„Kinder brauchen Stadt“ ist die „Tübinger Erklärung“ überschrieben, die von Fachleuten aus Stadtplanung, Pädagogik, Sozialarbeit und Sozialwissenschaft, Medizin, Psychologie und Verwaltung im März 1995 verabschiedet wurde. Diese Erklärung war Ergebnis eines interdisziplinären Werkstattgesprächs am 24. und 25. März in Tübingen, veranstaltet vom Wohnbund e.V., Frankfurt, International Making Cities Livable Conferences und der Stadt Tübingen. Im Mittelpunkt dieses Gesprächs stand die Frage, was Kinder und Jugendliche mit der Stadt zu tun haben. Besonders ging es dabei um den öffentlichen Raum: Die Straße ist ja der einzige Ort, an dem Kinder und Jugendliche nicht unter dem direkten Zugriff der Erwachsenen stehen. Kinder und Jugendliche brauchen nach Auffassung der Unterzeichnenden nicht weitere Reservate, sondern das städtische Viertel mit dem öffentlichen Raum der Straße, der angrenzenden Vielfalt des Wirtschaftens und Wohnens und der Auseinandersetzung mit Menschen, denen sie nicht durch familiäre oder pädagogische Bindungen verpflichtet sind.
Vorangegangen war ein Aufruf „Aufwachsen in der Stadt – Was haben Kinder und Jugendliche auf der Straße verloren?“, mit dem sich die Veranstalter Ende des Jahres 1994 an Persönlichkeiten aus Stadt- und Verkehrsplanung, Schul- und Sozialpädagogik, Soziologie, Psychologie, Medizin, Psychiatrie, Kultur- und Jugendforschung, Politik, Recht und Verwaltung, an Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft, Publizistik, Interessenverbände und kommunaler Praxis gewandt hatten, die von ihrem Arbeitsfeld her und durch ihr persönliches Engagement für das Thema bekannt sind. Viele von ihnen haben sich mit schriftlichen Beiträgen an einer unkonventionellen Diskussion beteiligt.
Die Erklärung wird öffentlich zur Diskussion gestellt. Darüber hinaus wird dem Thema „Kinder und Jugendliche“ in Gestalt konkreter Beispiele und Projekte weiter nachgegangen: Was nützen sie der Stadt, und was nützt die Stadt ihnen?
Gabriele Steffen, Erste Bürgermeisterin der Stadt Tübingen
Tübinger Erklärung
1. Mit der überwiegend am wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Modernisierung der vergangenen Jahrzehnte haben Kinder den wichtigen Erfahrungsraum „Straße“ verloren. Kinder von der Straße zu holen, ist nach wie vor für viele ein erklärtes Ziel. Das städtische Viertel mit dem öffentlichen Raum der Straße und der angrenzenden Vielfalt des Wirtschaftens und Wohnens bietet aber ein Modell des Zusammenlebens, das sich dort, wo es bis heute überlebt hat, als äußerst vital und anpassungsfähig erweist.
2. Raum in der Stadt ist erst dann öffentlicher Raum, wenn er Kinder und Jugendliche, deren erwerbstätige oder nichterwerbstätige Eltern, alte Menschen, Kranke und Behinderte, Menschen verschiedener kultureller Herkunft und Menschen von verschiedenem sozialen Status zumindest zeitweise zusammenzuführen vermag. Kinder und Jugendliche brauchen neben Schule und Familie den leichten Zugang zur Wirklichkeit eines lebendigen Stadtquartiers, in dem sie Formen des Zusammenlebens unter Menschen, die sich nicht gegenseitig verpflichtet sind, erfahren und auch selbst erproben, z.B. Verantwortung, Einfühlungsvermögen, Zuwendung, das Leben mit Konflikten.
3. Die moderne Wohnsiedlung, die heute den Alltag der meisten Kinder und Jugendlichen prägt, kommt deren Bedürfnissen fast gar nicht nach: Spielstraßen, Kinderhäuser, Schulen und Jugendtreffs sind ohne Anschluss an die Welt des Arbeitens und Wirtschaftens nicht in der Lage, die Neugier, die Lust der Selbstdarstellung und die Freude am eigenen Tätigsein zu befriedigen. Weder die gängigen Konzepte des Städtebaus noch die Verfahren der ressortspezifischen Fachplanungen berücksichtigen ernsthaft die Bedürfnisse der nachwachsenden Generation. Dies stellt nicht nur eine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Kindern und Jugendlichen dar, es führt wahrscheinlich die Zivilgesellschaft in eine verhängnisvolle Sackgasse.
4. Kinder in den öffentlichen Außen- und Innenräumen einer Stadt brauchen die Möglichkeit, immer wieder in Kontakt mit ihren Familienangehörigen zu treten, aber ebenso die Möglichkeit, sehr schnell in ihre – und das heißt von ihnen auch gestaltbare – öffentliche Welt zurückzukehren. In diesem Sinne sind große Straßen mit Durchgangsverkehr kein öffentlicher Raum für Kinder. Spielplätze und Spielstraßen dürfen keine zoologischen Gärten für kleine menschliche Lebewesen abseits der Öffentlichkeit sein. Notwendig ist eine Verbindung zwischen Wohnen, autofreien Plätzen, kleinen wirtschaftlichen Betrieben und Straßen mit nichtbedrohlichem Verkehr.
5. Jugendliche brauchen „annehmbare“ Treffpunkte, Plätze, Brunnen, Treppen, Plastiken, Ecken und Nischen. Sie brauchen ferner mitgestaltbare Konsum- und Kulturangebote, z.B. Eisdielen, Cafés, Läden, Reparaturwerkstätten. Sie sollten auch unverbindlichen orientierenden Zugang zu Arbeitsstätten und beruflichen Ausbildungsstätten haben.
6. Jede Entscheidung in der Stadt, ob politisch, wirtschaftlich oder stadtplanerisch, hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen; dies erfordert intensivstes Nachdenken und öffentliche Auseinandersetzung. Deshalb müssen sich auch Städtebau, Jugendhilfe und Pädagogik schleunigst von dem Ideal perfekter, aber segmentierender Lösungen freimachen.
7. In einer Welt, die sich durch neue Telemedien geradezu explosiv erweitert, ist die Gesellschaft auf den Stadtteil als Fixpunkt des Austauschs und der unmittelbaren Auseinandersetzung mehr denn je angewiesen. Politik für Kinder und Jugendliche muss daher die Stadt und den öffentlichen Raum neu entdecken. Dies muss als gemeinsames Projekt von Politik, Planung, Verwaltung und Bürgern begriffen werden; davon profitieren letztlich alle Stadtbürgerinnen und Stadtbürger.
Die heutigen Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen werden über die Zukunft der Stadt entscheiden.
Christian Achnitz, Umweltpsychologe, Tübingen
Johannes Beck, Prof. Dr., Universität Bremen, FB Pädagogik
Alfred Brennert, Sozialamt, Stadt Tübingen
Christa Burghardt, Deutscher Kinderschutzbund, Hagen
Suzanne Crowhurst Lennard, Prof. Dr.
und Henry L. Lennard, Prof. Dr., Making Cities Livable Conferences, Carmel, California
Reinmar du Bois, Prof. Dr., Universität Tübingen, Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie
Andreas Feldtkeller, Stadtsanierungsamt, Stadt Tübingen
Anne Frommann, Dr., Erziehungswissenschaftlerin, Tübingen
Peter Kürner, Deutscher Kinderschutzbund, Wuppertal
Aldo Legnaro, Dr., Sozialwissenschaftler, Köln
Peter Novak, Prof. Dr. Dr., Universität Ulm, FB Medizinsoziologie
Jochen Schulz zur Wiesch, Prof. Dr., Fachhochschule für Verwaltung und Recht, Berlin
Uta Schwarz-Österreicher, Sozialamt, Stadt Tübingen
Gabriele Steffen, Erste Bürgermeisterin, Stadt Tübingen
Gerda Zill, Wohnbund Frankfurt
Gabriele Steffen, Erste Bürgermeisterin in Tübingen, übersandte im Anschluss an dessen Verabschiedung den vorabgedruckten Text einschließlich der „Tübinger Erklärung“ mit der Bitte um Veröffentlichung, was wir in unserer Publikation DER NAGEL 57/1995 gern getan haben. Ins Internet gestellt haben wir den Beitrag im September 2002. Wir sind nach wie vor an konkreten Beispielen und Projekten zu der Frage, was Kindern und Jugendlichen nützt und was diese der Stadt nützen, interessiert und würden uns über die Zusendung entsprechender Dokumente freuen.
Wir möchten ferner auf den Beitrag „Kinder brauchen Stadt – Jowohl, Kinder brauchen Stadt! Und Stadt braucht Kinder! (Zur Tübinger Erklärung)“ von Rainer Deimel hinweisen, die ebenfalls auf unseren Internet-Seiten zu finden ist.
ABA Fachverband