NAGEL-Redaktion – Wir leben vom Judentum und vom Griechentum

„Seit ein Gespräch wir sind …“ (Hölderlin) 

Die Besinnung auf die Herkunft unserer Kultur anhand einiger Fragen an das Labyrinth von Knossos in Kreta, das für die pädagogische Umsetzung im Erfahrungspark des SJC Hövelriege Verwendung fand, ist Teil eines größeren Werkes über „Produktionsfaktoren und Lernen“ von Prof. Willy Bretschneider. Die Bilder sind von Nikolaus Vollmer


Mit Lévinas können wir sagen: Wir leben vom Judentum, und wir leben von den Griechen, und das Leben von beiden ist unser Genuss.

Es ist unser Genuss nicht erst, wenn wir ihre Schriften studieren und ihre Sprachen beherrschen, wenn wir also die antiken Lern- und Lehrstoffe in uns aufgenommen haben. Wir leben vielmehr jederzeit von den jüdischen und griechischen Kulturen; und das kann nur heißen: Wir atmen jüdischen und griechischen Geist in einer Atmosphäre, die durch und durch von ihren Bemühungen, die Welt zu verstehen, getränkt ist. Das Weltverständnis der Griechen und Juden ist unser Milieu. Ob wir es eingestehen wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder wir nur unbewusst in ihrem Geist dahindämmern, ob wir besondere Anstrengungen unternehmen, ihre Gedanken zu erschließen, oder nur Opfer ihrer schlimmsten Auswirkungen sind, wir leben von ihnen, von ihren Geschichten und Mythen, von ihren Ideen und der Art ihres Denkens, von ihren Worten und Begriffen und von der Art, sie miteinander zu kombinieren. „All dies sind keine Gegenstände der Vorstellung. Wir leben davon.“ (1) 

Das, was wir uns von beiden Denkansätzen vorstellen und vorstellen könnten, wenn wir ihre Texte lesen und studieren, ist bei allem ernsthaften Bemühen um Wiederholung ihres Weltverständnisses wenig im Verhältnis zu dem, wovon wir leben. Jede Geschichtsepoche erschließt Anderes und Neues und sorgt so für immer radikalere Renaissancen der vorchristlichen Kulturen, Renaissancen von Tiefenschichten, die dem alltäglichen Bewusstsein unbekannt waren und sind. 

Anders ausgedrückt: Es gibt Tiefenschichten im geistigen Leben der Juden und Griechen, die unserem bewussten Umgang mit ihnen verborgen sind, die aber erschlossen werden können oder müssen, wenn wir deren Potentiale für die Bewältigung der gegenwärtigen Krisen nutzen wollen. 
Wir leben vom Judentum und von den Griechen in einer Weise, die über das hinaus geht, was bei der bewussten Übernahme ihrer Gedanken in der abendländischen Geschichte angestoßen worden ist. Aus beiden Kulturbereichen hat sich das christliche Abendland so gebildet, dass es sich mit seinen Erkenntnissen von dem, was ist, und mit seinen Vorschriften für ein ideales Leben noch längst nicht all dem genähert hat, was im Judentum und in der griechischen Philosophie angefangen wurde und deren Entwicklung in der Zukunft noch möglich ist. Die unterschwelligen Potentiale aus beiden Kulturkreisen müssen und können in der Gegenwart erschlossen werden, wenn die Isolation des Menschen im elementaren Lebensbereich, der in der Gegenwart vor allem durch die Herrschaft des Geldes angezeigt ist, aufgehoben werden soll.

Judentum und Griechentum beginnen in ihrer wesentlichen, die spätere Geschichte prägenden Form mit alltäglichen Gesprächen, und deshalb kann die Dimension dessen, was für die Gegenwart aus ihrem Denken neu geschöpft werden kann, nur durch Alltagsgespräche erreicht werden. Alles studierende Umgehen mit antiken Texten muss aus den akademischen Gefilden in die Alltagsgespräche der Straßen und Plätze und Märkte verlagert werden und muss in verständlichen Formen den Mann und die Frau auf der Straße erreichen. Schließlich ist die Kategorienlehre des Aristoteles auf der Agora, dem Marktplatz der Städte, vor allem Athens, entstanden.

Dort hat Sokrates die Jugend der Polis mit seinen rhetorischen Disputen erreicht und sie durch Vorbild und Ermahnung vom übermäßigen Alkoholkonsum befreit, ohne nüchtern zu werden. Er hat sie gelehrt, auf philosophische Fragen Antworten zu geben, die ihrem Leben Sinn verleihen. Für die Juden geben die Rabbiner ihren Schülern Rede und Antwort, damit ein ethisch geregeltes Leben in Israel möglich ist. In beiden religiös-politischen Bereichen sind es die Lehrer im Gespräch mit Schülern, die aus unmittelbarer Nähe die Kulturen stiften und sich nicht in Elfenbeintürmen verbarrikadieren. Es muss heute an den Schulen eine Lernatmosphäre entstehen, von der ethische Einflüsse auf die Gestaltung des alltäglichen Lebens ausgehen. Nicht die Forschungsergebnisse der Universitäten und Institute, die über Fachleute und Medien, vermittelt durch die Werbung, in die Straßen und Wohnungen der Menschen gelangen, dürfen die Lebensgewohnheiten der Menschen beeinflussen, sondern das Lernen an Schulen und außerschulischen Instituten, z. B. in Vereinen, muss sich auf jüdische und griechische Themen so konzentrieren, dass die politischen Verhältnisse aus deren verborgenen Schätzen leben. 

In der Zweite(n) Lektion, Asylstädte (2) tritt E. Lévinas mit einer selten geäußerten Radikalität für kollektive Gespräche ein, indem er ebenso radikale Texte der Rabbiner zitiert: „Das wahre Denken ist kein ‚stiller Dialog der Seele mit sich selbst‘, sondern Diskussion zwischen Denkern. … ‚ Schwert über (oder Krieg gegen) die Lügenhändler (Geschichtenerfinder), sie verlieren den Kopf‘“ (3). Die Einzelgänger werden verurteilt und mit dem Schwert bestraft; wer für sich alleine studiert, wird ein Feind Israels genannt oder, schlimmer noch, als töricht und närrisch entlarvt. Als Lügenhändler und Geschichtenerfinder, Eigenbrötler und Lügner werden die Einzelgänger bezeichnet. Und dann wird ein Vers formuliert, der wie ein Schwert niedersaust: „Hütet euch vor den Verstiegenheiten der für sich Bleibenden, die ihre ‚genialen‘ Ideen nicht durch Diskussionen mit anderen überprüfen!“ Lévinas fügt hinzu: „Vorsicht vor dem Stumpfsinn des Isolierten und vor seinem sündhaften Hochmut!“ (4) 

Denken ist nur als Dialog möglich. Auch wenn wir keine Gesprächspartner haben, formulieren wir unsere Gedanken in Sätzen und Aussagen, die Antworten und Gesprächspartner suchen. Denken ist nie sprachlos, und Sprache ist immer Gespräch. Deshalb muss das studierende Lernen in Gesprächen stattfinden und nicht in Bachelor- und Masterkursen. 

Weil wir von den Griechen und Juden leben, leben wir von Gesprächen, und wenn wir nicht sprechen, leben wir nicht und zerstören das Leben der Anderen. Wir leben vom jüdischen und griechischen Denken, und wenn wir uns deren Denken nicht im Gespräch erschließen, verspielen wir ein gutes Stück unseres gemeinsamen Lebens, das eben jüdisch und griechisch ist. 

Darum müssen sichtbare Monumente in allernächster Umwelt geschaffen werden, die zu Gesprächen anregen und die alle Sinne der Kinder und Jugendlichen ansprechen und sie darauf stoßen, was jüdisch und griechisch in unserem Leben ist. Es müssen Räume gestaltet werden, deren Herstellung und Gebrauch griechisches und jüdisches Leben erschließen. Durch die Arbeit an den kulturellen Zyklen der Geschichte wird sowohl der antike Hintergrund als auch der Untergrund des gegenwärtigen Lebens erschlossen. Der Umgang mit Geschichte ist nicht nur in den Schulen zu pflegen, sondern muss auf jedem Kinderspielplatz selbstverständlich sein, damit er in den Gesprächen präsent wird und die Schulwirklichkeit verändert. Die Schulen müssen sich wandeln und statt des lehrer- und datenzentrierten Unterrichts kollektives Erarbeiten von Sinnzusammenhängen durch Schüler ermöglichen.

Für den Unterricht in griechischer Kultur könnte das folgendermaßen aussehen:

Minoische Kultur ist von mykenischer, mykenische von klassischer Kultur zu unterscheiden. Deren Merkmale, Geschichten und Namen sind von den Schülern zu erarbeiten und zu benennen, so dass für das unterschiedliche Wesen dieser Epochen Verständigungsweisen zu wecken sind. Alle Ergebnisse können von den Schülern im Unterricht selbständig vorgetragen, bildlich dargestellt und in Gebäuden errichtet werden. Die Schüler haben die Möglichkeit, in dem, was sie von den Griechen lernen, umher zu gehen, es zu bestaunen und zu verändern. Schüler sind dann wieder Peripatetiker im griechisch-aristotelischen Sinn (5). Solche Lerngänge (6) können zur Produktion von Wissen und Einsicht vorbereitet werden. 

Das Labyrinth des Dädalus und seine mögliche Bedeutung für die Pädagogik 

Durch einen Exkurs über das, was die Griechen mit der Vorstellung vom Labyrinth und der Euklidischen Geometrie für das abendländische Denken entworfen haben, soll erklärt werden, was solche Lerngänge bewirken können, wenn sie in die Gebiete vordringen, von denen wir leben. 

„Alle drei Formen des L(abyrinths) lit.(erarisch); visuell; tänzerisch gehen wahrscheinlich auf eine bisher nicht erklärte Urform des L(abyrinths) zurück, die nach unterschiedlichen Deutungen den menschlichen Körper, insbesondere den weiblichen Uterus, die Unterwelt (verbunden mit initiatorischen Riten) oder die stilisierte Form eines Stadtplans oder gar eine Nachbildung der Laufbahn von Himmelskörpern darstelle.“ (7) 

Die bisher nicht erklärte Urform des Labyrinths muss eine Nachbildung der Irrwege in die Natur sein, die ein Irren als Verirren in Urwäldern und Wüsten kennt, aus denen Rückwege schwer zu finden sind. Die Ableitung von Labrys, Streit- oder Doppelaxt, muss ja nicht erst kriegerischen Ursprungs sein, sondern kann auf ein bahnendes Werkzeug in die undurchdringlichen Waldbestände in einer lange vergangenen Urzeit verweisen.

Der Verweis auf den weiblichen Uterusdie Unterwelt oder in anderen Zusammenhängen die Vorstellung eines weitverzweigten Bergwerks oder von unterirdischen Höhlen erhärtet die These vom Ursprung des Labyrinths aus der primären Begegnung des Menschen mit der menschlichen und außermenschlichen Natur. Die stilisierte Form eines Stadtplans oder gar eine Nachbildung der Laufbahn von Himmelskörpern lassen auf einen Zusammenhang mit der minoischen Kultur schließen, die vom Marktplatz oder vom unregelmäßigen Grundriss der Städte aus die Vorstellung eines Labyrinths entwickelt haben. Beides sind Bauformen, die keinem von oben (von den Burgen aus) entworfenem Plan folgen, sondern agglutinierender (verklumpender)  Bauweise folgend Stand an Stand und Haus an Haus fügen und so ein Zurechtfinden im Wirrwarr von Angeboten äußerst erschweren. 

Das Labyrinth des Dädalus in Knossos, dem Mittelpunkt der Minoischen Kultur, kann als Anfang des geordneten geometrischen Denkens, das von oben (den Burgen) oder von den Sternen aus Orientierungshilfen geschaffen hat, deutlich gemacht werden. Wenn es auch nicht das erste Labyrinth ist, von dem Spuren gefunden worden sind, so erfahren wir doch durch den Mythos das Wesentliche von ihm: Zunächst sind es weit verzweigte Gänge, die wie Höhlen von Dädalus, dem kundigen Baumeister, in den Fels gebaut wurden, damit in seinem Mittelpunkt ein Gefängnis für den Minotaurus entstand. Der Minotaurus konnte nicht entkommen, weil er den Weg zum Ausgang nicht fand. Die Ausweglosigkeit des Labyrinths erinnert an die Schwierigkeit, der Natur zu entkommen, wenn man sich in ihr in einer Zeit verlief, in der noch kein Orientierungssystem gefunden war, das sicheres Weiterkommen garantierte. 

Der Gesichtspunkt von oben, von der Burg oder von den Himmelskörpern aus, ist die Voraussetzung dafür, dass Landkarten oder geometrische Zeichnungen für die Orientierung zu Wasser und zu Land oder für das Bauen entworfen werden konnten. Die Handelsbeziehungen mit Babylonien und Ägypten sprechen dafür, dass deren astronomische Erfahrungen Einfluss genommen hatten auf die Kenntnisse der Kreter. 

Durch beides: die ausweglose Ordnung des Labyrinths und die Entwicklung des geometrischen Denkens als Orientierungshilfe, für das Euklids more geometrico eine entscheidende Wegmarke bedeutete, kommt die Natur in den vermessenen Griff. 

Vom Irrgarten, der die tatsächlichen Irrgänge in der menschlichen und außermenschlichen Natur beschreibt, zum Labyrinth, das die Irrgänge mythologisch überhöht oder geometrisch vermisst, geht die Entwicklung, nicht umgekehrt. Die zahlreich im 16. Jahrhundert entstandenen Irrgärten zur Unterhaltung der reicheren Bürger und des Adels könnten das Gegenteil nahelegen. Das irrende Gehen im Garten verbindet das Herumirren in fremder Natur, das zum Unterhalt des Lebens und zur Sicherung der Lebensbedingungen notwendig war, mit dem Lustwandeln in einem verwandelten Stück Land zur riskanten und aufregenden Unterhaltung von Menschen, die sonst in gesicherten Verhältnissen leben. Das Risiko des zu verpassenden Ausweges ist die Bedingung für das prickelnde Abenteuer der Bürger, das darin besteht, nicht zu wissen, wo es lang geht (8). Ein raffiniertes System aus Hecken und Zäunen schafft immer wieder neue Möglichkeiten zu entscheiden, welche Richtung man gehen will. Das lebt von der Erinnerung an ursprüngliche Natur, in der das Irren tödlich enden konnte, und an die Labyrinthe der frühen Geschichte, in denen die im Labyrinth irrenden Gefangenen aus Theben vom Minotaurus gefressen werden konnten. Doch das ist schon Mythos. 

Die Berichte unter dem Stichwort Labyrinth im Kleinen und Neuen Pauly und in Wikipedia schildern das Wesen der Labyrinthe in Analogie zur menschlichen, unter- oder überweltlichen oder menschlich gestalteten Natur: drei Formen des Labyrinths gibt es: literarisch, visuell, tänzerisch. Sie stellen den menschlichen Körper, insbesondere den weiblichen Uterus, die Unterwelt oder die stilisierte Form eines Stadtplans oder gar eine Nachbildung der Laufbahn von Himmelskörpern dar. 

Literarisch sind die Texte selber, die vom Labyrinth in Knossos u.a. in mythologischer Sprache berichtet werden. Visuell sind die Labyrinthe auf den Fußböden der Tempel und Kathedralen, der Fürsten- und Geschäftshäuser des Adels, und tänzerisch sind die zur Beschwörung der Geister, wie der „Jungfrauentanz in Trojaburgen“ oder „Labyrinthtanz zum Ostersonntag von Geistlichen in den mittelalterlichen Kathedralen“ (Wikipedia). Auch der „von Theseus gestiftete Kranichtanz der Delier“ (Der Kleine Pauly) hat kultischen Charakter. 

Wenn der menschliche Körper, insbesondere der weibliche Uterus, als Labyrinth bezeichnet wird, spiegelt das die Angst der vor allem männlichen Interpreten vor dem Inneren des Menschen und dem Uterus der Frau wieder, in das einzudringen Wissenschaft und Empirie sich lange Zeit nicht trauten, obwohl ihre Praxis ebenso lange schon eine andere war. 

Die Unterwelt kann man nicht kennen, man stellt sie sich vor als Labyrinth von Höhlen und Bergwerken, die unterirdische Schätze verbargen, zu deren Bergung und Erkundung erfahrene Bergleute und Ärzte die geheimen Wege kennen lernen mussten.

Die verschlungenen Straßen und Wege der Städte waren solange ein schwer zu durchdringendes Labyrinth, wie noch keine Stadtpläne und Karten zur Orientierung in ihnen vorhanden waren. Auch die Vorstellung der Laufbahnen der Himmelskörper als labyrinthisches Durcheinander zeigt die Ohnmacht der frühen Menschen, das Durcheinander zu durchschauen, bis es auch als magische Bezeichnung (Labyrinth) oder später als Zeichnung (der Sterne) der Beginn des Sichzurechtfindens am Himmel, auf den Meeren und bei Wanderungen auf der Erde war. 

Das Finden des Namens Labyrinth ist, wie die Götternamen für Kräfte der Natur im Mythos, der Anfang von wissenschaftlichen Enthüllungen der Geheimnisse der Natur. Wenn ein Wort gefunden ist für das, was man fürchtet, ist schon der Schrecken gebannt und der Weg gefunden, der weiteres Forschen möglich macht.

Vom Irrgarten zum Labyrinth schildern die mythologischen Berichte einen Umgang des Menschen in und mit der Natur, der die Not des Menschen, die Natur zu bewältigen, nachempfinden lässt: Im Irrgarten bleibt die Ausweglosigkeit des Menschen angesichts von unüberwindbaren Hindernissen der Naturbewältigung noch erhalten. Der Mensch, der sich in der Natur verirrt, weiß nicht, nach Hause zu kommen und braucht begehbare Wege für Füße und Augen, damit das Wissen sich einstellt, wo der Ausweg gefunden werden kann. Hier herrscht die tatsächliche Not des rastlosen Sammlers und forschenden Jägers noch vor, der Natur die Mittel zum Leben durch Praxis und Wissenschaft abzuringen und sie nach Hause zu bringen.

Sobald der Mensch sesshaft geworden ist, muss er für sein Bauen und Wohnen die ungeregelte Natur in ein parzelliertes Land verwandeln, das eben und gleichmäßig ist. Der Irrgarten wird zum Labyrinth, das Labyrinth wird zur Karte und die Natur zu ebenen Flächen auf den Böden, den Wänden und auf dem Papier. So sind die Landkarten und Stadtpläne entstanden. Das Labyrinth kann als in Fläche oder Ebene gewandelte Natur betrachtet werden. Wege in die Natur werden zu Linien und Strecken mit Winkeln und Proportionen, die fürs Berechnen und Planen der Wissenschaftler und Bauherren Voraussetzung sind. Die Höhen und Tiefen der Natur werden zur ebenen Fläche auf dem Papier. Flüsse und Wege werden zu Linien. Das umherirrende, aussichtslose vorwärts Drängen durch Wüsten und Wälder, Ebenen und Gebirge erleichtert eine Aufsicht von Oben, die jede Einzelheit der Natur auf Landkarten registriert und einer sofortigen Orientierung die Wege weist, die den Fortschritt ermöglichen. 

Es ist so, als ob vor zigtausenden von Jahren die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Natur umgekippt wären – oder verflacht worden sind – auf eine Fläche, die im Labyrinth ihren frühen Ausdruck fand. Das Umklappen der Ausbuchtungen der Natur in eine ebene Fläche hat magischen Charakter, der vor allem in der Höhlenmalerei zum Ausdruck kommt. Die Wände in Höhlen und Grotten waren vielleicht die ersten glatten Flächen, auf denen die Menschen der Urzeit malen konnten. Der magische Charakter dieser Zeichnungen hatte einen Bezug zur Jagd und diente dazu, die Tiere in ein Bild zu bannen und zum Stillstand zu bringen, wenn man es erlegen will. 

Deutlich hat die Malerei in Höhlen einen Bezug zur übernatürlichen Welt:

„Die Menschen haben damals aufgrund ihres Glaubens in Höhlen gemalt und graviert. Höchstwahrscheinlich glaubten sie einfach, dass die unterirdische Welt eine übernatürliche Welt ist. In den Grotten glaubten sie Geistern, Göttern, ihren Vorfahren, Verstorbenen zu begegnen. Die Bilder sollten als Mittler zwischen der hiesigen und der jenseitigen Welt dienen.“ (9) 

So kann das Labyrinth dazu dienen, Macht über die Unterwelt zu bekommen, oder die übernatürliche Welt zu beschwören oder allgemein, die Natur zu bewältigen, indem man sie auf Linien reduziert: Flüsse werden zu Linien (z. B. im Mäander), Berge je nach Höhe zu mehrfachen Parallelgebilden, Städte und verabredete Treffen zu Punkten, Landschaften in verschiedenen Farben dargestellt, und, viel später vielleicht, verabredete Grenzen zur Trennung der Nationen. Die gewohnten Wege, die zu Geraden geworden sind, erscheinen im Labyrinth so verschlungen, weil die Natur eben verschlungen ist. Die Ausweglosigkeit erinnert daran, dass jeder Weg in die Natur ein Ziel und einen Ausgangspunkt hat, den es (wieder) zu erreichen gilt, die manchmal schwer und manchmal überhaupt nicht zu finden sind.

Vom Labyrinth als Fläche ist die Entwicklung nicht weit zur Vermessung der Welt: 

„Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde.“(10) 

Man muss begreifen, dass die Geometrie, die mit Geraden, Winkeln und Zahlen operiert, nichts Natürliches begreifen lässt, sondern die Natur überzieht mit geometrischen Daten, die in sich stimmig sind. Sie suchen vergeblich, die Natur in den Griff zu bekommen. Die Euklidische Geometrie ist ein Vermessen der Erde, das wie das Labyrinth eine Ebene voraussetzt. Schon Gauß wusste, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks nur 180° in einer planen Ebene bilden. Wenn man die Krümmung der Erde berücksichtigt, stimmt diese Rechnung nicht. Es ist die abstrakte Bestimmung einer ebenen Fläche, die mit Punkten, Geraden, Längen, Winkeln, Kongruenzen, Ähnlichkeiten auszumessen ist. Die Geometrie ist die notwendige Voraussetzung für das Bauen der Städte und deren Zivilisation. Sie ist aber auch eine Vergewaltigung der Natur, die Schaden anrichtet. 

Zur angestrebten Messbarkeit der zu berechnenden Fläche musste die Natur auf eine gleichmäßige Ebene reduziert werden. Wie das Leben der Stadt sich auf der Agora zentriert und in den Kategorien des Aristoteles seinen Ausdruck im Denken gefunden hat, kann das Labyrinth die Irrwege in der Natur symbolisieren, so dass es als Ornament oder als künstlerische Zeichnung erscheint. Die Kategorien beschwören das Denken beim Erfassen des Seins, das Labyrinth die realen Wege des Menschen in der Natur und die Höhlenmalerei die guten und bösen Geister der Unter- und Oberwelt. Das eine ist Logik in der Metaphysik, das zweite ist Geometrie in der Mathematik und das dritte Magie im Mythos.

Das Labyrinth war die Reduktion der Natur auf Irrgänge und verschlungene Wege, in denen der Mensch sich verlaufen konnte, weil er keine Auswege fand. Es kann als ein Versuch verstanden werden, eine menschlich verständliche Ordnung in die Naturerfahrung zu bringen, eine Ordnung, in der das Irren auf die Dimension der Fläche beschränkt ist. Wenn es im Labyrinth schwierig ist, den Ausweg zu finden, ist das eine Schwierigkeit, die in der Natur tausendfach größer ist. So muss man vom Ausgeliefertsein an die Natur über das beschwerliche Irren im Garten und über die Ausweglosigkeit der labyrinthischen Wege bis zum Faden der Ariadne eine Wegfindung erkennen, die in der Euklidischen Geometrie ihre für das Abendland typische Berechenbarkeit gefunden hat. Schon die Geometrie der Ebene und des dreidimensionalen Raumes, also das Wesen dieser Euklidischen Geometrie, sind Maße nach Regelmäßigkeiten, die es so in der Natur nicht gibt. 

Das Labyrinth ist der Versuch, die unübersichtlichen natürlichen Räume durchsichtig, begehbar und verstehbar zu machen, und zwar durch ein Bild, dessen Ausgang auch auf dem Papier schwer zu finden ist. Das Labyrinth in seinem Wechsel von Irrgarten und ornamentaler Zeichnung kann als Vorstufe der Ebene und der Fläche, die von Linien durchzogen sind, verstanden werden. Da Labyrinthe zunächst höhlenartige Räume zum Gehen und Kriechen gewesen sind, mussten sie, um Übersichtlichkeit herzustellen, in Flächen auf Fußböden der Herrenhäuser reduziert werden. Dort erst erfüllten sie den Zweck, Übersicht für die Augen zu schaffen. Die Labyrinthe wurden auf einen Sinn, den Sinn des Sehens, beschränkt. Um Messbarkeit, Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit zu garantieren, mussten die Flächen, den Linien gemäß, in Quadrate und Rechtecke, in Kreise und in die dritte Dimension der perspektivischen Räume erweitert werden. 

Was vor zigtausenden von Jahren den Fortschritt von Wissenschaft und Forschung ermöglichte, das Verflachen der undurchsichtigen Natur auf eine Ebene und eine Fläche und damit aufs Papier, muss heute umgekehrt werden, damit das entwickelte Lernen wieder ein Fortschreiten mit den Füßen wird. Warum spricht man vom Fortschritt? Warum gibt es Lehrgänge? (11) Warum spricht man von Erfahrung, wo doch das Fahren nur ein beschleunigtes Gehen und Wandern ist? Man muss in die Natur hineingehen, wenn man sie erfahren will. Wenn das Lernen in Verbindung mit gehen und schreiten, mit fahren und wandern verbunden würde, würde es Erfolg und Freude sichern. Es ist nicht die Frage, welche Formen von Labyrinth zu welchen Zeiten es gegeben hat und was sie im Zusammenhang der jeweiligen Kulturepochen bedeutet haben, sondern wie durch ihre neue Sichtweise bahnbrechendes und Sinnlichkeit veränderndes Verstehen der Natur sich durchgesetzt hat. Wenn es den Schülern vermittelt werden könnte, wenn sie konkret erfahren würden, dass es ein Riesenschritt auf unsere abendländische Vorstellungen und Erfahrungen hin gewesen sein muss, auf Papier schreiben zu können, dass riesige Gebäude aus Mauern und Kellern, Zimmern und Dächern in den winzigen Buchstaben h a u s auf Tafeln und Heftseiten dargestellt werden können, würden sie nichts mehr selbstverständlich hinnehmen, was ihnen in den ersten Schuljahren angeboten wird. Sie würden in ihrer nächsten Umgebung das Wundern und Staunen wieder lernen, dass man Schriftliches entziffern kann. Im Labyrinth können auch Erwachsene wieder lernen, dass es ein Riesenfortschritt ist, Natur auf Papier zu bringen. Doch ist das Labyrinth nicht das einzige Beispiel für den Wechsel und Wandel der menschlichen Sicht auf die Welt.

Im Labyrinth des Minos, das Dädalus in Knossos gebaut hat, wird in der Zeit der minoischen Kultur die Verstrickung in die Irrwege der Natur und die Folgen der Inzucht von Tieren und Göttern (Minotaurus) durch den Faden der Vernunft von Theseus und Ariadne, die in Liebe vereint sind, aufgehoben. Im Palast des Agamemnon in Mykene wird das Blut der Familien in stammesgeschichtlicher Verblendung vergossen und aus blutsverwandtschaftlicher Irre auf dem Areopag in Athen durch Rechtsprechung befreit, und auf der Agora des Perikles in Athen werden die Kategorien des Denkens aus verschlungener Sophistik zum Sokratischen Ethos des Abendlandes erhoben. In allen drei Kulturen wandelt sich die Bewältigung des vergangenen gesellschaftlichen Zustandes mithilfe von ethischen Grundsätzen zu einer Durchdringung der Welt mithilfe rationeller Vernunft, und jede Stufe der Entwicklung ist eine andere Weise, das politische Leben ethisch zu gestalten. 

Naturbewältigung durch Vernunft und Sprache, Überwindung des Blutzusammen-hanges durch gerichtliches Handeln und Befreiung des sophistischen Rationalisierens durch kategoriales Denken sind die Stufen einer Zivilisierung, von der wir heute noch leben, und von der wir immer wieder feststellen, dass sie noch längst nicht gelungen ist. 

Der Faden der Vernunft führt Theseus und Ariadne zurück zur Heimkehr an den Ausgangspunkt der Reisen von Theben ins Innere des Labyrinths. Die Sehnsucht des Odysseus treibt ihn nach den Irrfahrten in die Fremde durch die Abenteuer zurück in die Heimat. Das von Orest vergossene Blut findet Versöhnung vor der Göttin Athene am Gerichtshof in Athen, dem Areopag. Das geordnete Denken in kategorialen Bahnen durch Aristoteles begründet die Philosophie und die Wissenschaft. 

Befreiung durch die Euklidische Geometrie aus der ungeregelten Natur, Befreiung aus stammesgeschichtlichen Blutsverhältnissen durch Vernunft und Richterspruch und Befreiung aus zu nichts verpflichtender bloßer sophistischer Kasuistik, führen zu Naturerforschung, Jurisprudenz und zu geordnetem Denken in der Philosophie. Sie führen zum Abendland, das immer noch nicht genug von diesen Befreiungen lebt. 

Solche oder ähnliche Sinnzusammenhänge zu lernen, ist den Schülern möglich, wenn sie selber diese in mühevoller, selbstständiger Forschungsarbeit mit Freude und Begeisterung erschließen. Durch Lehrervortrag und Schülernacharbeit bleibt alles Vermitteln von Stoffen bloße Kenntnisnahme, bloßes auswendig lernen ohne inwendige Veränderung der Voraussetzungen für eigene Erfahrung. Schüler, die nur paukendes Lernen in der Schule kennen gelernt haben, bleiben willen- und vernunftlose Opfer der Medienkultur. Sie bewältigen keine Ansprüche, die freiwillige Anstrengung erfordern und durch Gespräche zu meistern sind. 

Sie kennen den Genuss nicht, der sich einstellt, wenn plötzlich ein neuer Sinn sich offenbart. Die erhellende Erkenntnis z. B., dass der Mythos ein Wort ist, das der Natur eine Stimme verleiht, mit der der Mensch sprechen kann und dass damit der Mythos der Anfang der Wissenschaft ist und nicht ein Glaube an Vielgötterei, ist ein Sprung des Denkens, der Flügel verleiht und der den Genuss bereitet, der zum weiteren Lernen anspornt. 

Nicht die Chronologie von Jahreszahlen muss auswendig gelernt werden, sondern dem Sinn von historischen Epochen muss der Schüler auf der Spur sein. Es muss Hand und Fuß haben, was den Sinn ergreifen will und muss in Gesprächen zuhause sein. Durch selbstständiges freiwilliges Arbeiten mit Hand und Hirn (12) sind Lernprozesse des Schülers möglich, die den Geschichtsepochen ähnlich verlaufen, wenn sie grundsätzlich ethisch und politisch sind. Die kulturellen Wandlungen im Denkhaushalt der Völker, von deren Gedankengut wir heute noch leben, lösen im Schüler ähnliche Sinneswandlungen aus, die ihn auf immer höhere Denk- und Verhaltensstufen katapultieren. 

Im Griechischen hieß es noch anthropos zoon logon echon, der Mensch ist ein (Lebe)Wesen, das verständige Sprache oder sprachliches Denkvermögen hat. Logos ist das Wesen der Welt, in das der Mensch sich denkend versenken kann oder an dem er Teilhabe gewinnt, indem er sich durch arbeitendes Lernen dem Logos gemäß macht. Aber wenn das im Lateinischen nur noch heißt animal rationale, ist der Logos zur Vernunft und zur Eigenschaft des Lebewesens Mensch geworden, die im Kopf  jedes einzelnen Menschen zuhause sind. Die Schulen wandeln sich demgemäß zu reinen Kopfschulen, in deren Mittelpunkt vor allem theoretisches Wissen vermittelt wird, anstatt dass der Logos den ganzen Menschen ergreift. 

 Man kann besser davon ausgehen, dass das, was bei den Elementen Vorgänge, Vollzüge und Kräfte sind, sich in den Lernprozessen der Schüler wiederholt. Dann muss man ein didaktisches Lehren entwerfen, das dem Logos der Welt entspricht: Ein sinnengemäßes Produzieren kann sich mit dem verbinden, was der Logos den Epochen zu sagen versprach. 

Wenn Karl Marx in den Frühschriften geschrieben hat: „Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“ (13), lässt sich in unserem Zusammenhang hinzufügen: „Die Bildung in jeder Generation muss die Bildung der bisherigen Weltgeschichte wiederholen, um sie weiterzubilden.“ Das ist die Arbeit von Schulen und Kindergärten, aber auch die von Erwachseneninstitutionen, die nicht für den Nachwuchs an Industriearbeitern und Büroangestellten sorgt. Sie gibt jedem Menschen die Chance, an der Bildung der Sinne ein Leben lang weiter zu arbeiten. In einem solchen Prozess werden Lernen und Arbeiten austauschbare Begriffe, die als Tätigkeiten austauschbar sind. 

Lernen ist ein Eingraben in das Wesen einer Epoche, ein Hervorbringen dessen, was Logos genannt werden kann. Der Logos wiederholt sich im arbeitenden und lernenden Sprechen der Menschen, die so menschliche Fortsetzungsformen der Kräfte und Mächte, der Elemente, sind. Arbeiten und Lernen im Medium des Sprechens sind elemental, weil sie uns mit den Epochen verbinden, von denen wir leben, und weil das Verbinden Genuss ist und Glück. 

Das Aus- und Zueinander des Wirkens der Elemente kehrt in den Auseinandersetzungen der Menschen als lebendiges Sprechen wieder, das durch kein noch so geniales Denken ersetzt werden kann. Sprechen ist wie das Blut in den Adern oder das Wasser in den Röhren, wie der Boden unter den Füßen oder die Luft in den Kapillaren, vor allem aber wie das brennende Feuer in den Zellen das wichtigste Element, von dem das Kollektiv der Menschen lebt. Wenn wir nicht sprechen, herrscht in unseren Begegnungen das Schwert der Gewalt, die stumm und stumpf am schlimmsten ist. 

Das Gespräch ist das Erste, das im Miteinander der Menschen oder im Leben von … jüdischem und griechischem Denken in der abendländischen Geschichte nur noch als Untergrund präsent ist. Seit die Gespräche des Sokrates, seine philosophischen Dialoge, ihre Unruhe im Ideenhimmel Platons und in den Vorlesungen des Aristoteles verloren haben, und seit das Gespräch nur noch mit Gott die Unterhaltungen der Gläubigen in den Kirchen dominierte, ist der Mensch schweigsam und sein kulturelles Verhalten ist still oder schriftlich geworden. Der Mensch ist eine schweigende Monade, die zum Gespräch immer wieder angestoßen werden muss. Wenn er redet, kommen nur Monologe aus seinem Mund. Monologisieren für Prüfungen und Noten lernen die Schüler schon früh in der Schule. Sonst müssen sie in den Klassen still sitzen und schweigen. In der Freizeit unterhalten sie sich nur noch mit Geräten. 

Ein gelungenes Gespräch ist wie das Atmen der Luft und wie das Brennen des Feuers ein Hin und Her des Geistes, der von Einem zum Anderen (über-)springt und der beide inspiriert. Gute, vom Geist und vom Geist des Miteinander beflügelte Gespräche sind schon ein Kunstwerk zwischen Meister und Lehrling, zwischen Lehrer und Schüler, mehr noch als Gespräch zwischen Kollegen, aber am meisten, wenn der Lehrer lernend mit seinen Schülern spricht. 

So Lévinas: „Ravina erklärte: ‚Wer gerne unter Vielen studiert, fährt die Ernte ein.‘ Das hat auch Rabbi gesagt: ‚Ich habe viel Tora von meinen Lehrern gelernt, mehr noch von meinen Kollegen, am meisten aber von meinen Schülern.‘“ 

Er fügt hinzu: 

„Der Pluralismus besteht also nicht nur im Lehren unter Gleichen. Noch besser als ein Kollege befruchtet der Schüler die Gedanken des Meisters. Lehren ist eine Art Forschen. Es gibt das Wort von Rabbi Jehuda HaNasi, Rabbenu HaKadosch, unserem Heiligen Lehrer, dem Redakteur der Mischna: ‚Ich habe viel von meinen Lehrern gelernt, mehr von meinen Kollegen, am meisten von meinen Schülern.‘“ (14)

Warum lernt der Lehrer am meisten von seinen Schülern? Warum ist Lehren eine Art Forschen? 

Der Rabbi ist davon überzeugt, dass er viel von seinen Lehrern gelernt hat, und auch Lévinas hat als Schüler viel von seinen Lehrern gelernt. Und so lernen alle Schüler zu allen Zeiten viel von ihren Lehrern. Das ist der normale Vorgang des Lernens, der in den Schulen vor sich geht: 

Die Schüler lernen von den Lehrern zunächst durch Rezipieren des Stoffes, den der Lehrer präsentiert. Das Dargebotene des Lehrers fällt mit seiner ganzen neuartigen Schwere in ein passives und nicht immer lernbereites Gemüt, das wenig anzubieten hat, mit dem sich das Neue verknüpfen kann. Im Schüler finden sich wenige Voraussetzungen für neue Unterrichtsstoffe und deswegen ist das, was die Schüler von den Lehrern lernen: viel, aber eben nicht das Meiste. 

Mehr lernt der Lehrer von seinen Kollegen:

Das kollegiale Gespräch ist selten und nur auf Tagungen üblich. Darum muss der Lehrer aus den Schülern Kollegen machen.

Dem Geschick des Lehrers ist es überlassen, Anknüpfungspunkte zu finden und Aufnahmebereitschaften zu schaffen, damit das zu lernende Neue sich mit Altem verbindet und nicht wieder verloren geht. Dabei ist jede mitgebrachte Initiative des Schülers, selber lernen zu wollen, wertvoller als das erzwungene Lernen, für das der Lehrer die Motivation erst noch schaffen muss. Wenn der Schüler immer mehr vom Lehrer lernen kann, muss er immer mehr Initiativen ergreifen, das heißt, selber lernen wollen: vom Lehrer, aus Büchern und aus Gesprächen über die Bücher. 

Das ist die Stufe des Lernens durch Kollegen oder durch kollegiales Verhalten, wie es in wenigen neuen Schulversuchen schon gestartet ist: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird durch das Ergreifen der Initiative des Schülers aus der vertikalen Unterordnung zur horizontalen Nebenordnung befreit. Lehrer und Schüler sind als Kollegen dem Stoff gegenüber in der gleichen hochinteressierten Haltung des Fragens und Forschens, des Wissen- und Verstehenwollens, und deshalb lernen die Schüler und die Lehrer, ebenso wie die Rabbiner, mehr, wenn sie Kollegen sind. 

Aber Lévinas sagt mit den Rabbinern noch mehr: Er habe zwar viel von den Lehrern, mehr von den Kollegen, aber das Meiste von den Schülern gelernt. Das kann nur heißen, dass das Lehren die allerbeste Form des Lernens ist. 

Der Lehrer stellt sich, wenn er den Unterricht vorbereitet, auf die Schüler ein und präpariert das zu Lernende so, dass es der Fassungskraft der Schüler entspricht. Er muss den Lernstoff unter vielerlei Hin- und Rücksichten so durchdenken, dass er dem unterschiedlichen Verständigungshorizont jeden Schülers entgegen kommt. Dadurch hat der Lehrer die Chance, viele neue Perspektiven im Stoff zu entdecken, die das Lernen der Schüler erleichtern, aber auch das eigene Verständnis des Stoffes um eine Vielzahl von Aspekten erweitern. Immer wieder, Jahr für Jahr, muss der Lehrer, neue Seiten an den Stoffen entdecken, damit der Unterricht nicht unfruchtbar und langweilig wird. Das ist echte Forschertätigkeit, die das noch berücksichtigen kann, von dem wir im Umgang mit dem Lehrmaterial leben und von dessen Aneignung der Lehrer das Meiste profitiert. Weil er immer mehr Aspekte des Stoffes kennt und erarbeitet und sie mit den Verständnismöglichkeiten des Schülers vermittelt, lernt der Lehrer im Umgang mit seinen Schülern am meisten, von den Schülern, die noch Schüler und nicht schon Kollegen sind. 
 

Weil Jugend Zukunft bedeutet, und sich das Neue der Zukunft, wenn es nicht modediktiert beeinträchtigt ist, im Verhalten der Jugendlichen konzentriert, ist auch die Jugend ein Forschungsprojekt, das sich durch Lehren erschließt. Lehren heißt, Erschließen der Vorstellungswelt der Jugendlichen für die Vermittlung des Stoffes, in dem sich das verbirgt, wovon wir leben. 

Schulen könnten wieder Orte revolutionierender Gedanken werden, wenn sie nicht nur traditionelle Stoffe vermitteln, sondern mehr noch die Vermittlung der Stoffe mit den Schülern bedenken; schärfer formuliert heißt das, wenn das Lernen der Stoffe selber Gegenstand des Lernens als Fragen und Forschen mit den Schülern ist. Das Lernen und nicht nur der Stoff muss der Gegenstand der Aufmerksamkeit von Lehrern und Schülern in der Schule sein, wenn die Schulen sich öffnen sollen für den politischen Raum. Die Schüler können sich mit und ohne den Lehrer durch eigenes Arbeiten die Fragen stellen, die der Lehrer sonst während der Vorbereitung auf den Unterricht als Anknüpfungsmöglichkeit bei den Schülern vermutet. 

Warum sollen die Schüler nicht die Fragen an die Stoffe stellen, die ihrer eigenen Aufnahmebereitschaft entsprechen? Warum sollen sie nicht die Fragen stellen dürfen, die den Stoff infrage stellen: Was hab ich davon, wenn ich das lerne? Was hat der Stoff mit dem, was ich schon weiß, zu tun? Wie kann ich es schaffen, dass ich den Stoff verstehe und ihn besser behalte? Wenn das, was gelernt werden soll, lernenswert ist, fallen die Antworten schon richtig aus. Schüler sollten fragen dürfen mit der Konsequenz, dass der Zeitpunkt, die Reihenfolge und auch die Priorität der Stoffauswahl ihren Antworten anheimgestellt ist. 

Sie müssen die Fragen stellen dürfen, die ihre Zukunft betreffen: Wie kann ich durch welchen Stoff das lernen, was meine Arbeitslosigkeit verhindert oder die Zeit der Arbeitslosigkeit sinnvoll macht? Das wäre nur eine der möglichen Fragen. 

Von den Zivilisationstechniken: Lesen, Schreiben, Rechnen in den Grundschulen bis zu den Themen der Atomphysik und den antiken Sprachen in den Oberstufen der Gymnasien muss es Schülern möglich gemacht werden, Auswahl zu treffen, Dringlichkeiten zu bestimmen und Vorlieben zu kreieren, wenn Lehren und Lernen Forschen und politisches Handeln möglich machen sollen. Zwang und Drill werden in den Schulen überflüssig, wenn der Eifer und die Begierde, die in der Vorschulzeit selbstverständlich sind, nicht durch die Praxis des Schulunterrichts vertrieben werden. Wenn nicht für die Schule, sondern für das Leben gelernt werden soll, dann muss das Leben in der Schule anwesend sein. Und das ist es nur, wenn die Schüler die Fragen in den Schulunterricht mitbringen dürfen, die ihnen das Leben stellt. 

Der Schulunterricht wird dann zu einem lebendigen Gespräch zwischen Schülern, wenn die Lehrer zugeben, dass sie nicht alles wissen, und dass durch die Schülerselbstarbeit Schüler mehr wissen können und dürfen als die Lehrer. Dann eben lernen die Lehrer das Meiste von ihren Schülern, weil Lehrer zugeben, dass in den Schülern das Leben pulsiert, das auch das Leben der Griechen und Juden ist, von dem wir immer noch leben. Wo sonst als in den Schulen können die Gespräche das Leben lebendig machen, das immer noch das Leben der Griechen und Juden ist?

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Fußnoten 
(1) E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, … a. a. O. S. 152
(2) E. Lévinas, Jenseits des Buchstabens. Frankfurt am Main: Verl. Neue Kritik, 1996, S. 51ff
(3) E. Lévinas, Jenseits des Buchstabens, … a. a. O. S. 72
(4) E. Lévinas, Jenseits des Buchstabens, … a. a. O. S. 73
(5) „Bezeichnung für die Schüler des Aristoteles;“ Allerdings ist das Herumgehen des Aristoteles vor sitzenden Schülern eine Aufsehen erregende Sache gewesen, die neu und nicht üblich war. Vgl. Der Kleine Pauly unter Peripatetiker.
(6) Wenn es schon Lehrgänge gibt, warum sollte es nicht auch Lerngänge geben?
(7) Der Neue Pauly unter Labyrinth
(8) Alle Brettspiele: Mensch-ärgere-Dich-nicht und Malefiz, Mühle und Halma, selbst Dame und Schach, leben von den Abenteuern früher Geschichte, weil sie von Gängen und Wegen leben, deren Bewältigung vom Esprit der Spieler oder vom Zufall des Würfels abhängt. Ihr Reiz besteht, durch vielfältige Vermittlung hindurch, in der Erinnerung an urzeitliche Bewältigung der Wege in der Natur oder in die Wälder.
(9) Jean Clottes, Kunst im Morgenlicht der Menschheit. In: Reinhard Breuer u. a.: Moderne Archäologie (Spektrum der Wissenschaft Spezial, Jg 12, H2). Spektrum der Wissenschaft VG, Heidelberg 2003, S. 6 – 9. Vgl. Wikipedia
(10) Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2005, S. 268
(11) Interessant der Hinweis im Duden unter lehren: „Man geht von einer Grundbedeutung ‚gehen’ aus und vergleicht l.(ehren) lira ‚Furche’, doch ist diese Annahme in allen Punkten unsicher.“ Trotzdem gibt es Lehrgänge, das von lateinisch cursus (lat.: currere) abgeleitet ist. Kurse gibt es in Spezialgebieten des zu Lernenden. Aber oft kommt man vom Kurs ab.
(12) George Thomson, Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. Forschungen zur Altgriechischen Gesellschaft I, deb verlag das europäische Buch 1974: „… nachdem sich die Hände einmal herausgebildet hatten, wurde dadurch das Gehirn vor neue Aufgaben und neue Möglichkeiten gestellt. Somit bestand von Anfang an zwischen Hand und Hirn eine innige Wechselbeziehung.“ S. 373
(13) Karl Marx, Die Frühschriften, hrg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1955, S. 242
(14) E. Lévinas, Jenseits des Buchstabens, … a. a. O. S. 73

Weiteres zum Thema „Jugend in Aktion“ auf den Seiten des SJC Hövelriege 

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