ABA-BLOG

NAGEL-Redaktion – Arbeitsgrundlagen und Ziele

ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Der ABA Fachverband betrachtet als Hauptgrundlage seines Tätigwerdens den Paragraphen 11 des SGB VIII:

(1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.

(2) Jugendarbeit wird angeboten von Verbänden, Gruppen und Initiativen der Jugend, von anderen Trägern der Jugendarbeit und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe. Sie umfasst für Mitglieder bestimmte Angebote, die offene Jugendarbeit und gemeinwesenorientierte Angebote.

(3) Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören:
1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung,
2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit,
3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit,
4. internationale Jugendarbeit,
5. Kinder- und Jugenderholung,
6. Jugendberatung.

(4) Angebote der Jugendarbeit können auch Personen, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, in angemessenem Umfang einbeziehen.

Ferner handelt er im Auftrag des Gesetzes zur Förderung der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes des Landes Nordhrein-Westfalen vom 12. Oktober 2004 (Gesetzestext herunterladen).

Er sieht sich in Übereinstimmung mit dem jugendpolitischen Grundverständnis des Landes NRW. Dies ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch

● die Bedeutung der Selbstorganisation der Interessenvertretung von Kindern und Jugendlichen und des ehrenamtlichen Engagements;

● die allgemeine Förderung junger Menschen durch Angebote der Freizeit und Bildung und Kinder- und Jugenderholung;

● die Überwindung sozialer Benachteiligung durch eine gezielte Förderung betroffener junger Menschen;

● das gleichberechtigte Miteinander zu fördern und Diskriminierungen abzubauen;

● die Gewährleistung einer pluralen, vielfältigen und fachlich kompetenten Angebotsstruktur von Trägern der freien und öffentlichen Jugendhilfe.

Der ABA Fachverband begreift sich im Einklang mit den Prinzipien des Kinder- und Jugendplanes des Landes NRW:

● Emanzipation
● Partizipation
● Integration

Der ABA Fachverband unterstützt Konzeptionen, die von den Prämissen

● Bildung
● Gesundheitsförderung (Salutogenese)
● Familienunterstützung und -begleitung

getragen werden.

Ziele des Verbandes

● Förderung der individuellen Entwicklung junger Menschen, ihrer Phantasie und Kreativität

● Eintreten für die politische Umsetzung der Rechte junger Menschen

● Entwicklung sozialer Kompetenz

● Vermittlung kultureller und künstlerischer Fähigkeiten

● Förderung der Identitätsbildung in unterschiedlichen Gruppen und Milieus

● Unterstützung der Auseinandersetzung mit Fremden im Sinne interkultureller Arbeit

● Erweiterung gesellschaftlicher Partizipationschancen

● Verbesserung der Kommunikation und Interaktion

● Sensibilisierung für das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt

● Stärkung der Wahrnehmung für gesellschaftliche und politische Entwicklungen

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Die Mitgliedschaften des Verbandes ansehen

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Kontakt

ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen e.V.
Clarenberg 24
44263 Dortmund
Tel. 0231/985 20 53 – 02363/56 96 80
Mobil 0179.211 04 73
Fax 0231/985 20 55- 02363/56 96 81
E-Mail

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NAGEL-Redaktion – Einwanderungsland Deutschland

Anlässlich der Veröffentlichung der Sinus-Milieustudie „Lebenswelten von Migranten“ am 16. Oktober 2007 haben wir diese Seite eröffnet. Bislang haben wir das Thema diversen anderen Seiten zugeordnet. In Zukunft werden Sie entsprechende Beiträge hier finden. Zunächst können Sie sich einen Auszug aus der Forschungsbericht (SINUS SOCIOVISION) sowie weiteres Material zum Thema herunterladen.

ABA Fachverband

Zum Herunterladen

Interview mit Prof. Dr. Christian Pfeiffer zum Thema Jugendgewalt: Ethnische Herkunft spielt faktisch keine Rolle
Interview aus der „e&w“ (Erziehung und Wissenschaft) 3/2008 herunterladen

Interview mit Seyran Ates: … eine andere Vorstellung von Fürsorge. Bildung von Migrantinnen.
Interview aus der „e&w“ (Erziehung und Wissenschaft) 3/2008 herunterladen

Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Eine qualitative Untersuchung von Sinus Sociovision. Auszug aus dem Forschungbericht. Veröffentlicht am 16. Oktober 2007. (72 Seiten, 273 KB)
Studie herunterladen

Studie von Sinus Sociovision „Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“. Zentrale Ergebnisse einer qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchung (16. Oktober 2007). Die Auftraggeber finden Sie im Papier. (4 Seiten, 89 KB)
Papier herunterladen

Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Rollenbilder in Migrantenmilieus (16. Oktober 2007).  (6 Seiten, 1001 KB)
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NAGEL-Redaktion – Ehrenamt – Freiwilliges Engagement

Freiwilliges Engagement – früher nannte man es Ehrenamt – spielt eine wichtige Rolle. Auch in der Offenen Arbeit hat das Ehrenamt seine Relevanz, etwa bei den Spielplatzpaten.

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Unfallversichert im Ehrenamt

Vorstehend können Sie eine Broschüre zum Unfallschutz im Ehrenamt herunterladen.

MONITOR ENGAGEMENT

Im April 2010 wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der MONITOR ENGAGEMENT herausgegeben. Er befasst sich mit freiwilligem Engagement in Deutschland (1999 – 2004 – 2009) und fasst die Ergebnisse der repäsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement zusammen. Bei Interesse können Sie die Unterlagen mittels Klicks auf nachstehende Links herunterladen.

Monitor Engagement (Ausgabe 2: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004 – 2009) Kurzbericht des 3. Freiwlligensurveys – Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement
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Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 (Zivilgeselllschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagment in Deutschland 1999 – 2004 – 2009)
Inhalt (unter anderem)
Öffentliches Leben und freiwilliges Engagement
Stärken und Grenzen des Freiwiliigensurveys
Trend-Indikatoren
Mehr öffentliches, weniger privates soziales Kapital?
Freiwilliges Engagement – das Herz der Zivilgesellschaft
Selbstverständnis, Motive und Erwartungen freiwillig Engagierter
Bereitschaft nicht Engagierter, sich zu engagieren
Trends in verschiedenen Bevölkerungsgruppen
Strukturen des freiwlligen Engagements und Verbesserungsbedarf
Zeitliche Beanspruchung der Freiwilligen
Leistungen und Anforderungen im Engagement
Zielgruppen des freiwilligen Engagements (hier u.a. Kinder, Jugendliche und Familien)
Internetbenutzung im Engagement
Monetarisierung: Das materielle element
Verbesserungsbedarf bei den Rahmenbedingungen
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Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 (Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004 – 2009) Zusammenfassung
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Jugend in der Zivilgesellschaft: Freiwilliges Engagement Jugendlicher von 1999 bis 2009 (Von Sibylle Picot im Auftrag der Bertelsmann Stiftung) Kurzbericht April 2011


Die Turbo-Studiengänge und die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur seien Schuld daran, dass sich Jugendliche immer weniger für die Gesellschaft engagierten. So eine Feststellung aus der Studie, die gezielt mit dem ehrenamtlichen Verhalten von Schülern und Studenten nachgegangen ist. Freundlicherweise hat uns Nicole Henrichfreise vom „Programm Zukunft der Zivilgesellschaft“ am 12. April 2012 eine aktualisierte 2. Auflage zugesandt. Diese haben wir nunmehr hier eingestellt.

2. Auflage „Jugend in der Zivilgesellschaft – Freiwilliges Engagement Jugendlicher von 1999-2009“ herunterladen

Jugendliches Ehrenamt fördert demokratische Kompetenzen

Zu dieser Erkenntnis gelangt eine Studie der Universität Würzburg, die Prof. Dr. Heinz Reinders in Kooperation mit dem VCP, dem Verband christlicher Pfadfinder, 2007 durchgeführt hat. Die Dokumentation hierzu kann nachfolgend heruntergeladen werden. Hier wird folgende Kernaussage getroffen: „Jugendliche, die sich sozial engagieren, erleben sich stärker als Teil der Gesellschaft und sind häufiger zu politischer Beteiligung bereit.“Heinz Reinders: „Wenn neun von zehn Jugendlichen durch ihr Engagement etwas Neues gelernt haben und ihre demomkratische Kompetenz dadurch steigt, dann ist doch eine verstärkte Förderung jugendlichen Engagements ohne Alternative.“
Dokumentation herunterladen

Tagungsdokumentation „Engagement verändert – Freiwilliges Engagement und Entwicklung von Demokratie“

Die Dokumentation (15 Seiten, 1.972 KB) wurde uns am 19. Dezember freundlicherweise von Oliver Hesse von der FreiwilligenAgentur Dortmund zur Verfügung gestellt.
Inhalt

  • Der Staat, der die Zivilgesellschaft stärkt, stärkt sich selbst.
  • Die Demokratisierung verbandlicher Strukturen durch Personalentwicklung – eine neue Art von Organisationsentwicklung
  • Politische Partiziaption
  • Jugend und Partizipation
  • Demokratische Strukturen in Verbänden und Einrichtungen
  • Freiwilligenkoordination
  • Die Martkplatzmethode als Instrument des Corporate Citizenship

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Dokumente

Führungszeugnisse für Ehrenamtliche

Der Sprecherrat des ABA Fachverbandes hat sich auf seiner Arbeitstagung vom 10. November 2008 mit dem Thema Führungszeugnisse für Ehrenamtlich befasst. Seitdem existieren zwei Arbeitspapiere, die unser Sprecherratsmitglied Christa Burghardt vom Kinderschutzbund Hagen zur Verfügung gestellt hat. Im ersten geht es generell um Führungszeugnisse. Ein weiteres ist der Vorschlag für eine „Ehrenerklärung“, die seit längerem beim Hagener Kinderschutzbund genutzt wird. Wir empfehlen beispielsweise beim Einsatz von Spielplatzpaten einen entsprechenden Gebrauch.

Polizeiliche Führungszeugnisse für Ehrenamtliche

Ehrenerklärung für Ehrenamtliche

Im Juni 2010 hat der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) ein Hintergrundpapier zur Positionsbeschreibung veröffentlicht. Titel: Führungszeugnisse für Ehrenamtliche – ein geeigneter Beitrag zur Prävention sexuellen Missbrauchs in Jugendverbänden? Neben einer Einschätzung der Problemlage, befasst sich das Hintergrundpapier unter anderem mit der Aussagekraft von Führungszeugnissen, präventiven Maßnahmen, den Übergängen zwischen informellen und nonformalen Zusammenhängen, der Datenschutzproblematik, dem Aufwand im Vergleich zum Nutzen u.a.m. Der ABA Fachverband sieht eine Übertragbarkeit vor allem beim Einsatz ehrenamtlicher Spielplatzpaten. Heruntergeladen werden kann das Papier mittels eines Klicks auf vorstehendes Logo des DBJR.

Prävention statt statt Führungszeugnisse! Auf diese griffige Formel bringt der Landesjugendring Nordrhein-Westfalen seine Position. Er verwendet sich dafür, ein angemessenes Problembewusstsein zu schaffen, zu sensibilisieren und aufzuklären. Ebenso setzt er sich für eine entsprechende Qualifizierung derjenigen ein, die in der Kinder- und Jugendarbeit Verantwortung übernehmen. Nach Meinung des Landesjugendrings NRW stellt die Einführung von Führungszeugnissen für Ehrenamtliche Hunderttasusende unter Generalverdacht; dies behindere zivilgesellschaftliche Gestaltungskraft. Ehrenamt verdiene Vertrauen, Anerkennung und Strukturen, die es unterstützuen und nicht erschweren. Dieser Aussage kann sich der ABA Fachverband inhaltlich nur anschließen. Der Beschluss des Landesjugendrings NRW kann mittels eines Klicks auf vorstehendes Logo heruntergeladen werden.

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NAGEL-Redaktion – Zukunftsängste von Kindern und Jugendlichen

Von Horst Petri

Einleitung

Der Begriff „Zukunftsangst“ ist in letzter Zeit, speziell in der jungen Generation, in Mode gekommen und erfährt seitdem einen inflationären Gebrauch. Die Angst vor der Zukunft hat aber die Menschheit von Anbeginn begleitet, ob vor Naturkatastrophen oder vor von Menschen verursachtem Unheil. Der Begriff „Zukunftsangst“ scheint jedoch, wenn man ihn nicht als modische Wortschöpfung abtun will, im Unterschied zu früheren Ängsten eine neuartige Qualität der Angst auszudrücken.

In der Psychologie kennen wir Begriffe wie Triebangst, Gewissensangst, Trennungsangst, Kastrationsangst oder Todesangst. Sie werden als psychische Realitäten aufgefasst, die an konkrete seelische Konflikte oder Beziehungskonflikte gebunden sind. Zukunftsangst dagegen hat eine globale Dimension. Sie bezieht sich auf etwas Unbestimmtes, auf eine, wie es scheint, unheimliche und ungreifbare Bedrohung von endzeitlichem Charakter. Zumindest besitzt sie diese universelle Konnotation und drückt damit mehr aus als zum Beispiel die Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor Verarmung, vor Krankheit oder anderen realen Gefahrenquellen, auch wenn sie im politischen und öffentlichen Bewusstsein mit solchen äußeren Auslösern begründet wird.

Ich möchte im folgenden der Hypothese nachgehen, dass durch die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte Zukunftsangst eine neuartige Gefühlsqualität im menschlichen Erleben darstellt, bei der es zu einer engen Verschränkung von innerer und äußerer Realität von existenzbedrohendem Ausmaß kommen kann. Dem Thema entsprechend beschränken sich meine Überlegungen auf die Erfahrungswelten der jungen Generation. Die Oberfläche bilden hierbei zunächst einige ausgewählte Ergebnisse der Kinder- und Jugendforschung der letzten Jahre. Zukunftsängste können in der psychologisch orientierten Sozialforschung nur durch konkrete persönliche oder gesellschaftliche Faktoren äußerer Realität erfasst werden. Dabei unterscheidet man zwischen mikrosozialen, das heißt  auf das persönliche Umfeld bezogenen, und makrosozialen, das heißt gesellschaftlich bedingten Stressoren. In die Zukunft projizierte persönliche Stressoren beziehungsweise Ängste betreffen hauptsächlich Probleme in Familie, Schule, Beruf und Freundschaften, äußeres Ansehen, soziale Anerkennung und Krankheiten. Ende der siebziger Jahre konzentrierte sich die Forschung dann stärker auf makrosoziale Stressoren. Die untersuchten gesellschaftlichen Zukunftsängste betreffen hauptsächlich die Themen Krieg, speziell Atomkrieg, Ökologie, Technik, Arbeitsmarktentwicklung, Bevölkerungswachstum, Ausländerfragen und Dritte Welt. Ich beschränke mich hier auf einige orientierende Daten zu den makrosozialen Stressoren, weil sich in allen Untersuchungen, soweit sie mikro- und makrosoziale Faktoren vergleichend erfassen, ein einheitlicher Trend zeigt, wonach die gesellschaftsbedingten Zukunftsängste die persönlichen hochsignifikant übertreffen.

Ergebnisse empirischer Forschung

Ab Ende der siebziger Jahre wurden weltweit zahlreiche Untersuchungen zu der Frage durchgeführt, wie sich die atomare Dauerbedrohung auf die seelische Entwicklung junger Menschen auswirkt und ihre Zukunftseinstellungen beeinflusst. 1985 führten wir mit einer Arbeitsgruppe in der damaligen Bundesrepublik die erste internationale Vergleichsstudie mit 3500 Kindern und Jugendlichen durch, die unter der Bezeichnung „Bundesweite Befragung“ bekannt wurde (Petri u.a. 1987). Die Ergebnisse zeigten eine hohe Übereinstimmung mit anderen internationalen Studien in bezug auf das erschreckende Ausmaß an Atomkriegsängsten in der jungen Generation. Obwohl erst wenige Jahre zurückliegend, scheinen wir das alles wieder vergessen zu haben und werden durch neue Untersuchungsdaten beunruhigt, die seit der Versöhnung der Supermächte eine deutliche Abnahme dieser Ängste gegenüber anderen gesellschaftlichen Bedrohungen zeigen. Statt von „Vergessen“ sollten wir jedoch von Verleugnung sprechen, denn unser Wissen, dass das Atomzeitalter die Welt und die Menschen tiefgreifend verändert hat, ist unabweisbar. So stellt nach meiner Überzeugung die Atombombe im Erleben von Kindern das Unfassbarste aller Erschrecken dar, sie ist zum Symbol für das Zerstörerische schlechthin geworden und wurde entsprechend als dauerhaft verfolgendes, böses Objekt introjiziert. Ihre destruktive Wirkung auf das innere Repräsentanzensystem erhält zudem ständige Nahrung von außen, ob durch die Atomkriegsgefahr im Zusammenhang mit dem Golfkrieg 1991, ob durch Plutoniumschmuggel oder durch die inzwischen fast weltweit vermutete heimliche Produktion von Atomwaffen, deren Einsatz bei der Zuspitzung globaler Konflikte immer unkalkulierbarer wird. Wie spontan die Atomängste aus ihrer Latenz hervorbrechen können, zeigen die massenhaften Protestaktionen junger Menschen in vielen Teilen der Erde gegen die jüngste Atomtestserie Frankreichs auf dem Mururoa-Atoll. Dass außerdem der radioaktive Komplex auch im Bewusstsein weiterwirkt, belegt die Angst vor einem größeren Kernkraftunglück. In unserer Studie von 1985, also noch vor Tschernobyl, hatten bereits 37 Prozent der Befragten auf einer vierstufigen Antwortskala „viel Angst“ vor der „Explosion eines Atomkraftwerkes“. Dieser Anteil stieg nach Tschernobyl in zwei repräsentativen Studien von Mansel (1992) und besonders von Hurrelmann (1992) auf knapp 60 Prozent an. In der Studie von Mansel (1992) zeigte sich folgende Rangliste für „wahrscheinlich“ gehaltene „katastrophale Ereignisse“: Zunahme von Umweltzerstörung 80,5 Prozent, Gesundheitsrisiken infolge der Umweltverschmutzung 75,8 Prozent, anhaltende Arbeitslosigkeit 56,6 Prozent, Explosion eines Kernkraftwerks 52,9 Prozent, Wirtschaftskrisen und Armut 48,6 Prozent, Krieg in Europa 37,3 Prozent. Die durchschnittliche Erwartung der Wahrscheinlichkeit katastrophaler Ereignisse lag bei 58,7 Prozent. Die statistische Analyse dieser gründlichen Studie ergab einige signifikante Korrelationen zwischen einzelnen dieser makrosozialen Stressoren und der Entstehung anomischer Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst, Traurigkeit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit sowie der Häufigkeit psychosomatischer Symptome.

Leuzinger-Bohleber und Garlichs (1993) führten 1990 mit einem psychoanalytisch orientierten, qualitativen und quantitativen Untersuchungsansatz eine gründliche Vergleichsstudie zwischen Kindern der 2., 4. und 8. Klasse (7-8 Jahre, 9-10 Jahre, 13-14 Jahre) in Jena und Kassel mit einer Klassengröße von durchschnittlich 20 Schülern durch (Gesamtzahl circa 180). Der inhaltliche Schwerpunkt der Studie lag in der Erfassung der Zukunftshoffnungen und Zukunftsängste im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen der Probanden in Ost- und Westdeutschland. Aus der Fülle der Daten sind für den hiesigen Zusammenhang folgende von Bedeutung: Bei der Auswertung einer freien Zeichnung zum Thema „Zukunft“ stiegen die negativen Zukunftsprojektionen der Kasseler Schüler von 4 Prozent bei den Zweitklässlern über 44 Prozent bei den Viertklässlern auf 79 Prozent bei den Achtklässlern (Jenaer Schüler zum Vergleich: 0 Prozent, 4,2 Prozent, 31,8 Prozent). Inhaltlich dominieren bei den Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen „offene Gesellschaftskritik“ (94 Prozent in Kassel, 77 Prozent in Jena) und „Naturzerstörung“ (88 Prozent in Kassel, 77 Prozent in Jena). Bei einer „Traumreise in die Zukunft“ bestätigten sich diese Befunde für Jugendliche: 91 Prozent der Kasseler Jugendlichen drücken eine negative Einstellung zur Technik und „Schreckensvisionen einer technisierten Zukunft“ aus (Jenaer Jugendliche: 50 Prozent); bei einer Differenzierung dieser Angaben betrifft die Technikkritik vor allem den Bereich Kernenergie, Gentechnologie und den Komplex „Großtechnologie“. Durch Zeichnungen, Interviews und Fragebögen ließen sich bei der Mehrzahl der Jugendlichen große Ohnmachtsgefühle ermitteln, mit dem Ergebnis, dass 76 Prozent der Kasseler und 47 Prozent der Jenaer Jugendlichen ihre Möglichkeiten negativ einschätzen, als einzelne die gesellschaftliche Zukunft zu beeinflussen.

Der qualitative Untersuchungsansatz solcher empirischer Studien wird inzwischen durch eine Vielzahl dokumentierter Materialien ergänzt, die in ihrer spontanen Ausdrucksform oft genauere tiefenpsychologische Deutungen ermöglichen als die Ergebnisse systematisch angelegter Untersuchungen. Dazu zählen Aufsätze, Briefe, aufgezeichnete Gespräche und Interviews, Träume, Zeichnungen, Gedichte und Geschichten zum Thema „Zukunft“, die aus unterschiedlichen Anlässen, zum Beispiel im Rahmen von Schreib- und Malwettbewerben, von Unterrichtseinheiten zur Umwelterziehung in Kindergärten und Schulen, von Dokumentarfilmen oder als Selbstzeugnisse anderer Art entstanden. Nicht zuletzt verfügen wohl die meisten Therapeuten inzwischen über ein mehr oder weniger breites Erfahrungsspektrum aus psychotherapeutischen Behandlungen oder Beratungen von Kindern und Jugendlichen, die die hier referierten Ergebnisse aus der Normalpopulation bestätigen. Im Original-Ton erhält man dann zum Beispiel folgende Antworten auf die Frage, was in den nächsten zehn Jahren passieren könne:

Nazmiye, 15 Jahre: „In zehn Jahren lebe ich nicht mehr. Das mit der Umwelt ist schlimm, das ist wirklich katastrophal. Irgendwas wird bestimmt passieren, oder ich mache Selbstmord und kapituliere. Entweder bringt mich jemand um, oder ich bringe mich selbst um.“

Lisa, 11 Jahre: „Das Ding wird in zehn Jahren bestimmt seine Wirkung zeigen.“

Interviewer des Spiegel: „Welches Ding?“ Lisa: „Na, das Ozonloch. Und vielleicht explodiert auch ein Kernkraftwerk. Ich hab‘ so Angst von dem Jahr 2000. Da geht bestimmt irgendwas los, irgend ein riesiges Chemiewerk könnte auch explodieren. Oder Politiker sagen, sie wollen etwas ausprobieren, etwas, was nicht gefährlich ist, und dann schmeißen sie ’ne Atombombe. Dann geht die Welt auseinander, sie zerbricht.“

Veronika, 11 Jahre: „Also, lange geht das bestimmt nicht mehr weiter, es könnte so viel passieren, vielleicht kommt auch eine Sintflut. Vielleicht machen sie auch einen Atombombenversuch, und dann kommt der Weltuntergang.“

Güven, 14 Jahre: „Ich glaube, die Menschen können sich irgendwie nicht verändern. Vielleicht sollten sich die Staaten zusammentun. Aber bis das passiert, wird es bestimmt zu spät sein, und wir stehen da im Dunkeln und sind tot.“ (Der Spiegel Nr. 43 vom 23.10.1989, S. 272)

Aus den vielen vorliegenden Materialien habe ich selbst eine kleine qualitative Analyse einer Auswahl von 128 Briefen von Kindern bis 14 Jahre vorgenommen, die im Rahmen eines Schreibwettbewerbs der IG-Metall zum Thema „Meine Zukunft“ entstanden (Rusch 1989). Die spontan genannten, negativ besetzten Items ließen sich zu 19 Begriffskomplexen zusammenfassen, von denen ich hier nur die drei häufigsten zitiere. Das Sterben von Natur, Tieren und Menschen stand an erster Stelle und wurde in knapp 90 Prozent der Briefe genannt. An zweiter Stelle folgten Umweltzerstörung, -verseuchung, -verschmutzung einschließlich Müllhalden, -bergen und -deponien in 60 Prozent der Briefe und an dritter Stelle Fabriken, Hochhäuser, Beton und Plastik als gegenwärtige und zukünftige Sinnbilder menschlicher Entfremdung in 50 Prozent der Briefe. In den teilweise erschütternden Dokumenten verdichten sich über die genannten Inhalte hinaus Begriffe wie Atomwaffen, Krieg, Atomkraftwerke, Gift, Roboter und Computer, Autos, Ozonloch und Klimakatastrophe, Sorge um die eigenen späteren Kinder, Zweifel am Fortbestand der Erde, Gasmasken für die Zukunft und viele als destruktiv erfahrene menschliche Eigenschaften zu konkreten Bildern und Phantasien der Zerstörung und Entmenschlichung, die zu Ohnmacht und Resignation führen und die Vision des Todes, des eigenen wie den der Menschheit, einschließen. Die zuletzt zitierte Dokumentation erscheint nicht überzeichnet, wenn man sie mit einer Vielzahl anderer persönlicher Zeugnisse vergleicht, die in den letzten Jahren publiziert wurden. Allerdings möchte ich ausdrücklich betonen, um einseitige Akzentuierungen mit der Erzeugung von Katastrophenstimmung zu vermeiden, dass in allen Materialien natürlich auch positive Zukunftsaspekte auftauchen. Durch aktives Engagement in einer der zahlreichen Jugendvereine oder in einer Gruppe der ökologischen Kinderrechtsbewegung auf der Realebene oder durch erfundene Geschichten, Visionen, Träume und Science-fiction-Bilder auf der Phantasieebene werden die negativen Erfahrungen durch die Hoffnung auf eine friedliche, erfüllte und menschengerechte Zukunft kontrastiert.

Ich fasse zunächst zusammen, was sich aus den bisher dargestellten Befunden verallgemeinernd sagen lässt:

1.      Kinder und Jugendliche besitzen in heutiger Zeit im Durchschnitt einen hohen Informationsstand über alle im gesellschaftlichen Zusammenhang auftretenden Gefahrenpotentiale, ob national oder international. Dies ist im Zeitalter der Medienkindheit nicht überraschend. Eher könnten wir darüber erstaunt sein, welches Ausmaß die diesbezügliche Verleugnung bei Erwachsenen erreicht. Sie lässt sich aber durch die verbreitete Erfahrung erklären, dass Kinder und Jugendliche kaum spontan mit Erwachsenen über die täglich auf dem Bildschirm visualisierten Schrecken unserer Zeit oder gar über die damit verbundenen Gefühle sprechen, zumal sie kaum jemals darauf angesprochen werden. Eltern und Kinder schaffen sich auf diese Weise einen wechselseitigen Schonraum, weil sie sich gegenseitig das eigentlich Unerträgliche nicht zumuten wollen.

2.      Kinder denken global. Ich zitiere noch einmal den Original-Ton-Ausschnitt aus einem eineinhalbstündigen Interview mit einem zehnjährigen Mädchen für ein WDR-Pilot-Projekt zum Thema „Was Kinder so denken“. Mir war im Verlauf des Gesprächs aufgefallen, dass Daniela mit viel Mitleid und Mitgefühl über Probleme anderer Menschen erzählte. Ich sprach das an: 

        „Du machst Dir viele Gedanken über andere.“

        Daniela: „Ja, wie es denen geht, und wie man ihnen helfen kann. Das muss man ja machen, sonst müssten ja alle Menschen irgendwann dran glauben.“

        „Wie meinst Du das: ‚dran glauben‘?“

        Daniela: „Sagen wir mal, da ist `n Bürgerkrieg, und dann glauben alle, das ist doch deren Sache. Dann kann der ja nie aufhören, und dann leiden ganz viele Menschen dran, Hunderte oder so, die sind dann tot mit einem ganz jungen Alter, und das nur, weil sich andere keine Gedanken drüber machen. Es wäre gut, wenn sich alle Gedanken über die Frage machen würden: ‚Was passiert, wenn wir jetzt nicht irgendein Mittel erfinden, was, sagen wir mal, die Ozonschicht schützt.‘ Irgendwie kommt es mir so vor, machen sich viel zu wenig Menschen Gedanken darüber. Sollten sich viel mehr darüber machen.“

        „Es scheint Dich eine Menge zu beunruhigen, was noch alles Schreckliches passieren kann.“

Daniela: „Ja, ich glaube, dass es zu viel Plastik gibt.“ 

        „Und warum stört Dich das?“ 

        Daniela: „Na ja, irgendwie, irgendwann denke ich manchmal, irgendwann kann man das nicht mehr stoppen, dann wird es zu voll, und dann kann man so viele Verbrennungsanlagen gar nicht mehr bauen, um das ganze wegzukriegen, das wird dann immer mehr, und irgendwann schlafen wir im Müll.“

        Die assoziative Verknüpfung von Bürgerkrieg, Zerstörung der Ozonschicht, Plastik und erstickenden Müllhalden, beschränkt auf diesen kurzen Interviewausschnitt, spiegelt anschaulich das globale Denken wider, das sich auch in den meisten der zitierten Untersuchungen niederschlägt. Es scheint nicht der drohende Atomkrieg allein oder einer der vielen Bürgerkriege irgendwo in der Welt zu sein, es sind nicht die Atomkraftwerke, die Autos allein, der Beton, die vergiftete Nahrung oder eine der vielen anderen angstauslösenden Zeichen für Zerstörung und Zerfall – es ist das Ganze, das sich als unheimliche Bedrohung zusammenballt. In diesem globalen Denken und Erleben scheint sich noch etwas erhalten zu haben, was die Säuglingsbeobachtung in den letzten Jahren erbracht hat und was von ihr „als ganzheitliches Erleben beschrieben wird, in dem Kognition, Handlung und Wahrnehmung noch keine trennbaren Kategorien sind“ (Köhler 1990). Psychologisch dürfte sich diese Unterscheidung zwischen jüngerem und erwachsenem Erleben zu einem wesentlichen Teil durch eine altersabhängige Veränderung der Abwehrprozesse erklären, bei denen Erwachsene mehr zu einer Verdrängung und Verleugnung von Konflikten tendieren. 

 3. Vor allem die spontan entstandenen persönlichen Zeugnisse über Zukunftsängste speziell in der jungen Generation lassen auf stärkere Identifikationsvorgänge besonders in der frühen Kindheit schließen, die die Komponenten der Einfühlung, des Mitleids und mithin des Leidens verständlicher machen. Durch Umweltkatastrophen sterbende Tiere, wie Seevögel im Ölteppich oder Fische nach einem Chemieunfall, durch Krieg und Landminen in aller Welt verstümmelte Kinder oder solche, die hungernd in stinkenden Abfallhalden nach Nahrung herumstochern, durch Industrieabgase verwüstete Waldstriche, die die Bäume wie Gespenster gen Himmel ragen lassen – alle diese destruktiven Bilder und Erfahrungen können Kinder bis zu bitteren Tränen rühren. Freud verdanken wir eine für diesen Zusammenhang wichtige Beschreibung: „Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen“ (Freud 1913, S. 154).

  4. Leider lassen uns die bisher vorliegenden Befunde über Zukunftsängste in der jungen Generation bei der Frage im Stich, welche krankmachende Bedeutung ihnen bei der Verarbeitung der mit Angst verbundenen inneren und äußeren Konflikte zukommt. Für Fachleute ist ein diesbezügliches Interesse zwar verständlich und nicht unbedeutend, mir scheint aber, dass es im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang keine Priorität gegenüber der Frage besitzt, zu welchen kollektiven Verarbeitungsformen die Zukunftsangst in der jungen Generation führt.

Eine psychotherapeutische Kasuistik

  Bevor ich nach diesem Überblick den Versuch machen werde, die Zukunftsangst mehr zu vertiefen, möchte ich eine kurze Kasuistik voranstellen.  

        Boris ist ein großer, körperlich gesund und kräftig wirkender junger Mann. Im Widerspruch zu seiner attraktiven Erscheinung bestand sein Verhalten in einer starren Körperhaltung, einer nur zögernden Kontaktaufnahme und zähflüssigen Sprache. Insgesamt bot er das Bild einer depressiven Verzagtheit und Resignation. Er kam nicht freiwillig, sondern auf Drängen der in Westdeutschland lebenden Eltern. Er selbst versprach sich nichts von einer Therapie, weil sie seine Probleme nicht lösen könne. Seit seiner Pubertät sei er innerlich permanent mit sterbenden Bäumen, mit der geschundenen Natur und der Weltzerstörung beschäftigt. Damals hätten auch seine Depressionen begonnen, die im Laufe der Jahre immer schlimmer wurden. Bei unserem ersten Gespräch klagte er darüber, daß er keinerlei Zukunftsperspektive sehe und überzeugt sei, innerhalb der nächsten zehn Jahre zu sterben. Er sitze oft tagelang stumpfsinnig in seiner lichtlosen Hinterhofwohnung. Es sei ja ohnedies alles völlig sinnlos. So zum Beispiel auch jeder politische Protest. Er habe früher ein paarmal an Demonstrationen in Wackersdorf teilgenommen, das dann aber aufgegeben, weil angesichts der Übermacht von Militär und Technik jeder Widerstand ohne Wirkung bleibe.

        Nach diesem Bericht über seine aktuelle Lage bat ich ihn um einige Informationen zu seiner Entwicklung. Boris wuchs in einer Akademikerfamilie mit zwei Geschwistern in ländlicher Umgebung auf. Von daher stammte seine Liebe zur Natur. Seine Kindheit und das Verhältnis zu seinen Eltern schildert er als harmonisch. Er wurde musisch erzogen und hatte in der Schule keinerlei Leistungsschwierigkeiten. Nach dem Abitur 1985 leistete er eine knapp zweijährige Ersatzdienstzeit ab und schrieb sich danach in einer westdeutschen Universität für Kunstgeschichte und Philosophie ein. Seine Gefühle von Zukunftslosigkeit und seine Depressionen hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt so verstärkt, daß er sein Studium nie aktiv aufnahm. Statt dessen reiste er 1987 in dem Gefühl, bald zu sterben oder innerlich schon gestorben zu sein, für zunächst unbestimmte Zeit nach Nepal. Als äußeren Grund gab er seinen Eltern ethnologische Interessen für fernöstliche Kultur und Religion an. Real näherte er sich in Nepal dem Tod durch exzessives Fasten mit einem Gewichtsverlust von 20 Kilogramm. Unterstützt wurde der Selbstzerstörungsprozeß durch hohe Einnahmen von Haschisch, Heroin und großen Mengen magic mushrooms. Durch diese Pilze mit einer halluzinogenen Wirkung kam es nach Arztberichten bei dem inzwischen körperlich geschwächten und äußerlich stark verwahrlosten jungen Mann zum Ausbruch religiös getönter Wahnideen und einem so auffälligen und aggressiven Verhalten in der Öffentlichkeit, daß er zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden mußte. Von Indien wurde er in eine deutsche Klinik verlegt und äußerte dort akute Selbstmordideen. Die durch die Drogen ausgelöste Psychose klang nach kurzer Zeit wieder ab. Boris wechselte seinen Studienort nach Berlin und schrieb sich für Ethnologie und Religionswissenschaften ein, ohne seit drei Semestern das Studium aufzunehmen.

Als Analytiker steht man bei solchen Patienten immer vor schwierigen differentialdiagnostischen und behandlungstechnischen Fragen. Liegt bei Boris eine endogene, das heißt konstitutionell und meist erblich fixierte Depression vor, oder gar eine Schizophrenie, die jeder Zeit wieder zum Ausbruch kommen kann? Wäre bei diesen Diagnosen die Erkrankung auch ohne die Umweltbelastung ausgebrochen? Oder stammt sein Leiden aus seelischen Ursachen, die primär in seiner Entwicklung und in seiner Beziehung zu seinen Eltern zu suchen sind? Hat er in diesem Fall seine frühkindlichen Konflikte nur verdrängt und die Umweltzerstörung unbewußt zum projektiven Austragungsort seiner inneren Konflikte gemacht? Wenn man schließlich von einer sich ergänzenden Belastung durch Kindheitserfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Probleme ausgeht: hätten erstere oder letztere zu einer Erkrankung geführt? Oder muß man, wie es die Geschichte von Boris nahezulegen scheint, in letzter Konsequenz davon ausgehen, daß bei einem jungen Menschen die Umweltzerstörung eine psychische Dauerbelastung darstellt, die ausreicht, um eine chronische „Innenweltzerstörung“ zu erklären? Ich habe bisher im Falle von Boris und der vielen anderen leidenden Kinder und Jugendlichen keine schlüssigen Antworten. Auch die wissenschaftliche Erforschung solcher Zusammenhänge steht hier an den Anfängen. Die theoretischen Überlegungen stelle ich hier zunächst zurück. In der Therapie habe ich mich Boris ganz von der Oberfläche her genähert, das heißt von dem ausgehend, was er als Grund seiner Erkrankung ansah – von der Umweltzerstörung. In der zweiten Stunde sprachen wir über konkrete Kenntnisse, Gefühle und Ängste, wobei ich eigene Gedanken ergänzt habe, um ihm mein Verständnis für seine Reaktionen und Befürchtungen zu vermitteln. Ich habe ihm nichts auszureden versucht, sondern einzelne Meinungen ausdrücklich bestätigt. Das dadurch hergestellte Vertrauen war notwendig, um die nächste Schritte einleiten zu können.

Eigentlich hätte man nach psychoanalytischen Erfahrungen davon ausgehen können, daß Boris durch die positive Unterstützung nicht mehr ganz so starr an seiner Überzeugung von der totalen Sinnlosigkeit des Lebens festhalten mußte. Denn jenseits aller begründeten Ängste war zu vermuten, daß er die Umweltzerstörung teilweise auch als Widerstand benutzte, um die Auseinandersetzung mit eigenen Konflikten zu vermeiden. Aber in der dritten Stunde blieb er an den Widerstand fixiert und setzte ihn aktiv als Herausforderung ein: „Wenn Sie meine Auffassung von der ökologischen Situation teilen und meine Verzweiflung darüber verstehen, müssen Sie auch zugeben, daß es sinnlos ist, irgendeine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Ich weiß wirklich nicht, was ich überhaupt tun sollte.“

Mit dieser Provokation stellte mir Boris eine Falle. Wenn ich dagegen argumentiert hätte, wäre meine Glaubwürdigkeit verloren. Sollte ich ihm aber recht geben und damit meine eigene Ohnmacht eingestehen, sähe er sich in seiner Auffassung bestätigt und könnte weiter an seinem Widerstand festhalten. Als Analytiker ist man solche Fallen gewohnt und auf der Hut vor ihnen. Ihr Sinn besteht darin, den Therapeuten zu binden, das heißt ihn ohnmächtig zu machen, und damit die Arbeit an den eigentlichen Konflikten zu blockieren. Oft haben solche Fallensteller masochistische Züge: Sie wollen lieber an ihrem Leiden festhalten als es aktiv verändern. Daß auch Boris nicht frei von ihnen war und sein Leiden mit einem starken Appell verband, ließ sich aus seiner dramatischen Vorgeschichte vermuten. Um der Falle zu entgehen, antwortete ich ihm auf seine Provokation: „Warum sind Sie nach Berlin gekommen, in diese von Mauern eingezäunte Insel? Und warum haben Sie ihr Gefängnis noch enger gemacht, indem sie in eine dunkle Hinterhofparterrewohnung mitten im Häusermeer gezogen sind, fernab von jeder Grünfläche und Natur – und das bei Ihrer ausgeprägten Naturliebe? Wollten Sie sich mit diesen Schritten vielleicht für immer in ihrem Gefühl der Zukunftslosigkeit einmauern?“

Mit dieser Deutung ziele ich bewußt auf Boris‘ Masochismus. Nur wenn man diesen unbewußten Mechanismus verstärkt, wird dem Patienten deutlich, wie selbstschädigend er sich ständig verhält. Er berichtet daraufhin, wie schrecklich und zerstörerisch er diese Großstadt erlebe. Die Stadt könne einen kaputtmachen. Ich sage ihm daraufhin, daß die Umweltzerstörung eine Sache sei, und schlimm genug, aber die Frage, wie man mit ihr umgehe, sei eine zweite Sache. Offenbar habe er eine Neigung, für sich alles noch schlimmer zu machen und noch mehr darunter zu leiden, statt seine Energien darauf zu verwenden, einen Weg aus der Sackgasse zu suchen. Vielleicht ergäben sich daraus, wenn meine Vermutung stimme, neue Schritte in eine entgegengesetzte Richtung als die bisherige.

In der vierten Stunde ist Boris deutlich verändert. Seine Körperhaltung hat sich aufgelockert, das Gespräch läuft flüssiger und in einem engeren emotionalen Kontakt. Er habe über alles nachgedacht. An der fortschreitenden Umweltzerstörung gebe es keinen Zweifel. Aber die Sache mit Berlin habe ihn nachdenklich gemacht. Er überlege, die Stadt zu verlassen und in die Gegend seiner Eltern zurückzuziehen. Dort habe er wenigstens seine Familie in der Nähe und noch alte Freunde. Studieren wolle er zur Zeit nicht. Eine praktische Ausbildung wäre sicher besser. Ihm sei plötzlich eingefallen, eine Agrar- oder Forstwirtschaftslehre zu machen. Dann könne er später immer noch studieren.

Das Thema der konkreten Berufsplanung durchzieht auch die nächsten drei Stunden. Wir sprechen über alternative Landwirtschaft, über Möglichkeiten der Berufsausübung in Dritte- Welt-Ländern und über die Frage, warum ihm diese Ideen nie früher eingefallen seien, obwohl sie für ihn nahelagen. „Ich war durch meine Gedanken an die Umweltzerstörung wie gelähmt“, sagt Boris, „und mir fielen nur Dinge ein, die mir keinen Spaß machten – vielleicht auch nur um mir zu beweisen, wie sinnlos alles ist.“

Nach dieser Stunde fuhr Boris zum Besuch zu seinen Eltern, um sich in der Umgebung über Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren. Er käme danach sicher nochmal nach Berlin zurück und werde sich melden. Einen Monat später teilte mir der Vater mit, der Sohn bemühe sich um eine Lehr- beziehungsweise Praktikumsstelle in der Landwirtschaft und habe Kontakt zu einem landwirtschaftlichen Ausbildungsinstitut aufgenommen. Er käme nicht nach Berlin zurück.

Theoretische Überlegungen zur Zukunftsangst

Ausgangspunkt für die Darstellung der vielfältigen Facetten der Zukunftsangst war die Hypothese, daß es sich bei dieser Angst um eine neuartige Gefühlsqualität handelt, bei der die Beziehung zwischen innerer und äußerer Realität ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen kann. Welche theoretischen Konstrukte bieten sich zur Erklärung der Hypothese an?

Den Angelpunkt für die folgenden Überlegungen bildet die grundsätzliche Unterscheidung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaftsbedingungen, globalen Problemlagen und Zukunftsperspektiven. Historisch ist dieser Punkt genau zu datieren, nämlich auf den 6. August 1945. Hiroshima läutete das Atomzeitalter ein und damit zum ersten Mal die reale Möglichkeit der Menschheitsvernichtung. Zumindest die Szenarien, die in den letzten Jahrzehnten über die Folgen eines Atomkrieges entwickelt wurden (zum Beispiel der „nukleare Winter“), lassen diesen Schluß zu. Hinzu gekommen und von noch größerer Wahrscheinlichkeit ist aber eine historisch ebenfalls völlig neue Vernichtungsmöglichkeit – die durch Technikfolgen bedingten Veränderungen der Biosphäre, die nach allen vorliegenden Berechnungen durch ein Umkippen der Ökosysteme die klimatische Anpassungsfähigkeit der menschlichen Art in absehbarem Zeitraum überfordert. Diese Perspektive hat den Begriff der Zukunft gegenüber der Vergangenheit grundlegend verändert. In letzterer blieben die Folgen von Naturkatastrophen, Kriegen, Epidemien und anderen Verheerungen berechenbar, sie schweißten soziale Gemeinschaften in der tätigen Bewältigung der angerichteten Zerstörungen zusammen und konnten den Glauben und die Hoffnung auf Zukunft und an die Kontinuität menschlicher Geschichte nie ernsthaft in Frage stellen. Dieser Konsens beginnt sich zunehmend aufzulösen. Die Zeichen der Anomie, die in allen fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu beobachten sind, lassen sich nach meiner Einschätzung mit diesem fundamentalen Wandel der menschlichen Geschichte in Zusammenhang bringen. Kinder und Jugendliche als Seismographen gesellschaftlicher Transformationsprozesse – das scheinen alle vorliegenden Befunde zu belegen – reagieren nicht nur als Beobachter, sondern auch als unmittelbar betroffene Opfer dieser Entwicklung. Die Gefahren, denen sie sich ausgesetzt sehen, sind, wie wir sahen, globaler Natur. Für den psychischen Strukturaufbau müssen wir daraus folgende Konsequenzen ins Auge fassen. Das Ich als Instanz der inneren und äußeren Gefahrenabwehr und besonders bei Kindern mit noch gering entwickelten Abwehr- und Anpassungsmechanismen ausgestattet, wird von frühem Alter an mit destruktiven Bildern der Außenwelt inflationiert. Die Gewalt der Bilder verohnmächtigt das Ich aus folgenden Gründen:

1.      Das noch schwache Ich verfügt kaum über Möglichkeiten, sowohl der Qualität als auch der Quantität der Bedrohungen durch eigenes aktives Handeln zu begegnen und sie abzumildern.

2.      Die meist auf dem Fernsehschirm visualisierten Bilder des Schreckens geben nur ein virtuelles Abbild der Wirklichkeit, wodurch diese in ihrem realen Gefahrenpotential anonymisiert und verfremdet wird. Die Verfremdung manifestiert sich außerdem in der Ungreifbarkeit und Unsichtbarkeit vieler Bedrohungen, zum Beispiel der radioaktiven Strahlung und des Arsenals der gesundheits- und umweltschädigenden chemischen Gifte.

3.      Durch den Verfremdungseffekt eignen sich die Bilder als ideale Projektionsflächen für destruktive Impulse und Phantasien, mit denen das Ich die aus der eigenen Hilflosigkeit entstehenden Verteidigungsaggressionen abwehrt.

4.      Über diesen Mechanismus wird das real bedrohliche Objekt in der Phantasie zusätzlich dämonisiert und sein destruktiver Charakter affektiv überdimensional aufgeladen.

Die Verohnmächtigung des Ich führt aus psychologischer Sicht zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und des Aufgebens, von der Streßforschung als „giving up“ bezeichnet, die bis zum Gefühl des Aufgegebenseins auch durch die Gesellschaft reichen können („given up“) (Engel und Schmale 1972), und die wir als Ausdruck eines depravierten Ich-Zustandes auffassen. In ein auf diese Weise geschwächtes Ich kann die Zukunftsangst quasi ungefiltert einfluten.

An diesem Punkt der Analyse wird aber deutlich, daß der Begriff „Zukunftsangst“ zu abstrakt ist, um zu verstehen, wovor sich das Ich wirklich fürchtet. Die größte aller Ängste ist die Angst vor dem Tod. Die Ahnung vor einer drohenden Gefahr in der Zukunft kulminiert in der Antizipation des eigenen Sterbens. Wenn man die zahlreichen Daten, Aussagen und Gestaltungen von Kindern und Jugendlichen zum Thema Zukunft ernst nimmt und in ihrer Summe auf sich wirken läßt, drängt sich in der Tat der Eindruck auf, daß die Angst, eines frühzeitigen und nicht natürlichen Todes zu sterben, einen zentralen Bestandteil der Zukunftsangst ausmacht. Die Ausprägung dieser Angst bereits in jungem Alter scheint mir aber nicht selbstverständlich, sondern einer Zeit geschuldet, die durch das Arsenal ihrer destruktiven Kräfte den Wert menschlichen Lebens immer schonungsloser zur Disposition stellt. In dieser entwicklungspsychologisch keineswegs typischen Todesangst erfährt die Hypothese von der neuartigen und existenzbedrohenden Qualität der Zukunftsangst eine erste Bestätigung. 

Aber das noch unreife, kindliche Ich fürchtet nicht nur den eigenen Tod. Ich möchte an dieser Stelle einen Befund aus der bereits zitierten „Bundesweiten Befragung“ mit 3500 Kindern und Jugendlichen nachtragen. Auf einer Angstskala mit 20 persönlichen und politischen Ängsten stand die Angst, „daß meine Eltern sterben könnten“, an zweiter Stelle der Rangliste; 63 Prozent der Befragten hatten „viel Angst“ davor, weitere 22 Prozent „etwas Angst“. Nach Kenntnis vieler anderer Materialien und der längeren Beschäftigung mit dem Thema erscheint mir heute folgende Erklärung am plausibelsten. Die Inflationierung des Ich mit destruktiven Bildern und Phantasien der globalen Bedrohungen löst nicht nur eigene Todesängste aus. Zumindest im Bewußtsein scheint die Angst vor dem Tod der Eltern sogar zu dominieren. Die Urangst des Menschen setzt bekanntlich mit der Geburt in Form der Trennungsangst ein. Der Tod der Eltern würde den totalen Verlust von Schutz und Geborgenheit bedeuten, der angesichts der potentiell tödlichen Bedrohungen für das Kind eine absolute Katastrophe im Sinne eines endgültigen Verlassenseins wäre. Wir haben es hier also mit einer elementaren Trennungsangst zu tun, die durch das Ich nicht mehr altersgemäß verarbeitet werden kann und sich um so leichter mit der Todesangst verbindet. Die Trennungsangst scheint mir noch durch einen anderen Tatbestand belegbar. Zur Kennzeichnung unserer heutigen Situation und der Zukunft benutzen Kinder und Jugendliche – wie bereits ausgeführt – in auffälliger Häufung folgende Bilder: Beton, Hochhäuser, Plastik, Müll, Fabriken, Roboter, Computer und Technik allgemein. Über ihren realen Gehalt hinaus sind diese Merkmale unserer Zivilisation inzwischen zu Chiffren geworden, die sich als Symbole menschlicher Entfremdung deuten lassen. Sie bedeuten die Aufkündigung von Grundbedürfnissen nach Emotionalität, Geborgenheit, Wärme, Zusammengehörigkeit und Mitmenschlichkeit und drücken darin eine basale Befindlichkeit von Trennung und Getrenntsein aus. Auf der Realitätsebene gibt es kaum einen Zweifel, daß diese zivilisatorische Entwicklung unaufhaltbar ist und sich progressiv beschleunigen wird. Auf die psychische Ebene übertragen ist mit einer entsprechenden Zunahme der Gefühle von Entfremdung und Getrenntsein zu rechnen. Hier dürfte eine weitere wichtige Wurzel der Zukunftsangst liegen (Petri 1995).

Eine dritte Wurzel sehe ich in dem wachsenden Verlust von Hoffnungspotential, wodurch die Widerstandsfähigkeit des Ich zusätzlich geschwächt wird. Hoffnung, so wissen wir heute, ist eine spezifisch menschliche und lebensnotwendige emotionale Kraft, die im Ich gebündelt wird und mit der sich das Subjekt planend und handelnd in eine offene Zukunft hinein entwirft. Wie aber, wenn Zukunft heute gar nicht mehr planbar ist, wenn ernstzunehmende Klimaforscher den Kollaps des menschlichen Ökosystems für die nächsten zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre prognostizieren, für einen Zeitraum auf jeden Fall, der nach der Zeitrechnung von Kindern und Jugendlichen diese in ihrem frühen Erwachsenenalter oder auf der Höhe ihres Lebens treffen wird? Es kommt hier weniger darauf an, wie zuverlässig solche Berechnungen sind oder zu welchen radikalen Gegenmaßnahmen die Menschheit noch in der Lage sein wird. Die kostspieligen, Sorge vortäuschenden, aber Konsequenzen vermeidenden internationalen Klimakonferenzen der letzten Jahre konterkarieren eher alle entsprechenden Erwartungen. Entscheidend für die junge Generation sind die inzwischen tausendfach gespeicherten inneren Objektbilder einer Zukunft, die nach dem Slogan „Gestern stand ich noch am Abgrund, heute bin ich schon einen Schritt weiter“ breite Schneisen in das Hoffnungspotential geschlagen haben. Hoffnung bedeutet Lebenskraft. Zukunftsangst schließt daher die Ahnung ein, daß diese existentiell notwendige Kraft sukzessive ausgehöhlt und vorzeitig verbraucht werden kann.

Wenn man die Zukunft in diesen tieferen Dimensionen betrachtet – Todesangst, Trennungsangst und die Angst vor dem Verlust vitaler Hoffnungskräfte -, erkennt man den ausgesprochen verharmlosenden Charakter, den der Begriff umgangssprachlich angenommen hat. Vielmehr scheint er seine neuartige Gefühlsqualität einem Verdichtungsprozeß zu verdanken, bei dem mehrere elementare Grundängste zusammenfließen.

Auf das innere Repräsentanzsystem bezogen, müssen wir vermuten, daß bei einem von Angst und Aggression inflationierten Ich, das mit Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depression und Vergeltungsaggression reagiert und dessen Wirklichkeitssinn in bezug auf die Zukunftsgestaltung verkürzt wird, auch ein stabiler Aufbau der Identität wenig wahrscheinlich ist. Vielmehr dürften die Selbstrepräsentanzen mit ihren bösen und verfolgenden Anteilen kaum eine Verbindung eingehen, die dem Selbst einen hohen Grad an Unterstützung und Kohärenz garantiert. Im Gegenteil wird durch den Zusammenprall von destruktiver Realität und reaktiver Triebentfesselung ein Zustand präfiguriert, der zu einer Selbst-Auflösung mit den Gefühlen von Entleerung, Sinnlosigkeit, Nichtigkeit und diffuser Lebenswut und, wie in dem Behandlungsfall dargestellt, schließlich zum völligen Realitätsverlust führen kann. Es muß hier nicht ausdrücklich betont werden, daß die pathogenetische Bedeutung makrosozialer Stressoren, ob individuell oder kollektiv, von einer Vielzahl von Variablen abhängig ist und daß der hier dargestellte innerpsychische Verarbeitungsmodus entsprechend unterschiedlich verlaufen dürfte. Außerdem folgt die Darstellung theoretischen Konstrukten, die allerdings von einer relativ breiten empirischen Basis ausgehen. Sollte der Arbeitshypothese einige Plausibilität zukommen, so kann sie für eine weitere vertiefende Forschung von Nutzen sein.

Psychoanalyse ist bekanntlich keine bequeme Wissenschaft, weder in der Therapie noch in ihrer Kulturkritik. Sie wäre in ihrer Legitimation sogar verdächtig, wenn sie ihren kritischen Blick aufgeben und sich den Zuständen der Zeit anbequemen würde. Die Psychoanalyse kann nur dazu beitragen, Hoffnung zu erhalten und Zukunft angstfreier zu gestalten, wenn sie die Krisis der Moderne als „entscheidende Wende“ der Menschheitsgeschichte in ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad ernst nimmt und durch Kritik, das heißt durch prüfende Beurteilung mit ihren wissenschaftlichen Mitteln, vor Einsprüchen und Einmischung nicht zurückschreckt.

Literatur

Engel, G. L./Schmale, A. H.: Conservation-Withdrawl: A Primary Regulatory Process for Organismic Homeostasis. In: Ciba Foundation Symposion 8: Physiology, Emotion and Psychosomatic Illness. London, Amsterdam, New York 1972

Freud, S. (1913): Totem und Tabu. GW, Bd. IX. Frankfurt/M. 1973

Hurrelmann, K: Orientierungskrisen und politische Ängste bei Kindern und Jugendlichen. In: Mansel, J. (Hrsg.): Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohungen. Weinheim 1992

Köhler, L.: Neuere Ergebnisse der Kleinkindforschung. Ihre Bedeutung für die Psychoanalyse. Forum Psychoanalanalyse 6/1990, S. 32-51

Leuzinger-Bohleber, M./Garlichs, A.: Früherziehung West-Ost. Zukunftserwartungen, Autonomieentwicklung und Beziehungsunfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Weinheim 1993

Mansel, J.: Sensibilisierung und Angst Jugendlicher angesichts makrosozialer Risiken. In: Mansel, J. (Hrsg.) a.a.O.

Petri, H./Boehnke, K./Macpherson, M./Meador, M.: Zukunftshoffnungen und Ängste von Kindern und Jugendlichen unter der nuklearen Bedrohung. Analyse einer bundesweiten Pilot-Studie. Psychologie u. Gesellschaftskritik, 11, H. 2/3, 1987, S. 81-105

Petri, H.: Umweltzerstörung und die seelische Entwicklung unserer Kinder. Zürich 1992

Petri, H.: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus! Von der Entfremdung zur Fremdenfeindlichkeit in der jungen Generation. In: ders.: Lieblose Zeiten. Psychoanalytische Essays über Tötungstrieb und Hoffnung. Göttingen 1995

Rusch, R.: So soll die Welt nicht werden. Kinder schreiben über ihre Zukunft. Kevelaer 1989

Der Autor, Prof. Dr. Horst Petri, ist Arzt und Hochschullehrer für Psychotherapie und Psychosomatik an der FU Berlin sowie Psychoanalytiker in eigener Praxis. Die vorstehende Auseinandersetzung erschien mit Genehmigung von Prof. Dr. Petri in DER NAGEL 59/1997

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