ABA-BLOG

NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 2 (Alice Miller)

Der Weg aus der Falle

Von Alice Miller

Immer wieder liest man in Zeitungen, es sei bereits statistisch erwiesen, dass die meisten Menschen, die ihre Kinder misshandeln, selbst in der Kindheit misshandelt wurden. Diese Information ist nicht ganz richtig, weil es nicht „die meisten“ sind, sondern alle. Jeder Mensch, der seine Kinder misshandelt, ist selbst in seiner Kindheit in irgendeiner Form schwer traumatisiert worden. Dieser Satz gilt ohne jede Ausnahme, weil es absolut unmöglich ist, dass ein Mensch, der in einer ehrlichen, respektvollen und zugewandten Umgebung aufgewachsen ist, jemals unter dem Zwang stünde, Schwächere zu quälen und lebenslänglich zu schädigen. Er hat einst erfahren, dass es richtig ist, dem kleinen, hilflosen Wesen Schutz und Orientierung zukommen zu lassen, und dieses in seinem Körper und seinem Gehirn früh gespeicherte Wissen wird für ihn lebenslänglich wirksam bleiben. Der oben formulierte Satz gilt ohne Ausnahme, obwohl sehr viele Menschen von den Qualen ihrer Kindheit kaum etwas erinnern können, weil sie gelernt haben, sie als berechtigte Strafe für ihre eigene Schlechtigkeit anzusehen und weil ein Kind schmerzhafte Ereignisse verdrängen muss, um zu überleben. Deshalb schreiben Soziologen, Psychologen und andere Fachleute trotz der neuen Erkenntnisse immer wieder, dass man nicht wisse, wie es zum Kindesmissbrauch käme, und sie spekulieren über den Einfluss enger Wohnverhältnisse, der Arbeitslosigkeit oder der Angst vor der Atombombe.

Mit solchen Erklärungen schützen wir die Taten unserer Eltern. Denn es gibt keinen anderen Grund für Kindesmisshandlungen als die Verdrängung der eigenen erlittenen Misshandlung und Verwirrung. Die engsten Wohnverhältnisse, die größte Armut zwingen einen Menschen niemals zu einer solchen Tat. Nur wer selbst Opfer solcher Taten war und sie in der Verdrängung belässt ist in Gefahr, seinerseits Leben zu zerstören.

Die sogenannten schwierigen, „unerträglichen“ Kinder sind von Erwachsenen dazu gemacht worden. Nicht immer von den eigenen Eltern. Denn die Geburts- und Nachgeburtspraxis in vielen Kliniken liefert oft bereits einen erheblichen Beitrag dazu. Es gibt Eltern, die diese Traumen durch liebevolle Zuwendung ausgleichen können, weil sie sie ernstnehmen und deren Gefahr nicht leugnen. Doch Eltern, die ihre eigenen schwersten Traumen in der Verdrängung halten, bagatellisieren häufig deren Gewicht bei ihren Kindern aus purem Unwissen und leiten unnötig eine neue Kette von Grausamkeit ein. Ihre Unempfindlichkeit für das Leiden des Kindes wird von der Gesellschaft voll unterstützt, weil die meisten Menschen, Fachleute nicht ausgenommen, diese Blindheit mit ihnen teilen.

Das einzige Mittel gegen die Ausbreitung einer Krankheit sind korrekte, gut dokumentierte Informationen über den Krankheitserreger. Misshandelnde Eltern brauchen klare Informationen; sie spüren doch selbst dumpf, dass etwas nicht stimmt, wenn sie ihre Wut am wehrlosen Kind auslassen oder ihre sexuellen Wünsche bei ihm befriedigen. Statt dies ernst zu nehmen, reden die Fachleute um den Brei herum, denn sie fürchten, die Eltern könnten Schuldgefühle bekommen, und dies dürfte ja, so meinen sie fälschlicherweise, auf keinen Fall geschehen.

Diese Meinung, man dürfe die Eltern niemals beschuldigen, was auch immer sie getan haben, hat sehr viel Unheil angerichtet. Denn wie sieht es in der Realität aus? Mit dem Zeugungsakt gehen die Eltern eine Verpflichtung ein, für das Kind zu sorgen, es zu beschützen, seine Bedürfnisse zu erfüllen und es nicht zu missbrauchen. Wenn sie diese Schuld nicht abzahlen, bleiben sie dem Kind tatsächlich etwas schuldig, genauso wie sie der Bank etwas schuldig geblieben sind, wenn sie dort ein Darlehen aufgenommen haben. Sie bleiben haftbar, unabhängig davon, ob ihnen die Folgen ihres Tuns klar sind oder nicht.

Darf man ein Kind auf die Welt bringen und die Verpflichtungen vergessen? Das Kind ist kein Spielzeug, kein Kätzchen, sondern ein Bündel von Bedürfnissen, das sehr viel Zuwendung braucht, um seine Möglichkeiten zu entfalten. Wenn man nicht bereit ist, ihm das zu geben, muss man keine Kinder haben. Diese Worte mögen hart klingen für Menschen, die diese Zuwendung niemals erfahren haben und sie daher nie ihren Kindern geben konnten. Für diejenigen, die in ihrer Kindheit Schutz und Zärtlichkeit bekommen haben, die daher selbst nicht ausgehungerte Kinder sind, klingen sie nicht hart. Sie sind für sie die banalste Selbstverständlichkeit.

Ein Kind zu schlagen, zu demütigen oder sexuell zu misshandeln ist ein Verbrechen, weil es einen Menschen lebenslänglich schädigt. Es ist wichtig, dass dies auch Drittpersonen wissen, weil die Aufgeklärtheit und der Mut der Zeugen eine entscheidende, lebensrettende Bedeutung für das Kind haben können. Aus der Tatsache, dass jeder Täter früher selbst einmal ein Opfer gewesen ist, folgt nämlich nicht, dass jeder Mensch, der selbst misshandelt wurde, später notwendigerweise zum Misshändler seiner Kinder wird. Dies muss nicht unbedingt der Fall sein, wenn er in seiner Kindheit die Chance hatte, und sei es nur ein einziges Mal, einem Menschen zu begegnen, der ihm etwas anderes als Erziehung und Grausamkeit vermittelte: einem Lehrer, einer Tante, einer Nachbarin, einer Schwester, einem Bruder. Erst durch die Erfahrung des Geliebt- und Geschätztwerdens kann das Kind Grausamkeit als solche überhaupt ausmachen, sie wahrnehmen und sich gegen sie auflehnen. Ohne diese Erfahrung kann es gar nicht wissen, dass es etwas anderes als Grausamkeit in der Welt überhaupt geben kann, es wird sich ihr ohne weiteres unterwerfen und sie als die normalste Sache später ausüben, wenn es selbst als Erwachsener an der Macht ist.

Menschen, die Hitler geholfen haben, sein Werk auszuführen und ganze Völker auszurotten, mussten als Kinder Ähnliches wie er erfahren haben: die ständige Präsenz der Gewalt. Daher war die Haltung des Führers für sie selbstverständlich. Sie wurde gar nicht in Frage gestellt, weil in der ganzen Kindheit offenbar kein einziger Mensch, kein einziger wissender, aufgeklärter Zeuge vorhanden war, der das Kind in Schutz genommen hätte. Ein solcher Zeuge hätte dem Kind unter Umständen geholfen, seine Wahrnehmungsfähigkeit und seinen Charakter zu retten. Um Grausamkeit zu erkennen, sie eindeutig abzulehnen, sie den eigenen Kindern ersparen zu wollen, muss man sie als solche überhaupt wahrnehmen. Streng und grausam erzogene Kinder durften das nicht, sie mussten für die Behandlung ihrer Eltern dankbar sein, ihnen alles verzeihen, die Ursache der Ausbrüche immer bei sich selbst suchen und durften auf keinen Fall die Eltern in Frage stellen.

Was geschieht, wenn ein in Liebe, Schutz, Ehrlichkeit aufgewachsenes Kind plötzlich von einem Menschen geschlagen wird? Es wird schreien, seinen Zorn ausdrücken, schließlich weinen, die Schmerzen zeigen und vermutlich fragen: Warum tust du mir das an? Nichts von alledem ist möglich, wenn ein von Anfang an zu Gehorsam dressiertes Kind von seinen eigenen Eltern, die es liebt, geschlagen wird. Es muss den Schmerz und den Zorn unterdrücken und die ganze Situation verdrängen, um zu überleben. Denn um Zorn zeigen zu können, braucht es das Vertrauen und die Erfahrung, dass es dafür nicht umgebracht wird. Ein geschlagenes Kind kann dieses Vertrauen nicht aufbauen; tatsächlich werden Kinder manchmal umgebracht, wenn sie es wagen, sich gegen das Unrecht aufzubäumen. Das Kind muss also seine Wut unterdrücken, um in einer feindseligen Umgebung zu überleben. Auch den massiven, überwältigenden Schmerz muss es unterdrücken, um nicht daran zu sterben. Nun senkt sich also über alles die Stille des Vergessens, die Eltern werden idealisiert, sie haben nie einen Fehler begangen. „Und wenn sie mich geschlagen haben, dann habe ich das verdient.“ Das ist die geläufige Version der überstandenen Folter.

Vergessen und Verdrängen wären eine gute Lösung, wenn es dabei sein Bewenden hätte. Aber die verdrängten Schmerzen blockieren das Gefühlsleben und erzeugen körperliche Symptome. Und was das Schlimmste ist: die Gefühle des misshandelten Kindes sind zwar zum Schweigen gebracht worden, da wo sie begründet waren, nämlich bei denen, die den Schmerz verursachten, aber sie melden sich zu Wort bei den eigenen Kindern. Es ist, als ob diese Menschen jahrzehntelang in einer Falle säßen, aus der keine Türe hinausführt, weil die Wut auf die eigenen Eltern in unserer Gesellschaft verboten ist. Doch mit der Geburt der eigenen Kinder öffnet sich eine Türe: Dort kann sich die seit Jahren aufgestaute Wut rücksichtslos entladen, unglücklicherweise an einem kleinen hilflosen Wesen, das man quälen muss, oft ohne es zu merken; man wird von einer unbekannten Macht dazu getrieben.

Die Tatsache, das Eltern ihre Kinder oft in der gleichen Art misshandeln oder vernachlässigen, wie ihre eigenen Eltern es mit ihnen taten, auch (und gerade dann!) wenn sie sich an diese Zeiten gar nicht mehr erinnern, zeigt, dass sie in ihrem Körper die eigenen Traumen gespeichert haben. Sonst könnten sie sie gar nicht reproduzieren. Sie tun es mit einer verblüffenden Präzision, die deutlich wird, sobald sie bereit sind, ihre eigene Hilflosigkeit zu fühlen, anstatt sie gegen eigene Kinder abzureagieren und ihre Macht zu missbrauchen.

Wie soll eine Mutter alleine diese Wahrheit herausfinden, wenn die Gesellschaft ihr eindeutig sagt: Kinder müssen diszipliniert, sozialisiert und zum Anstand erzogen werden? Wen kümmert es, dass der sogenannte „Mut zur Erziehung“ von einer jahrzehnte alten, früher nie gelebten Wut auf die eigene Mutter angetrieben wird? Die junge Frau will es auch nicht wissen. Sie denkt: Ich habe die Pflicht, mein Kind zu disziplinieren, und tue das in genau der gleichen oder in einer ähnlichen Art, wie meine Mutter es bei mir getan hat. Und es ist doch schließlich auch aus mir etwas Rechtes geworden, nicht wahr? Ich habe meine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen, habe mich in der Kirchenarbeit und in der Friedensbewegung engagiert, habe mich immer gegen das Unrecht eingesetzt. Nur bei meinen Kindern konnte ich es nicht verhindern, dass ich sie schlagen musste, obwohl ich das gar nicht wollte; aber es ging eben nicht anders. Ich hoffe, es hat ihnen nicht geschadet, genau wie es mir nicht geschadet hat.

Wir sind an solche Sätze so gewöhnt, dass sie den meisten gar nicht auffallen. Aber es gibt bereits einzelne Menschen, denen sie doch auffallen, Menschen, die sich entschlossen haben, die Worte der Erwachsenen von der Perspektive des Kindes aus zu hinterfragen, die dabei neue Entdeckungen machen und die die Klarheit nicht mehr fürchten. Sie sehen: Die Zerstörung des Menschenlebens darf nicht als „ambivalente Elternliebe“ bezeichnet werden, sondern muss als das, was sie ist, erkannt werden: als ein Verbrechen. Die Schuldgefühle der Eltern müssen nicht ausgeredet, sondern ernstgenommen werden. Sie sind ein Hinweis darauf, dass etwas den Eltern geschehen ist und dass sie Hilfe brauchen. Und diese Hilfe werden sie aufsuchen, wenn die bisher einzige offene Türe, die leider zu Kindesmisshandlungen führt, durch die Rechtslage endlich geschlossen wird. Dann müssen die Eltern eine andere Türe suchen: Sie müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um ohne Schuld aus ihrer emotionalen Falle herauszukommen.

Erst wenn das Kind nicht mehr als legaler Sündenbock zur Verfügung steht, wird dieser wirklich befreiende Prozess den Eltern ermöglicht. Ein misshandelnder Vater muss ja nicht mit Gefängnis bestraft werden. Es ist zum Beispiel eine gerichtliche Anordnung denkbar, die verfügt, dass ein Vater für einige Monate seine Familie verlassen und doch deren Unterhalt sichern muss. Wenn der Vater, plötzlich allein gelassen, sich mit den Gefühlen der eigenen Kindheit konfrontiert sieht und dann einem wissenden Zeugen (vielleicht in der Person eines gut informierten Sozialarbeiters) begegnet, der ihm hilft, seine damalige Situation nicht mehr zu verdrängen, dann wird dieser Vater nach seiner Rückkehr kaum in Gefahr sein, sein Kind zu misshandeln. Und sein Kind wird die wichtige prägende Erfahrung machen, dass es nicht in einem Dschungel aufgewachsen ist, sondern in einer humanen Gesellschaft, die sein Recht auf Schutz wirklich ernstnimmt und respektiert.

Eine Gefängnisstrafe kann eine innere Wandlung nicht herbeiführen. Aber auch Therapeuten, die unter dem Motto „Helfen statt Strafen“ der Wahrheit ausweichen, können ebenso wenig helfen, die Haltung der Eltern zu verändern. Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass ein Verbot der Misshandlung nur eine neue Form der Gewalt wäre. Also müsse man Verbrechen nicht klar benennen, solange sie an eigenen Kindern begangen werden, sonst würden sich die Eltern gekränkt fühlen und sich schließlich noch auf Kosten des Kindes rächen. So äußern sich Vertreter der Ärzteschaft und des Kinderschutzbundes beinahe einstimmig.

Trotzdem sind sie im Irrtum, und aus ihren Argumenten spricht die Angst des einst bedrohten Kindes, das sich mit den Eltern arrangieren möchte und darum zum Schweigen und Nicht-Merken bereit ist. Die Realität gibt ihnen nicht recht. Die skandinavischen Länder haben bereits die Anzeigepflicht für Ärzte in ihrem Gesetz verankert, und der Bevölkerung ist es dank diesem Gesetz klargeworden, dass die Rechte der Kinder nicht missachtet werden dürfen. Meine Erfahrung hat mich außerdem gelehrt, dass manche Eltern auf die Wahrheit besser reagieren als auf Beschwichtigung und dass sie von korrekten Informationen profitieren können. Denn jeder Mensch, der sich in einer Falle befindet, sucht einen Ausweg. Aber er ist im Grunde froh und dankbar, wenn man ihm einen Ausweg zeigt, der nicht in die Schuld und nicht zur Zerstörung eigener Kinder führt. Eltern sind in den meisten Fällen keine Ungeheuer, die man mit Sprüchen beschwichtigen muss, damit sie nicht schreien, sondern oft verzweifelte Kinder, die erst lernen müssen, Realitäten zu sehen und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Sie konnten es als Kinder nicht lernen, weil ihre Eltern diese Verantwortung nicht kannten. Sie missverstanden sie als ein Recht auf den Missbrauch ihrer Macht. Nun liegt es an den jungen Eltern, diese „Lehren“ als unbrauchbar zu erkennen und aus der Erfahrung mit ihren Kindern zu lernen. Doch dieser neue Prozess kann nur stattfinden, wenn es auch für die Gesetzgebung eindeutig klar ist, dass Kindesmisshandlung einen Menschen lebenslänglich schädigt und dass dieser Schaden keineswegs durch das Nichtwissen des Täters vermindert wird. Nur durch die Aufdeckung der vollen Wahrheit bei allen Beteiligten kann eine wirklich effektive Lösung für die Gefahren von Kindesmisshandlungen gefunden werden.

Das Buch „Untertan Kind“ von Carl-Heinz Mallet zeigt, wie Pädagogen seit Martin Luther die Eltern dazu aufgerufen haben, an Gottes Stelle ihre Kinder zu züchtigen und zu bestrafen. Die Lektüre dieses Buches kann den heutigen Eltern helfen, zu verstehen, weshalb sie sich in einer emotionalen Falle befinden und welchen Preis sie und ihre Kinder zu bezahlen haben, wenn sie sich an die überlieferten Werte der Erziehung halten. Die Folgerung mag paradox klingen und ist dennoch korrekt: Der bisher legale Ausweg aus der Falle, die Züchtigung des Kindes, führt zum Verbrechen, und der bisher verbotene Weg des Merkens und der Kritik an den eigenen Eltern führt aus der Verschuldung heraus und zur Rettung unserer Kinder. Mallets Buch kann sehr hilfreich sein für Eltern, die meine Bücher nicht kennen und die hier zum ersten Mal mit Entsetzen feststellen werden, was ihnen einst zugefügt wurde und was sie in ihrer Blindheit weitergaben. Mit diesem Entsetzen aber öffnet sich bereits die Türe aus der zwanghaften Zerstörung des Lebens in die Freiheit und Verantwortung.

Anm. der Red.: Vorstehender Artikel wurde uns dankenswerterweise vom Suhrkamp Verlag und Alice Miller zur Verfügung gestellt. Er erschien zuvor als Anhang in Alice Millers Buch: „Das verbannte Wissen“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988 und 1990.

aus: DER NAGEL 54/1992

NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 2 (Alice Miller) Read More »

NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 1 (Alice Miller)

Warum brauchen wir unbedingt ein gesetzliches Verbot der Kinderzüchtigung?

Von Alice Miller

In einem langen Leserbrief an eine der größten deutschen Zeitungen, der im Dezember 1991 publiziert wurde, schreibt ein Dr. theol. unter dem Titel „Pauschalverbot von Körperstrafe bibelwidrig“ unter anderem folgendes:

„Als evangelischer Christ, Theologe und Vater von sechs Kindern sehe ich mich veranlasst, gegen die jüngste Gesetzesinitiative im Bundestag zum Verbot von ‚Prügeln, Ohrfeigen und Liebesentzug‘ entschieden Widerspruch anzumelden. … Wer jede Form von Körperstrafe unterschiedslos unter Strafe stellt, nivelliert den pädagogisch fundamentalen Unterschied zwischen Kindesmisshandlung und einer von klaren erzieherischen Grundsätzen geleiteten maßvollen körperlichen Züchtigung, die auf das Beste des Kindes zielt und nicht vom Affekt bestimmt ist. … Die Gesetzesinitiative der Kinderkommission greift in eklatanter Weise in das grundrechtlich geschützte elterliche Erziehungsrecht ein. … In der Sicht der christlichen Ethik ist der Vorstoß der Kinderkommission vollends verwerflich. Niemand kann bestreiten, dass das biblische Ethos aus grundsätzlichen Gründen körperliche Züchtigung bejaht, solange sie maßvoll ist und im Dienst erzieherischer Liebe steht (z.B. Hebräer 12, 6 – 11 und Sprüche Salomon 13, 24). Ein Staat, der christlichen Eltern jede Form von Körperstrafe verbietet, greift ein von Gott gegebenes, vorstaatliches Recht an und schränkt nicht nur das elterliche Erziehungsrecht, sondern auch die grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit ein!“ 

Der ungekürzte Text dieses Briefes wurde mir von einigen Lesern zugeschickt, die empört und beunruhigt darüber waren, dass die „Schwarze Pädagogik“ in dieser krassen und extremen Form heute immer noch öffentlich in einem angesehenen Blatt propagiert werden kann. Eine der Leserinnen stellte sich die Frage, wie es wohl möglich sei, dass dieser Vater von keinem seiner sechs Kinder etwas über Erziehung hätte lernen können, das über die Weisheit Salomos hinausginge. Ich meine, dass der vorliegende Text selbst die Antwort auf diese Frage enthält und uns auch indirekt zu verstehen hilft, weshalb sich ohne ein gesetzliches Verbot der Züchtigung kaum etwas Entscheidendes im Bewusstsein der breiten Bevölkerung ändern wird. Ich will meine Behauptungen im folgenden erläutern.

Ein von einem Auto tödlich verletzter Fußgänger ist tot, ganz unabhängig davon, wer ihn überfahren hat. Er wird nicht auferstehen, wenn es sich herausstellt, dass er nicht von einem fahrlässigen Betrunkenen oder einem gefährlichen Verbrecher, sondern von einer freundlichen kurzsichtigen Dame, ganz ohne böse Absicht, überfahren wurde oder gar von einem Philosophen oder Religionsfanatiker, der sich das Recht herausnimmt, die Rotlichter in der Stadt nach eigenem Gutdünken zu befolgen, und das Gebot, sie zu respektieren, als Meinungsdiktatur bezeichnet. Die Gefahr des verantwortungslosen Philosophierens und Handelns, gepaart mit schönklingenden Worten, besteht auch auf dem Gebiet der Erziehung. Das Verbot, Kinder zu schlagen, muss daher endlich, wie ein warnendes Rotlicht, zum Schutz unserer Kinder und der nachfolgenden Generationen eingeführt werden. Es besteht nämlich absolut kein Unterschied zwischen einer Züchtigung und einer Misshandlung. Jede Züchtigung ist nichts anderes als eine Misshandlung, weil sie die Integrität eines wachsenden Organismus verletzt und dadurch lebenslängliche, oft katastrophale Folgen hat. Dieser nachhaltige Schaden wird nicht dadurch vermindert, dass die Eltern nach ihrem „besten Wissen und Gewissen“ gehandelt haben, angesehen davon, dass dieses „Wissen“ sehr häufig hoffnungslos und unentschuldbar veraltet ist. Der Schaden bleibt bestehen, und die wohlmeinende Ahnungslosigkeit der Eltern wird daran ebenso wenig etwas ändern können wie die Philosophie des Autofahrers am Tod des Fußgängers. Daher ist es höchste Zeit, dass Eltern sich heute richtig informieren, statt im Namen der „erzieherischen Liebe“ die Bibel zu zitieren und sich auf unsere Vorfahren vor 3000 Jahren berufen, die unser heutiges Wissen über die Konsequenzen des Kinderschlagens und verbalen Demütigens leider noch nicht besaßen.

Keines der sechs Kinder konnte seinem Vater, dem Autor des oben zitierten Textes, helfen, die Wahrheit zu erkennen, weil alle, so steht zu vermuten, nach den von ihm so klar geschilderten Prinzipien erzogen wurden. Kinder, die gezüchtigt werden, können die Meinung ihrer Eltern nicht in Frage stellen, sie können sie nicht korrigieren, ohne die größten Gefahren oder gar das Leben zu riskieren. Sie sind daher zum Schweigen und zum Nicht-Merken verdammt. Sollten sie „ausfällig“ werden, drohen ihnen noch grausamere Strafen, also bleibt den meisten von ihnen nichts anderes übrig als Folgsamkeit und Anpassung, auf Kosten ihrer eigenen Kinder später und auf Kosten ihrer Gesundheit ? wenn ihnen nicht rechtzeitig „wissende Zeugen“ zu Hilfe kommen.

Das ist der Grund, weshalb die Überzeugung, dass körperliche und verbale Züchtigungen unschädlich und segensreich seien, immer noch so stark verbreitet ist: Sie wurde den meisten Menschen in den frühesten Jahren eingeimpft. Die Wahrheit zu realisieren, ist ohne Schmerzen kaum möglich, weil man zugleich realisieren müsste, dass man unnötig gequält und geschädigt wurde. Um diesen Schmerz nicht fühlen zu müssen, ziehen es viele Menschen vor, diese Wahrheit zu leugnen und weiter zu behaupten, die Züchtigung diene dem Wohle des Kindes und hätte auch ihnen selbst gute Dienste erwiesen. Sie berufen sich dabei auf die Bibel und ignorieren, was die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten entdeckt hat. Wollte man heute bei einer bakteriellen Entzündung die Entdeckung Pasteurs ignorieren, würde das als verantwortungslos gelten, aber Kinder zu schädigen, weil man sie getreu den Sprüchen Salomos erzieht und alles andere als bibelwidrig ablehnt, weil man sich nicht informieren will, ist immer noch erlaubt. Dieser Zustand muss sich so schnell wie möglich ändern. Nicht die Meinung, sondern die Information muss wie die Verkehrsregeln jedem Bürger mit Hilfe des Gesetzes aufgezwungen werden, weil die Weigerung, sich zu informieren, zerstörerische Folgen für die Mitmenschen hat.

Es ist nicht wahr, dass eine affektlose Züchtigung, angeblich zum Wohle des Kindes, weniger Schaden anrichtet als das Schlagen im Affekt. Zum körperlichen und seelischen Schmerz über die Demütigung kommt im ersten Fall die langzeitige, verheerende Wirkung der Heuchelei hinzu, die das Kind meistens nicht durchschauen kann, weil es die Eltern liebt und ihnen vertraut. Sie hinterlässt beim Opfer das absurde, aber sehr hartnäckige Gefühl, dass es an der Misshandlung selber schuldig gewesen sei und dass sein Verfolger ihm aus edelsten Gründen, aus „erzieherischer Liebe“, nichts anderes als ein Massaker bescherte. Diese verhängnisvolle Verwirrung, die eine spezifische Blindheit für offensichtliche Tatsachen erzeugt, lässt sich später kaum ohne tiefgreifende, aufdeckende Therapie auflösen und wird den Erwachsenen, das ehemalige Kind, dazu treiben, das Erfahrene zu legitimieren und es an Unschuldigen abzureagieren, ebenfalls mit der heuchlerischen Versicherung, dies geschehe ja nur zum Besten des Kindes. Natürlich kann sich der verdrängte latente Hass auch in verschiedenen nationalistischen Ideologien, in der Kriminalität, in Kriegen oder anderen Perversionen Luft machen, erneut versehen mit der Etikette der „Erlösung“ des anderen durch Unterdrückung und Zerstörung. Bei allen Diktatoren ist diese heuchlerische Etikette vorzufinden. Sie dient unter anderem der Tarnung der eigenen wahren Geschichte.

Wenn Eltern ihr Recht auf die Züchtigung ihrer Kinder reklamieren, dann reklamieren sie im Grunde, meistens unbewusst, das Recht, sich für das zu rächen, was ihnen einst angetan wurde, und was sie niemals als Verbrechen zu sehen wagen. Ein neues Gesetz würde das Verbrecherische der vergangenen Taten, an denen unsere Tradition reich ist, entlarven. Aber auch das wollen seine Kritiker nicht. Doch einmal muss die Kette der Gewalt endgültig durchbrochen werden. Wir leben in einer Tradition der Kindesmisshandlungen, doch die Mehrheit ist sich dessen noch kaum bewusst. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Kindermord verboten ist. Wir müssen das zerstörerische Handeln als das, was es ist, erkennen und uns davon distanzieren, statt es zu verharmlosen und zu perpetuieren ? wenn wir nicht am Unglück unserer Kinder und Kindeskinder aus purer Unwissenheit schuldig werden wollen. Wir sind nicht mehr wie im Mittelalter zur Ignoranz verdammt. Wir können sie zwar wählen, aber wir können sie auch ablehnen. Unsere Ignoranz wird unsere Schuld jedenfalls nicht vermindern.

Das neue Gesetz kann all den vielen Millionen Menschen, die einst lernen mussten, Grausamkeit und Brutalität als normal zu bezeichnen, und die ihre Kinder daher nicht achten können, wie ein Rotlicht helfen, sich zu orientieren und die Gefahr wahrzunehmen. Es kann ihnen signalisieren: „Halt! Was Du jetzt so leicht, so ’spontan‘, so ‚automatisch‘ tun willst, ist absolut unzulässig, weil es erwiesenermaßen lebenslange Schäden bewirkt, weil es Dein Kind zum seelischen Krüppel macht. Du zerstörst lebenswichtige Funktionen eines sich im Wachstum befindenden Menschen: seine Gefühle, seine Fähigkeit, sich aufgrund seiner Gefühle zu orientieren, sein Bewusstsein, sein Vertrauen zu anderen und zu seinen Wahrnehmungen, seine Lebensfreude. Du zerstörst oder pervertierst seinen gesunden Sinn für das, was richtig und gut ist, seine Fähigkeit, sich einzufühlen, Schwächere (d.h. später seine Kinder) zu achten und zu beschützen – all die Fähigkeiten, die er seinem biologischen Auftrag verdankt. Denn dieser heißt, zu leben und das Leben zu beschützen, es nicht zu zerstören.“

Glücklicherweise wächst heute die Zahl der Eltern, die diesem Auftrag gerecht werden wollen und ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie sich informieren. Auch sie werden Fehler nicht immer vermeiden können. Aber sie sind entschlossen, sich für diese bei ihrem Kind zu entschuldigen, um es nicht zu verwirren, d.h. es niemals nach dem Muster der „Schwarzen Pädagogik“ glauben zu machen, dass die eigenen Fehler für das Kind „gut seien“. Ihnen wird das neue Gesetz ebenfalls helfen, ihre Wahrnehmungen und Ahnungen ernst zu nehmen und ihren Kindern beizustehen. Es wird die Bedingungen für eine besser aufgeklärte und daher humanere und friedlichere Welt schaffen.

aus: DER NAGEL 54/1992

 

NAGEL-Redaktion: Der Artikel wurde uns 1992 vom Suhrkamp Verlag und Alice Miller zur Veröffentlichung im NAGEL zur Verfügung gestellt.

In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weist 2004 darauf hin, dass Züchtigungen in Familien deutlich zurückgegangen seien. Dazu hat gewiss nicht nur eine inzwischen geänderte Gesetzeslage beigetragen, sondern auch Menschen wie Alice Miller. Ein Treppenwitz der gesetzlichen Entwicklung soll hier allerdings festgehalten bleiben: Viele Jahre lang wurde zur Veränderung des BGB diskutiert. Kinderschutzbund und andere verlangten eine Präzisierung des Paragraphen 1631 in seinem zweiten Satz hieß es bis 1996: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“ Quasi: „Schlechtes Wetter finden wir ziemlich blöd.“

Die seinerzeitige Kohl-Regierung brachte dann die Veränderung: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Es besteht der Verdacht, dass Eltern möglicherweise durch eine solche Präzisierung unter das Kuratel ihrer Kinder geraten könnten. Von daher wurde noch ein dritter Absatz angehängt: „Das Familiengericht hat Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.“ Kinder bleiben außen vor! Sie haben nach wie vor allenfalls die Möglichkeit, über den Umweg des KJHG Möglichkeiten zu finden, sich unerträglichen Eltern zu entziehen. Ein langer Weg!

Und hier die Pointe des Treppenwitzes: Manche erinnern sich noch an Claudia Nolte, Kohls jüngste Ministerin, jünger als Angela Merkel in ihren Mädchen-Tagen, zuständig für das Ressort Familie und Kinder. Sie plapperte in der Presse am 30. Juni 1996, also einen Tag, bevor die Gesetzesnovelle in Kraft trat, sie würde trotzdem ihr Kind schlagen. Unter dem Thema „Die Hand ausrutschen“ gab sie an:: „Ich glaube, ein Klaps auf den Po muss schon mal sein. Aber niemals ins Gesicht, und niemals im Affekt!“ Wie Alice Miller schon sagte: Kühl kalkuliert und wohl geplant! Ein echtes Vorbild, gewissermaßen!

Die Schröder-Regierung hat dann eine erneute Präzisierung vorgenommen. Seit 2001, infolge des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt“ lautet der zweite Absatz des Paragraphen 1631 im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Endlich wurde auch erkannt, dass es „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen“ gar nicht geben kann. Wenn wir schon nicht „antipädagogisch“ denken und, wie Gerichte es tun, der Pädagogik lediglich hehre Absichten unterstellen, kann Entwürdigung schlicht kein Programm sein, Frau Nolte, Sie Klapserin!

Aber auch Schröders Regierung hat nicht den Mumm ? vielleicht findet sie es auch nicht wichtig oder sie wurde von einer Clique von Psychotherapeuten bestochen, wer weiß es schon? ?, den dritten Absatz dahingehend zu nivellieren, dass das Familiengericht Eltern und Kinder zu unterstützen hat.

Für Nichtfachleute zitieren wir hier noch den ersten Absatz des Paragraphen 1631: „Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.“

Und abschließend: Die Schröder-Leute haben 2001 die „Pflicht“ vor das „Recht gestellt“.

NAGEL-Redaktion, im August 2004

NAGEL-Redaktion – Züchtigung von Kindern 1 (Alice Miller) Read More »

NAGEL-Redaktion – 10. Kinder- und Jugendbericht

Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen 
in Deutschland (1998)

Von Rainer Deimel

Thema: „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“

„Die sehr allgemein gehaltenen Empfehlungen richten sich im wesentlichen an die Kommunen … Der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung kommt … steigende Bedeutung zu … Die Bundesregierung sieht … als wünschenswert an, die kinderbezogenen Angebote wie unter anderem Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze, musikalische Früherziehung, Kinder- und Jugendkunstschulen, Kinder- und Jugendtheater, Kinderkinos, Kindermuseen, Spielmobile flächendeckend zu verstärken … Die Bundesregierung stimmt der Kommission zu, wenn sie feststellt: ‚Im Stadtteil, in der Region ist es möglich, integrierte Gesamtkonzepte zu verwirklichen, die den unterschiedlichen Bedarf berücksichtigen und von den Bedürfnissen der Kinder ausgehen.'“

Vorstehende Auszüge sind der Stellungnahme der alten Bundesregierung entnommen, die diese zum Thema „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“ abgegeben hat. Deutlich wird eine Argumentationslinie, die in den vergangenen Legislaturperioden bezüglich der Kinder- und Jugendpolitik kennzeichnend für die Kohl-Administration war: „Wir beschließen feine Gesetze, nur bezahlen müssen andere.“ So ist es denn auch Wunder, dass die Kommission immer wieder feststellen muss, dass in unzureichendem Maße Mittel bereitgestellt würden: Sie konstatiert, dass die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Mittel bei weitem nicht ausreichen (vgl. S. 230). Oder sie beruft sich auf THOLE (vgl. S. 224), der gar von einer „ökonomisch katastrophalen Gesamtlage“ spricht, die in ihrer Auswirkung dazu führe, dass die Kommunen darauf bedacht seien, ihre Haushalte dadurch zu entlasten, dass sie vor allem an jenen Leistungen zu sparen versuchten, welche gesetzlich nicht (detailliert) festgeschrieben, dementsprechend finanziell mangelhaft ausgestattet seien und von einer festen Etatisierung ausgegrenzt blieben. Wir erleben es auch in der Argumentationspraxis vor Ort: Trotz anderslautender Gesetzesgrundlage scheint den kommunal Verantwortlichen der wenig korrekte Begriff der „freiwilligen Leistungen“ nur allzu leicht über die Lippen zu gehen. Auch diese These findet ihre Bestätigung im 10. Kinder- und Jugendbericht (vgl. z.B. S. 223). Die Autoren des Kinder- und Jugendberichts bestätigen meine vorgetragene These, dass die Argumentation für die in den letzten 25 Jahren entwickelten Konzepte der Offenen Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit insofern schwieriger geworden ist, als es kaum noch fachliche Reibungspunkte gibt, ein Diskurs somit nicht mehr stattfindet. PolitikerInnen jedweder Couleur stimmen genannten Konzepten unisono – zum Teil mit unübersehbarer Vehemenz – zu. Der 10. Kinder- und Jugendbericht spricht von „breiter Zustimmung zur Arbeit mit Kindern und zur Kinderkulturarbeit sowie zu ihren Leistungen für das Aufwachsen von Kindern.“ (vgl. S. 230) Diskursvermeidend ist der lapidare Verweis auf nicht vorhandene öffentliche Mittel, um sich die gesetzlich vorgeschriebenen – und, wie erwähnt, oft „freiwillig“ genannten – Leistungen noch „erlauben“ zu können. Hier schließt sich der Kreis. Eben jene Bundesregierung muss für die genannte Situation zumindest mitverantwortlich gemacht werden. Immerhin hat sie in keiner Weise dazu beitragen, ihren Teil zur Konsolidierung der Haushalte unterhalb der Bundesebene zu leisten; im Gegenteil hat sie solche Steuern abgebaut, an denen zuvor die kommunalen Haushalte partizipierten.
Diese Zusammenhänge sind möglicherweise komplizierter als die augenscheinlich zunehmende Verarmung von Kindern, die der Bericht ebenfalls aufzeigt. Die frühere Familienministerin Nolte war wohl deshalb auch bemüht, letztgenannte Zusammenhänge schönzureden, da diese immerhin im populistischen Sinne besser genutzt werden können, während die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe eher die Fachwelt berühren, auch wenn die EndverbraucherInnen, nämlich Kinder und Familien, ummittelbare Auswirkungen dieser kinder- und familienfeindlichen Politik zu spüren bekommen. Immerhin liegt mir ein Schreiben von Frau Noltes Vorgängerin, Angela Merkel, vor, in dem diese mitteilen lässt, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe keineswegs als „freiwillig“ interpretierbar sind.
Die fachlichen Positionen, die die Verbände der Offenen Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit in den letzten Jahren entwickelt und vertreten haben, finden z.T. auf breiter Ebene Bestätigung durch den Kinder- und Jugendbericht. Im nachfolgenden soll versucht werden, einige Inhalte, die die Kommission unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Lothar Krappmann (Berlin) und unter der Geschäftsführung des Deutschen Jugendinstituts (München), mit großer Akribie zusammengestellt hat, nachzuskizzieren.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema „Partizipation“ – auch im einfordernden Sinne – durch den Bericht. Das gilt auch für das hier zur Diskussion stehende Kapitel „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“. Der Bericht beschreibt einmal mehr den Wandel der Kindheit in den letzten Jahr(zehnt)en: Aktivitäten von Kindern sind – auch – nach außen gerichtet. Dabei geht es weniger um das Außenspiel, wie es etwa vor zwanzig bis dreißig Jahren noch üblich war, als vielmehr um das Bedürfnis, sich in organisierten Zusammenhängen betätigen zu können. Man denke beispielsweise an das gern kolportierte (Vor-)Urteil, Kinder in ländlichen Gebieten brauchten keine organisierten Angebote; sie spielten im Wald. Vor diesem Hintergrund sind die Kinder- und Jugendarbeit wie die Kinderkulturarbeit in besonderem Maße gefordert, wenn „das Feld“ nicht ausschließlich dem Kommerz überlassen werden soll. Es gibt auch Kinder, die sich in mehr oder weniger festen Peergroups aufhalten und wechselnde Treff- und Betätigungsmöglichkeiten suchen. Differenziert werden muss auch nach Altersstufen: je älter die Kinder, um so größer der offenkundige Wunsch nach vielfältigen Aktionsradien; jüngere hingegen sind eher auf feste „Anlaufstationen“ angewiesen. Feststellbar ist allerdings auch, dass hier ein Wandel stattfindet. In zunehmendem Maße „kopieren“ jüngere Kinder die älteren, sprich, das „typische“ Freizeitverhalten der Postmoderne wird mit steigender Tendenz von jüngeren Kohorten übernommen; zumindest ist dieser Trend erkennbar. Auffallend ist auch, dass viele Kinder in Vereinen organisiert sind (in Westdeutschland 70 Prozent, in Ostdeutschland 50 Prozent bzw. 80 Prozent aller Kinder laut Deutschem Jugendinstitut). Daraus können allerdings keine Rückschlüsse auf ein tatsächliches Vereinsengagement gezogen werden; Kinder nutzen Vereine als Freizeitmöglichkeit. Auf das zunehmende Interesse an kommerziellen Angeboten wird in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen, auch auf deren Konkurrenzeffekte, Grenzen und ggf. Gefährdungen.

Im institutionalisierten Rahmen lässt sich Arbeit mit Kindern innerhalb der Kinderverbandsarbeit, die oft ein Anhängsel der Jugendverbandsarbeit darstellt, der Offenen Arbeit und der Kinderkulturarbeit ausmachen. Der Bericht zeigt auf, dass Kindern in der Verbandsarbeit keine besondere Bedeutung zukommt und die Arbeit mit Kindern nur einen geringen Stellenwert hat. Beschrieben wird ferner, dass die Angebote der Verbandsarbeit vor allem für ältere Kinder wenig attraktiv seien. Dementsprechend wird gefordert, „ein den veränderten Anforderungen angepasstes pädagogisches Konzept für die praktische Arbeit zu entwickeln“ (S. 221). Dass dies nicht für alle Verbände gleichermaßen zutrifft, wird anhand der Beispiele der „Sozialistischen Jugend Deutschlands (SJD) – Die Falken“ und der „Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG)“ beschrieben. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass diese beiden genannten Verbände eine lange Tradition in der Arbeit mit Kindern haben und so in der Lage waren, sich den diversen Strömungen der pluralistischen Postmoderne zu stellen und ihre Konzepte anzupassen. Neben diesen – im Sinne der Kinder – positiven Beispielen wird allerdings darauf hingewiesen, dass eine Reihe von Verbänden Kinder weitgehend unberücksichtigt lässt. So ist es nicht erstaunlich sein, dass trotz genannter hoher Organisationsquote (Stichwort: punktuelle Freizeitbetätigung in einem Verein) die Mitgliederzahlen der Jugendverbände rückläufig sind; eine Ausnahme bilden die Sportvereine. Vermutlich sind es die Sportvereine, die im wesentlichen den hohen Durchschnitt kindlicher Präsenz innerhalb der Vereine bewirken. Unter dem Strich scheinen kleine, quartiersbezogene Jugendhilfeträger – z.B. solche aus dem Initiativenbereich unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – gegenüber den traditionellen Verbänden deutlich an Attraktivität gewonnen zu haben. Jedenfalls bescheinigt ihnen der Bericht, sie bekämen eine immer größere Bedeutung. Ebenfalls wie ein roter Faden durchzieht den Bericht eine unübersehbare Disparität bezüglich der Teilhabe von ausländischen TeilnehmerInnen; dies gilt auch für die Arbeit zahlreicher Jugendverbände: interkulturelle Ansätze spielten kaum eine Rolle. In den Jugendverbänden gebe es zwar eine breite Diskussion über die veränderte multikulturelle Realität, es fehle jedoch noch die Umsetzung in die Praxis (vgl. S. 222).

Mit Blick auf die Offene Arbeit mit Kindern kann festgestellt werden, dass sie im Schatten der Jugendarbeit steht und sich bis heute als „ein eher randständiges Gebiet … mit wenig eigenständigen pädagogischen Elementen“ präsentiert (vgl. S. 222). Die Kommission zitiert von SPIEGEL (1997): „Spielen und Basteln, kulturelle Angebote, ein offener Bereich mit Kicker, Billard und Tischtennis, Kindercafé und Kinder- beziehungsweise Teeniedisco – alles wie gehabt.“ (S. 222 f, vgl. auch Originalquelle: Hiltrud von Spiegel: Offene Arbeit mit Kindern – (k)ein Kinderspiel, Münster 1997, S. 54). Im Original vertritt von SPIEGEL die Auffassung, die Struktur der Offenen Arbeit mit Kindern in den Jugendfreizeitstätten sei weitgehend identisch mit der der Offenen Jugendarbeit. Demgegenüber weist die Kommission auf „bemerkenswerte kinderbezogene Angebote“ hin (vgl. S.223); genannt werden Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze sowie Kinderbauernhöfe. Allerdings, so wird einschränkend vermerkt, gebe es diese Angebote nicht flächendeckend. Vor diesem Hintergrund kann der einleitend zitierte Wunsch der Bundesregierung, diese kinderbezogenen Einrichtungen Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze flächendeckend zu verstärken, eingeordnet werden. Eine vergleichbare „Kinderbezogenheit“ innerhalb der Offenen Arbeit wird den Ferienfreizeiten bescheinigt, die häufig als internationale Begegnungen konzipiert sind. Der Bericht führt wörtlich aus: „Bei Ferienangeboten und Abenteuerspielplätzen scheinen sich am ehesten originäre kinderspezifische Angebote entwickelt zu haben.“ (S. 223) Die Einrichtungen der Offenen Arbeit mit Kindern, vor allem solche im jeweiligen Stadtteil, werden als „notwendig“ klassifiziert; sie übernehmen eine Funktion als Anlauf- und Stützpunkte, „in denen Spiel- und kulturelle Gestaltungsmöglichkeiten, Gelegenheiten zum kommunikativen Austausch angeboten werden … unabhängig vom Elternhaus, formaler Organisiertheit und vom sozialen Milieu“ (S. 223). Die Kommission betont, dass auch Zuwanderer- und Aussiedlerkinder – im Gegensatz zu zahlreichen Jugendverbänden – in besonderem Maße Zugang zu den Offenen Einrichtungen fänden. Gleichwohl wird kritisch vermerkt, dass auch hier Nachbesserungsbedarf hinsichtlich der Konzeptionen einer interkulturellen Öffnung feststellbar sei. Dieses Konzept ginge nämlich dann nicht auf, wenn etwa aufgrund der Dominanz türkischer Jungen andere Kinder fortblieben.

Mit Blick auf die Kinderkulturarbeit muss gesehen werden, dass die kommunale Realität weit hinter den Ansprüchen, die sich einerseits aus dem § 11 KJHG und andererseits aus dem Artikel 31 der UN-Kinderkonvention ergeben („volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben“), zurückbleibt (vgl. S. 223). Gerade bezüglich der Kinderkulturarbeit wird mehr noch als in den anderen Bereichen der Arbeit mit Kindern seitens der Kommunen mit dem Hinweis der „freiwilligen Leistungen“ argumentiert; auch dies unzutreffenderweise, wie meiner Einleitung entnommen werden kann. Vor diesem Hintergrund scheint nachvollziehbar, „dass zwar … seit den 80er Jahren die Kinderkulturarbeit ausgebaut worden (ist); gleichzeitig sind jedoch die Angebote kleiner Einrichtungen mit flexibler Struktur deutlich zurückgegangen.“ (S. 223) Aus dieser Feststellung lässt sich schließen, dass in Zeiten knapper werdender Kassen eine Kommune in der Regel mehr Wert auf den Erhalt vermeintlich vorzeigbarer Prestigeobjekte legt, als dass ihr tatsächlich daran gelegen ist, dem Geist und der Intention des KJHG und der UN-Kinderkonvention zu entsprechen. Eine Anmerkung sei in diesem Zusammenhang gestattet: Aufgrund meiner Erfahrungen in und meines Verständnisses von den als „am ehesten originär kinderspezifisch“ klassifizierten Einrichtungen und Diensten, den pädagogisch betreuten Spielplätzen, kann gesagt werden, dass vor allem bei diesen die Grenzen zwischen Offener Arbeit und Kinderkulturarbeit fließend sind, dass genannte Einrichtungen in der Regel auch Einrichtungen der Kinderkulturarbeit sind; dies gilt in besonderem Maße auch für die meisten Spielmobile.

Bezüglich der Arbeit mit Kindern und der Kinderkulturarbeit wird den Aspekten regionaler Disparitäten und gruppenspezifischer Benachteiligungen ein unübersehbares Augenmerk eingeräumt. Die Kommission hebt darauf ab, die monierten Missverhältnisse bezüglich der unterschiedlichen Alterskohorten nähmen sich im Vergleich zu regionalen Disparitäten relativ gering aus. Hier wird beispielsweise abgezielt auf Kinder in Ostdeutschland. Ganze Einrichtungslandschaften, die zu DDR-Zeiten noch existierten, seien weggebrochen und teilweise kommerzialisiert worden. Am meisten von der Unterversorgung betroffen seien die Kinder aus den unteren Schichten und auf dem Land; im Vergleich zu Westdeutschland allerdings sei die Versorgung der Landkreise mit Jugendzentren günstiger. Ob die Kinder davon profitierten, sei allerdings ungeklärt. Kritisiert wird die „schnelle und partiell zu wenig reflektierte Übernahme westdeutscher Strukturen“, die zu einer Zerstörung bzw. Beschädigung ehemals vorhandener Potentiale geführt habe. Gewisse Kuriosa fallen auf: Gab es zu DDR-Zeiten eine Verzahnung von schulischen und außerschulischen Angeboten, ist man heute zum Teil dabei, die zerstörten Strukturen vergleichbar wiederherzustellen. Die Kommission schlägt vor, ehemals vorhandene Strukturen zu reaktivieren und gezielt zu fördern (vgl. S. 224). Kritisiert wird neben einer generell unzureichenden Finanzausstattung der ostdeutschen Kommunen auch die Praxis der Vergabe von Projektmitteln, befristeten Förderprogrammen und ABM. Eine Verbesserung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wäre zu erwarten, wenn eine strukturelle Absicherung stattgefunden hätte und die Arbeit mit Kindern professionell ermöglicht würde.

Auf Gesamtdeutschland bezogen ist die Unterversorgung in bestimmten Wohngebieten signifikant. Hierunter fallen in den Innenstadtlagen vor allem großstädtische Wohngebiete aus der „Gründerzeit“, traditionelle „Arbeiterviertel“, „frühindustrielle Arbeiterkolonien der Schwerindustrie“ und solche Wohngebiete, die seitens der Praxis schon länger als sogenannte „soziale Brennpunkte“ markiert werden, nämlich die Trabantensiedlungen der 60er und 70er Jahre. Kennzeichnend für alle betroffenen Gebiete ist eine hohe Quote an Zuwanderern, Aussiedlern, Sozialhilfeempfängern, kurz: materiell Minderbemittelten. Häufig wird in diesem Zusammenhang der Begriff „sozial Benachteiligte“ als Synonym verwandt. Da dieser meines Erachtens ein aktives Beteiligtsein am beschriebenen gesellschaftlichen Defizit impliziert, gesellschaftliche Realitäten möglicherweise ausblendet, scheint seine Verwendung nicht selten unzureichend. Es könnte es allerdings sinnvoll sein, diejenigen als „sozial Benachteiligte“ zu definieren, die aufgrund ihres wirtschaftlich unzureichenden Status obendrein noch durch das jeweilige Gemeinwesen am schlechtesten versorgt sind. Ein Merkmal davon ist beispielsweise eine Wohnsituation, wie sie oben als „benachteiligt“ dargestellt wird. Die Kommission beruft sich auch auf die sogenannte Freiburger Studie von BLINKERT (1996). Deren Kernaussagen lassen sich mit folgenden Thesen zusammenfassen: Kinder wollen draußen spielen. Je besser die nahräumliche Spielinfrastruktur ist, um so besser ist die Aktionsraumqualität entwickelt und umgekehrt; je weniger die Aktionsraumqualität ausgeprägt ist, um so weniger haben Kinder die Gelegenheit, sich in sozialräumlichen Zusammenhängen zu sozialisieren. Der Kinder- und Jugendbericht setzt sich mit Nachdruck für „organisierte Angebote“ ein und führt weiter aus: „In den unterversorgten Wohngebieten sind nachhaltige Änderungen notwendig. Der Unterversorgung mit organisierten oder veranstalteten Freizeitgelegenheiten muss kleinräumig im Stadtviertel begegnet werden. Dafür müssen Einrichtungen für Kinder ohne zusätzlichen Transport (Anmerkung: etwa durch „Mütterfahrdienste“) zugänglich sein.“ (S. 224 f.)

Als unterversorgt gelten auch ländliche Gebiete. Wenngleich der Jugendverbandsarbeit auf dem Lande offenbar eine relative Stabilität zukommt (Messindikator sind die Mitgliederzahlen), so besteht bezüglich der Arbeit mit Kindern ein „Vakuum“ (vgl. S. 225). Auf dem Lande ist ferner eine klassische Dominanz männlicher Jugendlicher zu konstatieren: Jugendarbeit auf dem Lande „richtet sich vorwiegend an Jungen und sie blendet den geschlechtlichen Aspekt ihrer Arbeit aus oder reflektiert ihn nicht“ (S. 225). Kinderkulturarbeit scheint auf dem Lande keine nennenswerte Rolle zu spielen. Insgesamt wird ein erheblicher Nachbesserungsbedarf – wie bereits auch schon im 8. Jugendbericht (1990) geschehen – bezüglich der Kinder- und Jugendarbeit in ländlichen Gebieten gesehen. Indirekt fordert der Bericht eine stärkere Präsenz von Spielmobilen, wenn er aufzeigt, die Mobilität müsse verbessert werden und zwar nicht nur die der Kinder, sondern auch die der Anbieter.

Ein nicht unerhebliches Augenmerk richtet die Kommission vor dem Hintergrund gruppenspezifischer Benachteiligungen auf die Mädchen. Mit der dürren Feststellung „Jugendverbände sind Jungenverbände“ führt sie in das Kapitel ein (vgl. S. 225). Zwischen ostdeutschen und westdeutschen Mädchen gibt es Unterschiede, z.B. scheint der Aktionsradius ostdeutscher Mädchen größer zu sein und besonders in Westdeutschland zeigt sich, dass geschlechtsspezifische Differenzen um so größer sind, „je tiefer die Sozialschicht und je niedriger die Schulkarriere ausgelegt ist. Besonders groß ist sie bei einem Teil der Mädchen ausländischer Herkunft.“ (S. 226) Es folgen Hinweise auf die Bemühungen von Frauen, zum Teil feministisch intendiert, dieser auf Dauer unhaltbaren Situation zu begegnen. Dokumentiert ist eine Reihe von Beispielen der Mädchenarbeit. Wenngleich das Freizeitverhalten von Mädchen – im Vergleich zu männlichen Aktivitäten und Möglichkeiten – als defizitär bewertet wird, wird den Mädchen unter dem Aspekt postmoderner Erfordernisse die überlegenere Position eingeräumt, „da die eher verinselte Lebensweise zu einem Gewinn an individueller Autonomie führen kann und die bei Mädchen stärker sozialisierten Fähigkeiten zur Kommunikation, zur Planung und zur Herstellung von Kontakten eher einer modernen Kindheit zuzuordnen sind“ (S. 226). Bemerkenswert scheint mir – neben einer ganzen Reihe anderer aufgezeigter Möglichkeiten – der Vorschlag, speziell für Mädchen Abenteuerspielplätze zu errichten bzw. auf vorhandenen Plätzen gezielt Möglichkeiten der geschlechtsspezifischen Sozialisation zu installieren.

Bedauerlich ist, dass der Bericht das Thema „reflektierte Arbeit mit Jungen“ ausspart, hätte sich in dessen Thematisierung gewiss die Chance einer stärkerer Stimulans jungenspezifischer Ansätze geboten; kann doch in praxi davon ausgegangen werden, dass mädchenspezifische Benachteiligung um so besser reduziert werden kann, je ausgeprägter eine Kultur reflektierter Jungenarbeit entwickelt ist.

Auffällige Disparitäten zeigt der Bericht bei den Zuwandererkindern, denn es wird deutlich, dass Kinder nichtdeutscher Herkunft in den Einrichtungen und Aktivitäten deutlich unterrepräsentiert sind. Statistiken verfälschen offenbar die Darstellung der Alltagssituation, etwa indem „reine Ausländergruppen“ addiert werden. Dass in allen existierenden Arbeitsfeldern beispielsweise Aktionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus stattfanden und -finden, wird ausdrücklich gewürdigt. Moniert werden allerdings fehlende bzw. unzureichend umgesetzte interkulturelle Konzeptionen und Praxen. Dies bezieht ausdrücklich auch die – „deutschorientierte“ – Personalpolitik der Träger mit ein. Ein Merkmal der Kinder- und Jugendarbeit, das interkulturelle Arbeit erschwert, scheint eine gewisse Resignation in den Praxisfeldern zu sein. Um dieser zu entgehen, müsste eine offensiv interkulturelle Öffnung dahingehend stattfinden, dass unterschiedliche Werte und Lebensweltkonzepte nebeneinander und zueinander in Beziehung stehend integriert würden. Der Bericht nimmt Bezug auf die Darstellung konzeptioneller Grenzen, die beispielsweise genannte Resignation hervorriefen. Dass „es eine interkulturelle Öffnung der Einrichtungen bisher noch nicht einmal ansatzweise gegeben“ haben soll, macht ein wenig ratlos (vgl. S. 228). Der Intention, wahrnehmbarer zu machen, dass sich in Deutschland eine „multikulturelle und multiethnische Gesellschaft“ herangebildet hat, kann etwas abgewonnen werden. Die Lösungsvorschläge allerdings sind nur bedingt in der Lage, kurzfristig zu Lösungen zu kommen. An einem Lösungsprozess, sprich: echten interkulturellen Konzepten, müsste die Politik maßgeblich beteiligt sein. Solange in populistischer Manier völlig überzogen über „Gastrecht“ in einem Land, vom „Boot, das voll ist“ usw. diskutiert wird, wird es die Praxis schwer haben, sich aus ihrer Resignation und aus ihrem Grenzerleben heraus zu entwickeln. Gewürdigt werden muss außerdem, dass interkulturelle Aushandlungsprozesse immer eine Aufgabe mehrerer und nicht von einer oder zwei Generationen sind. Diese Erfahrung hat Deutschland schon mehrfach machen können. Dass Finanzmittel in die Jugendhilfepläne zugunsten des interkulturellen Anliegens eingestellt werden sollen, wie es der Kinder- und Jugendbericht fordert, scheint zumindest sinnvoll.

„Die einzigen Behinderten, die es hier gibt, sind die Betreuer.“ So lautete der provokative Titel einer Broschüre zum Thema Integration behinderter Kinder in die Offene Arbeit, die der ABA Fachverband bereits 1990 herausgegeben hat. Der genannte Titel resultierte aus einer Antwort auf die Frage nach der Anwesenheit von Behinderten in einer Einrichtung der Offenen Arbeit, die seinerzeit einem Betreuer gestellt wurde. Folgt man dem 10. Kinder- und Jugendbericht, scheint sich an dieser Situation bis heute nicht viel geändert zu haben. Die perspektive-orientierten Ausführungen des Berichts lassen sich mit einem Zitat auf den Punkt bringen: „Im Freizeitbereich stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob separate oder integrative Formen für behinderte Kinder angemessen sind, sondern es geht darum, wie integrative Formen flächendeckend eingeführt werden können und welche Bedingungen dafür geschaffen werden müssen.“ Wie vor einem knappen Jahrzehnt vom ABA Fachverband betont, muss in erster Linie der Aspekt der Integration wesentlich aktiver und reflektierter in jede konzeptionelle Überlegung einfließen. Zusätzlich fordert der Kinder- und Jugendbericht eine Verstärkung integrationsfördernder Ressourcen (Personal, Qualifizierung, Mittel, reflektierte Barrieren usw.)

Ebenso geht der 10. Kinder- und Jugendbericht auf die Angebotsentwicklung, Partizipation, die Personalstruktur sowie Förderung und Förderpolitik künftiger Entwicklungsbereiche ein. Die Kommission vertritt die Auffassung, ein allgemein gültiges – „fertiges“ – Konzept für die Arbeit nach Kindern gebe es nicht (Stichwort: Vielfalt) (vgl. S. 229). Es wird auf die Schwierigkeit beim Erstellen des Berichts hingewiesen, überhaupt Dokumente zu bekommen; vieles sei unveröffentlicht. Man konstatiere das Bemühen der Praxis, innovativ orientierte Konzepte zu entwickeln. Eine Innovationsbereitschaft der Verbände und Einrichtungen sei erkennbar, tatsächliche Veränderungen seien allerdings z. Zt. nur unzureichend. Man könne davon ausgehen, dass jüngere Kinder eher stabile Zusammenhänge (organisierte Gruppen), ältere hingegen erlebnis- und aktionsorientierte Kontakte suchten (Anmerkung: Solche bieten z.B. gerade für diese Altersgruppe Abenteuerspielplätze und Kinderbauernhöfe an. Denkbar wäre auch, dieses Angebot z.B. durch nicht-kommerzielle Aktionshallen mit einer Vielfalt grobmotorischer Möglichkeiten zu erweitern. In diesem Zusammenhang sollen Möglichkeiten, die im Kontext und Konzept „Erlebnispädagogik“ entwickelt wurden, nicht verschwiegen werden. Neben einschlägig bekannten Stellen und Organisationen hat der ABA Fachverband 1998 damit begonnen, einen Teil der erlebnispädagogisch orientierten Projekte auf einer fachlichen Ebene zusammenzuführen). Ältere Kinder suchten darüber hinaus bei den Einrichtungen auch Hilfe und Beratung. Dieses macht einmal mehr den Aspekt professionellen Personals deutlich. In der Praxis fehlten für die verschiedenen Altersgruppen und deren jeweilige Bedürfnislagen differenzierte pädagogische Konzepte. „Notwendig ist, der Lebenswelt der Kinder, die sich in der lokalen Umwelt konstituiert, entsprechende Aktivitäten – und das mit den Kindern gemeinsam – zu initiieren.“ (S. 229)

Hier schließt sich dann der Kreis mit Blick auf die geforderte Partizipation von Kindern. Die Kommission beruft sich dabei unter anderem auf das KJHG. Aus den §§ 80 (Jugendhilfeplanung), 8 (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen) und 9 (Berücksichtigung der selbstdefinierten Bedürfnisse Minderjähriger) wird eine Verpflichtung auf ein persönliches Mitspracherecht abgeleitet (vgl. S. 229). Mit Blick auf die Jugendverbände wird festgestellt, Mitbestimmung beschränke sich in den Verbänden zumeist auf die jeweilige konkret zu gestaltende Situation, sei darüber hinaus nicht vorgesehen, wenn man einmal von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken absehe, wo eine als politisch verortete Partizipation konzeptionell und pragmatisch integriert sei. Eine politische Interessenvertretung für Kinder werde zumeist von – oft vermutlich gar älteren – Erwachsenen vorgenommen. Der Begriff „demokratische Spielweise“ (S. 230), der in diesem Zusammenhang genutzt wird, spiegelt das, was in der Praxis dann auch häufig als Interessenvertretung mit Alibicharakter vorgefunden wird. Von den beanstandeten Mängeln um so mehr betroffen sind die o.a. diversen unterversorgten Gruppen.

Zu kurz greifen die Ausführungen des Berichts unter dem Titel „Personalstruktur“, beschränken sie sich doch ausschließlich – und dies in äußerst knapper Form – auf das Ehrenamt. Ehrenamtlichkeit sei rückläufig und mittlerweile primär vor dem Hintergrund, ob man persönliche Gewinne aus ihm ziehen könne, entwickelt. Dies kann seit längerem durch die Praxis bestätigt werden. Immerhin ist gesellschaftliches Engagement auch ein Reflex auf gesellschaftliche Zustände. Wo der „Ellbogen regiert“, kann nicht damit gerechnet werden, dass Bürgerengagement auf breiter Ebene entwicklungsfähig ist. Der Praxis in Verbänden und Einrichtungen hätte es vermutlich mehr genutzt, wenn deutlich geworden wäre, dass Ehrenamtlichkeit professioneller, hauptamtlicher Begleitung und Koordination bedarf. 

Die Analyse der Förderung und Förderpolitik bestätigt meine einleitenden Ausführungen: die Zustimmung zu den behandelten Feldern ist breit, die erforderlichen Mittel bei weitem unzureichend. Hinzu kommt, dass die „abschmelzenden Töpfe“ wenig bis keinen Spielraum hinsichtlich der Förderung neuer, sich ändernder Strukturen zulässt. Am Beispiel der augenblicklichen Umstrukturierung des nordrhein-westfälischen Landesjugendplans lässt sich dieser Zustand gut nachvollziehen. Gewisse Änderungen scheinen hier unter „schmerzhaften“ Prozessen möglich, geht es auf der einen Seite um die Absicherung und Weiterentwicklung bewährter Strukturen, auf der anderen Seite um die Neuberücksichtigung inzwischen gewachsener und von den Zielgruppen gewollter Inhalte und Räume.

Fünf Schwerpunkte, die sich unter „Perspektiven und Empfehlungen“ subsumieren, zeigt die Kommission auf. Im ersten Schwerpunkt sind dies Veränderungen, die im Zusammenhang zu den genannten unterversorgten Gruppen (Mädchen, Behinderte, Zuwandererkinder) als dringlich angesehen werden. Als zweites wird „die Schaffung eines größeren und flexibleren Angebots für Kinder“ (vgl. S. 231) als notwendig betrachtet, vor allem, was die unterversorgten Gebiete angeht. Der dritte Schwerpunkt thematisiert das Erfordernis, hauptberufliches Personal zu gewinnen, das den zu integrierenden Zuwanderergruppen selbst angehören soll. Viertens wird noch einmal auf die Bedeutung von Partizipationsmöglichkeiten hingewiesen. Empfohlen wird den Ländern ein Jugendfördergesetz, das – wie in Schleswig-Holstein – den Teilhabeaspekt festschreibt. Gleichermaßen sei in den Einrichtungen selbst das Programm am Bedarf der Kinder auszurichten. Angesprochen sind hier nicht irgendwelche Alibiveranstaltungen (Stichwort: demokratische Spielwiesen), vielmehr geht es um die Organisation des pädagogischen Alltags. Als letzten Schwerpunkt weist der Bericht auf die Notwendigkeit der Absicherung der Kinder- und Jugendarbeit generell hin. Die Dringlichkeit einer Vervollständigung des KJHG durch jeweiliges Landesrecht wird angemahnt; Kinder- und Jugendarbeit sei dem „Grunde nach zur Pflichtaufgabe“ (S. 231) zu erklären. In diesem Rahmen müsse „auch nach Umfang und Dauer über einen hinreichenden finanziellen Rahmen“ (S. 231) entschieden werden. Eine deutlich bessere Mittelausstattung auf allen Ebenen sei erforderlich.

Das Kapitel „Kinder in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Kinderkulturarbeit“ wird mit einem Exkurs „Zu einer sozialraumbezogenen Arbeit mit und von Kindern“ abgerundet. Es wird festgestellt, dass „die Angebote in der Region … selten aus der Sicht und von den Interessen der Kinder her geplant“ sind (S. 231). Im wesentlichen werden noch einmal zahlreiche der hier bereits behandelten Aspekte nachgezeichnet. Im Vergleich zu Einfamilienhaussiedlungen, die der Erkenntnis der Kommission zufolge über eine deutlich bessere Infrastruktur und damit über eine kindgerechtere Vielfalt verfügen, wird noch auf diverse Disparitäten und deren Veränderungsbedarf verwiesen. Es wird eine deutliche Abgrenzung gegenüber den – von der Praxis oft so erlebten – „Feuerwehr“-Programmen vorgenommen (nach dem Motto, wenn es irgendwo – im sozialen Brennpunkt – brennt, stellen wir rasch einen Container – „mobile Einheit“ – hin, setzen einen Sozialarbeiter hinein und der löst/löscht dann die Probleme/das „Feuer“).   „Die besondere kostenaufwendige Ausstattung muss allen Kindern im Stadtteil, in der Region zugute kommen.“ (S. 232).

Abschließend möchte ich den Blick auf anstehende Veränderungen von Planung insgesamt richten. Der Bericht führt dazu aus: „Arbeit mit Kindern und Kinderkulturarbeit als sozialräumlich bezogene Arbeit überwinden die Zersplitterung der kommunalen Planungen: Die Ressorts Verkehr, Wohnen, Soziales, Gesundheit u.a. werden danach befragt, was sie zur Verbesserung der Lage der Menschen, und namentlich der Kinder, in der Region, im Stadtteil leisten können; diese Leistungen werden dann von der Kommune, vom Land oder vom Bund abgefordert. Unterversorgte Zielgruppen müssen in der Jugendhilfeplanung entsprechend ihrem Anteil berücksichtigt werden bzw. es muss Rechenschaft darüber abgelegt werden, dass sie auch von den Aktivitäten profitieren. Eine kleinräumig angelegte Sozialberichterstattung und eine ebensolche Jugendhilfeplanung, welche die Kinder als eigene Gruppe berücksichtigen und nach Mädchen und Jungen, Kindern aus Zuwandererfamilien und deutschen Kindern, Kindern mit und ohne Behinderungen differenzieren, bilden die Planungsgrundlage. In die Planung eingehen müssen auch die vorhandene Infrastruktur und deren Defizite, die Wohnbedingungen der Kinder, die Familienkonstellation und die wirtschaftliche Lage der Familien. … Die freien Träger können sich mit ihren Angeboten einbringen.“ (S. 232)

Meines Erachtens kann das hier skizzierte Kapitel des 10. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung als Argumentationsgrundlage und konzeptionelle Orientierung gewinnbringend eingesetzt werden. Dass möglicherweise bevorstehende Auseinandersetzungen und Aushandlungen nicht leicht sein dürften, kann man sich unschwer vorstellen. PolitikerInnen auf allen Ebenen (Bund, Ländern und Gemeinden) werden sich – auch – an den hier eingeforderten Veränderungen, messen lassen müssen. Wenn ein fachlicher Diskurs – wie eingangs beschrieben – weder möglich noch erforderlich ist, was nach Kenntnisnahme der Ausführungen des Berichtes angenommen werden kann, hat der künftige Diskurs vor allem ein politischer zu sein. In den letzten Jahren gingen meine Verweise immer wieder in die Richtung, das Reden über Kinderfreundlichkeit an solche sei noch keine Kinderfreundlichkeit an sich. Eine kinderfreundliche Politik ist zunächst eine Ressourcenpolitik. Und die fragt mit Fug und Recht nach der Verteilung der Besitzverhältnisse. Jawohl, Kinderpolitik ist auch und vor allem eine Geldverteilungspolitik.

Vorstehender Beitrag wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998 – In das Internet eingestellt im Juni 2003.

Rainer Deimel ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

NAGEL-Redaktion – 10. Kinder- und Jugendbericht Read More »

NAGEL-Redaktion – Kinder, Jugendliche und Gesundheit

Von Rainer Deimel

Vorbemerkung

Beim Zusammentragen der Materialien und beim Schreiben dieses Textes habe ich festgestellt, dass es schier unmöglich ist, alles hier Verarbeitete so zu präsentieren, dass es „einfach so“ in der Praxis verwandt werden könnte. Dazu reicht weder der Platz in dieser Zeitschrift, noch die mir zur Verfügung stehende Zeit. Im ersten Teil der Auseinandersetzung versuche ich, Bilanz zu ziehen; dies mit Hilfe zum großen Teil aktueller Quellen. Im zweiten Teil bin ich bemüht, Perspektiven vor allem für die Praxis und die Politik aufzuzeigen. Dabei habe ich in erster Linie Personen bemüht, Personen, die für Konzepte, Erkenntnisse und Rückschlüsse stehen. Ich habe einerseits versucht, das Material so zu bearbeiten, dass die Praxis Hilfestellungen bezüglich konzeptioneller Reflexionen finden kann. Anderseits war ich daran interessiert, die üblichen Kriterien des wissenschaftlichen Journalismus einigermaßen zu erfüllen. So bleibt Interessierten, die neugierig auf mehr an hier Dokumentiertem geworden sind, nicht erspart, sich selbst weiter auf den Weg zu mehr Fachlichkeit zu begeben. Wir können darüber hinaus anbieten, mit Hilfe des ABA Fachverbandes passgerechte Fortbildungen zu organisieren.
Unter dem Titel „Man muss den Charakter bilden“ gab das Journalistenehepaar Petra Gerster und Christian Nürnberger dem SPIEGEL ein Interview, das in der Ausgabe 35/2001 veröffentlicht wurde. Anlass des Interviews war ihr Buch, dass kürzlich erschien.
1 Es scheint so, als habe nach Doris Schröder-Köpf auch andere Leute das erreicht, was hier als „Erziehungsnotstand“ charakterisiert wird. Es werden Thesen von „kollektiver Ratlosigkeit“ und des Unvermögens zu erziehen, aufgestellt. In diese Kerbe soll hier nicht weiter gehauen werden. Wer sich grundsätzlich mit dem Thema Erziehung beschäftigen möchte, dem sei hier erneut das Buch „Wozu erziehen?“ von Wilhelm Rotthaus empfohlen. Wir besprachen es im NAGEL 61.2 In Abrede gestellt werden soll auch keineswegs die hehre Absicht, mit der Gerster und Nürnberger versuchen, für das Erziehen von Kindern einen – möglicherweise neuen – Grundkonsens herzustellen. Gleichsam kann z.B. nicht das Ziel der Bemühungen sein, die Schule müsse „zeitloses Wissen, das hilft, die Welt zu verstehen“, vermitteln (im Kernsatz stimme ich dieser Auffassung durchaus zu) und sich dabei z.B. auf die Newtonschen Gesetze berufen.3 Wo sich die Physik längst in die Tiefen der Chaostheorie vorgewagt hat, kommen mir derartige Forderungen eher hinterwäldlerisch vor. Dass die Schule mit ihrem Latein häufig am Ende ist, hat meines Erachtens eher etwas damit zu tun, dass sie am Alten zu stark festzuhalten versucht und zu wenige praktische Konsequenzen aus dem zieht, was gegenwärtige Kindheit im Wesentlichen charakterisiert. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, den Aspekt einer gedeihlichen Sozialisation ansatzweise zu bearbeiten; dies vor allem zugespitzt vor dem Hintergrund kindlicher Gesundheit und Konsequenzen, die sich daraus einerseits für das pädagogische Handeln und andererseits als politische Verpflichtungen ergeben.

Eine Bestandsaufnahme

Die Themenkomplexe „Gesundheit“ und „Krankheit“ erlebe ich gegenwärtig nahezu wie einen Dickicht. Gleichwohl weisen alle neueren Untersuchungen ähnliche Ergebnisse auf. Kindheit und kindliches Befinden haben sich stark verändert, Antworten auf diese Veränderungen müssten adäquat sein. Für meine „Dickicht-These“ spricht möglicherweise auch der Umstand, dass das Robert-Koch-Institut in Berlin eine umfassende Studie zum Thema durchführt, die bis zum Jahre 2005 vorliegen soll. Unter dem Motto „GUT DRAUF“ gab es bereits vor ein paar Jahren eine Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die sich an alle möglichen Felder, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, richtete. Hierzu kann kostenlos ein Ordner „Kompakt – Das GUT DRAUF-Kommunikationspaket“ bezogen werden.4 Die Direktorin der BZgA, Elisabeth Pott, die auch das Kommunikationspaket als Herausgeberin mit zu verantworten hatte, greift in einem kürzlich erschienen Artikel unter dem Thema „Alles hängt mit allem zusammen“ die zentralen Anliegen der GUT DRAUF-Kampagne erneut auf, nennt sie Stress, Essstörungen und Bewegungsmangel als die fundamentalen Probleme des gegenwärtigen Aufwachsens und betont gleichzeitig, diese Phänomene dürften nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Vielmehr stünden sie in einer Beziehung untereinander.5 Ziel der Bemühungen müsse die positive Beeinflussung des Selbstwertgefühls durch das Erzeugen von Selbstvertrauen und eines harmonischen Körpergefühls sein. Sie spricht sich hinsichtlich der Gesundheitsförderung für einen „ganzheitlichen Ansatz“ aus.6 Welche Methoden und Mittel, welche Konzepte am ehesten geeignet sind, einen solchen „ganzheitlichen Ansatz“ zu verfolgen, werden wir an späterer Stelle versuchen, herauszuarbeiten. 
„Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ Diese plakative Definition galt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die Definition der WHO (World Health Organization – Weltgesundheitsorganisation) von 1946 fasst hingegen „Gesundheit“ deutlich umfassender. Einerseits wird Gesundheit als Zustand des „völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ betrachtet, andererseits ist „Gesundheit“ vor dem Hintergrund dieser Definition in einem interdisziplinären Kontext von Psychologie, Sozialmedizin, Epidemologie sowie Medizinsoziologie zu sehen.
7 Gesundheit ist nur möglich, „wenn eine Person konstruktiv soziale Beziehungen aufbauen kann, sozial integriert ist, die eigene Lebensgestaltung an die wechselhaften Belastungen des Lebensumfeldes anpassen kann, dabei individuelle Selbstbestimmung sichert und den Einklang mit den biogenetischen, physiologischen und körperlichen Möglichkeiten herstellen kann.“8
Versuchen wir, Bilanz zu ziehen, d.h. ein Szenario zu zeichnen, was postmoderne Kindheit im Kontext dieser Auseinandersetzung ausmacht. Krankheitsbilder und -verläufe haben sich bei jungen Menschen grundlegend verändert. Die Mortalitätsrate bei Kindern ist durch die Jahrhunderte infolge medizinischer Fortschritte und durch ein gestiegenes Maß an Aufklärung deutlich gesunken, flankiert durch Vorsorgeuntersuchungen ab der Geburt bis zum Schulalter. Akute Erkrankungen sind bei jungen Menschen kaum noch feststellbar. Wirft man allerdings einen Blick auf die Veränderungen, stellt man fest, dass chronische Erkrankungen sowie psychische und psychosomatische Störungen in geradezu alarmierender Weise zugenommen haben. Die Jugendgesundheitsstudie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 1993 bezeichnet 70 % aller Jugendlichen in Deutschland als nicht gesund.
9 Folgt man Professor Klaus Hurrelmanns Argumenten, hat sich der Gesundheitszustand der zwischen 12 und 17-Jährigen seit Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts verschlechtert.10
Kinder und Jugendliche selbst haben diffuse Vorstellungen über Gesundheit. So mögen sie den Zustand chronischer Erkrankung möglicherweise als „normal“ begreifen. Eltern beurteilen die gesundheitliche Situation ihres Nachwuchses häufig anders, wobei es auch hier nicht selten zu Fehleinschätzungen kommt. Lediglich in Bezug auf auffällige verhaltensbezogene „Störungen“ (z.B. soziale Isolation und Essstörungen) gab es vergleichbare Einschätzungen. Bezüglich der Elterneinschätzung ist der Geschwisterstatus erwähnenswert. Bei Erstgeborenen – was somit auch für die gestiegene Zahl der Einzelkinder gilt – neigen Mütter zu einer Überschätzung von Problemverhalten. Adäquat zur eigenen Lebenssituation bzw. dem Umgang mit sich selbst geben sich Väter dagegen sorgloser und zuversichtlicher.
11 Bei dieser Feststellung wird deutlich, dass auch die Geschlechterrolle von Bedeutung ist; dies gilt nicht nur für Eltern, sondern ebenso für die jungen Menschen selbst. In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass junge Menschen nicht selten hinter der Sorge um die Gesundheit den Versuch von Erwachsenen wittern, diese wollten ihre Lebensgestaltung reglementieren.12 Eltern, vor allem Mütter, haben oft die Befürchtung, ihr Kind könne ausgelacht werden, sich beim Sport verletzen oder andere Risiken nicht bestehen. Die Fehleinschätzung von Risiken durch Eltern führt im Resultat nicht selten zu einer Minderung des Selbstvertrauens der Kinder. Eine Unzufriedenheit der Eltern mit sich selbst ist ebenfalls ein die Kinder krankmachender Faktor, wohingegen eine lebensbejahende und nicht alles überbewertende Grundstimmung ihrerseits eine wichtige Voraussetzung für ein einigermaßen gesundes Wachstum darstellt.13 Ich selbst erfuhr in Interviews mit gegenwärtig jungen Eltern, dass diese selbst Erfahrungen, die das geforderte „ganzheitliche Aufwachsen“ im Wesentlichen bestimmen, nicht mehr gemacht haben, z.B. das Toben im Freien.
Jugendliche neigen naturgemäß zu einer risikoreichen Lebensweise. Zwei für sie typische Manifestationen werden von Professorin Inge Seiffge-Krenke, der Leiterin der Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, beschrieben: die „imaginäre Audienz“, nämlich das Gefühl, ständig durch andere beobachtet und bewertet zu werden, und den „personal faible“, die von ihnen erlebte Einzigartigkeit, kombiniert mit dem Gefühl, von niemandem verstanden zu werden.
14 Weitere Stressoren, die an der Ausprägung psychischer und psychosomatischer Auffälligkeiten beteiligt sind, ergeben sich aus unzureichend verarbeiteten gesellschaftlichen Werteveränderungen sowie aus sich daraus ableitenden Marginalpositionen wie Deklassierungsprozessen, schulischen Leistungsdruck, unkalkulierbaren Berufswünschen usw. Vor diesem Hintergrund wird das eingangs genannte Buch von Gerster und Nürnberger um so verständlicher. In einer Verlautbarung äußerte der Bund Deutscher Psychologen Anfang 1996, dass selbst junge Leute im Alter von sechs bis neun Jahren kaum noch Zeit für spontanes Spielen und Ruhepausen hätten; sie lebten nach einem Terminkalender und litten in der Folge häufig unter Kopf- und Bauchschmerzen, nervöser Unruhe und Schlafstörungen. Ursächlich hierfür werden Schulstress und zu stark verplante Freizeitaktivitäten angegeben.15 Dieser Trend scheint sich in den letzten Jahren eher noch verschärft zu haben. Hierauf werde ich an späterer Stelle noch einmal zurückkommen.
Hinsichtlich genannter Deklassierungsprozesse kann festgestellt werden, dass gegen Ende des letzten Jahrhunderts 12 % der Bevölkerung als arm galten. 2 Mio. Kinder lebten 1991 in einkommensschwachen Verhältnissen; 500 000 Kinder in Obdachlosensiedlungen.
16 1997 waren über 1 Mio. Kinder bis 18 Jahre Sozialhilfeempfänger (Hilfe zum Lebensunterhalt). Demnach sind über 37 Prozent der Sozialhilfeempfänger Kinder und Jugendliche. Nimmt man die jungen Erwachsenen – die bis 25-Jährigen – hinzu, kommt man zu der frappierenden Feststellung, dass fast die Hälfte derjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen, jung ist.17 Insgesamt hat sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen von 1980 bis 1997 mehr als verdreifacht, sie stieg von 851 000 auf 2,58 Mio.; einschließlich der neuen Bundesländer, die in der Statistik vor der Wende logischerweise nicht auftauchen, beziehen knapp 3 Mio. Menschen Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Datenreport  1999 des Statistischen Bundesamtes zeigt zudem auf, dass 1997 noch weitere 1,41 Mio. Menschen Hilfe in besonderen Lebenslagen bezogen.18 Armut macht einsam, sozial isoliert19, macht mut- und antriebslos und krank20; jeder vierte Haushalt in Deutschland gilt gegenwärtig als arm.21 Norbert Kozicki zeigt auf, dass sich der Anteil junger Menschen an der armen Bevölkerung zunehmend gesteigert hat: „Das Gesicht der Armut wird immer jünger.“22 Aus einer von ihm zitierten Untersuchung des Psychologen Thomas Kieselbach von der Universität Bremen wird deutlich, dass „ärmere“ Kinder „depressiver, einsamer, empfindlicher, weniger gesellig, misstrauischer und weniger in der Lage (sind), Stress zu bewältigen, als Kinder aus gesicherten materiellen Verhältnissen“.23
Wie bereits unter Berufung auf Elisabeth Pott erwähnt, beeinflussen sich im Rahmen einer ganzheitlichen Sicht Ernährung, Bewegung und Stress bzw. dessen Bewältigung gegenseitig. Werfen wir einen Blick auf die Komplexe Ernährung und Bewegung.
Ernährung hat nicht nur über Nahrungsbestandteile einen Einfluss auf das physische wie psychische Wohlbefinden. Hunger ist ein starker Stressor mit den typischen Folgen wie Aggressivität, Nervosität usw. Das sogenannte Fastfood spielt bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen eine erhebliche Rolle; dieses Phänomen muss auch im Kontext von Peernormen betrachtet werden. Gefördert wird der Trend zum Fastfood ebenfalls durch sich verändernde Familien- und Rollensituationen. Die Ernährungsversorgung mit „ausgewogenen Mahlzeiten“ ist markant zurück gegangen. In nur noch der Hälfte der Familien wird gekocht und gemeinsam gegessen. Erwiesenermaßen trägt Fastfood infolge übergroßer Anteile an Fett und Kohlehydraten sowie mangelnden Ballaststoffen und Vitaminen zu einem Gutteil zur Fehlernährung mit allen ihren negativen Folgen bei. Eine Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zeigt auf, dass sich ein Drittel der Deutschen aus Konserven und der Tiefkühltruhe und 60 % mit Fertiggerichten ernähren. Die Untersuchung weist darauf hin, dass dies primär für jüngere Menschen gelte.
24 Damit will ich hier allerdings nicht zum Ausdruck bringen, Essen beispielsweise aus dem Gefrierschrank sei schädlich; vielmehr geht es bei diesem Hinweis darum, geändertes Nahrungsverhalten aufzuzeigen.
Hurrelmann verwies schon vor einigen Jahren darauf, die Nahrung junger Leute sei unausgewogen zusammengesetzt. Ferner wirke sich die unregelmäßig Einnahme von Mahlzeiten krankmachend aus. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass ungünstiges Ernährungsverhalten mit abfallendem Sozial- und Finanzstatus steige.
25
Ein weiterer Aspekt ist die Irritation, die bei Eltern durch offenbar unlautere Werbung ausgelöst wird. Hierbei geht es beispielsweise um die „Extra-Portion Milch“, „lebenswichtige Vitamine“ oder „viel Kalzium“. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund erläutert die Überflüssigkeit und Systemlosigkeit derart „nährstoffangereicherter“ Lebensmittel. In der Folge seien die Lebensmittel teurer, ohne dass sie die für die Ernährung junger Menschen wichtigen Ballaststoffe enthalten seien. Sie trügen demnach in keiner Weise zur Veränderung falscher Essgewohnheiten bei. Das Institut vertritt die Auffassung, Mangelerscheinungen seien eher die Ausnahme, nicht aber massive Fehlernährungen durch zuviel Fett und Zucker. Und genau diese seien häufig in den umworbenen Produkten enthalten. Damit leisten sie – zumindest indirekt – postmodernen Zivilisationserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Problemen, Bluthochdruck und Übergewicht Vorschub. Letztendlich diene derartige Werbung in keiner Weise einer gesünderen Ernährung, sondern sie sei allein umsatzsteigernd zu begreifen.
26 Die amerikanische Professorin Jean Harvey-Berino, Fachfrau für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft an der Universität von Vermont, hat zwischenzeitlich Beobachtungen gemacht, die über die These, bestimmten Zivilisationserkrankungen würde Vorschub geleistet, hinausgeht: „Was wir beobachten, sind Kinder mit Krankheiten, die sonst bei Erwachsenen auftreten, etwas, das zuvor nicht registriert wurde. Wir beobachten Kinder mit Bluthochdruck, Kinder mit hohem Cholesterinspiegel und Kinder mit Typ 2-Diabetes, was bisher als Erwachsenenvariante der Zuckerkrankheit angesehen wurde. Diese Entwicklung ist so schnell aufgetreten, dass genetische Faktoren als Ursache nahezu ausgeschlossen werden können. Wir haben festgestellt, dass es wahrscheinlich auf eine verringerte körperliche Aktivität und auf den Verzehr größerer Mengen zurückzuführen ist. Es ist einfach das Phänomen der Riesenportionen, die zehn Mal größer sind, als sie sein müssten.“27
Räumt man den US-AmerikanerInnen eine gewisse Vorreiter-Rolle bezüglich des Konsums von Fastfood und Süßigkeiten ein, ist ein vergleichbar auf uns zukommendes Szenario vorstellbar, wobei sich einige Tendenzen bereits jetzt unübersehbar abzeichnen. Die nationalen Institute für Gesundheit in den USA geben an, mehr als 97 Millionen, also über 50 % der Amerikaner über 20 Jahren hätten Übergewicht. Davon wögen etwa vier Millionen mehr als 45 Kilogramm zu viel. Dies wiederum hätte eine zehnfach erhöhte Sterblichkeitsrate im Vergleich zu Normalgewichtigen zur Folge. Bei den Kindern seien inzwischen 20 % fettleibig.
28 Die Leiterin des Amtes für Gesundheit und Ernährung von Vermont, Allison Gardner, zeigt die gesellschaftlichen Veränderungen auf, die mit dieser Entwicklung einhergehen. Sie verweist darauf, dass in der Regel beide Eltern beruftätig seien, die Kinder sich demzufolge nach der Schule selbst versorgen müssten. Hinzu kommen Argumente der Eltern, die wir in Deutschland ebenso erleben können: Kinder spielen – selbst dann, wenn es noch möglich wäre – kaum noch draußen, da die Eltern Angst haben, es sei nicht sicher. Man wolle sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Diese oft dubiosen Ängste werden bisweilen von den Kindern übernommen und internalisiert. Ich erlebe immer wieder Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die sich z.B. nicht mehr in den Wald begeben aus Angst vor dem „Grauen“, das sich dort verbergen könnte. Infolgedessen bewegen sich viele Kinder „automatisch“ weniger, sehen mehr fern, essen mehr Fastfood usw.. Gardner berichtet ferner, in den USA würden Süßigkeiten nicht selten zur Verhaltenssteuerung eingesetzt.29
Aus dem Ernährungsbericht 2000 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung geht hervor, dass es nicht nur Übergewicht und Adipositas (Fettsucht) sind, die bei deutschen Kindern auffallen. Es kann augenblicklich (2001) davon ausgegangen werden, dass 11 % aller Jungen und Mädchen übergewichtig sind; sie liegen mit ihrem Gewicht zwischen 15 und 25 % über dem empfohlenen Grenzwert. Neun Prozent der Jungen und sieben Prozent der Mädchen überschreiten gar noch die 25-%-Marke, können dementsprechend als fettsüchtig bezeichnet werden. Es wird ebenso auf die Zahl von acht Prozent aller Jungen und Mädchen verwiesen, die untergewichtig sind. Von den 11-15-Jährigen haben elf Prozent der Jungen und 17 Prozent der Mädchen bereits Diäten gemacht, um Schönheitsidealen nachzukommen. Sogar untergewichtige Jugendliche, nämlich sieben Prozent der Jungen und acht Prozent der Mädchen nehmen weiterhin ab: sie finden sich immer noch als zu dick.
30 Hurrelmann geht gar davon aus, 21 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren hätten bereits eine oder zwei Diäten gemacht, um abzunehmen. Er konstatiert, weniger als die Hälfte der Mädchen sei der Auffassung, das richtige Gewicht zu haben; 40 Prozent hielten sich für zu dick.31Diese Zahl scheint weiterhin zu steigen: Der Ernährungsbericht 2000 gibt an, 56 Prozent der Mädchen zwischen 13 und 14 Jahren seien dieser Auffassung.32
Die Tendenz zu unzureichender Bewegung ist nicht nur in den USA zu beobachten. Vielmehr gibt es auch hierzulande alarmierende Trends. Bewegung reguliert einerseits die Nahrungszufuhr durch Kalorienverbrauch. Andererseits trägt sie auf beste Weise dazu bei, gestresste Körper wieder in Balance zu bringen. Bewegung ist eine der wesentlichen Erfordernisse einer gelingenden Sozialisation in einem ganzheitlichen Sinne. Eine der Ursachen für gesteigerte Bewegungsarmut dürfte im Verlust erforderlicher Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche gesehen werden. Dies soll nicht nur am Verhalten der Eltern, deren Ängstlichkeit usw., festgemacht werden. Vielmehr werden jungen Menschen Räume vorenthalten, die sie zu einem Mehr an Bewegung motivieren würden. Dieses Verdrängen von Kindern und Jugendlichen vor allem aus natürlichen, zum Teil auch aus „künstlichen“ Räumen bewirkt – ganz „nebenbei“ – eine gesteigerte „Anfälligkeit“ zum Konsum angebotener Medien. In diesem Circulus vitiosus wird das Problem der Bewegungsarmut weiter verschärft. Dies ist um so bedauerlicher, da unter gesundheitsfördernden – sprich: menschen- und vor allem kindgerechten – Bedingungen ein ausgesprochener Bewegungstrieb wesentlich deutlicher als bei Erwachsenen vorhanden ist. Dass dieser gelebt werden kann, hängt sehr stark von der Aktionsraumqualität ab, wie es Baldo Blinkert in seiner Freiburger Kinderstudie deutlich macht.
33 Die Bertelsmann Stiftung legte kürzlich eine Bewegungsstudie vor. Diese Studie unter der Leitung von Professor Klaus Bös vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlruhe kommt zu der Auffassung, deutsche Kinder seien Bewegungsmuffel. 6-10-Jährige lägen bzw. säßen neun Stunden und stünden fünf Stunden täglich. Die Bewegungszeit der Kinder betrüge höchstens eine Stunde täglich. Auf intensive Bewegung entfielen davon lediglich 15 bis 30 Minuten.34
Bestätigung finden derartige Ergebnisse durch Erkenntnisse der Arbeitstelle für Kinder-, Jugend-, Sport- und Sozialforschung an der Universität Essen. Die Arbeitsstelle unter der Leitung von Professor Werner Schmidt verweist am Beispiel der Stadt Essen auf den Umstand, der Autoverkehr habe seit Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – also in dreißig Jahren – um 500 Prozent zugenommen. In der Folge seien für Kinder erforderliche Spiel- und Bewegungsflächen
35 verloren gegangen. Die städtebauliche Verdichtung habe dazu geführt, dass Kinder nicht mehr gefahrlos auf der Straße spielen könnten. Schmidts Thesen gipfeln in der Erkenntnis, dass bei acht von zehn Kindern bei der Einschulung Defizite – wie Haltungsschwächen und Koordinationsstörungen – festgestellt werden könnten. Jedes fünfte Kind bedürfe einer gezielten individuellen bewegungstherapeutischen Behandlung.36 In einer zehnjährigen Vergleichsstudie an SchulanfängerInnen (1986 – 1996) konstatiert Schmidt dramatische Zunahmen von Auffälligkeiten. Er kommt zu dem Schluss, bereits 1986 seien die Ausgangsdaten schon relativ hoch gewesen. Demnach ist in den untersuchten zehn Jahren festzustellen eine Steigerung bei 

  • Sehschwäche von 15,2 auf 21,4 Prozent;
  • Koordinationsstörungen (nicht Schwäche) von 7,8 auf 13,9 Prozent;
  • Haltungsschwäche von 9,6 auf 10,2 Prozent;
  • Übergewicht von 5,6 auf 7,1 Prozent;
  • Hörstörung von 3,4 auf 6,8 Prozent;
  • chronisches Ekzem von 2,7 auf 5,4 Prozent;
  • Allergien von 0,7 auf 2,4 Prozent.37

M.E. erübrigt sich eine Kommentierung dieser alarmierenden Befunde. Insgesamt fehle es den Kindern an Spiel- und Bewegungsfreiräumen. Die Notwendigkeit, ihre Umwelt spielerisch zu erfahren, geschähe vielfach nur noch virtuell. Tatsächliche Bewegungsabläufe würden nicht mehr ausreichend verinnerlicht. Kinder könnten beispielsweise nicht mehr rückwärts balancieren. Idealtypisch zur Entwicklung kindlichen Bewegungsdranges und kindlicher Kreativität seien Abenteuerspielplätze; hier könnten sie diese frei entfalten.38
An früherer Stelle habe ich darüber berichtet, dass eine Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen im Trend liege. Angaben der BzgA zufolge klagen 19 Prozent der Mädchen und neun Prozent der Jungen über Kopfschnerzen, elf Prozent der Mädchen und sechs Prozent der Jungen über Nervosität und Unruhe, acht Prozent der Mädchen und drei Prozent der Jungen über Schlafstörungen und schließlich sieben Prozent der Mädchen und zwei Prozent der Jungen über Magenbeschwerden.
39
Im Auftrag des „stern“ wurde von der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Kölner Psy-data-Institut eine bundesweite repräsentative Studie über seelische und körperliche Gesundheit von vier- bis 18-Jährigen durchgeführt, die von Professor Michael Schulte-Markwort vom Hamburger Klinikum Eppendorf ausgewertet wurde. Demnach ist jedes fünfte Kind in Deutschland physisch oder psychisch derart beeinträchtigt, dass es professionelle Hilfe bräuchte. Einige der Erkenntnisse dieser Studie sollen hier wiedergegeben werden. Fast jeder dritte junge Mensch berichtet von Albträumen. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Kinder die Ängste ihrer Eltern internalisierten. Diese These wird ebenfalls durch die Hamburger Studie bestätigt. Jeder dritte junge Mensch leidet unter Phobien (z.B. Angst vor Dunkelheit), ist häufig oder zeitweise deprimiert und macht sich viele Sorgen. Konzentrationsprobleme haben 46 Prozent, über 40 Prozent dürften als hyperaktiv angesehen werden und über 30 Prozent sind „Nägelkauer“. Weiterhin leidet jeder zweite unter plötzlichen Stimmungswechseln, mehr als die Hälfte der jungen Leute ist misstrauisch und fast 30 Prozent sind bisweilen verwirrt oder zerstreut. Über ständige Kopfschmerzen klagen zehn Prozent und immerhin 2,5 Prozent über Magenschmerzen. Mehr als fünf Prozent stellen bei sich eine „bleierne Müdigkeit“ fest und über zehn Prozent haben Angst vor der Schule. Absichtlich verletzt haben sich über vier Prozent bzw. sie haben Selbstmord versucht. Über Suizid nachgedacht haben immerhin knapp fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen; dies meist ohne Wissen ihrer Eltern. Der Studie zufolge weiß nur jedes achte Elternpaar überhaupt davon, dass ihr Kind sich verletzt bzw. einen Suizidversuch verübt hat. Die Untersuchung kommt weiter zu der Auffassung, 6,2 Prozent der jungen Menschen litten unter Asthma und fast 20 Prozent unter Allergien. Ebenso viele berichten von Hautproblemen. Auf den Komplex „Allergien“ werde ich im Weiteren noch einmal zu sprechen kommen. Ständige bzw. häufige Rückenschmerzen haben fast sieben Prozent, gelegentliche Rückenschmerzen noch einmal weitere 13,5 Prozent. Wie Werner Schmidt kommt auch hier die Studie zu der Auffassung, dies habe etwas mit der akuten Bewegungsarmut zu tun und führt kausal das lange Sitzen vor dem Fernseher bzw. Computer an. Die an früherer Stelle berichteten Gewichtsprobleme werden ebenfalls bestätigt. Der Kinder- und Jugendpsychiater Schulte-Markwort hält eine unbeschwerte Kindheit schlicht für ein Mythos. Abweichend von früheren Untersuchungen kommt die Gesundheitsstudie zu der Auffassung, dass wohlbehütete Kinder inzwischen stärker von den Auffälligkeiten betroffen sind als Kinder aus sogenannten „sozial schwachen“ Schichten.
40 Die Journalistin Ulrike Moser sieht neben der Überbehütung auch das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung, glaubt aber, dass es vor allem die Armutsverwahrlosung gebe. Sie verweist aktuell auf die eine Million Kinder, die von der Sozialhilfe leben. Im Falle von Unterprivilegierung fehle es am ehesten an Fürsorge.41
Erwin Jordan, Vorsitzender des Instituts für soziale Arbeit in Münster, ergänzt mit Blick auf offizielle Jugendhilfestatistiken, die Öffentlichkeit werde oftmals erst von spektakulären Fällen aufgeschreckt, etwa von verhungerten oder verdursteten Kindern. Schleichende Vernachlässigung von Kindern werde kaum wahrgenommen. Anzeichen für eine anhaltende Vernachlässigung seien chronische Unterernährung, schlechte oder auch nicht passende Kleidung, unbehandelte Krankheiten und mangellnde Körperpflege. Jordan betont ausdrücklich, die Eltern seien nicht schlechter geworden, vielmehr lösten sich die früher üblichen entlastenden Netzwerke – bestehend etwa aus Großmüttern und Freunden – zunehmend auf. 50 000 Kinder sind nach Jordans Auffassung betroffen. Vermutlich mit Blick auf die Politik sei dieser Zustand ein „Armutszeugnis für Deutschland“.
42
Zu ähnlichen Beurteilungen wie die Hamburger Repräsentativstudie kommt auch ein Symposion für Dynamische Psychiatrie in München.
43 Hier wird ein dramatischer Anstieg von Depressionen und Ängsten bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. In Zusammenhang bringen dies die Wissenschaftler mit einer oft exzessiven Internetnutzung und dem damit einhergehenden Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen. Gerade die seien allerdings für eine gelingende Sozialisation erforderlich, entsprächen sie doch dem menschlichen Urbedürfnis nach Kontakt und Bindung. Um seine Persönlichkeit und seien Identität herausbilden zu können, benötige der heranwachsende Mensch den Austausch mit anderen Menschen. In der Folge genannter und zunehmender Defizite sein Beziehungsstörungen, soziale Ängste, ja sogar Beziehungs-Erkrankungen (wie z.B. das Borderline-Syndrom) zu befürchten.
In der gegenwärtigen Diskussion um Gesundheit von Kindern und Jugendlichen spielt ferner das Thema „Allergien“ eine zuvor nicht gekannte Rolle. Die Zahlen variieren zum Teil. Während die Hamburger Gesundheitsstudie von über sechs Prozent der Kinder ausgeht, berichtet der Jenaer Pneumologe Prof. Claus Krögel, der sich sehr spezifisch mit dieser Problematik befasst hat, davon, inzwischen sei bereits jedes 10. Kind in Deutschland Asthmatiker. Die Zahl der betroffenen Kinder sei doppelt so hoch wie die der Erwachsenen. Innerhalb von zehn Jahren habe sich die Zahl der Erkrankten insgesamt verdoppelt. Wenn wir die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die unter Allergien und Hautproblemen leiden, mit der vermuteten Anzahl der Asthmatiker addieren, kommen wir gegenwärtig auf einen alarmierenden Anteil von etwa der Hälfte der jungen Leute, die mehr oder weniger stark krank sind. 
Bereits seit längerem ist aufgefallen, dass das Risiko allergischer Reaktionen bzw. Erkrankungen dort am höchsten ist, wo die hygienischen Bedingen die höchsten Standards erfüllen, etwa in Krankenhäusern. Unisono kommen denn auch Krögel, der Pädiater Professor Theodor Zimmermann von der Universität Erlangen, die Münchner Pädiaterin Erika von Mutius, die Allergologin Sabina Illi, ebenfalls aus München, Erich Wichmann vom GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg sowie eine Ärztegruppe um den Allergologen Ratko Djukanovic aus dem britischen Southampton zu vergleichbaren Erkenntnissen. Krögel stellt fest, nicht Umweltverschmutzung sei die Ursache von Allergien, sondern die Lebensweise der Betroffenen. Er führt als krankmachende Beispiele Dämmung, Doppelverglasung und Teppichböden an, die verantwortlich seien für die Zunahme an Milben, Schimmelpilzen und erhöhte Empfindlichkeiten darauf. Ferner wirkten sich übertriebene Hygienevorstellungen verschärfend aus. „Übertriebene Sauberkeit“ bewirke gerade bei kleinen Kindern das Gegenteil ihrer vermeintlichen Absicht.
44 Ich selbst kenne aus meiner eigenen Kindheit den Spruch: „Dreck reinigt den Magen.“ Dieser „Bauernweisheit“ scheinen zutreffende Erfahrungen zugrunde zu liegen. Ein Beispiel, wie sich übertriebene Hygiene auswirken kann: Nehmen wir eine Wohnung mit Teppichbodenbelag an. Um die Gesundheit der Familie nicht zu gefährden, wird regelmäßig gründlich Staub gesaugt. Der Staubsauger schafft es mühelos, Raubmilben zu entfernen. Die kleineren Haustaubmilben bleiben übrig und können sich beliebig vermehren, da ihre natürlichen Feinde vernichtet wurden. Ein hausgemachtes Problem? Einiges spricht dafür. Einerseits werden Faktoren, die das Immunsystem schwächen, durch den Versuch Sauberkeit herzustellen, überhaupt erst erzeugt. Andererseits nimmt mit zunehmendem Hygienestandard die Fähigkeit des Immunsystems ab, körpereigene Widerstände zu erzeugen. Zimmermann führt an, dass Kinder mit regelmäßigen Tierkontakten und Kinder von Bauernhöfen deutlich weniger erkranken als Kinder in der typischen Stadtwohnung, ebenso seien Kinder aus der früheren DDR und Polen – gerade wegen der niedrigeren hygienischen Standards – weniger betroffen als westdeutsche und schwedische Kinder. Er vertritt die Auffassung, ein ausgewogenes Maß an Umweltkontakten sei für die optimale Entwicklung des kindlichen Immunsystems wesentlich.45 Krögel ergänzt, das menschliche Immunsystem müsse genau wie das Gehirn trainiert werden, um mit allergenen Stoffen umgehen zu können.46 Diese Informationen würden nach Erich Wichmann die menschlichen Abwehrkräfte derart stärken, dass der Effekt ein Leben lang vorhielte.47
Auch hinsichtlich der früher bei Kindern üblichen Krankheiten wie Erkältungen und anderen Infektionskrankheiten hat es offenbar eine Verhaltensänderung bei den Eltern gegeben. Sechs bis acht derartiger Infektionskrankheiten jährlich hält Zimmermann bei Vorschulkindern für normal. Er glaubt, dass die Kinder um so häufiger erkrankten, je stärker sie mit Antibiotika behandelt würden. Und Krögel kommt schließlich zu der Erkenntnis, Kinder, die sich beim Spielen eine Erkältungskrankheit zuzögen, würden dadurch abgehärtet. Diese Erfahrung können Waldkindergärten genauso bestätigen, wie sie von Kindern, die regelmäßig einen Abenteuerspielplatz besuchen, berichtet werden können.
Den Themenbereich Allergien und Infektionskrankheiten abschließend sei noch auf eine neue medizinische Vorgehensweise verwiesen, die besagte britische Ärzte in Southampton praktizieren. Dort werden allergiekranke Menschen mit einer Bazille, dem Mycobacterium vaccae, behandelt. „Diese Bakterien finden sich überall im Schmutz und bilden auch die fiesen Beläge, die sich am Wasserhahn festsetzen. Wir töten sie ab und spritzen sie Asthmatikern unter die Haut,“ so der Allergologe Ratko Djukanovic.
48 Nicht umsonst übertitelte DER SPIEGEL seinen Beitrag mit „Heilkraft aus dem Misthaufen“. Gegen Heuschnupfen und Neurodermitis, die bei Kindern auch auf dem unübersehbaren Vorstoß sind, sollen bald ebenfalls Impfstoffe aus Erdmikroben und Darmbazillen zur Verfügung stehen.
Das Stichwort „biologische Medikation“ gibt mir eine gute Gelegenheit, zum Phänomen „chemische Medikation“ überzuleiten. Eine immer größer gewordene Anzahl sogenannter hyperaktiver Kinder macht dies deutlich: Immer schneller und immer häufiger wird zu Pillen gegriffen, die das Problem – im wahrsten Sinne des Wortes – ruhig stellen sollen. Die Hamburger Gesundheitsstudie sprach von immerhin 40 Prozent hyperaktiver Kinder. An ADHS (Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom), an dem schätzungsweise zwei bis sechs Prozent der Jungen und Mädchen in Deutschland leiden, wird dies besonders deutlich.
49 Bei ADHS, dessen Diagnose häufig voreilig von Ärzten getroffen wird, handelt es sich um eine neurobiologische Störung der Hirnfunktion, die möglicherweise genetisch bedingt ist. Die Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin werden im Gehirn nur unzureichend zwischen den Zellen übertragen werden. Die betroffenen Kinder fallen auf durch Konzentrationsstörungen, allgemeine Unruhe, Vergesslichkeit und erhöhte Aggressivität. Die Kinder werden häufig mit Amphetaminen „stillgestellt“. Häufig gilt dies auch für solche Kinder, die aus anderen Gründen unruhig sind. Auch kann beobachtet werden, dass Eltern nicht selten solche Medikamente verlangen. Das bekanntesten ist vermutlich Ritalin. 
Die drastische Steigerung des Konsums von Ritalin und vergleichbaren Präparaten verdeutlicht Professor Dietrich Hofmann, früher an der Kinderklinik der Universität Frankfurt am Main beschäftigt. Unter Berufung eines Berichts im Deutschen Ärzteblatt verweist er darauf, dass die noch 1990 verordneten Mengen für 1500 Kinder gereicht hätten. Die 1999 verschriebene Menge reichte aus, um damit 42 000 Kinder zu behandeln. Wie zuvor im Zusammenhang mit ADHS schon ausgeführt, kommt Hofmann ebenfalls zu der Auffassung, derartige Präparate würden häufig nach unzureichender Diagnose und ohne psychotherapeutische Begleitung verordnet. Eine rein medikamentöse Behandlung zur Alltagsbewältigung sei abzulehnen; allenfalls könnten Medikamente zur Unterstützung anderer Therapieformen hinzugezogen werden. Hofmann betont, die Gewöhnung an Medikamente sei dazu angetan, die Schwelle hinsichtlich des Erlernens eigener Lösungen zu Ungunsten des alltäglichen Pillenkonsums zu verschieben. Er vermutet in diesem Zusammenhang auch eine größer werdende Toleranz z.B. gegenüber Party- und anderen Drogen.
50
Generell kann bezüglich des Tablettenkonsums bei jungen Leuten festgestellt werden, dass im Alter von 15 Jahren 15 Prozent Schmerzmittel einnehmen; diese Quote steigert sich auf 22 Prozent im Alter von 18 Jahren. Psychopharmaka werden von 0,5 Prozent der 15-Jährigen konsumiert; 18-Jährige sind bereits mit vier Prozent dabei. Mittel gegen niedrigen Blutdruck werden von fünf Prozent der 15- und von sieben Prozent der 18-Jährigen benutzt. Mit 18 Jahren nehmen immerhin drei Prozent Schlafmittel.
51 Erwähnenswert scheint, dass fast 80 Prozent aller Arzneimittel, die von Kindern und Jugendlichen verwandt werden, nicht für sie zugelassen sind; er handelt sich fast regelmäßig um Präparate für Erwachsene, die nicht auf die Eignung bei Kindern klinisch geprüft sind.52
Kürzlich sprach ich mit dem Quakenbrücker Arzt und Psychotherapeuten Eckhard Schiffer über dieses Thema. Er berichtete ebenso über die genannte, Tendenz, immer früher zu den Pillen zu greifen. Er ist augenblicklich dabei, gemeinsam mit seiner Frau ein Buch zum Thema „Hyperaktive Kinder/Medikation“ zu verfassen, was vermutlich bereits jetzt empfohlen werden kann. Gemeinsam mit Eckhardt Schiffer bin ich der Auffassung, dass im Zweifelsfalle die rechtzeitige Einrichtung eines Abenteuerspielplatzes bzw. vergleichbarer Möglichkeiten sowohl im präventiven als auch im begleitenden bzw. nachsorgenden Sinne hilfreicher sein dürften, als der allzu rasche Griff zur Tablette. Auf Schiffer werde ich in meinem perspektivischen Teil noch einmal zurück kommen.
Vor einiger Zeit hatte ich selbst im Rahmen meiner Weiterbildungsarbeit ein beeindruckendes Erlebnis. Die Gruppe, die sich in der Fortbildung befand, hatte von mir Aufgaben bekommen. Eine junge Kollegin erklärte sich bereit, zum Thema „Aggressionsabbau bei Kindern und Jugendlichen“ zu arbeiten. Nach einer kleinen theoretischen Einführung über Aggressionen präsentierte sie einen biographischen Teil. Dort führte sie u.a. aus, sie selbst sei nach einem Umzug vom Land in die Stadt ein hyperaktives Kind geworden. Sie schilderte die Leiden, die für sie selbst damit verbunden waren und welche Schritte sie ausprobierte, in der Großstadt „heimisch“ zu werden. Schließlich gelang es ihr, sich als Schlagzeugerin in einer Punk-Band zu etablieren. Dieses sei für sie die „beste Medizin“ gewesen. In der Zwischenzeit spielt sie in mehreren Bands mit. In einem weiteren Teil des Seminars hatten alle TeilnehmerInnen Gelegenheit, selbst Schlagzeugerfahrungen zu machen; alle konnten nachvollziehen, was gemeint war: Rhythmus und „Krachmachen“ konnten als probate Mittel entdeckt werden, Aggressionspotentiale zu kanalisieren. Vergleichbares kann auch aus anderen Zusammenhängen berichtet werden; denken wir etwa an Kinder, die sich im Hüttenbaubereich eines Abenteuerspielplatzes mit Hammer und anderen Werkzeugen austoben können.
Das Szenario abschließend möchte ich noch einen Blick auf Kinderunfälle werfen. Da wir hierzu – auch bei uns im Verband – an etlichen Stellen gearbeitet haben
53, möchte ich es hier kurz halten. Je stärker Kinder behütet und beschützt werden, um so größer wird die Gefahr, dass sie an Erfahrungen gehindert werden, die sie sicher und reif werden lassen.54 Diese Erfahrung machen Abenteuerspielplätze im Laufe ihrer jahrzehnte alten Erfahrung immer wieder; dies übrigens weltweit, sofern der Einrichtungstypus existiert. Es gibt nur eine einzige abenteuerspielplatztypische Verletzung, den Nagelstich. Fälschlicherweise wurde bisweilen darauf hingewiesen, dieser Einrichtungstypus sei ungefährlich, was dann mit der unbedeutenden Unfallquote in einen Zusammenhang gebracht wurde. Eine solche Aussage verkehrt den tatsächlichen Effekt, den der Abenteuerspielplatz zur Folge hat: Durch das bewusst integrierte Risiko reduziert sich die tatsächliche Gefahr für die Benutzerkinder. Sie wachsen konkret mit den Aufgaben, die sie nach und nach zu bewältigen lernen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Erlebnispädagogik. Bereits 1978 vertrat der Bundesgerichtshof die Auffassung, ein Abenteuerspielplatz solle nicht nur ein die Phantasie anregendes, schöpferisches Spiel ermöglichen. Vielmehr sei sein Zweck auch, „in besonderer Weise die Freude am Abenteuer und am Bestehen eines Risikos zu vermitteln, um seine Benutzer so aus moderner pädagogischer Sicht frühzeitig auf die Gefahren des täglichen Lebens einzustellen und sie lernen lassen, diese zwar zu wagen, sie aber auch zu beherrschen.“55 Ein vollkommen behütetes Milieu würde den Zweck der Körper- und Persönlichkeitserziehung vereiteln.
Der Psychologe Torsten Kunz fand gegen Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einer Untersuchung der Eigenunfallversicherung der Stadt Frankfurt am Main heraus, dass Kinder in Kindergärten und Grundschulen deshalb am meisten verunglückten, weil ErzieherInnen und LehrerInnen primär damit beschäftigt waren, diese zu beschützen, will sagen, sie möglichst an ihrer Bewegung zu behindern, damit ihnen nicht zustieße. Das Gegenteil allerdings wurde hiermit erreicht: Die Unfallquote war beachtlich hoch; sie sank ab dem Zeitpunkt, wo vermehrt grobmotorische Angebote eingeführt wurden.
56
Diese – für viele Erwachsene scheinbar paradoxe – Sichtweise müsste im Sinne von Gesundheitsförderung tatsächlich von Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen usw. integriert werden. Der Widerspruch bzw. die divergierenden Einschätzungen zu dieser Thematik wird auch in der Broschüre „Giftpflanzen – Beschauen, nicht kauen“ deutlich. In der Broschüre wird einerseits das Bemühen skizziert, Kinder möglichst dadurch zu schützen, indem man alle giftigen Pflanzen vorenthält. Andererseits wird aufgezeigt – und diese Einschätzung halte ich für die verantwortlichere -, das Vorhandensein giftiger Pflanzen im Umfeld von Kindern sei nicht nur dazu dienlich, eine ökologische Vielfalt zu pflegen; vielmehr hülfen sie auch bei einer Erziehung zur Vorsicht und damit zu einem Mehr an Erfahrungen.
57 Die Konferenz der Gartenbauamtsleiter sowie der Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau vertreten denn auch die Auffassung, bestehende reglementierende Erlasse der Bundesländer gehörten aufgehoben. Erlasse würden nur für Verwirrung und Ängste sorgen. Lediglich vier besonders giftige Gehölze hätten nichts in der Welt von Kindern zu suchen, nämlich der Goldregen, das Pfaffenhütchen, die Stechpalme und der Seidelbast.58

Perspektiven

Erfreulicherweise „bescheinigt“ die Wissenschaft den „am ehesten originär kinderspezifisch entwickelten Ansätzen“59 nicht nur, sie fristeten ein Schattendasein, sondern auch, dass deren „offensivste Interessenvertretung“ in der Bundesrepublik Deutschland, der ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie der Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze, über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus fachliche Anerkennung erlangt habe.60 Bleibt zu hoffen, dass diese Auseinandersetzung ebenso zu dieser „Offensivstrategie“ einen Beitrag zu leisten imstande ist. Der 10. Kinder- und Jugendbericht führt in der Kommentierung der Bundesregierung vor dem Hintergrund zuvor genannter Feststellung der Sachverständigenkommission aus, sie sähe es als wünschenswert an, „die kinderbezogenen Angebote wie … Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze, musikalische Früherziehung, Kinder- und Jugendkunstschulen, Kinder- und Jugendtheater, Kinderkinos, Kindermuseen, Spielmobile flächendeckend zu verstärken“.61 62
Ich wünsche mir, dass die Argumente dieses Beitrags der Praxis nicht nur Anregungen bezüglich ihrer konzeptionellen Fortentwicklungen aufzeigen; darüber hinaus verfolge ich die Intention, der Politik gegenüber zu verdeutlichen, in welcher Weise sie Kindern gegenüber mehr Verantwortlichkeit aufbringen kann. Die in Rede stehenden Konzepte setze ich bei den meisten LeserInnen als bekannt voraus. Sie hier im Einzelnen erneut zu beschreiben, würde den Rahmen dieser Auseinandersetzung sprengen. Sachunkundigen sei der Kontakt zum ABA Fachverband empfohlen.
Anstelle konzeptioneller Beschreibungen möchte ich im Anschluss an die „Schreckensbilanz“ im vorhergehenden Teil dieser Arbeit nunmehr mit Fachleuten argumentieren, die gewissermaßen für lösungsorientierte Konzepte stehen. Bewusst orientiere ich mich nicht nur an Inhalten und Methoden, die in der Offenen Arbeit entwickelt wurden, sondern versuche, auch darüber hinaus gehende, in anderen Feldern entwickelte gesundheitsförderliche Ansätze – selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zu berücksichtigen.
Beginnen wir mit Kurt Hahn (* 1886 – + 1974).
63 Der als Reformpädagoge populär gewordene Brite deutscher Herkunft war von 1920 – 1933 Leiter der Internatsschule Salem in der Nähe des Bodensees. Er gründete diese Schule, die bis heute weit über ihr Einzugsgebiet hinaus bekannt ist, im Auftrag des letzten kaiserlichen Reichkanzlers, Prinz Max von Baden (* 1867 – + 1929). „Herausforderung“ (challenge) sollte und soll sie sein. Es ginge nicht um „pädagogische Sandkastenspiele“, vielmehr um die praktische Organisation des Lebens, Bildung von Verantwortung, Mitgefühl, politische Mündigkeit, Partizipation, Innovation, Engagement und Phantasie.64 Hildegard Hamm-Brücher tritt der Meinung entgegen, Salem sei eine Eliteschule für die Kinder reicher Familien; vielmehr berichtet sie, bei steigender Tendenz seien über ein Drittel der SchülerInnen Stipendiaten. Unterstellen wir, dass diese Feststellung schlimmstenfalls eine Schutzbehauptung ist, so können wir mithin feststellen, dass für die Kinder reicher Leute unzweifelhaft ist, wofür andere möglicherweise kämpfen müssten: Gibt es im Internat Schloss Salem wie selbstverständlich einen Abenteuerspielplatz und eine Jugendfarm wie auch andere erlebnispädagogische Betätigungen in den Alltag integriert sind. Das Schloss Salem zählt zu seien Zielen eben nicht nur das Abitur, vielmehr gehe es um Selbstdisziplin, politisches Handeln, die Bereitschaft und die Fähigkeit zu helfen, rücksichtsvoll und aufmerksam auf andere zu reagieren, sich für Musik, Kunst und Theater zu begeistern, seinen Körper gesund erhalten zu lernen, Sport, praktische und handwerkliche Fähigkeiten u.a.m. Salem beruft sich hinsichtlich seiner Auffassung zum politischen Handeln auf Kurt Hahn. Es gehe darum, seine Erkenntnisse umzusetzen „gegen Unbequemlichkeit, gegen Gefahren, gegen Langeweile, gegen Eingebungen des Augenblicks, gegen Strapazen, gegen Hohn der Umwelt, gegen Skepsis“.65 Die jungen Leute lernten die Regeln der Demokratie kennen und mit ihnen umzugehen, bei Enttäuschung nicht zu resignieren und die Verantwortung jedes Einzelnen auch ohne führende Hand. Nebenbei erwähnt, ist Kurt Hahn der „Erfinder“ der Erlebnispädagogik.
Das „Urgestein“ der Psychoanalyse, Wilhelm Reich (* 1897 – + 1957), dokumentierte bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Erkenntnisse über die gesundheitsförderlichen Aspekte der „originär kinderspezifischen Ansätze“. Er verdeutlicht dies u.a. am Beispiel der Moskauer Kulturparks, aus denen die m.E. frühesten Bauspielplätze bekannt geworden sind, und der Arbeit der Moskauer Psychoanalytikerin Wera Schmidt.
66
Unabhängig von der von Reich beschriebenen Entwicklung beobachtete der Kopenhagener Landschaftsarchitekt Carl Theodor Sörensen (* 1893 – + 19XX), der ab 1940 Professor an der Kunstakademie Kopenhagen war, das Spiel von Kindern und stellte fest, dass diese sich vorwiegend dort aufhielten, wo sie kreativ konstruieren konnten. In der Folge entstanden in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in Skandinavien die ersten originär kinderspezifischen Einrichtungen (Gerümpelspielplätze, Bauspielplätze, Konstruktionsspielplätze). Bevor wir uns den zeitgenössischen „Mit- und VordenkerInnen“ für ganzheitliche, gesundheitsfördernde Konzeptionen zuwenden, sei mir gestattet, einige Pädagogen u.a., die ebenfalls für die „richtige Richtung“ stehen, zu nennen. M.E. bleiben erwähnenswert der beachtliche Kinderpsychologe und Professor für Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie an der Universität Chicago, Bruno Bettelheim (* 1903 – + 1990), für den zu jeder Zeit seines Schaffens klar war, zu einer gesunden Sozialisation von Kindern gehöre das Abenteuer unbedingt dazu.
67 Bettelheim verzeichnete in seiner kindertherapeutischen Klinik weltweit beachtete Erfolge selbst bei „schwer gestörten“ Kindern und Jugendlichen68, weiterhin Janusz Korczak (* 1878 – + 1942), der polnische Arzt und Pädagoge, der in Achtung und Liebe gegenüber Kindern zentrale gesundheitsfördernde Faktoren sah69; der französische Reformpädagoge und Lehrer Célestin Freinet (* 1896 – + 1966), für den die Natur, die Kunst und das Experimentieren zentrale Medien und Methoden der Arbeit, die Verantwortlichkeit und gesunde Entwicklung von Kindern beförderten, darstellten. Der Pädagoge Alexander S. Neill (* 1883 – + 1973), der Gründer des Internats in Summerhill, sollte m.E. hier nicht fehlen. Allzu gern wird Neill von denjenigen, die gegenwärtig lauthals nach „neuer Erziehung“ und „Autorität“ schreien, als einer derjenigen verunglimpft, die den eingangs erwähnten „Erziehungsnotstand“ mit zu verantworten hätten. Nach wie vor existiert Summerhill unter der Leitung von Neills Tochter Zoe Readhead. Immer wieder wird es durch die britischen Schulbehörden in seiner Arbeit behindert. Gleichwohl bringt es Kinder hervor, die nicht weniger gut gebildet sind wie SchulabgängerInnen anderer Schulen auch. Vor allem kommt es entscheidend dem Auftrag nach Ganzheitlichkeit nach.70 
Eine grundlegende Systematik für eine ökologische Sozialisationstheorie hat der 1917 geborene amerikanische Psychologe russischer Herkunft, Urie Bronfenbrenner, entwickelt. Er bestätigt die hier vertretene und geforderte „Ganzheitlichkeit“, indem er klar stellt, dass sich „alles miteinander in Verbindung“ befindet und Entwicklung immer Wechselwirkung sei. Er schließt sich der Systemtheorie an, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass Veränderungen, auch kleinste Störungen, die Gesamtstruktur eines Systems veränderten, diese eben nicht nur vom Individuum als Beeinträchtigung aufgefasst würden. Diese Erkenntnis kann sich eine gesundheitsförderliche, wohl reflektierte Pädagogik sehr zunutze machen.
71
„Was uns erschöpft, ist die Nichtinanspruchnahme der Möglichkeiten unserer Organe und unserer Sinne, ist ihre Ausschaltung, Unterdrückung … Was uns aufbaut, ist Entfaltung. Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit einer mich im Ganzen herausfordernden Welt.“
72 Ich denke, dass Hugo Kükelhaus73(*1900 – + 1984) mit Fug und Recht als einer der wichtigsten Protagonisten einer ganzheitlichen Lebens- und Sichtweise gesehen werden kann. Kükelhaussche Elemente in die Arbeit mit jungen Leuten zu integrieren, könnte ein nicht unerheblicher Schritt zur Gesundheitsförderung sein. Sein Lebenswerk steht quasi unter dem Motto „Mit den Sinnen leben!“ „Die Entwicklung des Menschen wird von derjenigen Umwelt optimal gefördert, die eine Mannigfaltigkeit wohldosierter Reize gewährleistet. Ungeachtet der Frage, ob diese Reizwelt von physischen oder sozialen Verhältnissen und Faktoren aufgebaut ist – die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist Lebensbedingung.“74 Um der Praxis Einblick in die Arbeit von Kükelhaus zu geben und daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, werden beim ABA Fachverband entsprechende Seminare angeboten.
Bezüglich einer Gesundung unter Extremsituationen können wir von dem österreichischen Psychiater, KZ-Häftling und späteren Professor für Neurologie und Psychiatrie, Viktor E. Frankl (* 1905 – + 1997), lernen. Er zeigt – wie später Ernst Bloch – vor allem auf, wie wichtig das „Prinzip Hoffnung“ zur Gesundung und möglicherweise zum Überleben des Menschen ist. Vor allem die zitierte Hamburger Repräsentativstudie (2001) sowie das Symposion für Dynamische Psychiatrie in München (2001) haben aufgezeigt, wie dramatisch Depressionen und Hoffnungslosigkeit bei Kindern gestiegen sind. Frankl belegt vor allem mit seinem Bericht über das Konzentrationslager Auschwitz, welche Mechanismen, Aktivitäten, Sichtweisen usw. das Leben selbst in extremen Situationen „lebenswerter“ machen.
75 Frankl war es auch, der später deutlich herausstellte, dass seiner Auffassung nach im Rahmen der Psychotherapie am allerwenigsten Methodik und Technik wirksam seien. Die größte Heilkraft sieht er in der menschlichen Beziehung zwischen Arzt und Patienten76, eine Erkenntnis, die sich auch die Pädagogik zunutze machen kann.
Wie bereits erwähnt lieferte der Frankfurt Psychologe Torsten Kunz einen bedeutenden Beitrag zur Gesundheitsförderung bei Kindern durch seine Erkenntnis, ihnen müsste gezielt eine Portion von Risiko eingeräumt werden (vgl. hierzu Fußnote 54). Über die Schlussfolgerungen von Kunz hinaus gehen die freie Autorin Elisabeth C. Gründler und der Landschaftsarchitekt Norbert Schäfer. Während sie betonen, dass selbst bei den Unfallkassen durch die Arbeiten von Kunz ein Umdenken eingesetzt habe, vertreten sie die Auffassung, mehr organisierte Bewegungsspiele seien nicht die Konsequenz, vielmehr müsse dafür gesorgt werden, dass Kindern ein nachhaltiges und abenteuerliches Freispiel ermöglicht würde. Gründler und Schäfer haben ein beachtliches Buch vorgelegt, das m.E. „Pflichtlektüre“ in jeder pädagogischen Einrichtung sein müsste.
77 Das Buch orientiert sich auf einer systemischen Grundlage. Es beschreibt in seinem Theorieteil eingängig, wie sich z.B. menschliche Intelligenz entfaltet, führt eine Reihe praktischer Beispiele auf, wie Gelände kindgerecht und gesundheitsfördernd umgestaltet werden kann. Schließlich wird das Buch durch einen Anhang „Fehlende Freiräume machen Kinder krank!“ von Gerd Glaeske und Ruth Rumke ergänzt.78
Freies und naturnahes Spielen – auch im Sinne kindlicher Gesundheit – zu fördern, ist Ziel eines bundesweiten, interdisziplinär besetzten Arbeitskreises „Städtische Naturerfahrungsräume“ unter der Leitung des Landschaftsplaners Hans-Joachim Schemel,
79 der interdisziplinär von Umwelt- und Kinderexperten wie Vertretern der Pädagogik besetzt ist. Dem Arbeitskreis ist über seine fachliche Arbeit hinaus auch an politischer Einflussnahme gelegen. Hierbei geht es u.a. um die Durchsetzung einer neuen Flächenkategorie „Naturerfahrungsräume“.
Dass die Integration weiterer Naturelemente in die Arbeit mit Kindern gesundheitsförderliche Komponenten aufweist, belegt z.B. auch die Arbeit von Kinderbauernhöfen (Jugendfarmen) und Abenteuerspielplätzen mit Tierhaltung. Einerseits haben Tiere antiallergene Wirkung. Auf diese Erkenntnis wies das Deutsche Grüne Kreuz unter Berufung auf eine amerikanische Studie hin. Demnach sinkt das Risiko, eine Allergie zu entwickeln bei Kindern, die regelmäßigen Kontakt zu Tieren haben, um die Hälfte, wobei dieser möglichst frühzeitig ermöglicht werden sollte.
80 Der Nutzen einer allgemeinen Gesundheitsförderung von Tieren wurde unter dem Titel „Tiere als Therapeuten“ eingehend dokumentiert.81 Sogenannte „Bausteine zur Tierhaltung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“ wurden vom ABA Fachverband entwickelt.82 In diesen Bausteinen beschäftigen sich Irene Tilly, Rainer Deimel und Petra Elbers mit den verschiedenen Aspekten zu einer umsetzbaren Konzeption. Sie befassen sich mit Grundlagen, veröffentlichen eine Prioritätenliste (welche Tiere?), mit der Wirkung von Tieren auf Kinder, Ökologie und schließlich auch mit dem Tod.
„Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde – Vom gesunden Eigensinn“, „Der Kleine Prinz in Las Vegas – Spielerische Intelligenz gegen Krankheit und Resignation“, „Warum Hieronymus B. keine Hexe verbrannte“, „Wie Gesundheit entsteht – Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung.“ Die Titel seiner Bücher sind quasi das Programm des bereits erwähnten Quakenbrücker Arztes und Psychotherapeuten Eckhard Schiffer. Zur primären Vertiefung sei hier vor allem „Der Kleine Prinz in Las Vegas“ empfohlen. Mit den Augen des Kleinen Prinzen will er die unsichtbaren Qualitäten sichtbar machen. Er begreift seine Ausführungen als Gegenentwurf zum zunehmenden Konkurrenzdruck und Leistungsdenken. Eine spielerische Intelligenz ist es, so Schiffer, die Menschen in die Lage versetzt, Krankheit, Resignation und emotionaler Leere zu entgehen.
83Schiffer erwähnte mir gegenüber in einem Gespräch, in Niedersachsen habe man einen Abenteuerspielplatz als „Huckleberry-Finn-Platz“ eröffnet. In seinem bislang letzten Buch beschreibt er, wie Gesundheit entsteht.84Eine geänderte Sichtweise, nämlich nicht mehr daran festzuhalten, was uns für uns riskant ist und uns krank macht, sondern zu schauen, wie wir es schaffen, mit den Herausforderungen und Belastungen des Alltags umzugehen und uns gleichzeitig vor ihnen zu schützen, ist die Grundlage dieser Auseinandersetzung. Schiffer beruft sich dabei auf Erkenntnisse des israelischamerikanischen Medizinsoziologen, Aaron Antonovsky (* 1923 – + 1994), der davon ausging, dass Gesundheit entsteht durch die Entwicklung eines sogenannten Kohärenzgefühls, eines Gefühls für Zusammenhänge, ergo eines ganzheitlichen Lebensentwurfs. Spiel und Dialog sind demnach grundlegend für die Entwicklung des Kohärenzgefühls und damit für die Gesundheit, eine These, die einmal mehr bestätigt, dass Spiel niemals zweckfrei ist, wie früher häufig angeführt wurde.
Von der gleichen Grundlage aus argumentiert die Osnabrücker Professorin und Sportwissenschaftlerin Renate Zimmer. Auch sie belegt die verschiedenen Risiko- und Schutzfaktoren. Unter Berufung auf die bekannteste 30 Jahre dauernde Längsschnittstudie, die Kauai-Studie,
85 zeigt Zimmer auf, dass trotz erheblicher Risikofaktoren „nur“ zwei Drittel der untersuchten Kinder Symptome von Krankheit oder Störung aufwiesen, eine Feststellung, die gewiss auch manche Pädagogen und Psychotherapeuten überraschen könnte. Als Risikofaktoren, von denen mindestens vier festgestellt werden mussten, wurden angeführt: Armut, dauernde Konflikte der Eltern, Alkoholprobleme,, psychische Krankheiten bei den Eltern oder mindestens einem Elternteil, Geburtskomplikationen und schwere Erkrankungen während des ersten Lebensjahres. Vor allem interessierte die Studie sich für die „unauffälligen“, ergo gesunden Kinder („resilient children“). Hier konnte eine besondere Bindungsfähigkeit, Kontakt zu einem oder mehreren Erwachsenen, zu Freunden, Erziehern usw. festgestellt werden. Diese Kontaktfreudigkeit war manifest. Auch später verfügten die Betroffenen über einen großen Freundeskreis.. Ferner wurde herausgefunden, dass diese Kinder schon von klein auf ein sehr aktiv waren, auffallend selbstständig, aufgeweckt, fröhlich und selbstbewusst und sich imstande zeigten, Probleme selbst zu lösen. Sie waren in der Lage, sich, wenn erforderlich, anderer Ressourcen zu bedienen, sprich sich selbstbewusst nach Hilfe umzusehen. Dadurch konnte sich ihr eigenes Kompetenzgefühl gut entwickeln und sie erlebten, dass man etwas verändern kann. Auch im Jugendalter verfügten die Untersuchten über ein positives Selbstkonzept, eine höhere Leistungsmotivation und waren davon überzeugt, dass man dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sei, sondern vielmehr Einflüsse auf sein Leben habe. Selbst unter chaotischen Verhältnissen waren sie in der Lage, ihr Leben zu strukturieren. So konnte die Studie festhalten, dass die besagte Gruppe „problemfrei zu kompetenten, selbstbewussten jungen Erwachsenen“86 heranwuchs.
Zimmer betont, das derartige Erkenntnisse nicht bedeuten könnten, „man könne Kinder im Vertrauen auf deren Widerstandskräfte ruhig sich selbst überlassen“.
87 Im Gegensatz zu anderen Fachleuten, die inzwischen deutlich vermehrt an „die Macht der Gene“ glauben88, geht Zimmer nicht von genetischen Persönlichkeitsdispositionen aus, sondern von Eigenschaften und Verhaltensmerkmalen, die in der frühen Kindheit erworben wurden. Am Beispiel des Kindergartens führt sie weiter aus, der Aufbau von Selbstwertgefühl, Selbstständigkeit und aktives Lösungsverhalten seien vereinbar mit einer Erziehung zur Selbstständigkeit89, quasi eines Auftrages pädagogischen Tätigwerdens.
Zimmer verwendet sich wie Schiffer für eine aktive Ressourcensuche, die kindliche Widerstandsfähigkeit stärken würden. Gesundheitsressourcen sind demnach körperliche – wie Fitness, Stärkung bzw. Intaktheit des Immunsystems, Herz-Kreislauf-Leistungsfähigkeit -, personale – wie Zuversicht, Optimismus, positives Selbstkonzept und Selbstvertrauen – sowie soziale – wie Akzeptanz und Unterstützung in der Bezugsgruppe. Des weiteren stellt sie einen Maßnahmenkatalog zusammen, der die Bildung eines positiven Selbstkonzepts bei Kindern unterstützt:

  • eigene Stärken erkennen helfen, bewusst machen;
  • Situationen bereitstellen, in denen Kinder das Selbstkonzept erfahren können;
  • Eigenaktivität und Selbsttätigsein fördern;
  • vorschnelle Hilfeleistung vermeiden;
  • Kinder unabhängig von ihrer Leistung wertschätzen;
  • Vergleiche mit anderen vermeiden, individuelle Bezugsnormen setzen.90

Zimmer sieht auch die Gefahren, die mit Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten verbunden sind. Sie argumentiert, dem Kindergarten käme in bildungspolitischer Hinsicht immer noch nicht die ihm relevante Bedeutung zu. Dies kann aus Sicht der Offenen Arbeit vergleichsweise attestiert werden. Wenn Zimmer dies für den Kindergarten konstatiert, der immerhin einen gesetzlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag hat, ist dieser für die Kinder- und Jugendarbeit nirgendwo verankert. Vor dem Hintergrund ihrer  – zumindest bei den „am ehesten originär kinderspezifisch entwickelten Ansätzen“ – ganzheitlichen Konzepte leistet meines Dafürhaltens die Offene Arbeit nicht selten eine höherwertigere Bildungsarbeit und Gesundheitsförderung als die klassischen Bildungsinstitutionen.91 Dass Teile der Politik diesen Bildungsauftrag wahrnehmen, belegt eine entsprechende Aussage der nordrhein-westfälischen Jugendministerin während einer Tagung am 23.10.2000 in Essen. Zimmer betont die höhere Wirksamkeit des Kindergartens in gesundheitspolitischer Hinsicht. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass sich aufgrund eines immer höher werdenden finanziellen Druck die Leistungen eher verschlechterten denn verbesserten. „Wenn Kinder in ihrem Lebensalltag schon immer größeren Belastungen ausgesetzt werden, dann sollten wenigsten für familienergänzende Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen optimale Voraussetzungen geschaffen werden. Die Risiken werden in der modernen Gesellschaft für Kinder kaum einzudämmen sein. Im Zentrum des pädagogischen Interesses müssen daher zunehmend die Potenziale und Möglichkeiten stehen, die die kindliche Entwicklung schützen und stärken.“92 Dieser positive Denkansatz der Risikominimierung, der Stützung der personalen, körperlichen und sozialen Ressourcen der Kinder, das Entdecken eigener Stärken wie auch der Umgang mit Schwächen und die Förderung einer bejahenden Lebenseinstellung sei von Erwachsenen, wo immer es in ihrem Verantwortungsbereich liege – dies schließt m.E. vor allem die Politik und die Wirtschaft ein – zu fördern. Dies bedeutet vor allem auch, die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.
Salutogenese bestätigt einmal mehr die Erkenntnisse, die die britisch-amerikanische Anthropologin Jean Liedloff bereits 1977 dokumentierte. Liedloff, die über zwei Jahre bei venezuelanischen Yequana-Indianern lebte, berichtet von der Entstehung des „Urkontinuums“, vom Aufwachsen der Kinder und vom Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern. Sie weist auch an diesem Beispiel deutlich nach, wie Gesundheit entsteht. U.a. führt sie aus, wie die Selbstverantwortung von Kindern respektiert wird. Gleichzeitig belegt sie, welche Risiken möglicherweise durch das Verhalten von Eltern und anderen Erwachsenen in der sogenannten westlichen Welt überhaupt erst produziert werden.
93
Meine Ausführungen können – wie bereits betont – die Thematik nur ansatzweise „aufreißen“. Viele Komplexe – wie Karies u.a. – blieben unerwähnt. Auch auf das Phänomen der zunehmenden Lärmbelastungen (das im Zusammenhang mit den Erkenntnissen Werner Schmidts in der Statistik zur Vergleichsstudie auftauchte) – ein nicht unerheblicher Stressor, der das vegetative Nervensystem aufruft, über die Produktion entsprechender Hormone in Abwehr zu gehen und am Ende zu Bluthochdruck, Herz-, Magen und Darmerkrankungen führen kann, kann hier nur noch erwähnt werden. Gleichzeitig denke ich dabei auch an Eindrücke, die ich bisweilen in Einrichtungen machen kann, in denen Kinder und Jugendliche pausenlos mit Musik oder anderen Geräuschen geplant belästigt bzw. berieselt werden. Vielleicht sei mir noch der Hinweis darauf gestattet, dass zur fachlich qualifizierten Arbeit immer auch eine Menge Fachwissen und Reflexionsvermögen gehören. Ins Grübeln gerate ich ferner, wenn ich in der Zeitung lesen, dass der Paderborner Professor Wolf Brettschneider herausgefunden hat, dass junge Leute, die in Sportvereinen aktiv sind, zwar weniger an Schlafstörungen und Kopfschmerzen litten als ihre nicht sportlich aktiven Altersgenossen. Brettschneider untersuchte das Drogenverhalten Jugendlicher, die in Vereinen Mitglied sind und kam zu der Erkenntnis, dass z.B. Vereinsfußballer beim Konsum von Bier und Zigaretten „Spitze sind“. Die Werbung, Sportvereine machten stark gegen Drogenkonsum, entpuppt sich offenbar als Schimäre. Es konnten weder beim Konsum legaler noch illegaler Drogen Unterschiede zwischen Jugendlichen in Sportvereinen mit anderen festgestellt werden. „Die optimistische Annahme, Sportvereine wirkten positiv auf die Entwicklung junger Menschen, muss relativiert werden,“ sagt Brettschneider.
94
Unter der Leitung des renommierten Jugend- und Gesundheitsforschers, Professor Klaus Hurrelmann, beschäftigte sich ein Initiativkreis, an dem auch der ABA Fachverband beteiligt war, im März 2000 in einem Workshop an der Universität Bielefeld mit der Weiterentwicklung von gesundheitsförderlichen Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. Teile des erarbeiteten Konzepts, das Vorschlag zu einem Modellprojekt war, sollen im Folgenden als Anregung wiedergegeben werden. Hierbei gilt es zu bedenken, dass als Jugendliche hier im wesentlichen die Alterskohorte der 10- bis 15-Jährigen angesprochen ist. Die Ergebnisse des Workshops wurden von Klaus Hurrelmann zusammengefasst und an die TeilnehmerInnen versandt.
95 Der Workshop kommt zu der Auffassung, dass es für Jugendliche kaum öffentliche Plätze gibt, die frei zugänglich sind und Spaß und Anregung geben. Die meisten Jugendlichen seien auf ihr häusliches Umfeld und die Plätze im Geschäftsviertel der Innenstadt angewiesen. Frei zugängliche Aktionsplätze, die den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen entsprächen, gebe es kaum. Ein solcher Mangel an öffentlichen Freizeittreffs wirke sich auf die Entwicklung von Jugendlichen nicht günstig aus. Gerade Jugendliche brauchten Räume, die sie sich aneignen, besetzen, gestalten und verändern könnten. Sie benötigten den öffentlichen Raum, um sich darzustellen, denn sie befänden sich in einer Entwicklungsphase, in der sie sich mit sich selbst und mit ihrer sozialen Umwelt auseinander setzten. Würden Jugendlichen in den Städten und Gemeinden keine öffentlichen Plätze gegeben, dann könne das zu Rückzug, Isolation, sozialer Inkompetenz, mangelnder Konfliktfähigkeit und fehlendem Meinungsaustausch führen und dem Gefühl, ausgegrenzt zu sein, Vorschub leisten. Viele der gegenwärtigen gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten Jugendlicher seien so zu begründen. Wissenschaftliche Studien hätten deutlich gemacht, dass auch Aggressionen und Gewalt, die in der Öffentlichkeit beklagt würden, darauf zurückzuführen seien, dass keine Freiräume für natürliche und gesunde Aggressionen zur Verfügung stünden.
Jugendlichen würden gegenwärtig zumeist Räume in einem pädagogisch gesteuerten Umfeld – wie Schule und Sportverein – bzw. im kommerziellen Bereich – Einkaufspassage, Kaufhaus – angeboten. Zudem seien diese in der Regel standardisierte, perfekte und nicht veränderbare Räume. Demgegenüber müssten Jugendliche Räume aber nach eigenem Gusto erfahren und erkunden. Dabei ginge es um die Stimulation von Sinnen, das Erleben von öffentlichem Handeln mit der typischen Erfahrung von Unbekanntem und Anonymität, die vielen Jugendlichen, besonders auch Mädchen Schwierigkeiten bereiteten. Ziel sei das Überwinden der Angst, sich im öffentlichen Raum zu präsentieren, also um eine Form der Behauptung und der Selbstbehauptung. An einem öffentlichen Raum könnten immer auch fremde und unbekannte Menschen sein, es stellten sich neuartige und irritierende Situationen ein. Zugleich könne hier Zugehörigkeit und Ortsverbundenheit erfahren werden. Sollten diese Erfahrungen möglich werden, müsse es sich um Räume handeln, die gestaltet und verändert werden könnten. Sie dürften nicht perfekt und fertig sein. Fertige Lösungen produzierten Zurückhaltung oder Ablehnung, oft sogar Zerstörung oder Vandalismus. Jugendlich bräuchten Räume, in denen sie sich einnisten könnten. Dabei müssten sie auf Unbekanntes, Fremdes, Neues und Spannendes treffen. Betreute und beaufsichtige Räume in Schulen, „klassische“ Jugendzentren, Einkaufszentren und Kinos könnten diese Qualität nicht oder nur zum Teil bieten.
Ferner, fasst Hurrelmann die weiteren Ergebnisse des Workshops zusammen, seien die Bedürfnisse von Mädchen und Jungen verschieden. Deshalb sollten sie in Jugendtreffs und auf den hier beschriebenen Aktionsplätzen besonders berücksichtigt werden. Berücksichtigt man noch lebensweltliche Hintergründe – wie Wohnsituation, Kultur, Bildung und ethnische Besonderheiten – käme man zu der Auffassung, dass es nicht möglich sei, Einrichtungen für alle Jugendlichen gleichermaßen attraktiv zu gestalten. Diese Selektion führe allerdings zu einem größeren Maß an Partizipationsmöglichkeiten und zu einer höheren Identifikation der Gruppe mit ihrer Einrichtung.
Bei der Planung wird hinsichtlich der Architektur und der räumlichen Voraussetzung Flexibilität groß geschrieben. Der Workshop spricht sich für eine Architektur mit möglichst geringem Aufwand und vielfältigen Veränderungsmöglichkeiten aus. So könnten die sich wandelnden Bedürfnisse zeitnah berücksichtigt werden. Geschaffen werden sollten Möglichkeiten für Sport, Bewegung (z.B. Skate-Anlagen) und Konstruktionsmöglichkeiten, aber auch für Ruhe, Kommunikation, die leibliche Versorgung u.a.m. Ein derartiges Planungsmodell deckt sich mit den Vorstellung Jugendlicher, wenn sie dazu befragt werden, und ist durchaus mit Elementen vergleichbar, wie sie auch auf Abenteuerspielplätzen entwickelt wurden. Darüber hinaus, so Ergebnis des Bielefelder Workshops, sollten die Jugendlichen von Anfang an in die konkrete Planung und Umsetzung einbezogen werden, ihre Selbstverantwortung und Selbstorganisation sei gefragt. Ein Vorschlag ist z.B. eine Vereinsstruktur, in der sich die jungen Leute Regeln für den Betrieb, die Umgangsformen, Reinigung und Instandhaltung der Anlage usw. geben. Pädagogische Intervention sollte auf ein Minimum reduziert bleiben. 
Meines Erachtens könnten die hier unterbreiteten Vorschläge auch schrittweise in der „klassischen“ Offenen Arbeit in Jugendfreizeitstätten „ausprobiert“ werden. Gehen wir von der These aus, dass niemand wirklich von außen gesteuert werden kann, kommt es – auch im Sinne von Gesundheitsförderung – entscheidend darauf an, Übungsfelder für Selbstverantwortung und soziales Miteinander zu initiieren. Eine konstruktive Arbeit in der Jugendfreizeitstätte, sollte sich daran messen lassen, wie stark sie das Ziel der Emanzipation verfolgt und welche hilfreichen Elemente sie dazu organisiert.

Anmerkungen:

1 Petra Gerster und Christian Nürnberger: Der Erziehungsnotstand – Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten, Rowohlt Verlag, Berlin Rowohlt 2001
2 ABA Fachverband, Dortmund 1999, S. 107. In derselben Ausgabe ist ebenso ein Artikel „Systemische Pädagogik – Mit Blick aufs System – vom Problem zur Lösung!“ von Christiane Bauer zu finden (S. 11 ff.).
3 vgl. DER SPIEGEL 35/2001, S. 61
4 Der komplette Ordner enthält neben einem Ideenhandbuch für Jugendreisen, Offene Arbeit, Schule und Sportverein für jeden der genannten Bereich jeweils ein Praxisheft mit zahlreichen Anregungen, weiter je eine Aktionsbox „Entspannung und Stressbewältigung“, „Gesunde Ernährung“, „Bewegung und Aktion“ sowie – quasi als Kochbücher – zwei Handbücher „Essenfeste“ und schließlich einige Kopiervorlagen. Der Ordner, der inzwischen als Neuauflage wieder zu beziehen ist, kann bestellt werden bei der BZgA, Ostmerheimer Straße 220, 51109 Köln.
5 Elisabeth Pott: „Alles hängt mit allem zusammen“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 17
6 vgl. ebenda
7 vgl. Inge Seiffge-Krenke: Gesundheitspsychologie des Jugendalters, Göttingen 1994, S. 1 ff.
8 Klaus Hurrelmann: Sozialisation und Gesundheit. Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren  im Lebenslauf, Weinheim 1988, S. 17
9 vgl. Päd. Blick, 3. Jahrgang, Heft 1, S. 46
10 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
11 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 34
12 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 69
13 vgl. Ruhr Nachrichten vom 21.12.1995
14 vgl. Seiffge-Krenke, a.a.O., S. 32
15 vgl. Ruhr Nachrichten vom 15.1.1996
16 vgl. Norbert Kozicki: Armut von Kindern und Jugendlichen (Hg. SJD – Die Falken UB Dortmund), Dortmund 1994, S. 1 f.
17 vgl. Norbert Kozicki: Reiches Land – arme Kinder (Hg. SJD – Die Falken Landesverband NRW), Gelsenkirchen 1998, S. 3
18 vgl. ebenda, S. 2
19 vgl. Norbert Kozicki: Armut von Kindern und Jugendlichen, a.a.O.
20 vgl. ebenda, S. 7
21 vgl. ebenda, S. 2
22 ebenda
23 ebenda, S. 7
24 vgl. Ruhr Nachrichten vom 18.1.1996
25 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
26 vgl. Ruhr Nachrichten – Dortmunder Zeitung vom 9.2.1996
27 Jean Harvey-Berino, in: Westfälische Rundschau vom 10. Juni 2000
28 Westfälische Rundschau vom 10. Juni 2000
29 ebenda
30 vgl. „Was Kinder krank macht“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, S. 16
31 vgl. Westfälische Rundschau vom 16.10.1995
32 vgl. „Was Kinder krank macht“, a.a.O. S. 16
33 vgl. Baldo Blinkert: Kinder wollen draußen spielen, in: DER NAGEL 57 (Hg.: ABA Fachverband), Dortmund 1995. Die Untersuchung ist auch als umfassendes Buch erschienen: Baldo Blinkert: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1996
34 vgl. Internet-Archiv der Bertelsmann Stiftung, 3. Quartal 2001 vom 1. August 2001
35 Schmidts Erkenntnissen zufolge sind analog dazu die Verkehrsflächen um das Achtfache gewachsen. Information in der WAZ vom 27.4.2001
36 vgl. Pressemitteilung 171 der Universität Essen (Essener Sportwissenschaftler wissen: Kinder brauchen im Alltag mehr Bewegung) vom 21. Juni 2001
37 vgl. Werner Schmidt: Veränderte Kindheit. Manuskript einer Skizze. Essen, o.J., S. 3
38 vgl. Neue Ruhr Zeitung (Ausgabe Essen) vom 24.7.2001: Wissenschaftler will Kinder auf die Straße schicken
39 vgl. „Arzneimittel als Alltagsdroge?“, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 15
40 Alle Angaben zur Gesundheitsstudie sind einer Pressemitteilung des „stern“ vom 4.7.2001 entnommen.
41 Ulrike Moser: Unter Barbaren -Wie sollen Kinder erzogen werden?, in: Die Woche vom 3.8.2001, S. 30
42 Institut für soziale Arbeit e.V., in: www.Familie.de/erziehung/news vom 15.8.2001
43 vgl. WAZ vom 10. 4.2001
44 WAZ vom 2.4.2001
45 WAZ vom 14.98.2001 – Die Ergebnisse von Erika von Mutius, Sabina Illi und Erich Wichmann sind nahezu identisch und können nachgelesen werden in: DER SPIEGEL 19/2001, S. 222 ff.
46 WAZ vom 2.4.2001
47 DER SPIEGEL 19/2001, S. 224
48 ebenda, S. 222
49 vgl. Oliver Lanner: Psychopillen für Zappelphilipp“, in: NetDoktor.de, September 2001
50 vgl. Dietrich Hofmann: Kinder und Arzneimittel, in: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin 3/2001, Zeitschrift der BARMER Ersatzkasse, S. 18
51 vgl. ebenda
52 vgl. „Arzneimittel als Alltagsdroge?“, a.a.O., S. 15
53 U.a. können zu diesem Thema auch Seminare über den ABA Fachverband organisiert werden.
54 vgl. zu dieser Thematik: u.a.: ABA Fachverband (Hg.): Risiko als Spielwert, in: DER NAGELKOPF 22, Dortmund 1997, sowie: Rainer Deimel: Stichwort „Risiko“, in: stichWort 1 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1995
55 Urteil zur Verkehrssicherungspflicht: Ein Abenteuerspielplatz darf gefährlich sein, in: ABA Texte-Dienst 1, 6. Auflage, Dortmund 1996, S. 15
56 vgl. hierzu u.a.: Torsten Kunz: Weniger Unfälle durch Bewegung, in: DER NAGELKOPF 22, a.a.O., S. 32 ff. und: Torsten Kunz: Mit Bewegungsspielen gegen Unfälle und Gesundheitsschäden bei Kindern, in: DER NAGEL 54 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1992
57 vgl. Bundesverband der Unfallkassen (Hg.): Giftpflanzen – Beschauen , nicht kauen, 18. Auflage, München 2001, S. 4 f.
58 vgl. ebenda, S. 5 f.
59 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Bonn 1998, S. 223
60 Werner Thole: Kinder- und Jugendarbeit. Eine Einführung. Juventa Verlag, Weinheim und München 2000, S. 121
61 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, a.a.O., S. IX
62 Ausführungen zu den Themen „Abenteuerspielplatz“ und „Spielmobil“ gibt es in: Ulrich Deinet/Benedikt Sturzenhecker: Handbuch Offene Jugendarbeit, Votum-Verlag, Münster 1998, dort: Rainer Deimel: Abenteuerspielplätze, S. 328 ff. und Rainer Deimel: Spielmobile, S. 336 ff. In erweiterter Fassung können diese Beiträge auch als Broschüren in der Reihe stichWort des ABA Fachverband bezogen werden. 
63 Zur besseren Orientierung werden bei den nicht zeitgenössischen Personen Geburts- und Todesdaten angegeben.
64 vgl. Hildegard Hamm-Brücher, in: Otto Seydel: Zum Lernen herausfordern. Das reformpädagogische Modell Salem. Klett-Cotta, Stuttgart 1995, S. 17 ff.
65 Schule Schloss Salem e.V.: Salem, Salem in Baden 1991 (ohne Seitenangabe)
66 vgl. Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution, Sexpol-Verlag, Kopenhagen 1936. Das Buch gibt es als Neuauflage im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. Meinen Recherchen zufolge gibt es von Wera Schmidt selbst keine Publikationen mehr. Mir selbst liegt ein Nachdruck aus den 20-Jahren vor, den sich Interessierte ggf. als Kopie anfordern könnten.
67 Einen kleinen, aber gelungen Querschnitt über die Arbeiten Bettelsheim gibt das Buch: Bruno Bettelheim: Zeiten mit Kindern. Herder Verlag, Freiburg 1994
68 vgl. Faktum Lexikoninstitut (Hg.): Lexikon der Psychologie. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh und München 1995. Autorisierte Sonderausgabe im Bassermann Verlag, S. 47
69 Hauptwerke: „Wie man ein Kind lieben soll“ (1926) und „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1928). Korczak, der 1942 gemeinsam mit einer Gruppe von Kindern aus seinem Warschauer Waisenhaus im Vernichtungslager Treblinka von den Nazis ermordet wurde, erhielt 1972 posthum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
70 Eine kritische Bilanz, jenseits ideologischer Voreingenommenheit, zieht folgendes Buch: Peter Ludwig (Hg.): Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert?, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1997
71 vgl. Faktum Lexikoninstitut, a.a.O., S. 336 ff.
72 Hugo Kükelhaus, in: Internet-Seiten der Hugo Kükelhaus Gesellschaft e.V. Soest (www.uni-leipzig.de/?angl/kuekelhaus): Hugo Kükelhaus kennelernen
73 Pädagoge, Handwerker, Philosoph, Künstler, Forscher, Schriftsteller
74 Hugo Kükelhaus, in: Internetseiten, a.a.O.
75 vgl. Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel-Verlag, 6. Auflage, München 1994. Mit Kindern und deren Überlebensstrategien befasst sich das Buch „Spielen im Schatten des Todes – Kinder und Holocaust“ des ungarischstämmigen amerikanischen Professors für Soziologie des Spiels und des Sports an kalifornischen Universität in Pomona, George Eisen. Piper Verlag, München 1993
76 Viktor E. Frankl: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn. Hippokrates Verlag, Stuttgart 1959, S. 49
77 vgl. Elisabeth C. Gründler und Norbert Schäfer: Naturnahe Spiel- und Erlebnisräume. Planen * bauen * gestalten. Luchterhand Verlag, Neuwied/Kriftel/Berlin 2000.
78 Dieser Beitrag bestätigt zahlreiche Argumente meines Beitrages. Dr. Gerd Glaeske war Leiter der Abteilung für medizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfragen bei der BARMER Ersatzkasse, Ruth Rumke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda.
79 Büro für Umweltforschung und Umweltplanung, Dr. Ing. Hans-Joachim Schemel, Altostrasse 111, 81249 München, www.umweltbuero-schemel.de
80 vgl. WAZ vom 1.10.2001. Eine Broschüre „Allergien bei Kindern – Auf die Früherkennung kommt es an“ kann bestellt werden bei: Deutsches Grünes Kreuz, Schuhmarkt 4, 35037 Marburg. Bitte einen mit 1,50 DM adressierten DIN-C-5-Rückumschlag beifügen.
81 vgl. Hanne Tügel: Tiere als Therapeuten, in GEO 3/2001, S. 86 ff.
82 vgl. DER NAGEL 59 (Hg.: ABA Fachverband), Dortmund 1997, S. 79 ff. und DER NAGEL 60 (Hg. ABA Fachverband), Dortmund 1998, S. 79 ff.
83 vgl. Eckhard Schiffer: Der Kleine Prinz in Las Vergas, Beltz Quadriga Verlag, Weinheim und Berlin 1997
84 vgl. Eckhard Schiffer: Wie Gesundheit entsteht – Salutogenese statt Fehlerfahndung. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2001
85 Kauai-Studie von Emmy E. Werner, in: Renate Zimmer: Hauptsache gesund – aber wie?, in: KITA NEWS 2/2001 (Hg.: GEW Landesverband NRW), S. 15 f.
86 Renate Zimmer, a.a.O., S. 15′
87 ebenda, S. 16
88 vgl. z.B. Rolf Degen: Lexikon der Psychoirrtümer – Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt, Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg 2001. Dort heißt es u.a. auf S. 81, der genetisch bedingte Einfluss auf das menschliche Verhalten betrüge immerhin zwischen 40 und 50 Prozent.
89  vgl. Renate Zimmer, a.a.O., S. 16 
90 vgl. ebenda, S. 18 ff.
91 vgl. „Welche Bildung leistet die Offene Arbeit?“, in: ABA Fachverband: Der Verband stellt sich vor, Dortmund 2001. Der Text dieses Positionspapiers ist auch als Merkblatt beim ABA Fachverband erhältlich.
92 Renate Zimmer, a.a.O., S. 20 f.
93 vgl. Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. C.H.Beck´sche Verlagsbuchhandlung, München 1980.
94 WAZ vom 6.3.2001
95 Schreiben von Klaus Hurrelmann vom 13. April 2000

NAGEL-Redaktion – Kinder, Jugendliche und Gesundheit Read More »

NAGEL-Redaktion – Reflektierte Jungenarbeit

Zur geschlechtsspezifischen Arbeit mit Jungen

Von Rainer Deimel

Wie es anfing

Anfangs, in den siebziger Jahren, konnte ich bei mir eine stille, aber – wie ich glaubte – deutliche Sympathie für Forderungen der Frauenbewegung verspüren. Die Forderungen schienen mir zum größten Teil plausibel, ich fühlte mich an vielen Stellen gar „solidarisch“, wenn ich das in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann. Ein Umstand, der mir damals nicht klar war: In jener Zeit war meine Lebenslage derart gestaltet, dass es ohne irgendwelche Komplikationen möglich war, mich „solidarisch“ zu fühlen. Ich hatte meinen festen Job, den ich gern tat, mein geregeltes Einkommen, eine feste Beziehung, also trotz aller politisch fortschrittlicher Gedanken, eine Situation, aus der eine Menge Sicherheitsgefühl „gesaugt“ werden konnte.
Spätestens ab Anfang der achtziger Jahre, als sich meine erste Tochter „ankündigte“, geriet einiges ins Wanken. Ich spürte überdeutlich, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit Welten lagen. Und bis heute habe ich das Gefühl, ständig Ansprüchen hinterher zu jagen. Ich wollte mich mit dieser Situation nicht abfinden, war vor 1983 Jahren mit dabei, einen Vätergesprächskreis zu gründen, der viele Jahre „arbeitete“ und auch gegenwärtig noch als offener Männerkreis existiert 
(1). Im Rahmen dieses Gesprächskreises gingen die Konturen immer weiter in Richtung reiner „Männerthemen“ (selbstverständlich unter Einbeziehung väterspezifischer Fragestellungen). Lange Zeit wurde in diesem Gesprächskreis darauf geachtet, dass nur Väter Zugang hatten; dies genau aus dem Grund, den ich so überdeutlich an mir selbst erfahren hatte: Es macht einen Riesenunterschied, ob ein Mann Kinder hat oder nicht. Solange eine eigene Betroffenheit, etwa in Form einer Vaterschaft, nicht realisiert wird, ist es einfach, verbal mit Frauenbewegung zu sympathisieren und umgekehrt wird erlebbar, wie schwer es im Falle von Betroffenheit ist, sich in Richtung geschlechtlicher Gleichberechtigung zu entwickeln.
Seit längerem ist mir deutlich, dass es die vielbeschworene „Männerbewegung“ nicht gibt. Es gibt allenfalls einige „männerbewegte“ Männer, die ich allerdings nicht als „Bewegung“ quantifizieren möchte. Vermutlich hat Frauenbewegung einiges damit zu tun, dass vereinzelt Männer angefangen haben, sich Gedanken zu machen, Gruppen zu gründen, Veränderungsversuche ausprobierten, teilweise Rollen tauschten (z.B. Hausmann-Sein) und anderes mehr. Mittlerweile beobachte und erlebe ich allerdings, dass Frauenbewegung, wenn überhaupt, bei Männern allenfalls noch eine Art „Kick“ auslöst, um männerspezifisch aktiv zu werden. Ich denke vor allem, dass es normalerweise der eigene, zum Teil immens gestiegene oder spürbar gewordene Leidensdruck bei Männern ist, die diese veranlasst, sich etwa mit anderen Männern zusammenzutun, etwas verändern zu wollen. Dort, wo Männer aktiv sind, haben diese Aktivitäten mittlerweile überall ihre eigenen Konturen gewonnen. Und leider sind es immer noch herzlich wenig Männer, die überhaupt „aus ihrer Haut heraus“ kommen 
(2).

Das Dilemma der Jungen

Jungen sind schwer zu verstehen. In Einrichtungen werden sie immer wieder als „ätzend“ und störend begriffen, was sie zweifelsohne häufig sind. Besonders Mitarbeiterinnen haben oft keine Lust mehr, sich mit ihnen zu konfrontieren. Einrichtungen sind in erster Linie an den Interessen von Jungen ausgerichtet; Mädchen wird der Zugang durch strukturelle, inhaltliche und atmosphärische Einschränkungen erschwert. Die Jungen dominieren mit Macho-Gehabe, Mädchen werden oft zu bloßen Anhängseln der Jungen degradiert. Stimmt! Aber halt, was ist mit den Jungen, die nicht dominieren, die selbst von ihresgleichen unterdrückt, benutzt und ausgebeutet werden? Was ist mit den Jungen, die unter einer Art hypnotischer Gruppendynamik für sich gar keine andere Überlebenschance sehen, als sich in irgendeiner Form – und sei es als „blöder“ Handlanger eines Rädelsführers – einzuklinken? Warum überhaupt dominieren Jungen?
Wir müssen – als Männer zumindest – unseren Blick schärfen für die konkrete Situation von Jungen. Erwiesenermaßen werden Jungen anders erzogen als Mädchen. Ich möchte mich nicht beim – wie ich mittlerweile glaube – Märchen vom Ödipus-(Komplex) aufhalten. Festzustellen bleibt, dass Jungen häufig seitens der Mutter – zunächst – eine besondere Form der Zuwendung erfahren (bis – wie sich mittlerweile immer deutlicher abzeichnet – hin zu sexuellem oder anderem Missbrauch) 
(3). Es können gar Unterschiede in der Art und Weise festgestellt werden, wie Jungen und Mädchen von ihren Müttern als Baby getragen werden. Früher als Mädchen werden Jungen in die „feindliche Welt“ geschickt. Der Schutz, den kleine Jungen bitter nötig haben, wird ihnen allzu früh entzogen, ihre Gefühlsregungen werden unterdrückt („Ein Indianer weint nicht!“). Ihren Vater, der ebenfalls einmal Junge war, erleben bislang die meisten Jungen als abwesend. Damit meine ich nicht eine unverhältnismäßig große lokale Abwesenheit, z.B. wegen Arbeit, sondern ich spreche in erster Linie von emotionaler Abwesenheit, der Unfähigkeit des ehemaligen Jungen, seinem Sohn Zuwendung zu geben und Stärke vorzuleben. Nicht Stärke in Form von brachialer oder anderer patriarchaler Gewalt, Ausbeutung seiner selbst und Ausbeutung seiner Frau und seiner Kinder, nicht Stärke, die sich als Erguss einer tumben, stupiden Bestrafungs- und Bedrohungsmaschinerie austobt, oft zur Kompensation der Probleme, die ihn selbst betreffen, die er am Arbeitsplatz, in seiner Beziehung oder sonst wo erlebt. Ich meine die Stärke, die dem Sohn Identifikation mit einer „richtig verstandenen“ Männlichkeit ermöglicht, ein Ernstnehmen, Verständnis, Empathie, Liebe und erlebbare Solidarität mit seinem gleichgeschlechtlichen Kind. Dem Sohn entgeht also in der Regel „der große Freund“, der Partner, an dem er sich messen, dem er vertrauen, mit dem er sich solidarisieren kann, der ihm Vorbild sein kann. „Vorbild“ ist er ihm trotzdem, Teil des Jungen-Dilemmas. Bereits früh verinnerlicht der Junge solches männliches Verhalten und kann nicht anders, als es richtig zu finden und dieses „verhasste“ Verhalten bei sich selbst unbewusst zu verinnerlichen. Verstärkt wird die Katastrophe normalerweise durch die „gutmeinende“ Mutter, die eine gleichgeschlechtliche Vorbildfunktion ohnehin nie übernehmen könnte, indem sie alle möglichen „Tricks“ anwendet, den Jungen durch ihre Erziehung patriarchal anzupassen, ihn eigentlich gegen ihr eigenes Geschlecht erzieht. Ich will damit Mütter nicht verteufeln; sie erfüllen lediglich die ihnen in dieser patriarchalen Gesellschaft zugedacht Rolle und produzieren weiter – wie die Väter – „männliche Verhaltenskrüppel“. Dieser Teufelskreis wird an keiner Stelle im herkömmlichen Leben unterbrochen, weder im Kindergarten, noch in der Schule und schon gar nicht mehr am Arbeitsplatz, normalerweise nicht einmal im Jugendzentrum (4).
So nimmt es nicht wunder, dass Jungen bei fast allen Auffälligkeiten und Krankheiten – vor allem psychosomatischen – Spitzenreiter werden (Bettnässen, Stottern, organischen Erkrankungen usw.); ebenfalls „guinnessreif“ sind Jungen (und Männer) im Vergleich, wenn es um Selbstmord, Perversionen, Kriminalität und Süchte unterschiedlicher Art geht.
Richten wir unseren Blick noch einmal auf den „ätzenden“ Jungen in der Einrichtung. Wir stellen fest: Er ist laut, dominant, frauenfeindlich, sexistisch …  Wir müssten uns fragen, warum er so ist, ob sich hinter dem „Ätz-Stoff“ nicht ein verletztes, hilfsbedürftiges, nach Zuwendung schreiendes Wesen verbirgt. Gelegentlich ist zu hören, Jungen würden in der Regel übervorteilt. Ein Argument: Jungen drängen sich in den Vordergrund, sind dominant und … werden deshalb bevorzugt (im Verhältnis 70 Prozent Jungen zu 30 Prozent Mädchen) in die Hände von (Erziehungs-)Beratungsstellen gegeben. Ich möchte diesen Umstand nicht weiter kommentieren.

„Jungenarbeit“ – zum Scheitern verurteilt?

Geschlechtsspezifische Arbeit mit Mädchen ist ein großes Verdienst von Frauenbewegung. Quasi als Antwort darauf gab es in etlichen Einrichtungen Versuche, ebenfalls eine analoge Jungenarbeit  zu etablieren. In den meisten Fällen sind diese Versuche gescheitert. Oft wurden meines Erachtens dann „Jungen-Aktivitäten“ ausprobiert, weil Jungen sich durch Mädchenarbeit einfach benachteiligt fühlten. Eine Reflexion fand in der Regel nicht statt. Derartige Startvoraussetzungen lassen normalerweise eine authentische Jungenarbeit scheitern. So haben wir in der Praxis etliche Anläufe wahrnehmen können, in denen Jungenarbeit etwa in Form von Skatrunden, Kegeln oder ähnlichem stattfand und das häufig mit Mitarbeitern, die selbst über keinen Funken „Männerbewusstseins“ verfügten. Nachdem die Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille für eine „antisexistische Arbeit mit Jungen“ warb, löste dies in etlichen Einrichtungen erneut Initiativen aus, Jungenarbeit zu versuchen. (5) Meine eigene Lebensgeschichte als Junge und Mann, die Beschäftigung mit meiner eigenen Sozialisation und der gesellschaftliche Kontext, in dem ich lebe, der mir ein entsprechendes Feedback gibt, lässt mich zu der Überzeugung gelangen, dass eine eigenständige, lebendige, geschlechtsspezifisch orientierte Arbeit mit Jungen unabdingbar ist hinsichtlich einer – eben nicht nur verbal – angestrebten Gleichstellung von Frauen und Männern, von Mädchen und Jungen. Einen weiteren Beitrag zur Jungenarbeit leistete die AG Klub, eine evangelische Bundesarbeitsgemeinschaft (für Offene Jugendarbeit) mit einer Veröffentlichung der Übersetzung aus dem Englischen, nämlich der Broschüre „Junge, Junge – Work with Boys“ von Trefor Lloyd aus dem Jahre 1986. (6) Die seit längerem vergriffene Schrift wurde als durchgesehene und durch einen Anhang erweiterte Neuauflage vom bei ABA Fachverband neu veröffentlicht (7). Der Neuling Verlag bringt seit einiger Zeit ebenfalls Schriften für die Arbeit mit Jungen und Männern heraus, die sehr praxisnah sind. (8) Die meines Erachtens wichtigsten Basis-Schriften für eine gezielte Jungenarbeit sind die Bücher „Kleine Helden in Not“ von Dieter Schnack und Rainer Neutzling (9) und das „Praxishandbuch für die Jugendarbeit, Teil 2: „Jungenarbeit“ von Uwe Sielert. (10) Dieter Schnack und Rainer Neutzling haben erstmalig umfangreich und sehr einfühlsam aus männlicher Sicht die Sozialisation von Jungen aufgearbeitet. Dieses Buch halte ich für eine gute Empfehlung an jeden Mann, der beabsichtigt, mit Jungen zu arbeiten (11).
Nachdem ich zugesagt hatte, ein „paar Gedanken“ zur Jungenarbeit aufzuschreiben, war ich zunächst der Auffassung, es würde reichen, einfach ein bisschen „aus dem Nähkästchen“ zu plaudern. Als ich mich dann – einmal wieder – an das Thema herantastete, stellte ich fest, dass mir das erstens selbst nicht ausreichen würde und zweitens eine Chance vertan werden könnte, eine echte Werbung für eine gezielte Arbeit mit Jungen in Einrichtungen zu betreiben. So habe ich mir ein weiteres Mal das Praxishandbuch von Uwe Sielert vorgenommen, um das Fundament besser abstützen zu können. Einige seiner wichtigen und überzeugenden Aussagen möchte ich aufgreifen und damit konfrontieren.

Begriffe

Schauen wir zunächst auf die Begrifflichkeiten: Wir sprechen oft von „Geschlechtsspezifischer Arbeit“, ein Begriff, der mir nicht nur „lahm“ erscheint, sondern der auch nicht über genügend Aussagekraft verfügt. Möglicherweise ließe sich darunter auch die oben kritisierte Skatrunde, die in keinem reflektierten Zusammenhang stand, subsumieren. Zumindest würde ich dabei keine klaren Abgrenzungen gegenüber „klassischen“ Jungen- oder Mädchenaktivitäten machen können. Da höre ich z.B., dass eine „Arbeitsgemeinschaft Tanz“ keine „Defizite“ und keinen gezielten Handlungsbedarf – etwa in Richtung gezielter Mädchenarbeit (und umgekehrt) feststellen kann, da ohnehin 70 Prozent der TeilnehmerInnen Mädchen sind, also Problem gelöst? Ähnliches ist bisweilen von Jugendfarmen, auf denen Pferdehaltung eine besondere Rolle spielt, zu hören: 80 Prozent der BesucherInnen sind Mädchen, keine Probleme? Ein Jugendzentrum mit überwiegend männlicher Dominanz zieht den Schluss, vorwiegend geschlechtsspezifische Jungenarbeit zu leisten, alles klar?
Der Begriff „Antisexistische Arbeit“ mit Jungen ist – soweit ich weiß – vorwiegend von der Alten Molkerei Frille geprägt worden. Zum Teil ist er brauchbar, allerdings setzt er voraus, dass wir es unbedingt mit Sexismus zu tun haben, was möglicherweise doch zu sehr einschränkt. In einem anderen Zusammenhang bin ich vor einiger Zeit einmal über einen ähnlichen Begriff gestolpert und habe ihn mir abgewöhnt: Ich las in einem Kölner Prospekt, dass der dortige Verein „Männerbüro“ sonntags ein „antisexistisches Frühstück“ veranstaltet. Ich habe mir überlegt: Was tun die denn wohl da? Zumindest konnte ich mir vorstellen, dass dort keine Zoten gerissen werden und sonst…? Auf mich wirkt ein „antisexistisches Frühstück“ so einladend, dass ich als Morgenmuffel doch lieber weiter allein frühstücken oder Sonntagsvormittags im Bett bleiben möchte.
Uwe Sielert prägt den Begriff „reflektierte Jungenarbeit“. Meines Dafürhaltens wird hiermit am ehesten das getroffen, was gemeint ist, und deshalb möchte ich entweder schlicht von Arbeit mit Jungen, Jungenarbeit oder aber eben von „reflektierter Jungenarbeit“ sprechen.

Grundsätzliches

Uwe Sielert zeigt u.a. auf, dass Mädchen in Jungencliquen nichts zu suchen haben, dass Jungen sich gegenüber Mädchen abgrenzen zur Absicherung ihrer eigenen traditionellen Geschlechterrolle. (12)Gleichzeitig werden gegenwärtige männliche Irritationen deutlich gemacht, die eben auch vor Jungen nicht Halt machen, im Sinne einer reflektierten Arbeit mit Jungen auch nicht Halt machen sollten. Männer werden – in Anlehnung an Walter Hollstein (13) – typisiert als „Machos“ und „Chauvis“. Sielert „vervollständigt“ diese Aufzählung durch „Schwule“, „Neutralos“, „Opportunisten“, „Anpassungskünstler“, „Softis“ und vor allem durch die „Irritierten“ und „Desorientierten“ (14). Nach dem „traditionellen Rollenbild“ beinhaltet Männlichkeit vor allem „Teilen/Spalten/Abspalten“, während das Weibliche „Kontinuität, Ganzheitlichkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit“ zum Ausdruck bringt. Ein positives Männlichkeitsbild schließt weibliche Komponenten unbedingt mit ein, ebenso das Korrektiv, sich als Mann auch zurücknehmen zu können (15). Männer, die mit Jungen arbeiten wollen, haben verinnerlicht, dass hinter chauvinistischem Verhalten zumeist ein mangelndes Selbstbewusstsein steckt. Eine wesentliche Voraussetzung für eine reflektierte Arbeit mit Jungen sind Kenntnisse aus der Sozialisationsforschung. Die männliche Sozialisationsforschung steckt leider noch in den Kinderschuhen. Umso erfreulicher sind die erwähnten Erkenntnisse und Aufzeichnungen von Schnack und Neutzling in diesem Zusammenhang für die praktische Arbeit in Einrichtungen.
Bei einer reflektierten Jungenarbeit stehen Jungen im Brennpunkt „pädagogischer Aufmerksamkeit“ 
(16); sie bezieht in jedem Fall antisexistische, antichauvinistische und antifaschistische Intentionen (17) mit ein, verharrt aber nicht in diesen Positionen, um weder zu stigmatisieren, noch durch vorwiegenden Negativ-Touch abzuschrecken. Sie entwickelt eine eigene Moral, eine eigene Identität, lässt ausreichend Platz für neue „Erlebnis- und Gedeihräume“ (18) Schwierig dürfte es oft sein, eigene Vorbehalte – etwa hinsichtlich einer „akzeptierenden Arbeit“ z.B. mit „Glatzen“ – auszuräumen. Die Leitschnur dort festzulegen, wo man(n) den Eindruck hat, hier gälte es besonders viele Defizite bei Jungen „wegzuarbeiten“, ließe einen eher in Frustration, Resignation und letztlich ins Scheitern laufen.
Dass Jungen Schwächen haben (sollen, dürfen, müssen), muss Jungen deutlich werden. Sie können begreifen, dass Schwächen zugleich Stärken sind 
(19). Die Steigerung ihres Selbstwertgefühls in einer – „vorm Zug“ – positiven Intention ist ein Ziel und zugleich Weg einer erfolgversprechenden Arbeit mit Jungen. Jungen sollten Fähigkeiten erlangen, „Beziehungen“ eingehen und leben zu kön-nen, Gefühle von Schwäche ebenso wie Stärke, Freude, Trauer, Glück usw. zeigen und leben zu können.
Pädagogik kann sich in diesem Sinne nicht als „Trichter“ verstehen. Als „Antipädagoge“ 
(20) gestehe ich der Pädagogik in diesem Kontext die Rolle einer verständnisvollen Begleiterin zu. Pädagogik muss die Aufmerksamkeit und das Taktgefühl besitzen, zu erkennen, wann jemand überfordert oder entmündigt wird und dies verhindern. Pädagogik greift ein, wenn die Grenzen anderer – z.B. von Mädchen oder auch anderen Jungen – missachtet und verletzt werden. Pädagogik nimmt Erfahrungen, auch Grenzerfahrungen, ernst, duldet und fördert sie, wenn nötig.

Der Mitarbeiter

Die Schwierigkeiten, die Jungen bislang haben, sind nicht ihre Schwierigkeiten (allein). Es sind auch unsere eigenen Schwierig-keiten, die wir als Männer tagtäglich haben, wenn wir uns einmal kritisch hinterfragen. Dazu schreibt Uwe Sielert: „In Beziehungsdingen sind die meisten Jungen und Männer ziemlich sprachlos, oder sie entwickeln als Gewohnheitsredner eine Geschwätzigkeit, die in keiner Weise authentisch ist. Besonders Studenten und Sozialwissenschaftler reden ganz oft und sehr ausführlich über sich selbst und zwischenmenschliche Beziehungen. Es bleibt … beim ‚darüber-reden‘ und wird nirgends bedeutsam. Das ist nichts anderes als die Wortkargheit eines Handwerkers. Beide können unfähig sein, Gefühle und Beziehungs-Dinge auszudrücken.
Im gemeinsamen Tun kann eine Atmosphäre entstehen, die das Sprechen leichter macht, wenn es notwendig wird. Nicht immer ist es wichtig, zu reden, aber vieles lässt sich verbal verstärken, differenzieren, richtig stellen, vielschichtiger kommunizieren. Besonders im Austausch und in der Auseinandersetzung mit Mädchen ist die Fähigkeit wichtig, eigenes Erleben in Worte zu fassen. Jungen unter sich leben in einer ähnlichen Erlebniswelt, vieles ist dann ´selbstverständlich´ 
(21)  und muss nicht mitgeteilt werden. Einfühlung in eine fremde Psyche und Verständnis für die Besonderheit des Erlebens sind ohne Sprache nicht möglich.“ (22)
Männer, die reflektiert mit Jungen arbeiten wollen, haben bei sich bereits begonnen, sich selbst zu reflektieren. Sie dürfen keine „Star- oder Papstrolle“ einnehmen; das würde Jungen eher abschrecken. Sie begeben sich mit den Jungen auf einen gemeinsamen Weg des „Be-Greifens“ und Lernens. Aufgrund ihrer Erfahrungen und aufgrund ihres Status eines Erwachsenen würde ich bei ihnen die „Messlatte der Reflexion“ eine Portion höher ansetzen. Klarheit vor allem darüber, dass sie als „Autorität“ erlebt werden, dass sie Identifikationsobjekt sein können, in jedem Fall Vorbild sind, ist vonnöten, ebenso Sensibilität in Bezug auf Verletzungen und hinsichtlich ihres eigenen – oft verbrämtem sexistischen – Verhaltens. Klarheiten über ihre eigene Sozialisation gehören ebenso dazu wie das Abfragen eigener Vor- und Leitbilder. Ein Gespür dafür zu entwickeln, wo die Einrichtung „typisch männlich“ ist, wo Atmosphäre verändert werden muss, was die Mitarbeiter- und Organisationsstrukturen damit zu tun haben, die Programme, Angebote und Konzeptionen sind ebenso Bestandteil „männlichen Aufbruchs“.
Der einzelne – „gutwillige“ – Mann ist damit überfordert. Voraussetzung ist ein Hinterfragen der eigenen Geschlechterrolle. In der Regel gehört eine nachhaltige, wenn auch behutsame, die Interessen aller Beteiligter berücksichtigende „Klimaveränderung“ in einer Einrichtung dazu. Das Team – vor allem die männlichen Mitarbeiter – wird in einen intensiven kommunikativen Austausch treten, Konflikte, unterschiedliche Standpunkte werden deutlich gemacht. Eine Überzeugung von Kolleginnen, dass reflektierte Arbeit mit Jungen nicht dazu führen soll (wird), neue „Hintertürchen“ für ein – eventuell leicht modifiziertes – tradiertes männliches Verhalten zu öffnen, sondern dass man(n) tatsächlich auf Veränderung im langfristigen Sinne einer geschlechtlichen Gleichberechtigung aus ist, ist Teil des Prozesses. Manche Hürden – etwa in Richtung Team, Träger, bei den Jugendlichen usw. – scheinen auf den ersten Blick unüberwindbar. Überlegen wir mal, wo in unserer Arbeit auch immer wieder „Ecken und Nischen“ sind, die sich anbieten, die genutzt werden können. Überzeugungsarbeiten gehören zum „Geschäft“. Es reicht für den einzelnen Mann nicht aus, kiloweise Männerliteratur zu „fressen“, ohne deren unterstützende Wirkung in Abrede stellen zu wollen. Unterstützung von „außen“ kann angesagt sein, etwa in Form von Supervision oder Praxisreflexion, konzeptioneller inhaltlicher Beratung und/oder durch gezielte Seminare, Fachtagungen und dergleichen. Auch Rollenspiele im Team können eine Hilfestellung sein. Reflektierte Jungenarbeit kann „keine Berge versetzen“. Jungenarbeit kann – wenn sie auf Dauer angelegt sein soll – nur „realistisch“ beginnen, z.B. in einer kleinen Jungengruppe, in anderen kleinen Zusammenhängen. Die Ziele, die erreicht werden sollen, müssen erreichbar sein, dürfen nicht in „Atlantis“ liegen. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mann, der sich ein bisschen „anstecken“ lassen mag, beginnen kann. Sonst… (hier fällt mir das Bild von „Godot“ ein). Eine wichtige Hilfe dabei kann z.B. sein, „Selbstverständliches“ zu thematisieren (und zu reflektieren), „Unnormales“ zu tun, Hilfen, die dazu dienen, zu geänderten Wahrnehmungen kommen zu können, Alltäglichkeiten in einem anderen Licht erblicken zu können, neu bewerten und interpretieren zu können.

Input

Handelt es sich bei reflektierter Arbeit mit Jungen um einen Modetrend? Könnte sein. Bliebe es dabei, wäre das Ende möglicherweise bald absehbar, wäre sie nicht Teil einer prozesshaft gewollten Veränderung in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter. Bislang sind mir kaum Fälle bekannt geworden, wo Jungenarbeit „von oben verordnet“ wurde (23), wie das bei „Mädchenarbeit“ häufig geschehen ist. Aufgrund politischer Beschlüsse oder aufgrund von Legitimationszwängen von Amts- und Abteilungsleitern ist Einrichtungen Mädchenarbeit häufig „aufs Auge gedrückt“ worden (kurioser- bzw. typischerweise, nachdem die Bemühungen der Frauenbewegung um Mädchenarbeit von denselben Verantwortlichen über mindestens zehn Jahre blockiert wurden). Nicht immer ist deswegen verordnete Mädchenarbeit „schlecht“; die Gefahr allerdings, die bei Nicht-Vorhandensein von Überzeugungen, also beim bloßen Verordnen, immer wieder deutlich wird, ist, dass die Arbeit vordergründig, lediglich auf äußere Legitimation ausgerichtet bleibt und letztlich ineffektiv ist. Im Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, dass regelmäßig Amts- oder Abteilungsleiter mit einer derartigen Vehemenz reflektierte Jungenarbeit einfordern könnten, wie das in Sachen Mädchenarbeit geschehen ist (23). Dazu müssten sie ihre eigene „männliche“ Identität erst einmal in Zweifel ziehen, ihre eigenen Rollenbilder müssten gehörig ins Wanken geraten. Und das kann ich mir bei den meisten dieser männlichen „Funktionalisten“ – offen gestanden – nicht vorstellen. Mädchenarbeit hat ihre bisweiligen „Verordner“ nicht so stark tangiert, wie dies eine reflektierte Männer- und Jungenarbeit zwangsläufig tun müsste. Hierin erblicke ich eine Chance für Jungenarbeit: Sie kann wie ein zartes Pflänzchen von unten wachsen, realistisch bleiben und erfolgversprechend werden.
Ein gängiges Rezept für eine „einheitliche“ Form reflektierter Jungenarbeit gibt es nicht. Ein solches würde die Intention von Jungenarbeit meines Erachtens auch konterkarieren. Gleichwohl gibt es eine Menge Aspekte – außer den bisher genannten – zu beachten.

„Betroffenen-Arbeit“

Jungenarbeit ist „Betroffenen-Arbeit“. Betroffenen-Arbeit schafft „Aha-Erlebnisse“ und Solidarisierungseffekte. Sie räumt mit Mythen auf und bricht Tabus. Jungen (und Mitarbeiter) lernen zu begreifen, dass sie es nicht allein sind, die ihre individuellen Schwierigkeiten (z.B. in emotionaler und sexueller Hinsicht, bezogen auf „Leistungszwänge“ usw.) haben, sondern dass es sich um handfeste kollektive, individualisierte Probleme handelt. „Besonders Richter (24) hat darauf hingewiesen, dass in unserer Kultur vor allem Männer persönliche Leiden (‚Probleme haben‘) für unansehnlich halten und vor anderen – und vor sich selbst – zu verbergen trachten… Bei dem Verbergen innerer Zustände handelt es sich nicht nur um ein taktisches Manöver, bewusst oder schon automatisch eingesetzt. Vielfach sind die Gefühle auch in der Innenwelt nicht mehr spürbar. Wenn in der Kindheit bestimmte Gefühle (z.B. von Schmerz) nicht ausgedrückt werden durften, dann wurden diese Gefühle gleichsam fest verkorkt und abgespalten.“ (25)
Jungen erfahren etwas über „die gemeinsamen Ursachen“, entwickeln gemeinsam Lösungs- und/oder Akzeptierungswege, die dem einzelnen Jungen (und Mann) und letztlich vielen Jungen, Mädchen, Männern und Frauen zugute kommen können (26). Sie dürfen Schwächen zeigen, Schwächen gar als positiv erleben. Sie spüren, falls sie eine zuversichtliche Atmosphäre erleben dürfen, dass sie sich nicht unnötig zu schämen brauchen, dass sie auch mit Macken akzeptiert und als wichtig anerkannt werden.

Lebenswelten

Unterschiedliche Lebenswelten erfordern unterschiedliche Konzepte. Die Art der Sozialisation ist verschieden. In einem Dorf wachse ich anders auf, als in einem traditionellen urbanen Stadtteil, anders als in einer Beton-Satelliten-Stadt, anders als in einer Kleinstadt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur vermittelt mir bestimmte Werte, deren patriarchaler Zusammenhang sich zum Teil scheinbar erheblich voneinander unterscheidet. Bei näherem Hinschauen wird man feststellen, dass Unterscheidungen teilweise nur gradueller Natur sind. Gleichwohl gilt es, diese zu berücksichtigen. Jungen, die in besonders gewalttätigen Zusammenhängen (Familie, Schule, Stadtteil usw.) aufwachsen, brauchen andere (Re-)Aktionen als Jungen, die in ihrem Milieu besser behütet werden. So kann ich mir verstärktes Engagement in Richtung reflektierter Jungenarbeit etwa in Fan-Projekten von Fußballclubs, in der „Glatzen“-Arbeit und sogar in der Arbeit mit Rechtsradikalen (27) vorstellen. Voraussetzungen hierbei sind – wie in jeder anderen Form von Jungenarbeit – Hintergrundwissen (28) über die Jungen, ihre Lebenszusammenhänge und gefühlsmäßige Solidarität. Als „Papst“, der unfehlbar ist, der alles besser weiß, sollte ich die Jungen lieber in Ruhe lassen. Sie müssen merken, dass ich fehlbar bin, dass ich manchmal auch ratlos bin und ihre Hilfe ebenfalls benötige. Ich muss transparent und einfühlsam sein, muss mich und mein Verhalten ihnen gegenüber plausibel machen können. Rechtsradikale Organisationen haben oft früher als Pädagogen begriffen, wie wichtig es ist, Jungen Grenzerfahrungen des Sich-Erprobens und Sich-Austesten-Könnens machen zu lassen. Teilweise laufen ihnen die Jungen deshalb in erster Linie zu. Zu klären wäre darüber hinaus, inwieweit rechtsradikale Führernaturen nicht bereits zu sehr im Weltbild des Jungen etabliert sind. Dies würde eine Herangehensweise an derart „infizierte“ Jungen deutlich erschweren. Der Mitarbeiter wird auf jeden Fall provoziert, sich entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten zuzulegen, Möglichkeiten und Methoden zu erlernen, die geeignet sind, den Erfahrungshorizont von Jungen vergrößern zu helfen, sich erproben und in ihrer Entwicklung erweitern zu können. Der Kontext, in dem wir derartige Aktivitäten (z.B. Abenteuersport, Erlebnispädagogik, Mutproben anderer Art usw.) vollziehen, ist zudem eine potentielle Möglichkeit, das Abwandern zu rechtsradikalen „Rattenfängern“ zu verhindern.
Wenn – wie in manchen Einrichtungen häufig bedauert wird – fast ausschließlich Jungen als Besucher kommen, braucht dies nicht auf Dauer akzeptiert werden; jedoch könnten Mitarbeiter beginnen, diesen Umstand als Chance für den Beginn einer reflektierten Arbeit mit Jungen zu sehen. Uwe Sielert schlägt vor, „geschlechtshomogene Gruppen aller Art“ zu nutzen. 
(29) Er bezieht dies auf Vereine, deren Untergliederungen, Jugendhäuser, Interessensgruppen usw. „Reflektierte Jungenarbeit ist in solchen Gruppen durchaus machbar, vor allem dann, wenn sie gerade nicht unter diesem Vorzeichen praktiziert wird. Weil die Gruppendynamik und die selbstgewählten Inhalte in der Regel das traditionelle Männerverhalten verstärken, sind von Seiten der Jugendarbeiter bewusste Interventionen und Situationsarrangements erforderlich, damit Atmosphäre, Gesprächsinhalte und Aktivitäten einen anderen Charakter bekommen.
Schon die Verstärkung der ganz wenigen offensiven antisexistischen Bemerkungen und Handlungen einzelner Mitglieder kann wichtige Veränderung initiieren. In vielen Gesprächen haben mir Jungen davon erzählt, dass sie sich in ihren Cliquen oft zu Äußerungen und Handlungen hinreißen lassen, die sie eigentlich gar nicht wollen. In der Situation fällt ihnen das gar nicht auf, weil die Stimmung ganz selbstverständlich frauenfeindlich, die Atmosphäre rau und wenig herzlich ist.“ 
(30)

„Multikulti“ und Gewalt

Mir selbst ergeht es oft genug so: Ich lebe in einem Stadtviertel mit einem hohen Ausländeranteil (31). Die teilweise „südländisch“ anmutende Atmosphäre auf den Straßen bewirkt bei mir keine Urlaubsstimmung, im Gegenteil: Ich spüre immer wieder den „Schweinehund“ in mir. Die Horden von Machos, die die Bürgersteige füllen, hinter Frauen herglotzen und -pfeifen, lösen mir zunächst ungute bis abscheuliche Gefühle aus. Wenn ich dann einmal in mich „hineinhöre“, spüre ich, dass es auch und vor allem meine Ängste vor dem Fremden, dem Anders-Sein sind, die mir „die Nackenhaare hoch stehen“ lassen.
Machen wir uns bewusst, dass Cliquen z.B. türkischer Jungen eine stabilere homogene Struktur haben, als beispielsweise „normale deutsche“ Jungen (23). Auch hierin verbergen sich wiederum eine Unzahl sinnvoller Ansatzmöglichkeiten für eine reflektierte Jungenarbeit, möglicherweise zunächst im eigenen Kulturkreis. Dazu allerdings ist wichtig, die (andere) Kultur möglichst gut zu kennen. Und wer könnte in diesem Zusammenhang eine reflektierte Arbeit mit Jungen besser durchführen als ein türkischer Kollege mit entsprechendem Bewusstsein? Ist er nicht da, wächst die Lernaufgabe für den Mitarbeiter, der sich die Arbeit vornimmt, natürlich; braucht er doch einen einigermaßen stabilen Hintergrund.
Durch nichts mehr ist zu verhehlen, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, die unser Handeln erfordert, vor allem auf dem Hintergrund zunehmender Gewalt gegen Migranten. Für alle betroffenen Jungengruppen sind auf diesem Hintergrund entsprechende Konzeptionen zu entwickeln. Damit spreche ich nicht für Konzeptionen, die „in“ sind, die sich oberflächlich gut „verkaufen“ lassen. Tatsächlich umsetzbare Konzeptionen – unabhängig von ihren Zusammenhängen – können immer nur die Realität spiegeln. Sie untersuchen Fakten, Hintergründe des Stadtteils, der Zielgruppe(n), formulieren – erreichbare – Ziele, Methoden und Kapazitäten. Und sie basieren – nur so können sie mit Leben gefüllt werden – auf den Fähigkeiten, Fertigkeiten, der Einfühlsamkeit und Flexibilität der Mitarbeiter. Mitarbeiter sind somit wesentlicher Bestandteil einer Konzeption.

Schichtenunterschiede

Die Jugendzentrumsbewegung und die Abenteuerspielplatzbewegung versuchten – zumindest verbal – in den 1960er Jahren, „Proletarisches“ zu kultivieren und zum gesellschaftlichen Maßstab zu etablieren. Nachdem Mitte der 1970er Jahre „die große Stagnation“ eintrat, lebten diese Inhalte zum Teil nur noch als Mythen in zahlreichen Köpfen weiter. Es folgten Zeiten, in denen große „Bewegungen“ (z.B. die Frauenbewegung, die Friedensbewegung usw.) aufblühten. Weder einem proletarischen Bewusstsein, noch den meisten Bewegungen ist es gelungen, eine Annäherung der Geschlechter im Sinne von Gleichberechtigung einzuleiten. Die Schwerpunkte lagen anderswo. Sie klammerten die Geschlechterfrage aus. Sozialisten erklärten eine Gleichberechtigung „qua verbum“ als realisiert. Schauen wir einmal hinter die Kulissen des „ehemaligen Ostblocks“ können wir (erstaunt?) feststellen, dass die Ideen August Bebels (32) dort auch nur Mythos geblieben sind. Mit Ausnahme der Frauenbewegung hat keine Ideologie und keine Bewegung Bewegung in die Geschlechterfrage gebracht.
Gegenwärtig bestimmt in zunehmendem Maße die „Lebenslagen-Diskussion“ das Geschehen. Trotz einiger Widersprüchlichkeiten, die ich immer wieder ausmachen kann, bietet diese vergleichbar mehr Komponenten, emanzipatorische Bestrebungen aufzunehmen. Ich möchte mich allerdings davor hüten, den Blick fürs Kollektive vollständig zu verlieren, ganz im Gegenteil. Nicht jeder „muss das für sich selber wissen“! In der Regel sind Männer die Ausbeuter. In der Regel sind Männer aber auch Ausgebeutete. Und Jungen, die aus einer stärker ausgebeuteten Schicht kommen, benötigen (unter Umständen verstärkt) Hilfen, Verständnis und Unterstützung beim Erkennen ihrer Interessen und deren Realisierung. Wünschenswert ist in diesem Zusammenhang die Transparenz, das Nachvollziehen und nach Möglichkeit der Zugang zu anderen Lebensmodellen. Schließlich wollen wir tradiertes Rollendenken überwinden. Auch dies erfordert beim Mitarbeiter fundiertes Hintergrundwissen und Empathie. Eine Verklärung der Arbeiterbewegung hilft da ebenso wenig weiter wie eine Abgrenzung gegenüber harten „Unterschichts-Cracks“. Eine reflektierte Arbeit mit diesen kann nicht jeder Mann tun. Ich halte sie allerdings für möglich. Sie kann vielleicht auch ein Abwandern in rechtsradikale Kreise vermeiden helfen. Geleugnet werden darf allerdings nicht, dass für manchen Mitarbeiter eine reflektierte Jun-genarbeit mit Unterschichtsjungen schwieriger zu bewältigen ist, als etwa mit Gymnasiasten. Diesbezüglich halte ich es für besonders wichtig, wenn der Mitarbeiter seine verinnerlichte Vorstellung, seine kulturelle Welt, seine Gewohnheiten usw. seien das Maß aller Dinge, aufgeben könnte.

Voraussetzungen

Reflektierte Jungenarbeit ist in jedem Fall eine Form politischer Arbeit. Ich wünsche mir, dass dies in dieser Auseinandersetzung immer wieder deutlich geworden ist. Jeder Mann, der reflektierte Jungenarbeit anstrebt, benötigt zunächst erst einmal eine gehörige Portion Selbstreflexion und eine Produktivkraft, die sich bei ihm selbst daraus entwickeln kann. Austausch mit anderen Männern ist vonnöten, Klärungen, Hintergrundwissen, die zunehmende Schaffung einer eigenen männlichen Identität. Ziele müssen formuliert werden können. Fähigkeiten müssen erkannt werden. Bündnispartner und Bündnispartnerinnen müssen gefunden und angeworben werden. Ganz wichtig finde ich auch die Unterstützung einer reflektierten Jungenarbeit durch engagierte Frauen. Ihr Verständnis sollte eine wichtige Voraussetzung sein. Möglicherweise muss man(n) sein Vorhaben gegenüber Frauen auch immer wieder „unter Beweis“ stellen. Aufgrund Jahrhunderte alter Erfahrungen und Vorbehalte würde ich es nicht erstaunlich finden, wenn Frauen hinter einer geschlechtsspezifischen Arbeit mit Jungen eine weitere Manifestierung bestehender Verhältnisse wittern.
Männer fangen an, sich selbst, andere Männer, Jungen, Frauen und Mädchen ernst zu nehmen. Sie zweifeln nicht an der Glaubwürdigkeit derer, mit denen sie arbeiten wollen. Sie verhalten sich solidarisch, grenzen sich allerdings nötigenfalls auch ab 
(33); dies günstigenfalls in einer transparenten Art und Weise. Männer erwerben die Fähigkeit, zuhören zu können und, wenn erforderlich, sprechen zu können. Sie versetzen sich in die Lage, deutlicher als bisher, Körpersignale zu erkennen.
Schließlich benötigen sie „praktisches“ Handwerkszeug. Sie erlernen kreative Methoden, Erkenntnisse und Ziele in einer Art und Weise umzusetzen und anzugehen, dass Jungen angesteckt, begeistert werden können. Und Redenkönnen ist nur ein kleiner Teil zur Methodenergänzung. Denkbar sind alle möglichen Rollenspiele, Theaterstücke, ganz „normale“ Spiele, Ausflüge mit entsprechenden „Bonbons“ und vieles andere mehr. Uwe Sielert liefert in seinem Praxishandbuch eine ganze Reihe brauchbarer themenbezogener Möglichkeiten, die ich an dieser Stelle empfehlen möchte. 
(34) Auch der Griff zur – eventuell in der Einrichtung verstaubten – Spielekartei ist überlegenwert. Wir können einen Jungenraum anlegen, wenn die Einrichtung dies zulässt. Atmosphärische Veränderungen haben in manchen Einrichtungen „echte Wunder“ bewirkt.
Eine Auseinandersetzung mit der Thematik der Koedukation führt mir an dieser Stelle zu weit. Ich verweise erneut auf Uwe Sielert 
(35), der für eine „reformierte Koedukation“ plädiert, ein Ansatz, mit dem ich mich anfreunden könnte (36).
Ich selbst habe vor ein paar Jahren einmal folgende Sätze formuliert: „Wir wollen weder geschont noch bemitleidet werden, wir haben es aber auch nicht gerne, stellvertretend für die Männer, in denen wir selbst ein Feindbild sehen, unter die Gürtellinie getreten zu werden. Wir streben auch nicht die Erfüllung des Lebens als Hausmann und ‚männliche Mutter‘ an. Unser Ziel ist identisch mit dem der Frauenbewegung: die Selbstbestimmung von Mann und Frau. Die Wege sind zwangsläufig – unter Berücksichtigung der Geschichte und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation – getrennte.“ 
(37)

Dortmund, September 1992 – Für das Internet überarbeitet und mit zum Teil neuen Fußnoten versehen im September 2002. Zur Vertiefung und beim eigenen Aktivwerden sei der Kontakt zur LAG Jugendarbeit NRW, Fachstelle Jungenarbeit, Geschwister-Scholl-Straße 33-37, 44135 Dortmund, Telefon 0231/5342174 empfohlen. 

Anmerkungen:
1 Anm. 2002
2 Anm. 2002: Der Artikel wurde 1992 geschrieben mittlerweile sind zehn Jahre vergangen; dies nicht ohne zum Teil gewaltigen Veränderungen. Die folgenden Ausführungen über die Arbeit mit Jungen dürften für den einen oder anderen Leser nach wie vor von Interesse sein. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, den Beitrag auf die Web-Seiten des Verbandes zu stellen.
Die Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“ (Dirk Bange) befasste sich seinerzeit verstärkt mit diesem Phänomen. Zwischenzeitlich liegt auch entsprechende Literatur vor.
4 Anm. 2002: Dass sich in den letzten zehn Jahren hier und dort etwas verändert  hat, kann nicht übersehen und soll nicht abgestritten werden.
5 Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille: Parteiliche Mädchenarbeit & antisexistische Jungenarbeit – Abschlussbericht des Modellprojekts „Was Hänschen nicht lernt …. verändert Clara nimmer mehr!“, Petershagen o.J.
6 Trefor Lloyd: Junge, Junge – Work with Boys, Frankfurt am Main 1986, AG Klub
7 DER NAGELKOPF 18, ABA Fachverband, Dortmund 1992
8 Neuling Verlag, Schwäbisch Gmünd und Tübingen, z.B.: „…damit Du groß und stark wirst!“ – Beiträge zur männlichen Sozialisation, 1990, und „Was fehlt, sind Männer!“ – Ansätze praktischer Jungen- und Männerarbeit, 1991. Zum Thema gibt es ebenfalls eine Bibliographie aus dem Jahre 1992: Sonderausgabe des NAGELKOPF (ABA Fachverband, Dortmund)
9 Dieter Schnack/Rainer Neutzling: Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek 1990, Rowohlt
10 Uwe Sielert: Jungenarbeit. Praxishandbuch für die Jugendarbeit. Teil 2. Weinheim und München 1989, Juventa
11 Anm. d. Red. (2002): Dieter Schnack und Rainer Neutzling haben ein weiteres empfehlenswertes Buch verfasst, das Männern, die Jungenarbeit versuchen wollen, sehr hilfreich sein kann, nämlich: „Die Prinzenrolle. Über die männliche Sexualität.“ Reinbek 1993, Rowohl (als Taschenbuch bei Rowohlt 1995 erschienen).
12 vgl. Sielert, a.a.O., S. 16
13 Empfehlenswert: Walter Hollstein: Nicht Herrscher, aber kräftig. Die Zukunft der Männer. Hamburg 1988, Hoffmann und Campe und Reinbek 1991, Rowohlt
14 vgl. Sielert, a.a.O., S. 16 ff.
15 vgl. ebenda, S. 21
16 vgl. ebenda, S. 38 ff.
17 Anm. 2002: Aus heutiger Sicht erscheinen die vielen „Anti“-Positionen zumindest dahingehend zweifelhaft, dass damit eher Widerstände erzeugt, denn Lösungen gefunden werden. Vielleicht gelingt es dem erfolgreichen Praktiker, von vornherein lösungsorientiert vorzugehen; dies beinhaltet, jedes Verhalten erst einmal zu akzeptieren, damit es eine Chance zur Veränderung erfahren kann. 
18 vgl. Sielert, a.a.O., S. 42
19 vgl. ebenda, S. 40 f.
20 Anm. 2002: Als solcher begriff ich mich vor zehn Jahren. Und wieder haben wir es mit dem „Anti“ zu tun. Heute kommt es mir näher, mich als „professionellen Pädagogen“ wahrnehmen zu können. Die Verdienste der „Antipädagogik“ will ich damit auf keinen Fall schmälern.
21 Die Anführungszeichen sind von mir gesetzt worden; in dem Grundverständnis, dass es „Selbstverständlichkeiten“ aus heutiger Sicht (2002) nicht gibt. Wie Uwe Sielert zu Recht weiter ausführt, ist die Einfühlung in eine fremde Psyche usw. ohne Sprache nicht möglich. R.D.
22 Sielert, S. 43 f.
23 Diese Aussage wurde 1992 gemacht. Für die Gegenwart (2002) würde ich diese These nicht mehr aufstellen.
24 vgl. Richter, Horst Eberhard: Lernziel Solidarität. Reinbek 1974 (Rowohlt)
25 Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Band 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1991 (Rowohlt), S. 109 f.
26 Anm. 2002: Die „taz“ vom 28. August 2002 griff das Thema in einen Artikel von Marc Böhmann in der Folge von PISA- und 14. Shell-Studie unter der Überschrift „Das neue Missverständnis: Jungs als Prügelknaben – Der ´türkischstämmige Migrantensohn aus dem Ghetto´ hat das ´katholische Arbeitermädchen vom Lande´ abgelöst“ auf. Dort heißt es u.a.: „Die Diskussion darum, wie sich Jungen und Mädchen besser fördern ließen, muss weitergehen. Die feministische Forschung weiß: Mehr Förderung von Mädchen kommt Jungen zugute. Es ist zu vermuten, dass dies umgekehrt ähnlich ist.“
27 Anm. 2002: Soll die Arbeit mit rechten Jungen/Männern Erfolge zeitigen, gilt allerdings zu bedenken, dass eine „überzogen verständnisvolle“ Haltung leicht als „Schwäche“ des Mitarbeiters interpretiert werden könnte. Es muss sehr deutlich dokumentiert werden, dass der Junge/der Mann als Person akzeptiert wird, nicht aber seine Haltungen und sein mögliches Verhalten. 
28 Etliche Mitarbeiter verfügen meines Erachtens über Erfahrungen aus der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit, die auch für Jungenarbeit gut genutzt werden können.
29 vgl. Sielert, a.a.O., S. 61 f.
30 ebenda, S. 61
31 Anm. 2002: Zu jener Zeit, als ich den Aufsatz schrieb.
32 vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Berlin 1946.
33 Anm. 2002: Heute würde ich statt von „abgrenzen“ lieber von „sich unterscheiden“ sprechen.
34 vgl. Sielert, a.a.O., S. 95 ff
35 vgl. ebenda, S. 87 ff
36 Anm. 2002: In dem bereits erwähnten „taz“-Artikel von 28. August 2002 („Das neue Missverständnis: Jungs als ´Prügelknaben´…“) wird hierzu das Konzept der „Reflexiven Koedukation“ vorgestellt.
37 Deimel, Rainer, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (Hg.): Mann und Frau in Gesellschaft und Weiterbildung. Dokumentation des XIV. Soester Weiterbildungsforums. Soest 1988, S. 184

NAGEL-Redaktion – Reflektierte Jungenarbeit Read More »

Mitglied werden

ABA-Mitglieder begreifen sich als Solidargemeinschaft. Sie setzen sich in besonderer Weise für die Belange der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein.

Mehr …

Aktuelle Projekte

Was macht der ABA Fachverband eigentlich? Hier stehts´s! Besuchen Sie die derzeitigen ABA-Baustellen.

Mehr …

Der i-Punkt Informationsdienst: handverlesene Infos aus der ABA-Welt, regelmäßig und kostenlos, direkt in Ihr Postfach.
Hinweis: Ihre E-Mail Adresse wird gespeichert und verarbeitet, damit wir Ihnen eine Bestätigungsmail schicken können. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Nach oben scrollen