NAGEL-Redaktion – ?Die Republik filzt?

Erschienen in ?Sonntag aktuell? am 9. November 2003 unter

?Die Republik filzt?

Filz auf dem Vormarsch

Okay, die Halskette kratzt vielleicht ein bisschen. Aber dafür ist sie voll im Trend. Denn die  feuerroten Kugeln aus feinster Merinowolle haben nun überhaupt nichts mehr mit dem zu tun, was einem sofort durch den Kopf schießt, wenn von Filz die Rede ist: Grau, hausbacken, öko, unflott.

Filz hat sich gemausert, er bekennt Farbe und zeigt sich in immer originelleren Formen und Funktionen: Als perlenbestickte Textilvase – keine Angst, das Wasser bleibt im Glaseinsatz, als Seidenschal, der mit einem Gespinst aus Wolle überfilzt wurde oder als winziger extravaganter Kopfputz mit ausladendem Federvorhang – zum Ärger der Hinterbänkler im Theater.

Weit  harmloser ist das Filzkissen mit eingearbeitetem Blattmuster oder das rote Filzröschen als Schmuck für den Ringfinger. Die riesige karierte Einkaufstasche soll kiloweise Lebensmittel tragen können, denn das Material ist – man weiß es aus Filzpantoffelzeiten – robust. Angesagt ist im Jahr der neuen Natürlichkeit bei der Weihnachtsdeko auch Christbaumschmuck aus Filzkugeln mit Glitzerzierrat, oder vielleicht soll?s ja auch gleich der kleine grüne Filzweihnachtsbaum mit integriertem Kerzenhalter sein?

Angesichts vereister Autoscheiben ist der giftgrüne Handschuh-Drachen, aus dessen Maul die Zähne eines Eiskratzers blitzen, ein wahrer Schatz. Katzen dagegen würden die ?Kuschelmuschel? als Schlafplatz wählen, besonders wenn die noch leicht nach Bergschaf riecht. Vorbei sind auch die Zeiten als warme Hausschuhe graubraun und geräumig waren: Jetzt ziert zyklamroter Filz im Till Eulenspiegel Look  den Fuß. Wer will, kann sich mittlerweile komplett in Filz kleiden, bis auf  Unterwäsche ist alles zu haben.

Die Schweizer Designerin Helga Ritsch geht allerdings noch einen Schritt weiter: Sie macht Möbel aus Filz, zum Beispiel einen Beistelltisch aus vielen Filzplatten mit einer Abdeckung aus Glas. Auch ihre Kollegen Claudia Clavout-Merz und Ralph Feiner  präsentierten im vergangenen Jahr im Badischen Landesmuseum Karlsruhe anlässlich der Ausstellung ?Europäische Filzkunst? textiles Wohnen einmal anders: Eine schnörkellose ?Liege?, bestehend aus ?Walliser Schafwolle gefilzt? und Chromstahl.

?Unsere Sachen gehen gut, je kälter und schmuddeliger das Wetter wird?, berichtet Heike Lessing, die ihren Job als Wirtschaftinformatikerin aufgab als sie Mutter wurde und dann zusammen mit ihrer Freundin Andrea Wilkens beim Filzen ihre kreative Seite entdeckte. Inzwischen fertigen und vertreiben sie unter dem Namen  ?filzraum? Wohnaccessoires, Schnickschnack, Gefäße und so genannten Kinderkram – wobei sich hinter dem auch eine gefilzte Ritterburg mit rotem Tor und lila Zinnen verbergen kann.

Vor gut etwa zwei Jahren verließ das uralte Handwerk seine Öko-Ecke und findige Filzerinnen bewiesen, dass sich mit dem natürlichen Material sehr viel mehr machen lässt als niedliche Waldorfzwerge, putzige Pilzhäuschen oder unförmige Joppen für Müslimänner. Der Siegeszug begann so richtig als die ersten gefilzten Eiermützen auftauchten: Die gefielen allgemein, weil sie zum ersten Mal zeigten, dass Filz witzig sein kann: So wurde er salonfähig und hielt Einzug in Boutiquen und Lifestyle-Journale .

Die Eierwärmer dürften aber auch maßgeblich schuld daran sein, dass sich inzwischen massenhaft  Frauen in einer Art geheimbündischen Zirkeln zusammenschließen, um vorzugsweise abends in heißer Seifenlauge zu panschen bis die Hände schrundig sind und sie der Muskelkater nach dem Walken ihrer verfilzten Werkstücke zur Pause zwingt. Die einschlägigen Kurse, in denen gelernt wird, wie Schmuck, Accessoires, Stoffe und Taschen hergestellt werden, sind im Nu belegt, beobachtet Susanne Rommel, die den Fachbereich Werken an der Stuttgarter Volkshochschule leitet. 

Filzen hat sich zum Trendhobby entwickelt, und filzen ist Frauensache. Den Novizinnen wird deshalb in nachfeministischen Zeit die Faustregel für den richtigen Umgang mit der Wolle auch schon mal so erklärt: ?Beim Filzen ist es wie bei einem Mann. Der Druck muss dauernd erhöht werden?.

Eigentlich passiert dabei nämlich genau das, was jeden guten Pullover ruiniert, der versehentlich im falschen Waschgang gelandet ist. Die Wolle wird mit heißem Wasser besprengt, mit Seife geschmeidig gemacht, erst gestreichelt, dann fester gefasst, um später auch noch auf möglichst ruppiger Unterlage gerollt und gedrückt zu werden. Das geht solange bis sich die Wollfasern zu einem unentwirrbaren festen Gespinst verheddert haben. Zum Schluss wird das Stück in Form gezogen.

Im 5. Jahrhundert vor Christus sollen Nomaden in Sibirien erstmals die Technik entdeckt haben. In Russland und der Mongolei hat das Filzen bis heute eine lange Tradition, und Joseph Beuys wird nachgesagt, dass die Rettung nach seinem Flugzeugabsturz auf der Krim der Grund für seinen Filztick war: Die Tartaren hatten ihn gefunden und zum Schutz vor Wind und Wetter in Filz gewickelt.

In unseren Breiten fasziniert die Freizeit – Filzer der schnelle Erfolg beim Werkeln.  Filzen braucht im Gegensatz zum Nähen keine lange Vorbereitungszeit. Selbst spontan an der Ecke des Küchentischs funktioniert die Bastelei. Filz ist geduldig und deshalb verträgt er sich sogar mit quengelnden Kindern, denn es macht ihm nichts aus, wenn er halbfertig liegen bleibt und erst Tage später weiter bearbeitet wird. Auch die Materialkosten halten sich in Grenzen. Dass der wollige Schnickschnack im Laden dennoch seinen Preis hat, liegt an der Arbeitszeit. Gut Ding will Weile haben, auch bei Routiniers wie Heike Lessing: ?Obwohl ich schon hunderte Eiermützen gemacht habe, dauert es eben immer noch 40 Minuten, bis eine fertig ist.? Schneller kann die Wolle nicht. Filzen ist nichts für Ungeduldige. Es hat immer noch das gleiche Tempo wie vor 7000 Jahren.

Sybille Neth

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von Sybille Neth im April 2004 hier ins Netz gestellt.

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