hatte. Es huldigt dem Affekt gegen das Fremde, tabuisiert Differenz, wettert gegen Autonomie, desavouiert Subjektivität, grenzt Abweichungen aus, erhebt den Durchschnitt zur Norm, fordert Führer-Autorität. Das moralisierende Gemeinschaftspathos, dieser Inbegriff des kollektiven Narzissmus, endet totalitär …“ 
(7).
In der Dekade zwischen 1950 und 1960 etabliert sich in Deutschland jene „neukonservative Theorie der integrierten Masse“ 
(8), dessen wichtigste Protagonisten u.a. die Soziologen GEHLEN und SCHELSKY waren. Aus Amerika wird der Begriff des „außengeleiteten Menschen‘ (David RIESMAN) in deutsche Diskussion eingeführt. RIESMAN’s Buch „The lonely crowd“, dessen deutsche Ausgabe 1956 erscheint, beschreibt die kulturellen Umformungen der amerikanischen Konsumkultur, die deutsche Konservative eher als Kulturverfall identifizieren: nach RIESMAN eine „Epoche, in der die Menschen die Wünsche der anderen zum Maßstab erheben, aus Politik eine Show machen, aus dem Beruf den Job, aus der Muße das week-end, aus der mütterlichen Sorge um die Familie das joy of cooking, aus der Familie die peer-group, aus der Liebe den Sex:“ (9).
Doch SCHELSKY sieht in diesen Veränderungen auch neue Strukturen entstehen, in der die „‚außen-geleitete(n) Gesellschaft eine Epoche neuer sozialer Stabilisierung“ (SCHELSKY, 1956) erreicht. „Stabilität“ wird fortan zum „konservativen Zauberwort“ 
(10).
GEHLEN hält der Moderne vor, dass aus dem „allgemeinen Wettrennen nach Wohlleben“ keine „neue Sinngebung des Lebens“ (GEHLEN, 1952) hervorgehen kann. „Die Orientierung am Konsum bedeute am Ende nur Sinnentleerung und Persönlichkeitsverlust. Der Reichtum der Konsumgüter verpflichte zu nichts. Ohne Verpflichtung aber sei das Leben unmöglich. – Auch die Gruppe bietet da keinen Schutz“, fasst Helmut KÖNIG 
(11) GEHLENS Vorbehalte zusammen.
Dennoch wird die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, ihre technisch-industrielle „Rationalität“ sowie die institutionelle Absicherung zur unhinterfragten Norm erhoben (vgl. Helmut KÖNIG 
(12) ), eine Norm, die moralisierende Verhaltensimperative vorgibt, denen sich das Individuum in nichtreflexiver Form zu beugen hat. Dies macht den konservativen Kern der Soziologie und Kulturkritik à la GEHLEN und SCHELSKY aus.
Die zeitgenössische konservative Theorie oder die „‚postmoderne‘ konservative Theorie der individualisierten Gesellschaft“ 
(13) teilt mit ihren Vorgängern nicht mehr die Angst vor der wurzel- und heimatlosen Masse, die als „revolutionäre Masse“ die bürgerliche „Ordnung“ hinwegfegt. Die Masse ist heute nur noch als Summe „individualisierter“ Einzelsubjekte präsent. „Schon in den Anfängen der bürgerlichen Sozialpolitik war Individualisierung ein favorisiertes Mittel gegen die Vermassung. … Aber wo mit Individualisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Verwurzelung, Familialisierung und Verhäuslichung gemeint war, da verbinden wir heute mit ihr das Gegenteil: Der Individualisierte ist nicht der, der Wurzeln geschlagen hat, sondern der vollmobile, flexible, der boden-, familien- und heimatlose Einzelne“ (14).
Nun behaupten die Anhänger eines radikalen ökonomischen Liberalismus immer noch, dass „die desintegrativen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft … nicht dem Marktprinzip anzulasten (seien), sondern umgekehrt seiner künstlichen Einschränkung“ 
(15). Alle destruktiven Kräfte einer entfesselten Konkurrenz und Universalisierung des Marktes werden verleugnet. Doch der Konservatismus „der Gegenwart ist überzeugt davon, dass die einzige Chance für die Erneuerung der Industriegesellschaft in ihrer weiteren Modernisierung – in der Universalisierung des Marktes – liegt“ (16).
Im ordnungspolitischen Diskurs des Konservatismus soll sich der Staat, als Inbegriff des Politischen, wieder seinen eigentlichen Aufgaben zuwenden. Sozial- und wohlfahrtsstaatliche Strukturen sollen zurückgebaut werden und in den Mittelpunkt rückt das staatliche Entscheidungs- und Gewaltmonopol als das „Zentrum der sozialen Integration“ 
(17). Eine prinzipiell funktionalistische (18) Sichtweise ersetzt das vormals geschlossene Weltbild des gegenwärtigen Konservatismus. Es geht darum, „nach Kompensationen für die negativen Folgen der unvermeidlichen Modernisierung zu suchen“ (19). Nicht der Gegensatz „‚wahr'“ oder „falsch“ dient mehr dazu, einen Seinszusammenhang zu konstituieren, sondern „Funktionserfüllungen praktischer Art“ (Hermann LÜBBE) werden „zweckmäßig oder unzweckmäßig“ (LÜBBE) genannt. „Nicht um Wahrheit geht es Ihnen, sondern um Wirkung, nicht um Kultur, sondern ums Spektakel, nicht um Werte, sondern um Berechnung der Interessen und Machtchancen“ (20).
Wenn es dennoch immer wieder auch Rückfälle in konservative Werte-Debatten gibt, so liegt das daran, dass ihre Protagonisten den entscheidenden Widerspruch gesellschaftlicher Entwicklung nicht sehen: es sind ja nicht die „individualisierten Individuen“, die die Moralimperative untergraben, sondern es sind die Struktureffekte der technisch-wissenschaftlichen Modernisierung, die die Konservativen kritiklos forcieren, und die den Moralaposteln den Boden unter den Füßen wegziehen.
So ist es eigentlich verwunderlich, dass gerade im Zuge der Auseinandersetzung mit Gewalt, Jugend und Rechtsradikalismus auch liberale und linke Wortmeldungen sich zunehmend einem Moraldiskurs verschreiben. Während Karl Otto HONDRICH 
(21) im Zuge der Individualisierungsschübe noch ein „chronisches Defizit an kollektivorientierter … Moral“ (22) sieht, so beklagen Jörg BERGMANN und Claus LEGGEWIE (23) das Fehlen jedweder individueller Moralität bzw. das Zerfallen von Moral in einzelne Teile, „die von ihrem Träger nicht mehr zusammengesetzt werden können“ (24).
An den Bruchstellen zwischen sozialer Desintegration und Individualisierung einerseits und den Ebenen sozialer Milieus anderseits sollen nun jene destruktiven Kräfte sich dynamisch Bahn brechen, die nicht nur jede, noch so geringe moralische „Reziprozität“ (Hauke BRUNKHORST) 
(25) absorbieren, sondern Gewalthandeln als eine „punktuelle“ Form der Selbst-Versicherung des Individuums im steigenden Maße wahrscheinlicher macht. Die allgemeine Orientierungslosigkeit der jungen Generation, ihre „egoistisch“ und narzisstisch überhöhte Selbstbezogenheit, solle zu jener Auflösung jeder gemeinschaftsverpflichtenden Moralität führen, die sich dann auch in menschenverachtenden Mord- und Brandanschlägen äußert.
Damit stellen sich die beiden Kursbuch-Autoren in die Tradition jener konservativen Kultur- und Gesellschaftskritik, die hartnäckig Ursache und Wirkung verwechselt. Sie sprechen jenen von ihnen beschriebenen „Tätern“ jede Ratio ab und beklagen das „Fehlen der grenzensetzenden Instanz“ 
(26) einer „kraftlos gewordenen Konsumgesellschaft“ (27). Noch einen drauf setzt Peter SCHNEIDER (28) im gleichen Kursbuch. „Diese Halbwüchsigen ‚verachten‘ die elementarsten Regeln der Fairness nicht etwa, sie kennen sie gar nicht und haben sie nie, nach den Gesetzen von Lohn und Strafe erlernt. Sie sind entmenscht und zu Bestien geworden, sie wurden erst gar nicht zu Menschen gemacht“ (29).
Nicht nur, dass das Gewaltproblem erneut – wie schon Anfang der 80er Jahre im Zuge der sogenannten Jugendunruhen in europäischen Metropolen – auf eine „Teil- bzw. Randgruppe“ der Gesellschaft eingegrenzt werden soll, sondern als Mitverantwortliche werden jene identifiziert, die sich der Erziehungsaufgabe widmen: Lehrer, Eltern, Erzieher. Auch damals lautete die Parole: „Mut zur Erziehung“. Was Aufgabe der Politik der „Zivilgesellschaft'“ wäre, eben nicht einen dogmatischen Tugendkanon „abzuarbeiten“, sondern rationale Verfahrens- und Kommunikationsstrukturen gesellschaftlich zu etablieren, die auch die ökologischen und ökonomischen „Verteilungskämpfe“ regulieren, kann nicht ausschließlich auf dem engen Feld der Pädagogik eingelöst werden. Hier wird die Illusion – auch von Teilen der (Sozial-)Pädagogik selbst – genährt, die Lösung liege in der Bereitstellung entsprechender (nicht nur finanzieller) Mittel. Die Moralisierung sozialer Konflikte blendet die Systemwidersprüche weitgehend aus und installiert die Suche nach einer „staatlichen Autorität“, die jeden Dissens als antikonstituiv verwirft.
Augenfällig offenbart sich ein unhistorisches Geschichtsverständnis. Manchmal kann man den Eindruck haben, einige Protagonisten dieser konservativen Erziehungsdogmatik wünschten sich die stupiden Autoritarismus der Adenauer-Ära zurück, als Inbegriff einer „stabilen Ordnung“, die sich gegen die zeitgenössische „Unübersichtlichkeit“ abhebt. Doch, „Identitäten, die zu einer demokratischen Verfassung passen, lassen nicht mehr zu  e i n e m  Kollektivbewusstsein bündeln“ 
(30). Da sich die gesellschaftliche Integration in den „Bereich alltäglicher Lebensführung vorverlagert“ (31), sich ein „privater Sinnbegriff“ (32)entwickelt hat, kann auch eine intersubjektiv verbindliche Moral die Verhältnisse nicht mehr rückgängig machen.
„An die Stelle einer Zähmung von Individualinteressen durch eine übergeordnete Moral tritt die Abspaltung eines privaten Lebensbereichs. Dort geht es um das ‚konkrete Individuum‘, seine Neigungen und Interessen, was in diesem Lebensbereich der Disziplinierung Grenzen setzt“ 
(33). Der Erziehungsoptimismus, dem auch linke Pädagogen anhängen, der ein „Bild einer unbegrenzten Erziehbarkeit zum Besseren“ (Benno HAFENEGER) postuliert, findet in der Familialisierung und Pädagogisierung sozialer Konflikte bzw. deren Umdeutung in jugendsoziologische oder jugendpolitische Problemfelder ihren sinnlichen Ausdruck. Die aus dem vorrevolutionären Vormärz stammende „romantische“ Angst, Jugend könne eine Gesellschaft aus den „Fugen“ heben, bildet offenbar immer noch den Hintergrund konservativer Gefahrenszenarien.
Dass die „Gesellschaftliche Mitte“ (vgl. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ à la SCHELSKY) nun über das Aufbrechen von Gewaltstrukturen aus ihrer ‚Mitte‘ heraus so erschrocken ist, ist eher ein blinder Fleck in der Ideologie des Konservatismus, als wirkliche moralische Empörung. Der konservative Kernbestand der Gesellschaft bekommt heute einen Spiegel vorgehalten. Die politische Zuordnung von Gewaltaktionen der jüngsten Vergangenheit fast ausschließlich in das rechtsradikale Lager verdeckt eher die Querverbindungen zum Konservatismus. Es soll hier keiner Relativierung rechtsradikaler oder rassistischer Gewalt das Wort geredet werden. Doch die Deregulierungspolitik der regierenden Koalition 
(34) hat jene Entsolidarisierungsprozesse mit begünstigt und jede reflexive Regulierung ungehemmter Marktinteressen blockiert, die nun im Rahmen der Prozessen der Individualisierung und Desintegration als dynamische Gewaltphänomene an die Oberfläche gelangen. Es lässt sich kein „steuerndes Zentrum der Gewalt mehr angeben“ (35), doch damit wird sie weder beliebig oder zufällig, noch vervielfältigt sie sich quasi aus sich selbst heraus.
Waren früher die marginalisierten Bevölkerungsgruppen relativ resistent gegen konservative Moralisierungskampagnen, so hat heute der funktionalistische Konservatismus nicht nur das Vokabular der Aufklärung übernommen, sondern auch erkannt, dass eine gewisse Sorte von Aufmüpfigkeit durchaus innovativ für das System sein kann. „Es sind immer nur Minderheiten, die sich öffentlich äußern. Die Mehrheit, jede Mehrheit schweigt“ (Hans Magnus ENZENSBERGER). Was ehedem Herd des Aufruhrs und des Widerstands war, verwandelt sich zusehends in „moderne Normalität“.
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“ Diesen schönen Satz von Theodor W. ADORNO könnte heute auch jeder konservative Intellektuelle unterschreiben, auch wenn er ihn inhaltlich umdeutet. „Man muss also zu einer Idee und Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist“. (LYOTARD) Hier versagt der Konservative noch jede Zustimmung. Angesichts der stets beschriebenen Labilität, geringeren Verlässlichkeit sozialer Beziehungen und unklarer Entwicklungsperspektiven des Individuums trägt das Beharren auf den Konsens fast „freundlich alternative“ Züge. Doch wenn immer noch von der Grundthese ausgegangen wird, dass die Vermehrung des persönlichen Eigennutzes zugleich die Wohlfahrt aller mehre, so bedeutet dieser Satz im Zeichen gesellschaftlicher Krisen: Nicht das ökonomische oder politische System als Ganzes ist in der Krise, sondern es gerät in Schwierigkeiten durch die „überzogenen“ Ansprüche und Erwartungen des Einzelnen oder in unserem Zusammenhang, durch die Gewaltexzesse einzelner, die das Zusammenleben aller stören. In einer solchen Perspektive verweist Gewalt stets auf individuelles „Gewalthandeln“, das zum einen immer auf ein subjektives „Scheitern“ an den gesellschaftlichen Herausforderungen hindeutet, zugleich aber die Sanktionen des staatlichen Gewaltmonopols in Gang setzt, die den „schon Gescheiterten“ nochmals treffen.
Die damit direkte Etablierung und  Problematisierung des „Einzelfalls“ konstituiert eine Gewaltvorstellung als „singuläres'“ Ereignis gleichsam mit. In der Vervielfältigung solcher, nicht zuletzt medial vermittelten, singulären Gewalttätigkeiten, die zunächst zusammenhangslos nebeneinander stehen, wird über ihre bloße Addition plötzlich ein Grad an Eskalation unterschwellig mit formuliert. In ihrer „Verdichtung“ und dem Hinweis auf ihren „kriminellen Charakter“ kann nur die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Betroffenen vollendet werden.
Die Pädagogik insgesamt muss sich die Frage stellen, ob und wie sie sich an solchen Diskursen beteiligen will. Die Frage nach den Interventionsstrategien, so wie sie z.B. LEGGEWIE oder SCHNEIDER im Kursbuch vorschlagen, könnte den Verdacht nahe legen, dass das Prinzip der Gewaltfreiheit pädagogischen Handelns zumindest relativiert werden soll. Vielleicht provozieren sie aber auch bewusst Missverständlichkeiten, um das bisher stets indifferente Verhältnis von gewollter Autonomie und Selbstentfaltung einerseits und sozialer Kontrolle und Disziplinierung innerhalb pädagogischer Verhältnisse andererseits zur Sprache zu bringen. Der schon heute vorhandenen enge „Konnex zu Instanzen der Kontrolle und Sanktionierung“ 
(36), die institutionelle Abhängigkeit und die Tendenzen zu einer „Normalisierungsarbeit“ sozialer Arbeit, müssen dabei gleichzeitig mit thematisiert werden.
Das Projekt der Emanzipation, mit dem die Moderne stets gleichgesetzt wird, sieht noch seiner Verwirklichung entgegen. Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen „Roll-back“ sollte man sich gelegentlich daran erinnern.

Der Autor Steffen Moderau war viele Jahre beim ABA Fachverband tätig und lebt in Dortmund.
Der Beitrag wurde im August 2002 ins Internet gestellt.

Anmerkungen:
1 Klaus GÜNTHER, „Gegenwärtige Beschwörung des Bösen“, FR vom 16./17.11.1993
2 DER SPIEGEL Nr. 7, 1994, S.47
3 ebenda
4 ebenda
5 vgl. Heinz SÜNKER, „Politik und Moral oder: Wider die Moralisierung des Politischen“ in: Widersprüche Nr. 33, 1989, S.21-29
6 Helmut KÖNIG, „Von der Masse zur Individualisierung. Die Modernisierung des Konservatismus in der Bundesrepublik“ in: Leviathan, 16. Jg., 1988, Heft 2, S.261
7 ebenda, S. 260
8 ebenda, S. 261
9 ebenda, S. 262
10 ebenda
11 ebenda, S. 254
12 ebenda, S. 264
13 ebenda, S. 265
14 ebenda, S. 266
15 ebenda S.267; vgl.: „Das höhere Maß an Vielfalt, Pluralität und Dezentralisation stellt höhere Ansprüche an die Autorität der Gesamtordnung“ (Kurt BIEDENKOPF)
16 ebenda, S. 268; vgl.: die neuen elitetheoretischen Diskurse
17 ebenda, S. 271
18 ebenda
19 ebenda, S.270
20 ebenda
21 Karl Otto HONDRICH, „Der Wert der Gleichheit und der Bedeutungswandel der Ungleichheit“ in: Soziale Welt, 35. Jg., 1984, Heft 3, S.267-293
22 ebenda, S. 290
23 Jörg BERGMANN/Claus LEGGEWIE, „Die Täter sind unter uns – Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands“ in: Kursbuch 113, 1993, S.7-37
24 ebenda, S. 24
25 Hauke BRUNKHORST, „Krise der Demokratie ?“, FR 05.02.1994
26 BERGMANN/LEGGEWIE,  S. 21
27 ebenda, S. 35
28 Peter SCHNEIDER, „Erziehung nach Mölln“ in: Kursbuch 113, 1993, S.131-141
29 ebenda, S. 141
30 BRUNKHORST, s. Fußnote 25
31 Dietmar BROCK „Wiederkehr der Klassen? Über Mechanismen der Integration und der Ausgrenzung in entwickelten Industriegesellschaften“ in: Soziale Welt, 44 Jg., 1993, Heft 2, S.181
32 ebenda S.181; vgl.: Privatisierter Sinnbegriff: „Sinn ergibt sich als Selektion aus der jeweils zugänglichen materiellen Kultur.“ (S.181)
33 ebenda, S. 184
34 Anm. d. Red.: Seinerzeit regierte eine CDU-FDP-Koalition. Nach dem rot-grünen Regierungswechsel wurde aber weiterhin eine Politik der „gesellschaftlichen Mitte“ fortgesetzt.
35 Ulrich BIELEFELD, FR vom 16.06.1993
36 Albert SCHERR, „Anforderungen an professionelle Jugendarbeit mit ausländischen und gewaltbereiten Jugendlichen“ in: neue praxis, 22. Jg. 1992, Heft 5, S.390

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Von Rolf Winter

Es widert mich an, wie diese Republik mit ihren jungen Neonazis umgeht. Mich widert eine Gesellschaft an, die in bauchiger Sattheit nach rechts sieht und Zeter und Mordio schreit, als wäre nicht in ihrem Schoß entstanden, was sie so lauthals beklagt. Das fraktionsübergreifende Entsetzen in Bonn, die Resolution des Kreistages von Goch an der Goche, die ökumenischen Notgebete. Widert mich an.
Denn ich war einmal da, wo heute die jungen Neonazis sind. Ich bin, wenn Sie so wollen, einer von ihnen. Ich habe einmal am rechten Rand gelebt und den Staat gehasst, der sich aber um uns nicht kümmerte. Er ließ unsere Eltern in Arbeitslosigkeit verkommen. Es interessierte ihn einen Dreck, dass wir hungerten. Er sah kalt zu, wie wir am „sozialen Rand“ vor dem Hauswirt zitterten, der eine Miete – 19 Mark 50 – einforderte, die wir nicht zahlen konnten. Es war ihm gleichgültig, ob wir obdachlos werden würden oder nicht. Er ließ uns allein, grenzte uns aus.
Das liegt sechzig Jahre zurück. Man weiß, was geschah. Wesentlich mit Hilfe derer, die nichts zu verlieren hatten, kam der Halunke an die Macht, mit dem wir dann alles verloren, vor allem unseren Anstand. Das Armengebiet rund um die Lübecker Dankwartsgrube, in der ich damals lebte, gehörte, obschon traditionell kommunistisch oder doch mindestens sozialdemokratisch, zu Hitlers Wegbereitern. Nicht, weil sie Nazi-Programme lasen und gut fanden. Auch nicht, weil sie nach langem Bedenken dem Vorkommnis aus Braunau glaubten. Sie liefen in der Lübecker Dankwartsgrube massenhaft zu den Braunen über, weil sie sich vom Staat verraten und verkauft und vergessen wussten, denn, Ihr bürgerlichen Schreier: Unter Ausgegrenzten wird nicht kühl politisch gedacht, sondern nur noch gehasst, und dieser Hass war damals schrecklich begründet, und er ist es heute ebenso.
Dankwartsgruben gibt es längst wieder. Es gibt sogar, wie uns Kommunalpolitiker besorgt wissen lassen, in den großen Städten Armutsgettos, in denen – lügt Euch nicht in die eigenen Taschen! – nicht nur Ausländer hausen. Es gibt in dieser Wohlstandsgesellschaft, und zwar beschämend massenhaft, Quartiere, in denen Hoffnungslosigkeit daheim ist, Dauerarbeitslosigkeit, Sozialhilfeexistenz und Tristesse als treuester Lebensbegleiter. Den mählichen Verfall der Würde gibt es, die Auflösung von Familien, den Verzweiflungssuff, die Leere des Tages.
In der früheren DDR, die heimgeholt zu haben Herr Dr. Kohl so stolz ist, leben Millionen, die sich von eben diesem Herrn Dr. Kohl mit verdammt guten Gründen belogen und betrogen fühlen. Wo er ihnen ein „blühendes Land“ verhieß, in dem es „niemandem schlechter und vielen besser gehen“ würde, müssen sie nun froh sein, getarnte ABM-Arbeitslose zu sein, oder sie wurden bei null Arbeitszeit auf Kurzarbeit gesetzt, oder sie müssen damit rechnen, von der kaltblütigen Marktpolitikerin Breuel abgewickelt zu werden, oder sie wurden schon abgewickelt und hocken nun in ihrer Plattenbauwohnung, die ihnen – mein Gott, wie zynisch darf man in der deutschen Politik sein? – von Herrn Waigel zum Kauf angeboten wird.
Wenn die da unten von der Absicht des Herrn Dr. Kohl und seines famosen Finanzministers hören, „Einschnitte in das soziale Netz“ vorzunehmen, weil wir ja nun in Ansehung der problembeladenen Wiedervereinigung „alle Opfer bringen“ müssten – welche politischen Gedanken werden wohl da unten gedacht?
Ich kenne diese Gedanken, denn noch einmal und mit Scham: Ich war einmal da unten und Nazikind. Meine Mutter, die sich als Putzfrau zuschanden arbeitete, hatte keinen anderen Wunsch als den, dass Hitler kommen möge, um „kurz und klein zu schlagen“, was sie nicht mehr ertrug – so sehr hasste sie den Reichskanzler von Papen, der, feiner Herr, allmorgendlich durch den Tiergarten in Berlin ritt, aber sie hasste auch die Sozis, die Liberalen und das Zentrum und die Fortschrittlichen, denn sie hasste den Staat, der aufgehört hatte, ein Fürsorger zu sein.
So wurde damals da unten empfunden, und heute ist das nicht anders, und so ist es logisch, denn jede Gesellschaft hat den sozialen Rand, den sie verdient. Wer ausgrenzt, vergisst oder vernachlässigt, zu dem kommen die Ausgegrenzten und Vergessenen und Vernachlässigten hassend und rächend zurück. Wer sich einbildet, die Dauerarbeitslosen und die von Herrn Dr. Kohl infam Betrogenen in der früheren DDR hätten bei Wahlen gefälligst wie wir zwischen CDU und SPD und FDP zu entscheiden und loyale und gesetzestreue und für Radikalisierung immune Staatsbürger zu sein, ist ein politischer Idiot.
Radikalisierung ist das legitime Kind staatlichen Versagens. Nein, um Gottes willen, nein, man darf sie nicht billigen, aber man muss ihre Herkunft begreifen. Nein, nicht eine Sekunde lang dürfen wir Nachsicht mit einem haben, der zuerst Sieg Heil schreit und dann einen Molotowcocktail in das Zimmer wirft, in dem Ausländer schlafen, aber wir haben uns zu fragen, wie er wurde, was er ist. Das ist, was mich anwidert: Dass lauter selbstgerechte Mainstream-Bürger leugnen, den Boden bereitet zu haben, auf dem Radikalisierung möglich war.
Was wir den sozialen Rand nennen, wächst, und, weiß Gott, er wächst rascher als irgend etwas in der Volkswirtschaft. Aber täuscht Euch nicht, Ihr bürgerlichen Ignoranten: Dieser soziale Rand ist Dynamit. Er ist vom Staat hausgemachte Destabilisierung. Macht Euch nichts vor, Ihr bürgerlichen Heuchler: Was da rechts brodelt – das habt Ihr angerichtet!
Denn es ist Wort für Wort wahr, was der Sozialwissenschaftler Professor Ernst-Ulrich Huster konstatiert: „Der wachsende Reichtum unserer Gesellschaft gerät in einen immer stärkeren Kontrast zur ebenfalls zunehmenden Armut.“ Dies ist spätestens seit der Zeit des versehentlichen Sozialdemokraten Helmut Schmidt ein gefühlloser, ein kalter, ein krude neo-kapitalistischer Staat geworden, ein Laisser-faire-Staat, der sich hinter der Verniedlichung „soziale Marktwirtschaft“ bloß noch tarnt. Dies ist ein Raffer-Staat geworden, ein Egoisten-Staat.
Damals, in der Dankwartsgrube in Lübeck, haben sie unsere Eltern verrotten lassen, bis sie folgerichtig nur mehr politische Verrottung im Sinn haben konnten und Vernunft nicht mehr kannten. Sie hassten und zahlten heim.
Wir sind wieder soweit. In den Dankwartsgruben von heute wird wieder gehasst. „Die da oben“ werden wieder verachtet. Die Demokratie ist wieder „Scheiße“. Herr Dr. Kohl ist Herr von Papen, und Herr Engholm ist bloß eine etwas andere Verkörperung des Herrn Dr. Kohl, und das Parlament ist wieder eine „Quasselbude“, und die staatlichen Würdenträger sind wieder „Bonzen“, und in Plattenbauwohnungen in Rostock und in Behausungen von Dauerarbeitslosen wird wieder ersehnt, „alles kurz und klein zu schlagen“.
Es kommen hassvoll-verschlüsselte Notsignale vom sozialen Rand. Es kommen Rufe der Verzweiflung, auch Gesten der Verzweiflung, es geschehen auch schreckliche Taten der Verzweiflung. Aber niemand dechiffriert diese Hilferufe.
Statt dessen fordert die Gesellschaft, Herr Dr. Kohl voran, die Gerichte und die Polizei zu hartem Vorgehen auf, und jedermann ist voll von Abscheu und Empörung.
Ich kann mir nicht helfen: Widert mich an.

Rolf Winter lebt als freier Schriftsteller in Braderup/Sylt. Der Text wurde zuerst in der Zeitschrift TEMPO 1/93 (S. 99 f.) veröffentlicht. Wir danken der TEMPO-Redaktion und Rolf Winter für die freundliche Nachdruckerlaubnis.

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