Von Klaus Hurrelmann und Andreas Klocke
Einleitung
Mit dem Begriffspaar Armut und Gesundheit ist ein Zusammenhang thematisiert, der in der – nach wie vor – reichen Bundesrepublik gerne verdrängt wird. Der Armut wird in den Sozialwissenschaften und in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie tritt in der Bundesrepublik überwiegend als Gegenstand sozialpolitischer Regulierung auf und ist damit zu einem großen Teil dem gesellschaftlichen Diskurs entzogen. Armut kann als unterstes Segment der sozialen Stratifikation angesehen werden und bezeichnet damit nicht Menschen, die quasi außerhalb der Gesellschaft leben, sondern eine inferiore Randstellung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens einnehmen Das Phänomen der Armut verweist eine Gesellschaft zugleich auf ihre normativen Standards, auf das Maß an Armut, das eine Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren. Die Ursachen der Armut werden sowohl in strukturellen Gegebenheiten („Modernisierungsverlierer“) als auch im individuellen Versagen der einzelnen gesehen.
Im Kindes- und Jugendalter wirken sich gesundheitliche Beeinträchtigungen besonders nachhaltig aus. Mangelnde Teilhabe der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen an Aktivitäten der Gleichaltrigengruppe gehen oftmals mit Deprivationen einher, die für die weitere Entwicklung von nachhaltiger Bedeutung sein können. Neben körperlichen Beschwerden treten insbesondere soziale und psycho-soziale Störungen auf.
Um den Zusammenhang von Armut und Gesundheit zu erschließen, müssen beide Begriffe umfassend verstanden werden. Dabei wird Armut nicht lediglich als Einkommensarmut gesehen, unter die solche Personen fallen, die über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügen. In neueren Konzeptionen wird Armut mehrdimensional als Kumulation von Unterversorgungslagen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Arbeitsbedingungen, Versorgung mit technischer und sozialer Infrastruktur sowie Einkommen verstanden. So betrachtet, ist der Zusammenhang von Armutsbetroffenheit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen naheliegend. Wohl ist dieser Zusammenhang als wechselseitiger Einfluss zu verstehen, d.h. sowohl Armut kann zu Krankheit führen als auch Krankheit Armut bedingen, jedoch ist in sehr vielen Fällen eine soziale Randstellung oder Armutslage für gesundheitliche Beeinträchtigungen verantwortlich. Dieser kausale Einfluss erschließt sich, wenn Gesundheit bzw. Krankheit in einem umfassenden Verständnis von physischen, psychischen und sozialen Komponenten konzeptionalisiert wird. Mangelnde Teilhabe an den gesellschaftlichen Werten und Errungenschaften auf Grund der Armutslage bedingen oftmals eine soziale und psychische „Verarmung“, die sich in psychosomatischen Störungen und allgemein mangelndem Wohlbefinden äußern. Nicht selten geraten Menschen über diesen Mechanismus in einen nur schwer entrinnbaren Kreislauf von materieller Verarmung und psychischer und physischer Krankheit.
Inwieweit sind nun Kinder und Jugendliche von Armut betroffen und wie wirkt sich dies auf den Gesundheitszustand aus? Wie verschiedene Studien gezeigt haben, besteht generell ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Gesundheitszustand der Menschen. Es gibt gute Gründe dafür, anzunehmen, dass sich die soziale Lage auch auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen auswirkt.
Wir werden:
- zunächst die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und den Grad ihrer Armutsbetroffenheit in der Bundesrepublik betrachten;
- sodann in empirischen Analysen den Einfluss sozialer Ungleichheit auf die wahrgenommene Gesundheit und auf die Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen überprüfen und
- abschließend Fragen der gesundheitspolitischen Intervention aufgreifen, da gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter erhebliche Auswirkungen auf deren Entwicklungsgang und Lebenschancen haben.
Armut – Wer ist betroffen?
Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders von Armut betroffen? Alle statistischen Unterlagen zeigen ein deutliches Ansteigen der Sozialhilfeempfänger seit 1980. Im Zeitraum von 1980 bis 1990 sind nach Angaben der nationalen Armutskonferenz 1993 die Anteile der Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung um 76 % gestiegen. Heute, so wird geschätzt, nehmen schon fast 5 Mio. Menschen Sozialhilfe in Anspruch, weitere 1 bis 2 Mio. Menschen hätten diesen Anspruch nach den rechtlichen Grundlagen, lösen ihn aber aus verschiedenen Gründen nicht ein. In unserer Gesellschaft geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Bei einer im Durchschnitt steigenden Wohlstandsmarge wächst zugleich Armut und Benachteiligung, eben weil sich die Spanne zwischen den sehr gut privilegierten und den ganz schlecht gestellten Menschen in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander bewegt.
Waren noch bis vor etwa 10 Jahren vor allem die Menschen in Armutssituationen, die das Kriterium „nicht mehr im Erwerbsleben“ erfüllten, also die alten Menschen, so gilt das heute nicht mehr. Immer stärker rückt die Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen in die Armutsgruppe vor, insbesondere durch das Ereignis Arbeitslosigkeit. Von dieser Entwicklung sind ganz besonders stark auch die ausländischen Bevölkerungsgruppen betroffen. Und schließlich gibt es eine historisch neue Gruppe, die ebenfalls zur Armutsbevölkerung zu rechnen ist, nämlich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Armut trifft vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens haben. Insofern ist die neue Entwicklung, wonach Kinder und Jugendliche in hoher Zahl zu der Armutsbevölkerung zu rechnen sind, ganz besonders ernst zu nehmen. Denn Kinder haben, wie vielleicht sonst nur noch die ausländischen Bevölkerungsgruppen, kaum verbriefte Rechte, die ihre Teilhabe an wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen sichern könnten. Sie haben ja noch nicht einmal die elementarsten Rechte der politischen Partizipation, geschweige denn Wahlrechte. Sie können deswegen auch im politischen System praktisch vernachlässigt werden, da sich aus ihrer Vernachlässigung keine unmittelbaren politischen bzw. machtpolitischen Konsequenzen ergeben.
Die strukturelle Armutsentwicklung betrifft immer mehr junge Menschen und Kinder
Die strukturellen Veränderungen in der Gruppe der Armutsbevölkerung sind auf drei große Ursachenkomplexe zurückzuführen, die in den letzten Jahren besonders auch Kinder und Jugendliche stark betroffen haben:
- Bis etwa Mitte der 1980er Jahre lebten überwiegend ältere Menschen und insbesondere Frauen mit unzureichender Rente in Armut. Heute ist die Hauptursache für die Betroffenheit von Armut die Massenarbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bezieht sich definitionsgemäß auf Personen im erwerbsfähigen Alter, also Menschen im Alter von etwa 20 bis 55 Jahren, die in der überwiegenden Zahl in Familien leben. Und dies ist der Grund, warum immer mehr Kinder über eine kürzere oder längere Zeit in Armut aufwachsen.
- Des weiteren hat der Anteil von Alleinerziehenden in den letzten Jahren stark zugenommen. Insgesamt sind etwa 15 % aller Familien in der Bundesrepublik Einelternfamilien, und von diesen Familien lebt ungefähr ein Drittel an der Armutsgrenze.
- Kinderreiche Familien stellen eine weitere Bevölkerungsgruppe, die von Armut bedroht ist. Kinder verursachen in der Bundesrepublik monatliche Kosten, die gegenwärtig mit etwa 500 bis 800 DM pro Kind zu veranschlagen sind. Bei drei und mehr Kindern kommen schnell monatliche Ausgaben zusammen, die eine Normalverdiener-Familie in den Bereich der Einkommensarmut drängen. Familien mit drei und mehr Kindern gelten dementsprechend zu 42 % in Ostdeutschland und zu 22 % in Westdeutschland als arm.
Diese drei Entwicklungen in den letzten Jahren machen deutlich, warum Kinder und Jugendliche so stark von Armut betroffen sind. Armut ist eben heute nicht mehr auf die älteren Bevölkerungsgruppen konzentriert und beschränkt, sondern betrifft vor allem die jüngeren ganz stark: Kinder unter 11 Jahren sind inzwischen diejenige Altersgruppe, die am häufigsten von Armut bedroht ist. Die psychischen Belastungen sind bei den jüngeren teilweise ganz ähnlich wie bei den älteren Bevölkerungsgruppen: Soziale Auffälligkeit, Angst vor Stigmatisierung, Verleugnung der Armut in Außenkontakten. Leistungsstörungen, Abbruch sozialer Kontakte, Delinquenz, soziale Isolation und psychosomatische Störungen werden in Untersuchungen berichtet. Während alte Menschen vielleicht noch den Vorteil haben, dass sie ihre Armutssituation verschweigen können, gilt das für jüngere Menschen meist nicht. Auch deswegen sind die psychischen Belastungen durch Armut, die Kinder und Jugendliche zu ertragen haben, möglicherweise sogar höher als die bei älteren Menschen.
Gesundheitsgefährdungen durch Armut
Ist der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit im Erwachsenenalter in vielen Industriegesellschaften belegt, so wird offenbar mit Blick auf den vergleichsweise guten Gesundheitszustand Jugendlicher dieser Einfluss als eher gering eingestuft. Der Befund eines allgemein guten Gesundheitszustandes Jugendlicher ist nicht überraschend, da die Jugendphase im Lebensverlauf eines Menschen in der Regel die Lebensphase mit der geringsten Krankheitshäufigkeit darstellt. Dieser Befund muss aber relativiert werden, denn Untersuchungen haben gezeigt, dass Jugendliche nicht in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen Erkrankungen durch medizinische oder psychosoziale Versorgungseinrichtungen behandeln lassen und so der Gesundheitszustand der Gruppe der Jugendlichen systematisch überschätzt wird.
Gesundheitsbeeinträchtigungen Jugendlicher basieren auf verschiedenen Ursachen. Neben physiologischen und psychobiologischen Beeinträchtigungen spielen im Jugendalter insbesondere soziale Rahmenbedingungen eine Rolle. Kinder und Jugendliche reagieren von jeher sehr sensibel auf gesellschaftliche Klimata. Ein sozioökonomisch und soziopolitisch bedingtes Schwinden von individuellen Zukunfts- und Berufsperspektiven verlangt von den Jugendlichen eine Anpassung an einen so nicht geplanten Lebensweg, der nicht selten mit psychosomatischen Störungen und körperlichen Krankheiten einhergeht. Individuell erfahrene Lebensbedingungen, psychosoziales Wohlbefinden und erwartete Lebens- bzw. Zukunftschancen umreißen die alltägliche Lebenssituation der Jugendlichen. Gesundheit, als Balancezustand sozialökologischer, physiologischer und seelisch-psychischer Faktoren verstanden, steht in unmittelbarem wechselseitigen Bezug zu diesen Rahmenbedingungen. Entsprechend lässt sich der Gesundheitszustand Jugendlicher auf die erfahrenen Lebensumstände zurückführen.
Studie
Die Fragestellung nach sozialer Ungleichheit und dem Gesundheitszustand Jugendlicher steht vor dem Problem, die soziale Ungleichheitslage von Kindern und Jugendlichen erfassen zu müssen, ohne das klassische Instrumentarium anwenden zu können. Soziale Ungleichheit wird konventionell in empirischen Studien mit einem Schichtindex operationalisiert. Hierzu zählen die Dimensionen: Einkommen, Bildung und Berufsstatus. Alle drei Dimensionen lassen sich nicht auf Kinder und Jugendliche anwenden. Da in unserer Befragung ausschließlich die Kinder und Jugendlichen selbst befragt werden, also nicht zugleich auch deren Eltern, muss folglich mit vergleichsweise robusten und einfachen Indikatoren sozialer Ungleichheit gearbeitet werden. Es bietet sich an, die Kinder und Jugendlichen nach ihrem sozialen Herkunftsmilieu zu befragen. Das Wohlstandsniveau des Haushalts berührt direkt die Kinder und Jugendlichen. Ungünstige, beengte Wohnverhältnisse, finanzielle Restriktionen, die zur sparsamen Haushaltsführung (Ernährung und Kleidung) nötigen, sowie geringe Mittel für Freizeitaktivitäten beschneiden Kinder in ihren Entfaltungs-. und Teilnahmemöglichkeiten. Weiterhin wirkt sich die Milieuzugehörigkeit, über das Berufsprestige und die Bildung der Eltern indiziert, auf die Lebensbedingungen, auf die kognitive und die evaluative Entwicklung sowie auf die psychische, soziale und körperliche Gesundheit der Jugendlichen aus. Aus diesen Überlegungen kann ein Einfluss der sozialen Herkunft – und damit von sozialer Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter – auf den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen abgeleitet werden. Der so gebildete Schichtindex umfasst 5 Stufen und repräsentiert in der untersten Stufe eine Armutsgruppe. Datenbasis ist die Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“, die Teil eines internationalen Forschungsverbundes ist, der von der WHO gefördert wird und an dem gegenwärtig 24 Länder beteiligt sind. Die Studie richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von 11, 13 und 15 Jahren. Die Befragung der Kinder und Jugendlichen fand in der Zeit von März bis Mai 1994 an Schulen in Nordrhein-Westfalen statt. Es wurde eine kombinierte Quotenstichprobe anhand der Merkmale Alter, Schultyp und Region gebildet. Die Fallzahl beträgt N=3.328.
Gesundheitsbefinden 11-15 jähriger SchülerInnen |
Soziale Ungleichheit |
Gesundheitsindikatoren |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
Insg |
Gesundheitszustand |
|
|
|
|
|
|
Subjektiv bewerteter Gesundheitszustand |
21 |
34 |
37 |
43 |
47 |
37 |
Subjektiv bewertetes Wohlbefinden |
17 |
25 |
30 |
35 |
37 |
29 |
Selbstvertrauen |
58 |
73 |
72 |
80 |
86 |
75 |
Hilflosigkeit |
14 |
7 |
6 |
5 |
3 |
6 |
Einsamkeit |
19 |
14 |
9 |
8 |
9 |
11 |
Gesundheitsverhalten |
|
|
|
|
|
|
Rauchen |
17 |
14 |
10 |
9 |
7 |
12 |
Alkohol trinken (Bier) |
9 |
9 |
8 |
8 |
12 |
9 |
Zähneputzen |
64 |
71 |
73 |
81 |
79 |
74 |
Sport |
35 |
38 |
43 |
46 |
48 |
42 |
Ernährung |
65 |
67 |
68 |
71 |
73 |
68 |
Pommes Frites täglich |
13 |
8 |
8 |
7 |
5 |
8 |
Gesundheitsbeschwerden |
|
|
|
|
|
|
Kopfschmerzen |
22 |
11 |
13 |
11 |
9 |
12 |
Rückenschmerzen |
16 |
10 |
9 |
7 |
7 |
9 |
Allgemein schlecht |
16 |
7 |
8 |
5 |
1 |
7 |
Nervös |
22 |
12 |
15 |
13 |
8 |
13 |
Schlecht Einschlafen |
26 |
17 |
18 |
15 |
16 |
17 |
Studie: Health Behaviour in School-Aged Children – A WHO Cross-National Survey, Universität Bielefeld
Alle Zusammenhänge sind statistisch signifikant. Geschlecht und Alter auspartialisiert. N=2.491
Ergebnisse
Die Analyse des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11-15 Jahren basiert auf den subjektiven Bewertungen ihres Gesundheitszustandes und den Selbstberichten über ihr Gesundheitsverhalten. Obwohl es sich bei den Selbstberichten nicht um epidemiologisch abgesicherte Daten handelt, sehen wir gleichwohl in der Befragungsmethode einen validen und aussagekräftigen Ansatz zur Erforschung der gesundheitlichen Situation im Jugendalter. Das hier verwendete „Maß der Gesundheit“ auf Basis der subjektiven Bewertung muss jedoch mit dieser Einschränkung gelesen werden. Es werden im folgenden die Verteilungen nach der sozialen Ungleichstellung aufgeschlüsselt und die Angaben „sehr positiv“ bzw. „sehr oft“ ausgewiesen.
Wie in Tabelle 1 ausgewiesen, zeigt sich durchgängig, über alle Bereiche, ein Einfluss der sozialen Lebenslage auf die berichtete Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Besonders deutlich tritt der Einfluss der sozialen Lage zwischen den beiden Extremgruppen („unten“ und „oben“ im sozialen Ungleichheitsspektrum) hervor. Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Positionen zeigen in nahezu allen Gesundheitsindikatoren eine schlechtere Bewertung ihrer gesundheitlichen Situation. Nicht selten beträgt die Prozentsatzdifferenz zwischen diesen beiden Extremgruppen über 20 Punkte. Die geringsten Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen zeigen sich im Gesundheitsverhalten. Hier wirkt, so können die Ergebnisse interpretiert werden; die Leitbildfunktion jugendlicher Lebensweisen nivellierend auf das Verhalten der einzelnen. Deutlicher sind die Unterschiede in der Bewertung des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsbeschwerden. Nur jedes fünfte Kinder aus der unteren, aber jedes zweite Kind aus der oberen sozialen Position bewertet den Gesundheitszustand mit sehr gut. Gesundheitliche Beschwerden werden von Kindern erheblich häufiger berichtet, die aus sozial niedrigeren Positionen kommen. Da den Kindern niedrigerer sozialer Herkunft oftmals eine geringere Sensibilität und Berichtsfähigkeit über psychosoziales Wohlbefinden zugesprochen wird, sind die deutlich höheren Prävalenzraten der berichteten gesundheitlichen Beschwerden und der schlechter bewertete Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen niedrigerer sozialer Herkunft um so erstaunlicher.
Unsere Untersuchung zeigt noch ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis. Ebenso wie jüngst eine amerikanische Studie für eine Erwachsenenpopulation auswies, zeigt sich auch schon im Kindes- und Jugendalter ein direkter, linearer Zusammenhang zwischen dem Grad der sozialen Privilegierung und dem Ausmaß von Gesundheit. Wie die überwiegend stetig ansteigenden oder fallenden Prozentzahlen zwischen den sozialen Indexpositionen in Tabelle 1 ausweisen, haben wir es bei den meisten Gesundheitsindikatoren mit einem linearen Zusammenhang über alle Positionen der sozialen Stufenleiter zu tun. Dies bedeutet: Je niedriger die Position in der Privilegienstruktur einer Gesellschaft, desto niedriger ist auch die Qualität der Gesundheit; je höher die Position in der Privilegienstruktur, desto größer die Qualität der Gesundheit. Bemerkenswert ist, dass diese Abhängigkeit nicht nach qualitativen Stufen gegliedert ist, sondern einen gleichförmigen Verlauf hat. Die lineare Beziehung zwischen sozialer Lebenslage und individuell erfahrener Gesundheit unterstreicht den fließenden Übergang von absoluter über relativer Armut zu den sozial in den unteren Segmenten der Gesellschaft stehenden „Normalfamilien“.
Schlussfolgerungen
Was lässt sich hieraus ableiten? Zunächst einmal ein wichtiger Hinweis auf die angemessene Definition und Konzeptionalisierung von Gesundheit. Gesundheit ist eindeutig ein Indikator für das subjektive und das objektive Wohlbefinden, teilweise wahrscheinlich sogar mit diesem Wohlbefinden gleichzusetzen. Gesundheit ist von den Lebensbedingungen abhängig und sie muss ganz offensichtlich mehrdimensional verstanden werden, nämlich als der Balancezustand sowohl im körperlich-physischen als auch im seelisch-psychischen wie im sozialen Bereich. Es spricht also sehr viel für eine mehrdimensionale Konzeption von Gesundheit, wie sie etwa von der Weltgesundheitsorganisation seit vielen Jahrzehnten proklamiert wird. Gesundheit hängt ganz offensichtlich von den Ressourcen ab, die ein Mensch zur Verfügung hat. Dabei sollten die personalen von den sozialen Ressourcen unterschieden werden. Zu den personalen Ressourcen sind insbesondere das Temperament einer Person zu rechnen, die Intelligenz mit all ihren verschiedenen Facetten, die Selbststeuerungsfähigkeit und die Fähigkeit, die eigene Lebenssituation zu kennen und zu interpretieren, verbunden mit der Kompetenz, sich in komplizierten Situationen körperlicher, psychischer und sozialer Art in effektiver Weise selbst zu managen. Neben diesen personalen Ressourcen sind insbesondere die sozialen Ressourcen angesprochen, und sie sind sehr stark in den schon angesprochenen Lebensbedingungen des Menschen abgebildet. Hier ist an erster Stelle natürlich die finanzielle Komponente von sozialen Ressourcen zu nennen, denn mit finanziellen Mitteln kann ein Individuum in unserer Gesellschaft sich Informationen und Leistungen erkaufen, die für Wohlbefinden und Gesundheit von großer Bedeutung sind. Eine weitere Dimension ist die emotionale und die soziale Unterstützung, die nach allen vorliegenden Untersuchungen von großer Bedeutung für die Stabilisierung des Balancezustandes „Gesundheit“ ist, da sie die nötigen Stützungen zur Verfügung stellt, wenn es z.B. zu Krisen- und Belastungssituationen kommt. Weiterhin ist auf die soziale Ressource „Bildung“ hinzuweisen, die dafür sorgt, dass ein Individuum selbstgesteuert und flexibel in Belastungssituationen reagieren kann und die selbstverständlich auch von erheblicher Bedeutung ist, wenn es um das Heranziehen von Informationen und Wissen geht. Das Zusammenspiel von sozialen Ressourcen und personalen Ressourcen, die selbstverständlich auch in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, entscheidet also ganz offensichtlich über den Grad von Gesundheit, über den ein Individuum verfügt. Und die Befunde aus unserer und anderen Untersuchungen unterstreichen, wie stark gradiert der Zusammenhang zwischen den sozialen Lebensbedingungen und der Gesundheit ist.
Sozialpolitische Konsequenzen
Was ist politisch zu tun? Armut entsteht, wie die bisherige Analyse zeigt, eindeutig aufgrund von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen in der Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft. Die Bekämpfung der Armut kann deswegen auch nur politisch geregelt werden und ist eine Frage der Verteilungspolitik insgesamt. Wie die nationale Armutskonferenz betont hat, wächst die Zahl derer, die Gefahr laufen, keinen ausreichenden Schutz in der Sozialversicherung zu erhalten, und die beim Eintreten von Existenzrisiken auf Sozialhilfe verwiesen sind. Darüber hinaus werden angesichts einer Tendenz zur Pluralisierung von Lebensformen die traditionellen Sicherungsnetze von Ehe und Familie in ihrer Schutzfunktion immer brüchiger. Sie stellen daher die bisherige indirekte Existenzsicherung von Familienmitgliedern, z.B. von Frauen, in Frage. Zugleich ist in den letzten Jahren der sozialpolitische Schutz vor Verarmungsrisiken eher verringert worden, z.B. durch die Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes und des Renten- und Gesundheitsgesetzes. Die politische und soziale Zuständigkeit für soziale Problemlagen hat sich von der Sozialversicherung auf die Sozialhilfe verschoben und damit von der Bundesebene auf die Ebene der Gemeinden. Die Gemeinden aber sind z.Zt. die finanziell am ungünstigsten ausgestatteten Institutionen unseres politischen Systems.
Bündnispartner für eine Lobby der Armen
Die Bevölkerungsgruppen in Armut sind aus den oben angegebenen Gründen nicht in der Lage, sich miteinander zu solidarisieren. Sie sind auch kaum in der Lage, auf ihre eigene prekäre Situation hinzuweisen. Sie können sich deswegen kaum eine wirksame öffentliche Lobby aufbauen. Deswegen sind potentielle Bündnispartner gefordert, diesen Prozess zu unterstützen und öffentlich Position zu beziehen. Als Bündnispartner kommen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und die Gewerkschaften in Betracht. Als Bündnispartner ist aber auch die Wissenschaft gefragt. Durch kontinuierliche öffentlichkeitswirksame Aktionen kann auch sie sich um benachteiligte Bevölkerungsgruppen kümmern und das Tabu brechen, das immer noch über der Armut liegt. Durch öffentliche Diskussion und durch sachlichen Hinweis auf die Verursachung von Armut als eines kumulativen Prozesses kann auch von wissenschaftlicher Seite ein nachdrücklicher Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der Schwächsten geleistet werden.
Gesundheitspolitische Intervention
Einen besonderen Stellenwert muss dabei schließlich auch eine gezielte Veränderung des Versorgungssystems, ganz besonders auch im gesundheitlichen Bereich, einnehmen. Wir brauchen spezifisch zugeschnittene Angebote der gesundheitlichen Versorgung für die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen. Dabei müssen viel stärker als heute auch ambulante und mobile Dienste eingesetzt werden. Denn das gehört zu den Charakteristiken der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen, dass sie sich die Leistungen des Versorgungssystems nur schwer aktiv erschließen können. Die Konsequenz ist, dass die Angebote zu den armen Bevölkerungsgruppen hin orientiert werden müssen, z.B. – sofern es um Kinder und Jugendliche geht – durch die Integration von Versorgungsangeboten in Kindergärten und Schulen.
Dr. Klaus Hurrelmann ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Dr. Andreas Klocke ist Direktor am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg.
Vorstehender Artikel wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998, ins Internet gestellt im Juni 2003.