Von Norbert Kozicki
Die Datenlage zum Zusammenhang von Armut und Bildungschancen ist mehr als schlecht. In den letzten Jahren der neoliberalen Deregulierungspolitik verschwanden immer mehr die statistischen Spuren dieser Klassengesellschaft. Der Kontext von sozialer Schichtung und Bildungschancen entwickelte sich zu einem Nichtthema. Die wenigen Untersuchungen, die sich auf den Übergang von Schule ins Berufsleben konzentrierten, kamen zu dem Ergebnis, dass Kinder aus mittleren und niedrigeren Bildungsschichten kaum noch im Bildungserwerb benachteiligt sind. Im Kontext der Armutsdebatte gerät dieses Thema langsam aber sicher in den Fokus der jugendpolitischen Diskussionen. Die Sozialforscher, die sich mit diesem Zusammenhang beschäftigen, sind oft über die Eindeutigkeit ihrer Untersuchungsergebnisse überrascht. In einer pluralisierten Gesellschaft mit den angeblich enormen Individualisierungstendenzen könnte man etwas anderes erwarten. Wolfgang Lauterbach und Andreas Lange konstatieren z.B. in ihrer Untersuchung „Aufwachsen in materieller Armut und sorgenbelastetem Familienklima“: „Die Analysen zeigen aber zusätzlich einen enormen Einfluss der beruflichen Ausbildung des Vaters auf die Bildungskarriere des Kindes. Dies ist ein Effekt, der zumindest in diesem Ausmaß nicht erwartet wurde. Hat demzufolge der Vater keine berufliche Ausbildung absolviert – ungeachtet des schulischen Bildungserfolges – so besteht für das Kind eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, das Gymnasium zu besuchen. Sie ist um 45 Prozent reduziert.“ (in: Jürgen Mansel/ Georg Neubauer (Hg.): Armut und soziale Ungleichheit bei Kindern, Opladen 1998, S. 127).
Die beiden hier zitierten Autoren konzentrieren ihre Analyse auf den Schulwechsel der 10- bis 12-Jährigen in den Sekundarbereich I. Ergebnis: Kinder aus armen Familien wechseln signifikant weniger zum Gymnasium. Die Diskriminierung bewegt sich zwischen den Schultypen Hauptschule und Gymnasium. Beim Besuch der Realschule und der Integrierten Gesamtschule lassen sich ausgeglichene Werte finden. Von denjenigen Kindern, die in Armut leben, gehen 55 Prozent auf die Hauptschule und von denjenigen, die in prekärem Wohlstand leben, 53 Prozent. Das sind rund 14 Prozent mehr Kinder als im Bevölkerungsdurchschnitt. Dieser vermehrte Besuch der Hauptschule geht zu Lasten des Gymnasiums. Während im Durchschnitt 29 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe das Gymnasium besuchen, sind es bei in Armut lebenden Familien nur 16 Prozent und bei in prekärem Wohlstand lebenden Familien nur 14 Prozent. Die beiden Autoren untersuchten auch den Zusammenhang von Schulbesuch und „großen wirtschaftlichen Sorgen“ der Mutter. Auch hier besteht eine starke Wechselwirkung. Sorgt sich die Mutter um die wirtschaftliche Zukunft, besuchen über 54,5 Prozent der Kinder die Hauptschule. Nur 15 Prozent aller Heranwachsenden, deren Mütter sich große Sorgen machen, besuchen das Gymnasium. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in der Betrachtung des Einflusses der Sorgen des Vaters um seinen Arbeitsplatz. Allerdings ist der Einfluss der von der Mutter geäußerten Sorgen um die wirtschaftliche Situation merklich stärker als die empfundene Arbeitsplatzunsicherheit des Vaters. „Insbesondere der eigenständige Beitrag des Faktors Armut und den auf das Familienklima wirkenden Sorgen der Eltern ergänzt den klassischen bildungssoziologischen Befund der Bildungsvererbung. Im Besonderen konnten wir Evidenzen dafür beibringen, dass eine besondere Belastungssituation mit wahrscheinlich lebenslaufprägender Potenz an der Gelenkstelle des deutschen Bildungssystems, dem Übergang in die Sekundarstufe I, aufgrund eines zeitgeschichtlichen Armutseffektes, vorliegt“, resümieren die beiden Wissenschaftler.
Elisabeth Schlemmer von der Universität Bamberg beschäftigte sich mit „Risikolagen von Familien und ihren Auswirkungen auf Schulkinder“. Sie konstatierte: „Das klassische Ergebnis der sozialen Ungleichheitsforschung, dass Einkommen und Bildung der Eltern Schulerfolg der Kinder bestimmen, ist nach wie vor gültig. Diesen beiden Faktoren sind die prinzipiell durchschlagendsten Selektionsmechanismen. Die Familienform und Erwerbssituation der Eltern bewirken einen signifikanten Einfluss, allerdings auf Basis der beiden sozialstrukturellen Faktoren Einkommen und Bildung. Damit folgt die Selektion vorrangig sozialstrukturellen Merkmalen. Die Familienform bzw. Erwerbssituation der Eltern kommt je nach Status bzw. Schichtzugehörigkeit als zusätzlicher Selektionsfaktor hinzu und hebt bzw. senkt die Chance, ins Gymnasium überzutreten.“ (in: Jürgen Mansel/Georg Neubauer (Hg.): a.a.O., S.146). Die Untersuchung von Schlemmer weist auf einen weiteren Zusammenhang der möglichen Benachteiligung von Kindern hin. Als kovarianter Einflussfaktor erwies sich die Klassengröße, die beim Übertritt ins Gymnasium einen signifikanten Part spielt. D.h. im Klartext, die heutigen großen Schulklassen benachteiligen besonders Kinder aus armen Familien.
In einer weiteren Untersuchung von Matthias Grundmann zum Thema „Milieuspezifische Einflüsse familialer Sozialisation“ wird der Zusammenhang von „relativer depravierter sozialer Lage“ und von schulischer Leistungsentwicklung und Bildungsverlauf analysiert. Das Ergebnis: Kinder aus dem Armutsmilieu sind gegenüber Gleichaltrigen aus anderen sozialen Lagen in ihrer kognitiven, ihrer schulischen Leistungsentwicklung und ihrem Bildungsverlauf benachteiligt. Als besonders gravierend für Heranwachsende aus dem Armutsmilieu stellt sich der frühzeitige Abbruch des Bildungsverlaufs heraus. Jürgen Mansel nennt in seinem Aufsatz zum „Wohlbefinden von sozial benachteiligten Jugendlichen“ weitere Zahlen zur Benachteiligung von Jugendlichen aus dem Armutsmilieu. So ist etwa jeder fünfte Jugendliche aus einer sozial schwachen Herkunftsfamilie in der Phase des Statusübergangs von der Schule in den Beruf arbeitslos oder als Jungarbeiter tätig, von den anderen Jugendlichen ist es nur jeder 25. Dennoch absolvieren immerhin drei Viertel der Jugendlichen aus den sozial schwachen Familien eine schulische oder berufliche Ausbildung, aber 11,6 Prozent besuchen die gymnasiale Oberstufe. Bei der Vergleichspopulation liegen die entsprechenden Anteile um 20 Prozent bzw. 24 Prozent höher. (in: Jürgen Mansel/Klaus-Peter Brinkhoff (Hg.): Armut im Jugendalter. Soziale Ungleichheit, Gettoisierung und die psychosozialen Folgen, Weinheim/München, 1998, S. 141 ff.)
Als wesentlichen Grund für die Konzentration des Schulbesuchs von Kindern und Jugendlichen aus dem Armutsmilieu und teilweise aus dem prekären Wohlstandsmilieu auf bestimmte Schultypen identifiziert Sabine Walper das große zielgerichtete Interesse der Eltern, die schon über einen längeren Zeitraum in Armut leben, dass ihre Kinder möglichst schnell die Schule verlassen und Geld verdienen (vgl. Sabine Walper: Können wir uns das leisten? Kinder und Armut, in: Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Was für Kinder. Aufwachsen in Deutschland, München, S. 267-276). Die neue Armut wird mit dafür verantwortlich, dass Eltern ihre eigene niedrige Qualifikation an die nächste Generation weitergeben. Der frühzeitige Zuverdienst der Kinder stellt eine wichtige Entlastung für arme Haushalte dar. Diese Informationen müssen weiterhin geschlechtsspezifisch untersucht und dargestellt werden. In armen Familien besteht für die Mädchen häufig nur die Chance, eine „gute Hausfrau“ zu werden.
Norbert Kozicki arbeitet als Bildungsreferent beim Falken Bildungs- und Freizeitwerk NRW
Der vorstehende Artikel wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998, ins Internet gestellt im Juni 2003