Öffentliches Protest-Stillen bei Starbucks – Das ‚An die Brust anlegen’ von Säuglingen führt in Washington zu einem bizarren Kulturkampf“. So titelt die WAZ vom 28. August 2004 einen Artikel in der Rubrik „Aus aller Welt“. Und der Korrespondent Markus Günther schreibt: „Als Lorig Charkoudian (31) bei Starbucks ein Päuschen einlegte, kam es wieder einmal zum Eklat. Gerade hatte sie ihre 15 Monate alte Tochter Aline an die Brust angelegt, da liefen auch schon empörte Gäste des Cafés zum Chef und beschwerten sich. Wenig später wurde sie aufgefordert, ihr Kind in der Damentoilette (*) zu stillen oder das Lokal zu verlassen. Doch zwei Tage später kam Lorig Charkoudian wieder, diesmal mit 40 anderen Müttern, und veranstaltete ein öffentliches „Protest-Stillen“ im Café. Seither tobt in Washington ein bizarrer Kulturkampf: Haben Mütter das Recht, ihre Kinder in der Öffentlichkeit zu stillen? Die „Washington Post“ widmete der heiß umstrittenen Frage gar einen Leitartikel. Antwort: Theoretisch ja, praktisch nein. Denn auch wenn Stillen in der Öffentlichkeit nicht verboten sei, gebiete der Anstand doch, darauf zu verzichten oder das Unziemliche wenigstens mit einem Tuch zu verhüllen. Das war noch der sachlichste Kommentar in der ganzen Debatte. Die Reporterin Roxanne Roberts beschimpfte dagegen die stillenden Protest-Mütter als „Busen-Nazis“, die einen „Kreuzzug“ führten und unbescholtenen Bürgern die Kaffeepause versauten, weil sie unbedingt „alles raushängen lassen“ wollten. Davon, sagt Lorig Charkoudian, könne gar keine Rede sein. Sie habe diskret ihr Kind gestillt, und hinsehen müsse ja niemand. Doch immer wieder beschwerten sich Gäste, wenn sie ihr Kind im Restaurant oder im Café anlegt. Die „Bürgerinitiative für das generelle Verbot des Stillens“ (nicht nur öffentlich, sondern überhaupt), deren Flugblätter ein paar Tage lang für Aufsehen sorgten, hat sich zwar als böser Scherz entpuppt. Doch Dutzende von Leserbriefen zeigen, dass der Widerstand gegen das Stillen in der Öffentlichkeit massiv ist. Geschmacklos, peinlich, unangenehm – so beschreiben viele das Stillen in der Öffentlichkeit. Einige sehen sogar die Gefahr, dass „Kinder von dem Anblick verstört werden“. „Wir sind keine Exhibitionistinnen, die Fremden unbedingt ihre Brüste zeigen wollen“, schrieb Helen Zubaly zur Verteidigung der stillenden Mütter. Und Catherine McCubbin fragte zynisch: „Wo genau sieht man denn die vielen nackten Mütter, über die sich alle beschweren?“ Von der Vereinigung amerikanischer Kinderärzte wird das Stillen inzwischen dringend empfohlen, und tatsächlich steigt auch in den USA der Anteil der Kinder, die erst einmal mit Muttermilch ernährt werden, weiter an. Doch mit deutlich unter 50 Prozent werden in Amerika weit weniger Kinder gestillt als in vielen europäischen Ländern. „Solange die Öffentlichkeit uns nicht akzeptiert, wird sich an diesen Zahlen nichts ändern“, meint Lorig Charkoudian. Tatsächlich sind Kommentare wie die in der „Washington Post“ nicht gerade eine Ermutigung: „Stillen ist zwar eine natürliche Sache, aber auch rülpsen, furzen und in der Nase bohren sind ganz natürliche Dinge, die man anständigerweise nicht in der Öffentlichkeit macht.“
i-Punkt 10-2004
(*) Durchschnitts-Amerikaner betrachten im Übrigen den Begriff „Toilette“ als anstößig. In der Regel wird ein Klosett als „Bath Room“ umschrieben. Es kann auch als „Rest Room“ oder bei Damen als „Powder Room“ bezeichnet werden (vgl. Paul Watzlawick: Gebrauchsanweisung für Amerika, München/Zürich 2002, S. 80 f.)