DIE DIPLOMATEN – IM OKTOBER

Von Oscar Borkowsky

(Die Diplomaten, das ist der ältere Consul nebst seinem etwas jüngeren Attaché, sitzen wie gewöhnlich im Café „Zur Schönen Aussichtslosigkeit“. Durch das große Frontfenster des Lokals dringt mildes Herbstlicht in den Raum. Die Herren sind die einzigen Gäste; auf ihrem Tisch stehen zwei gefüllte Gläser und eine angebrochene Flasche Wein. Der Kellner Leopold hantiert an der Kredenz. Im Hintergrund ertönt leise das Violinkonzert „L‘Autunno“ aus den „Vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi.)

Attaché: Tja, mildes Herbstlicht dringt durchs große Frontfenster des Lokals, und wahrscheinlich …

Consul: Schaun‘S, Attaché, für einen Oktobertag ist das nun wirklich nicht exorbitant. (trinkt)

Attaché: Und doch fasst einen die Wehmut leicht ans Herz. Im Gedicht „Verklärter Herbst“ von Georg Trakl heißt es in der letzten Strophe: „Es ist der Liebe milde Zeit./Im Kahn den blauen Fluss hinunter …“

Consul: „Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –/Das geht in Ruh und Schweigen unter.“ Ich kenn‘s, mein Lieber. Hier liegen Wehmut und Wehleidigkeit im Clinch am Rande des Kitsches nah beieinander. Ein typischer Charakterzug, der seinen Ursprung übrigens in der deutschen Romantik hat. Dummerweise ist’s von da nicht weit zur Brutalität.

Attaché: Sie meinen die Kapriole zum Krieg? (trinkt ebenfalls und schenkt nach)

Consul: Sie sagen’s, Attaché. Apropos Schweigen und Verklärung respektive Untergang und Gemetzel: Nach der Herbstschlacht beim galizischen Grodek vor hundert Jahren verstummte der österreichische Sanitätssoldat Trakl, indem er sich im Krakauer Militärhospital vermittels einer Überdosis Kokain das Leben nahm.

Attaché: Ich erinnere mich dunkel.

Consul: Und das macht ja unter anderem einen guten Diplomaten aus. Wie Sie sehen, schließen sich die Kreise nicht nur, weil es in ihrer Natur liegt.

Attaché: Gleichwohl ist es eine seltsame Sache mit der Liebe.

Consul: D‘accord, Attaché. Nach Jean Anouilh ist „Liebe: auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat.“

Attaché: Wie kommen Sie auf Karl Marx, Herr Consul?

Consul: Nun, die Revolution, mein Guter! Haben nicht auch wir sie einst geliebt? Selbst wenn das lange her ist: Es gab einmal, sozusagen naturgemäß, Zusammenhänge dialektischer Art, und ihr Wesen hieß: Veränderung, Progression, Entwicklung, will sagen: Steigerung der Daseinsart.

Attaché: Aber es tut sich doch auch jetzt sehr viel in der Welt!

Consul: (trinkt) Eben! Und da sich alles ändert, wünschen wir vergebens, dass zumindest einiges bleibt. Denken Sie nur an die Postulate der Großen Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“! Was ist daraus geworden? Was davon geblieben? Alles abgesunken zum zerknitterten Phrasenkostüm auf der Bühne des multimedialen Klamauks. Oder nehmen’S die Aufklärung! Man hat langsam den Eindruck, als wäre der Analphabetismus insgeheim zum Bildungsideal erhoben und das ABC vergeblich erfunden worden. Besagte Veränderungen zeitigen nichts, was auf Verbesserung in auch nur einer Hinsicht verwiese. So gesehen wäre es allerdings schon schlimm genug, wenn alles so bliebe, wie es derzeit ist – dummerweise hat heutzutage selbst der Fortschritt keine Zukunft mehr.

Leopold: (räuspert sich am Buffet)

Attaché: Besteht aber dann nicht die Gefahr, sich zu wiederholen? (trinkt und schenkt nach) Ich meine nur …

Consul: Eine Meinung taugt nur dann, wenn man sie auch begründen kann. Im Übrigen: Wiederholen Sie nur das vermeintlich Gute, und sie haben die Verschlimmbesserung des einstmals Gemeinten. Darüber hinaus: Wer – und das nicht nur hierzulande – die Welt zu verbessern sich anschickte, käme nicht umhin, für die Abschaffung dieses groben Unfugs zu plädieren – bei aller Liebe.

Attaché: Aber der Mensch ist doch aufgerufen …

Consul: Ein Schmarrn, Attaché! Hier besteht wieder einmal die Gefahr, einem weit verbreiteten Irrtum zu unterliegen. Der Mensch ist mittlerweile zu gar nix aufgerufen denn zum Schweigen angesichts dessen, was er weiterhin auf jener weiten Flur, welche langsam zur Wüste wird, anrichtet. In nur vier Dezennien hat er beispielsweise die Anzahl der Wirbeltiere auf der Erde glatt halbiert. Zugegeben: Eine beachtliche Leistung. Und da wir soeben bei den Franzosen waren: Wissen’S, was der Louis-Ferdinand Cèline in seinem Roman „Reise ans Ende der Nacht“ schrieb?

Attaché: Ich muss gestehen, dass ich in diesem Fall …

Consul: Macht nix, ich sag’s Ihnen. (leert sein Glas) „Das kam daher, dass ich die Menschen noch nicht kannte. Nie mehr werde ich glauben, was sie sagen, was sie denken. Vor den Menschen, und nur vor ihnen, soll man sich fürchten, immer.“ Näher kommt man an den Urgrund wohl nicht heran.

Attachè: Sie verstatten an dieser Stelle einen Einwand: Die Liebe ist doch …

Consul: Die Liebe scheut das Denken; sie ist – mit allen schauerlichen Konsequenzen – eine Erfindung der frühen Romantik. Wenngleich sie seinerzeit als eine wahre Beziehung zwischen den Menschen gedacht gewesen sein mag, so existieren in unseren Tagen ausschließlich Warenbeziehungen, und das en masse. Was tut’s? Sehen Sie sich die Scheidungsraten an! Oder schaun’S ins Internet, und Sie haben Ihren Menschen der späten Neuzeit!

Attaché: Mit Verlaub, Herr Consul! Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen …

Consul: Wir erzählen einander immer Dinge, von denen wir wissen, dass sie nicht stimmen; das ist das Wesen der Diplomatie. Und warum? Weil wir beabsichtigen, das Schlimmste zu verhindern, nachdem das Beste nicht mehr herzustellen war. Und was heißt das? Dass nach Lage der Dinge, so wie sie stehen, diese furchtbar genug sich ausnehmen – und wir nicht fallen wollen. Womit hingegen nicht gesagt sein soll, dass wir ständig aufrecht gingen – Männlein wie Weiblein, wohlgemerkt!

Attaché: Aber das bedeutete doch …

Consul: Mein lieber Attaché! Wir deuten nur, wir bedeuten hingegen, und zwar absolut, also losgelöst, gar nichts. Es gibt da zwar eine Verbindung, aber relativieren lässt sich hier kaum etwas. Doch kommen wir zu einem anderen Punkt. (zum Buffet hinüber) Poldi, bringen’S noch a Flascherl?

Leopold: Selbstverständlich, die Herren!

Attaché: Folglich sitzt man manches Mal so manchem Irrtum auf. (leert sein Glas)

Consul: In der Tat. Apropos Irrtum und Mensch: dieser war ein jener.

Leopold: (ist mit dem Wein an den Tisch getreten und füllt die Gläser) Bei der Gelegenheit, die Herren, pflegte unser Otto Weininger zu bemerken: „Der Mann begleitet die Symptome seiner körperlichen Reife mit unangenehmen, ja feindlichen und unruhigen Gefühlen, die Frau verfolgt in höchster Gespanntheit, mit der fieberhaftesten, ungeduldigsten Erwartung ihre somatische Entwicklung während der Pubertät. Dies beweist, dass die Geschlechtlichkeit des Mannes nicht auf der geraden Linie seiner Entwicklung liegt, während bei der Frau nur eine ungeheure Steigerung ihrer bisherigen Daseinsart eintritt.“

Consul: Sie sagen es, Poldi. Da kann ma halt nix machen. Fürderhin: Einheit & Drushba! Prosit, Attaché! Auf die Revolution! (trinkt)

Attaché: Und auf die Liebe! (trinkt ebenfalls)

Consul: Oder so.

Leopold: (im Abgehen) Semper idem …

(Die Musik verklingt – Gong)

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