Umwelt als Spiel- und Lernraum

Von Wolfgang Zacharias

Prolog

Da wird bei Theodor Fontane in seinen Erinnerungen von den Spielplätzen, „den wichtigsten Orten der Kindheit“ erzählt, im Haus, Keller, Dachboden, tief unten im Heu des Stallbodens, am Hafen und in der weiten Umgebung zwischen Wald, Moor, Dünen und Meer. Die Kinder hatten dort ihre bedeutungsvollen Orte, beispielsweise „Störtebeckers Kul“, für Fontanes Selbstbewusstsein wohl ein zentrales Erlebnis, wie er erzählt: „Dies war ein tiefes Loch, richtiger ein mächtiger Erdtrichter, drin der Seeräuber Störtebecker, der zu Anfang des 15. Jahrhunderts die Nord- und Ostsee beherrschte, mit seinen Leuten gelagert haben soll. Gerade so wie wir jetzt! Das gab mir ein ungeheures Hochgefühl, Störtebecker und ich! Was muss ich für ein Kerl sein!“

Was müsste man für eine Pädagogin, ein Pädagoge sein, um so was bei den Kindern auszulösen. Und gewiss war Klein-Fontane höchst aufnahmefähig für entsprechende geschichtliche Hintergründe, die Hanse und die Seefahrt, und die damit zusammenhängende ganze weite Welt. Bilder, Bücher, Geschichten, Globus, Landkarten, Segeltechniken, wie das Wetter und die Sterne funktionieren und der Kompass – vom Fokus „ich und Störtebecker“ war wohl alles zu erschließen, im Prinzip auch im Sinne schulischer Bildung, wenn auch vielleicht nicht mit ihren Methoden.

Unsere eigene Interpretation in Sachen „gelebter Raum“ bzw. „Umwelt als Lernraum“ sowie Verhältnisse von realen Orten und Atmosphären einerseits, Imagination und Phantasie als ästhetisches Vermögen der Kinder andererseits betreffend: Theodor Fontanes innere Vorstellungswelt war wohl durch lebhafte Phantasietätigkeit illuminiert. Und im Spiel werden sich die Freunde, seeräubernd, ihre Umwelt erobert, ´angeeignet´, wie man heute so sagt, haben, indem sie eine eigene imaginierte, den Alltag überhöhende Welt in diese hineinprojiziert haben – nicht nur als Abenteuer im Kopf. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers kommentierte:

„Erzählungen, Abenteuergeschichten, bebildert aus Büchern, Realitätsversatzstücken und produktiver Einbildungskraft mit Wirkungen auf das aktivierte Subjekt, die kindliche Weltaneignung waren die Motoren des Wechselspiels zwischen umgebender Realität und vorgestellten wünschenswerten Projektionen.“ (Oelkers 1983)

  1. Blick zurück nach vorn: Die Aktualität von Spiel und Kultur mobil

Einerseits: Wir in München haben 2002 unser „30-jähriges Spielmobiljubiläum“ gefeiert: Wer hätte das gedacht, damals 1972, als wir, initiativ und ehrenamtlich, unbezahlt und experimentell-engagiert, erstmals einige Wochen in den Sommerferien mit dem alten englischen Doppeldeckerbus und anlässlich der Olympischen Spiele in München durch die Stadtteile gefahren sind, abseits und auch etwas alternativ zum internationalen olympischen Rummel (vgl. Mayrhofer/ Zacharias 1973). Daraus ist, entsprechend auch der ersten Initiativen in anderen Städten wie Berlin und Köln, die „mobile Spielanimation“, die „Methode Spielmobil/ Spielbus/ Spielaktion“ geworden: als Teil kommunaler Kinder- und Jugend(kultur)arbeit, als besonders effiziente Form, die Lebenswelten der Kinder und Familien vor Ort anzureichern, qualifizierte und umweltbetonte („sozial-räumlicher Ansatz“) offene Spiel- und Lernräume anzubieten: Das ist mobile Jugendarbeit und ein spielpädagogisches Berufsfeld vor allem in kommunalen Kontexten (vgl. dazu Grüneisl/ Knecht/ Zacharias 2001).

Andererseits: In der bildungspolitischen PISA-Nachfolgediskussion auch entsprechend der spiel- und kulturpädagogischen „PISA-Schieflage“ einer „gePISAckten Bildung“, jedenfalls was die schul- und unterrichtszentrierte Nach-PISA-Diskussion betrifft, sind Stichworte auch neu aufgewertet worden, die z.T. eigentlich längst in Spielmobil- und Spielpädagogik-Kreisen selbstverständlich sind, sozusagen zum „Begründungsinventar“ gehören, wie z.B.

Lebenswelt als Lernwelt (vgl. Deutsches Jugendinstitut, Jens Lipski 2002)
Bildung ist mehr als Schule (vgl. Leipziger Thesen 2002)
Spiel bildet (vgl. Gerd Knecht u.a.)
Vielfalt der Lernformen (vgl. Streitschrift "Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe" des Bundesjugendkuratoriums)
Die Bedeutung des informellen Lernens
Bildung in eigener Regie: Selbstbildung - Bilden heißt "sich bilden" (Hartmut v.Hentig)
Partizipation und Biographiebildung: Das Bild vom "kompetenten Kind" (Dieter Baacke)
Erwerb von Schlüsselkompetenzen durch, mit Spiel, Kultur, Medien (vgl. Modellprojekt der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung)
"Lernziel Lebenskunst" und "Kultur leben lernen" (vgl. BKJ 2000/ 2002)

Und wie die aktuellen Stich- und Schlagworte so alle heißen, zusammengefasst in der Forderung nach einer neuen „Kultur des Aufwachsens“ als öffentliche Aufgabe (vgl. 10. Kinder- und Jugendberichtbericht 1998, BMFSFJ)

Und wir, die „Münchner“ haben einige zentrale Orientierungen bei der Entwicklung unserer praktischen und konzeptionellen Arbeit begleitet, bei denen diese aktuellen Trends eigentlich schon immer orientierend und selbstverständlich waren, z.B. die Rede vom

"gelebten Raum" und der "gestalteten Zeit" in flexiblen, mobilen und offenen Angebotsformen: Spiel und Kultur vor Ort und für alle, meist auch "umsonst und draußen"
"Ökologie des Spielens und Lernens": Das meint die Betonung des "Mensch-Umwelt-Verhältnisses" als besonders erfahrungsintensiv und aktivitätsstiftend für Kinder und Jugendliche - insbesondere wenn diese Umwelten für alle abwechslungsreich und mit vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten, Situationen, Materialien, Objekten, sozialen und kulturellen Phänomenen angereichert sind: für Spiele, Experimente, Gestaltungen, Entdeckungen, Treffs, Spiel-Regelungen, Teilhabeerfahrungen. Zum Beispiel als "Kinderöffentlichkeiten" - wie auch ein prominentes Stichwort der 70er Jahre hieß (Oskar Negt) und als neu entdeckte eigenständige "Kinderkultur" einschließlich Medien (Heinz Hengst) - heute im Horizont von "Medienkindheit" in der "Informationsgesellschaft" und in der Spannweite von "Sinnenreich und Cyberspace" von besonderer Bedeutung.

Übrigens kann man die Spielmobile auch mit dem „sozialökologischen Ansatz“ der Entwicklungspsychologie (Bronfenbrenner, Baacke u.a.) wie auch dem „territorialen bzw. sozialräumlichen Ansatz“ der Sozialpädagogik (Lessing, Deinet u.a.) begründen.

Wir, die Spielmobiler, realisieren das Ziel alltagspraktisch: „Umwelt als Spiel- und Lernraum – Lebenswelten als Spiel- und Lernwelten“: Durch Anreicherung, durch Qualifizierung, durch Inszenierung von Orten und Räumen, und als partnerschaftlich-partizipative „Lobby“ für Kinderrechte und kindliche, spielerische Raumnutzungen: Die bespielbare Umwelt und Stadt.

Exkurs: Die „Ökologie des Spiels“

Anlässlich eines der ersten Spielmobiltreffen in München 1983 ist ein Text zur „Ökologie des Spielens“ entstanden, der eigentlich nach wie vor aktuell und begründend ist – und deshalb ausführlich im folgenden und im Original wiedergegeben werden soll:

„Von einer ,Ökologie des Spielens und Lernens‘ zu sprechen oder von einer ,Ökologie der Erfahrung in Kindheit und Jugend‘, knüpft an Begriffe der Sozialwissenschaften und der Sozialisationsforschung an. Dort wird von einer ,Ökologie der menschlichen Entwicklungen‘ (Urie Bronfenbrenner) gesprochen. Der Begriff ,Ökologie‘ hat dabei nicht die eher engere, biologische Definition als Naturgemeinschaft verschiedenster Lebensformen. Mit auf menschliche Verhältnisse bezogener Ökologie‘ wird an die altgriechische Herkunft des Wortes angeknüpft. ‚Oikos‘ hieß das Haus, der gute Ort, das Gefüge des häuslichen Lebens, in dem Menschen, Dinge, Zeit und Raum eine funktionale Ordnung eingingen: Mit ‚Ökologie‘ im Zusammenhang mit menschlicher Lebenswelt und mit menschlicher Entwicklung ist dann gemeint: Eine vom Menschen selbst gestaltete und gestaltbare Umwelt, Verläufe und Abhängigkeiten in ihr, ihr funktionales Gleichgewicht. Es geht um den Alltag, es geht um einen realen definierbaren Lebensbereich mit sozialen und räumlichen Kriterien.

Urie Bronfenbrenner (1981, S.37), der Vater des ökologischen Denkens in der Pädagogik, bezogen auf das Aufwachsen der Kinder, definiert: ‚Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigem Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche.‘ Qualitätsmerkmale für wünschenswerte Entwicklungsverläufe sind dann anregungsreiche, erfahrungsintensive Umwelten, unterschiedliche wechselnde Situationen, mit denen sich Kinder und Jugendliche auseinandersetzen können: Sie bilden ein ‚Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen‘, in die das Kind verwickelt ist, sich aktiv einbringt. Den Wechsel zwischen verschiedenen Lebensbereichen, das Aneignen neuer Bereiche nennt Bronfenbrenner ‚ökologischen Übergang‘. Positiv bewältigte ‚ökologische Übergänge‘ bezeichnet Bronfenbrenner als besonders entwicklungsfördernd. Was heißt das nun für uns als Pädagogen und Planer in Sachen SPIEL?

‚Ökologie des Spielens‘ wäre dann eigentlich eine Sichtweise, die versucht, die Vielfalt des Spielens in der Alltagsumwelt zu erhalten, zu erweitern, oder, wo diese aus dem Gleichgewicht ist, diese Vielfalt wieder herzustellen. Das ist eigentlich analog zum traditionellen ökologischen Denken: Gleichgewichte erhalten, regionale Vielfalt erhöhen, Defizite ausgleichen …

Es ist nun die Frage, wo und wie in Kindheit und Jugend Spielen als wichtige Erfahrungsform bedroht ist, aus dem Gleichgewicht, z.B. in Sachen Abstraktheit und Entsinnlichung kommt, und wie wir als Spielplaner und Spielpädagogen darauf reagieren können.

Es geht also darum, Umwelt als vielseitige Spielumwelt instand zu setzen, sowohl

für raum- und materialbetontes Spiel an unterschiedlichen Orten einer Umwelt und zu frei rhythmisierbaren Zeiten,
für freies Spielen ohne Erwachsene (natürliche Situationen) und für Spielen mit Erwachsenen (geplante Situationen),
für Spielen mit Realitätsgehalt (Ernstfälle) wie auch für Phantasiespiele (Fiktionen),
für Spielen mit sinnlich-körperbetonten wie auch inhaltlich-abstrakteren Dimensionen, für wilde und besinnliche Spiele,
für regelhafte wie auch für frei-assoziative Spiele,
für Spielen in unterschiedlichen sozialen Bezügen und Gruppenstrukturen wie auch alleine
für Spiele sowohl mit je aktuellster Technik als auch in naturbelassenen Umwelten und mit natürlichen Materialien, z.B. den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft.

Wo die Bedingungen, die Gelegenheiten für das eine oder andere einfach in der Lebensumwelt der Kinder fehlen und Kinder nicht einmal die Chance, die Wahlfreiheit zu solchen unterschiedlichen Spielerfahrungen in ihrer ‚menschlichen Entwicklung‘ haben, ist die ‚Ökologie des Spielens und Lernens‘ gestört.“

(Der Text von 1983 ist enthalten als Dokument in: Grüneisl/ Zacharias (Hg.): Kulturpädagogisches Lesebuch Nr. 5: 30 Jahre Spiel & Kultur mobil in München, München 2002)

  1. Spiel bildet – Spielen ist mehr

Wenn wir von „Umwelt als Spiel- und Lernraum“ sprechen und dabei vor allem den „gelebten Raum“, aber auch offenen, zugänglichen, vielfältigen, realen, materiellen Raum als „Spiel- und Lernumwelt“ – mit und ohne Spielmobile und SpielpädagogInnen – als entscheidende Qualität des aktiven, experimentellen und raumgreifenden Kinderspiels betonen, dann gilt es, sich eines aktuellen Begriffs von „Spiel“ zu versichern.

2.1. Der „homo ludens“

Der moderne Spielbegriff ist im Bild des „homo ludens“ (Huizinga 1934/ 1954) gefasst. Er ist dann ja durch Schillers „Briefe zur Ästhetischen Erziehung“ (Schiller 1773/ 2002) besonders salonfähig bzw. prominent geworden und als „Urphänomen Spiel“ vielfach thematisiert. So wurde er früh ins Pädagogische, auch mit dem Problem seiner Instrumentalisierung und der Gefahr des „Spieleverderbens“ gewendet. Daran sei zumindest „legitimatorisch“ erinnert, ohne im Detail darauf einzugehen.

Zur Vergewisserung: Der Brockhaus (1999, Bd 13, S.200) definiert Spiel als „Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck lediglich aus Freude an ihr selbst ausgeübt wird und mit Lustempfinden verbunden ist. Spiel findet sich bei Tieren und Menschen. Die klassischen Theorien verstehen Spiel als Ein- und Vorübung wichtiger Anlagen und Instinkte, als Erholung und Entlastung oder als Abfuhr von Affekten und Triebregungen“.

Es wird weiterhin benannt: „Spiel als Ausdruck des schöpferischen Treibens des Menschen“, „Spielerisches Handeln als Grundlage kultureller Tätigkeit“, „Die Bedeutung des kindlichen Spiels in der Pädagogik und der Psychotherapie. (Dem lassen sich dann bei Bedarf Gewährsleute zuordnen: Schiller, Huizinga, Fröbel, Winnicott – bitte sehr!)

Spiel in anthropologischer Sicht: „Die Bestrebungen, das Spiel mit Hilfe ,seines Kerns‘ auszuzeichnen, gehen Hand in Hand mit der Behauptung, dieser sei eine fundamentale anthropologische Eigenschaft, so dass das Wesen des Spiels zugleich jenes des Menschen ausmache.“ (Gebauer in Wulf 1997, S.1038) Und das ist das (definitorische) Problem einerseits, die (ganzheitliche) Chance andererseits:

„Die Verschiedenheit der Blickpunkte auf das Spiel ist also nicht das Eine, sondern die Veränderbarkeit der Hinsichten.“(a.a.O., S.1038) Diese polyvalente Komplexität im Begriffsspiel ist ähnlich mehrperspektivisch wie bei Kunst, Kultur, Ästhetik, Bildung. Es gilt also von einem je erweiterten Verständnis auszugehen, ganz allgemein, sowie speziell und je nach Interesse auch eine akzentuierte Perspektive einzunehmen, z.B. Spiel als ästhetisch-gestaltende Aktion- und Erfahrungs-/ Erkenntnisform im Umgang mit sich und der Welt.

Dazu doch ein Definitionsvorschlag, der durchaus in Analogie zu Kunst und Kultur zu setzen und zu lesen ist:

„Spiele bilden Welten, die für sich stehen können und die relative Autonomie besitzen, aber zugleich auch Bezug auf eine (oder mehrere) Welt (oder Welten) außerhalb des Spiels nehmen. Spiele sind, insofern sie Bezug auf eine gegebene Welt nehmen, nachgeordnete Welten. Nachordnung besteht in einem logischen Sinn, nicht in einem kausalen oder zeitlichen. Es ist möglich, dass ein Spiel in eins mit der Alltagswelt, auf die es Bezug nimmt, entsteht. Das heißt nicht, dass Spiele einfache Abbilder oder Widerspiegelungen einer sozialen Welt sind; die Bezugnahme ist komplexer. Aufgrund ihrer paradoxalen Grundstruktur enthalten Spiele keine eindeutigen Aussagen, weder zustimmende noch ablehnende, über die vorgeordnete Welt. Es gibt Spiele, deren Organisationsprinzipien denjenigen gleichen, die das Alltagshandeln regeln. In diesem Fall besteht ein realistisches Verhältnis zwischen beiden Welten.“ (Gebauer in Wulf 1997, S.1042)

Das ist wohl der mögliche, historisch-anthropologische Kern und Aspektereichtum des Spiels in aktueller Interpretation, brisant gerade bezogen auf die neuen digitale Spiel- und Phantasiewelten.

Den anthropologisch-historischen Reichtum an Aspekten des Spiels bzw. dessen Definitionsweite fasst Gunther Gebauer dann so zusammen mit Bezug auf die „Säulenheiligen“ der Spieltheorie der letzten Jahrzehnte:

„Bereits Huizinga hatte als wesentliches Merkmal des Spiels den Ernst herausgestellt. In Batesons Analyse wird diese Charakteristik zu einer spielimmanenten Wahrheit verschärft. Caillois und Geertz zeigen eine Korrespondenz von fundamentalen Prinzipien des Spiels mit jenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf. Von Norbert Elias wird schließlich die Wirklichkeit des Spiels – die Echtheit und Intensität der Emotionen – als wirklicher und wahrer als das soziale Leben behauptet. Ich habe in meiner Diskussion neuerer Spieltheorien die traditionelle Kennzeichnung des Als-ob und des Scheins umgeformt in eine Beschreibung des Spiels als mimetischer Welt, die, auf die soziale Wirklichkeit bezogen, einige ihrer Aspekte mit besonderem Nachdruck darstellt, indem sie diese wie auf einer Bühne aufführt. Der Eindruck, das Spiel sei wirklicher als die Wirklichkeit, entsteht daraus, dass der Spieler sich mit seiner Aufführung vollkommen identifiziert, dass er mit ihr vollkommen eins wird. Er glaubt an sein Spiel (Bourdieu 1980, S. 135): Er lebt in der illusio seines Spiels.“ (Gebauer in Wulf 1997, S.1047)

Dies erklärt ja dann und aktuell auch die Faszination der Computerspiele bei Kindern und Jugendlichen, vielen vor allem pädagogisch tätigen Erwachsenen unverständlich und so nicht nachvollziehbar: Ihr Problem und oft auch professionelles Defizit im offenen akzeptierenden Umgang mit den „spielkompetenten Kindern“.

Der kunst- und kulturpolitisch aktive Philosoph bestätigt die anspruchsvolle Perspektive des Spiels als Interaktion: „Der homo ludens kann aus einem Spiel aussteigen, und er kann das Spiel modifizieren. Der homo ludens erfindet und legt Strukturen, er richtet sich nach den von ihm erfundenen und etablierten Regeln der Interaktion“. (Nida-Rümelin in Rötzer 1995, S. 139). Natürlich ist das sowohl die gesellschaftliche wie auch bildungsrelevante, z.B. kunst- und kulturpädagogische Bedeutung der Künste und der Spiele.

„So verstanden ist der homo ludens im Vergleich zum homo sociologicus und zum homo oeconomicus näher an der gesellschaftlichen Realität. Der homo ludens vereint Elemente des homo oeconomicus und des homo sociologicus; er ist interessen- wie regelorientiert, aber er geht in einem wesentlichen Punkt über die beiden anderen Paradigmen hinaus. Für ihn hat die eigene Lebensform je individuell ebenso Entwurfscharakter, wie kollektiv gesehen die Gesellschaftsform als Ganze.“ (a.a.O., S.140)

Und mit Blick auf die aktuellen, zukünftigen virtuellen Spielkulturen könnte es, wird es auch zu einem überraschenden „revival“ des „homo ludens“ im Spiel zwischen „Sein und Schein“, bzw. in der medialen Aufwertung des „schönen Scheins“ (Rötzer 1991) und der technologisch möglichen „künstlichen Paradiese“ (Welsch 1996) kommen – als neue „Aktualität des Ästhetischen“ weit über die Kunst hinaus, mit dieser aber als symbolischen Zuspitzung. Und mit der balancierenden Folge einer „Revalidierung“ des Authentischen, Einmaligen, Ereignishaften, Sinnlich-Eindrücklichen, des „Merk-Würdigen“, das im medialen und digitalen Kosmos neue Aufmerksamkeit erhält.

Der Medienspezialist und Medienphilosoph Florian Rötzer zur Zukunft des Spielens im Medienzeitalter und der Netzwerkgesellschaft: „Gegenwärtig deutet einiges darauf hin, dass wir einer Zukunft entgegengehen, in der sich nicht nur kommerzielle Video- und Computerspiele durch die Verbreitung von interaktiven und vernetzten Medien weiter durchsetzen werden, sondern dass sich auch unsere Einstellung zum und unser Verständnis vom Spiel verändern wird,“ Florian Rötzer zitiert Joseph Weizenbaum: „Der Computer ist also ein Spielplatz, auf dem jedes erdenkliche Spiel möglich ist.“ Rötzer spricht auch von der Aussicht auf eine neue „ludische Kultur“, in der sich eben der „homo ludens“ endlich ganz verwirklichen kann. Dies scheint – nach Rötzer – in aller Freiheit möglich durch den elementaren Spielcharakter des Computers und des Internet entsprechend Nutzungsvielfalt und globaler Flexibilität im – symbolischen – Umgang mit Zeiten und Räumen. Es geht um die prinzipielle Zugänglichkeit und Vernetzung von „allen mit allen“ und von „allem mit allem“. (Rötzer 1995, S.177) Eine schöne Aussicht?

2.2. Dimensionen des Spiels mit der Tendenz „Ganzheitlichkeit“

Spielen ist eine mehr oder weniger „ganzheitliche“ Aktions- und Lernform, im Prinzip offen, freiwillig, subjektorientiert.

Dies schließt dann leicht entsprechend organisatorisch-institutioneller Rahmenbedingungen des reflexiven Lernens Vielfalt und Aspektreichtum aus: Die „Polyvalenz“, die Mehrperspektivitität und Deutungsoffenheit des Gegenstands, die den Spielen und Künsten, den Kulturen und symbolischen Formen innewohnen, auch dem je einzelnen Kunstwerk, einem kulturellen Geschehen und dem offenen Spielprozess.

Das übrigens ist ja ein traditionelles kunst- und kulturpädagogisches Dilemma: Die rahmenden Zurichtungen der Lern- und Erfahrungssituation z.B. für Kinder und Jugendliche droht die entscheidenden Potentiale des Gegenstands, ihre profilierende Differenz zu anderen Wissens- und Könnensformen, z.B. der Mathematik, der Naturwissenschaften des funktionalen und interpretierenden Sprachgebrauchs, der Aneignung historischer, geographischer Wissensbestände, zu verwischen, bzw. zu marginalisieren oder auch im spezifisch je subjektiven Gebrauch zu verhindern. Den „Eigensinn“, z.B. des Spielens, der Phantasie und der Entscheidungsfreiheiten dabei.

Das Etikett „Ganzheitlichkeit“ z.B. von Kunst und Spiel hat aufeinander verwiesene, ineinander verwobene Dimensionen. Beispielhaft seien hier einige aufgezählt – ohne Anspruch auf besondere Systematik und Vollständigkeit.

Das Kinderrecht auf "Spiel" mit Partizipationschancen

Die 1989/1990 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention nennt in § 31 Spiel, Kunst, Kultur in je eigenen Formen als unveräußerliches Kinderrecht – ebenso wie „Bildung“ in angemessener Form und für alle. Verbunden ist dies mit dem Recht, bzw. dem zu verwirklichendem Postulat der Teilhabe der Kinder und Jugendlichen an Kunst und Kultur, nicht nur der der Erwachsenen, sondern in der Verwirklichung ihrer eigenen Formen von kulturellem Ausdruck, z.B. der Gestaltungsaktivität des Spiels und der tätigen Weltaneignung. Dieses „Partizipationsgebot“ ist im real existierenden, strukturiertem und institutionellem Alltag von Kindheit und Jugend noch keineswegs ausreichend verankert und realisiert. (vgl. Bartscher u.a. 2002, S.1051 ff.)

Sinn und Sinnlichkeit, Emotion und Reflexion: Das "Ästhetische"

Es sind die wohl entscheidenden Potentiale des „Ästhetischen“, dass im rezeptiven („Anschauung“) und produktiven („Gestaltung“) ästhetische Umgang, bzw. in der ästhetischen Erfahrung mit sich und der Welt Sinne und Bedeutungen, Inhalte im Wahrnehmungsprozess zusammenfallen. Dabei sind sowohl Empfindungen, Emotionen wie auch Erkenntnisse und Wissen miteinander verbunden (vgl. z.B. Seel 1996, Duncker in Neuss 1999). Dies ist „bildend“. Es ist fast ein Gemeinplatz – Kunst und Spiel ganz allgemein betreffend.

Zwei Belegzitate mit Verweis auf entsprechende Diskurskontexte, die das Motiv „Ästhetische Erkenntnis“ bzw. „Ästhetische Erfahrung“ ausgehend vom „Sinn der Sinne“ begründen: „Etwas in einer sinnlichen Erscheinung zu vernehmen“, so formuliert Martin Seel (2000, S.50) die Bedeutung ästhetischer Wahrnehmung als ein spezieller Modus von Wahrnehmen. Als „Ästhetik des Erscheinens“ hat Seel das aktuelle Zentrum des Ästhetischen bestimmt.

Spiel im weiten kulturellen Verständnis ist die kindliche Form ästhetischer Aktivität, ausgehend von sinnlich motivierter und stimulierter Weltaneignung. Und das ist der mögliche immaterielle und bildende Mehrwert: „Denn der Mensch beruhigt sich nicht bei dem puren Faktum seiner sinnlichen Organisation, er sieht etwas darin, einen Sinn, und wenn er ihn nicht findet, gibt er ihm einen und macht etwas daraus.“ (Plessner 1980: 332)

Zeiten und Räume als Möglichkeiten und Wirklichkeiten

Im Spiel geht es immer um eine Art „Quasirealität“, eine vorgestellte Welt zwischen Imagination und Konkretheit, Faktischem und Fiktivem. Zeiten und Räume bleiben dabei entsprechend körperlich-materieller Existenz real, klar: Das Spiel, wie auch die Künste, entheben aber darüber hinaus in „eingebildete“ Zeiten und Räume. Dies sind dann entworfene, andersartige, imaginierte, spekulative Zeiten und Räume über das Hier und Jetzt hinaus, auch über die personelle Fixierung in andere Rollen hinein: Vom „Reich der Notwendigkeit“ in das „Reich der Möglichkeiten“, vom Fixpunkt der Gegenwart in mögliche „andere Welten“, Existenzweisen wie auch in Vergangenheiten und Zukünfte – sozusagen im Medium des Ästhetischen, mit dem Potential der künstlerischen bzw. spielerischen Form und Handlung.

Gestaltende Phantasie in Aktion: Aktive Wahrnehmung und soziale Kreativität

Insbesondere das Spiel der Kinder – wenn man sie lässt und dies als ihre kulturelle Form der Welt-Anschauung bzw. -aneignung akzeptiert – ist ja „Phantasie in Aktion“. Es geht um Gestaltungen bzw. den Ausgleich zwischen „Ich und Welt“ probeweise, experimentell, spielerisch. Dies ist eine durchaus traditionelle Formel für „Bildung“ als z.B. durch positive Rahmenbedingungen, durch pädagogische Unterstützung angeregte, qualifizierte „Selbstbildung“.

Aktivierte, neugierige Wahrnehmung, „mit alle Sinnen“, wie es heute allenthalben heißt, und Formen „ungewöhnlichen Lernens“, mit durchaus „kreativer Intelligenz“ und „Emotionalität“ sind die subjektiven Verfahren, die Phantasien beflügeln. Dies beinhaltet auch – durchaus wertorientiert – die Chance zu sozialer, gesellschaftlicher, sensibilisierender, bzw. entsprechender handlungsmotivierender „Schlüsselkompetenzen“ z.B. in der Summe als „Lebenskompetenz“ bzw. „Lebenskunst“. Derartige kunst- und spielpädagogisch initiierte Bildungsprozesse haben immer auch absichtsvolle oder immanente soziale Dimensionen. Ob man will oder nicht.

Das Symbolische und das Imaginäre spielt immer mit

Künste und Kulturen, Rituale und Spiele bilden also Symbolwelten aus, die so etwas wie die Bühnen gesellschaftlicher Werteverhandlungen und überindividuelle Identitäten ermöglichen und bedeuten: Symbolische Formen des geregelten Zusammenlebens oder kontroverser Auseinandersetzungen (vgl. Cassirer 1953/ 1954, Bourdieu 1974/ 1994).

Im Symbolischen, das sich eben in der gestalteten Spannung zwischen „Sinn und Sinnlichkeit“, „Emotion und Reflexion“, „Notwendigkeit und Möglichkeit“, „Vergangenheit und Zukunft“ im Focus real existierender Gegenwart manifestiert, entwickeln z.B. Künstler und Kinder ihre „Weltbilder“. Sie kommunizieren diese mit Medien und Ausdrucksformen aller möglichen Arten, eben „ästhetisch“. Spiel ist eine der typischen Formen dazu, sozusagen das „Curriculum“ („Wägelchen“) der Einbildungskraft. (vgl. Kamper 1981) und insofern auch selbst eine, die symbolische Form der Idee von Ganzheitlichkeit und Artenvielfalt gleichermaßen.

Spielen mit Inhalten als Methode und Form

Bleibt noch zu betonen: Analog zu den Künsten ist Spiel bzw. das Spielen zunächst und vor allem für Kinder und Jugendliche als aktivierende Bildungsform, als selbstorganisierte Erfahrungsmethode von besonderem, auch pädagogischem Wert. Es ist immer wieder daran zu erinnern, dass zunächst also nicht die Inhalte, die Bedeutungen, die Werte und Ziele dessen, was in Kunst und Spiel bearbeitet wird, die entscheidende, dann auch pädagogische Qualitäten sind, sondern der Modus, diese spezifische Art und Weise des Lernens und Erfahrens als Erkenntnisweise und Wissensaneignung.

Die Frage stellt sich allerdings immer wieder neu, zwischen Inhalt und Form, zwischen Bedeutung und Methode: Spiel bildet, aber wie? Künste bilden, aber wie? Es ist eine Art pädagogischer Dauerbaustelle, immer wieder neu an konkreten Fällen, Phänomenen, Verläufen zu beantworten bzw. zu veranschaulichen.

2.3. Die Artenvielfalt der Lernformen, z.B. im Spiel

Also: Bildung geschieht in vielerlei Form, und das ist eigentlich nichts Neues. Aktuell wieder neu diskutiert wird die „Artenvielfalt der Bildungsformen“, wie sie etwa in de 80er Jahren im internationalen UNESCO-Kontext und im Umfeld des „Club of Rome“ ausformuliert wurde.

Formale Bildung: Curricular definierte Vermittlung, die für Lehrende und Lernende verbindlichen Rahmengebungen folgt. Zu denken ist hier an Literatur-, Musik- und Kunstunterricht mit individuellem Leistungspensum und in festen Gruppen und institutionellem Setting (Schule, Unterricht, Klasse). Die Vermittlung hat eine didaktische Struktur und zielt auch auf abprüfbares Wissen. Spiel ist hier bestenfalls Mittel zum Zweck.
Nicht-formale Bildung: Systematische Bildungsverläufe in freiwilliger beidseitiger und längerfristiger Lehr-/Lernabsicht: Kurs, Gruppe, Projekt mit pädagogischer und fachlicher Anleitung, z.B. außerschulisch. Auch hier ist systematische "Didaktik" im Spiel.
Informelle Bildung: Ein Partner, Lehrender oder Lernender, hat Lehr- bzw. Lerninteresse und ermöglicht Lernerfahrungen, z.B. als Selbstbildungsprozess. Die Lernsituationen sind offen, Inszenierungen, Animation, Spiele, nichtpädagogische Fachkompetenzen wirken als Vorbild und Lernangebot. Spiel- und Medienwelten sind hier immer auch Lernwelten, unabhängig davon, ob sie es sein wollen. Künste, Medien, Spiele bilden, auch wenn sie im Detail und in ihren Angeboten, Produkten und Prozessen gar keine unmittelbare Bildungsabsichten und intentionale Bildungsziele haben und sich die "Mitspieler" bzw. "Lernenden" nicht bewusst und absichtsvoll bilden wollen.
Inzidentelle Bildung: Man lernt etwas mit bildenden Qualitäten, ohne sich in einem im weitesten Sinn z.B. pädagogischen Kontext zu befinden, z.B. durch Begegnungen, Umwelten, Spielräume, durch Szenen, Ereignisse, Erlebnisse, Regelspiele, Entdeckungen, Faszination und Eigeninteresse (durchaus typisch für Kunst, Medien, Kultur und Spiel). 

Diese Weite – man kann es durchaus auch als „Ökologie des Spielens und Lernens“ z.B. in der Vielfalt gerade künstlerischer, kultureller und medialer Formen nennen – gilt es zugrunde zu legen, wenn die Bildungsqualitäten des Spiels in den Blick kommen.

„Bildung ist mehr“ ist übrigens auch der Titel der „Leipziger Thesen“ 2002 aus dem Bereich der Jugendhilfe und Jugendarbeit, der sich einerseits neu dem „Bildungsauftrag“ des außerschulischen Feldes zuwendet, andererseits einen weiten Bildungsbegriff reklamiert (vgl. Bundesjugendkuratorium 2002) und neue Kooperationsformen, Synergien mit der Schule sucht, Bildung aber nicht einfach der Schule zuordnet.

2.4. Lebenswelt als Lernwelt

Soziale, sinnliche, materielle Wirklichkeit ist überall, insbesondere „draußen“ vor den Türen der Wohnungen, der Schulen. In den umgebenden Lebenswelten sind natürlich jede Menge lern- und erfahrungsrelevante Inhalte und Situationen eingelagert und prägend:

Als potentielle Bildungsanlässe und Spielanregungen, Spielräume in realem wie symbolischem Sinn. In seiner komplexesten, also ausgesprochen „ganzheitlichen“ Form findet das Spiel der Kinder heute sowohl draußen in den urbanen und natürlichen Räumen, soweit zugänglich, statt, wie auch zunehmend in den medialen und virtuellen Welten, im Kontext der eher traditionellen Medien (Film, Video, Fernsehen) wie der neuen, digitalen, multimedialen Systemen von Computer und Internet. Die Verbindung, Wechselwirkung und Balancierung dieser Spielwelten wird zu einer notwendigen, zukunftsfähigen kultur- und spielpädagogischen Herausforderung. Und die Wirklichkeit des Spiels realisiert sich immer vor Ort, da wo die Kinder und Jugendlichen leben und lernen.

Es ist sozusagen die „kommunale“ Ebene in der Stadt und auf dem Land, die „Spiel- und Lernraum“ ist, mehr oder weniger attraktiv und qualifiziert. Das nun seit 30 Jahren entwickelte „Münchner Modell“ spiel- und kulturpädagogischer Praxis hat hier seinen konzeptionellen Ansatz. Es versucht, die Lebenswelten der Kinder anzureichern mit spiel- und kulturpädagogischen Angeboten vielerlei Art und in kooperativen Formen, insbesondere auch – soweit möglich und finanzierbar – in Zusammenspiel von Kunst, Kultur, Schule, Jugend, Soziales entsprechend kommunaler Verantwortung im Bereich des Politischen, der Verwaltung und der fachlichen Professionalität. Dazu gibt es seit 1990, mit Fortschreibung 1999, ein „kommunales Gesamtkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit in München“. Es geht um den ja schon länger dauernden Entwicklungsprozess – damals ausgelöst durch den kunstpädagogischen Impuls: Raus aus der Schule, rein in die Spiel- und Lernumwelten der Kinder und Jugendlichen. Das Ziel: die urbane Stadtlandschaft als offene Erfahrungs- und Bildungslandschaft zu qualifizieren, anzureichern und immer wieder in zeiträumlich variablen und auch didaktisch begründeten Strukturen zu inszenieren (vgl. Zacharias 1995).

Das Grundmuster dieses spiel- und kulturpädagogischen Konzepts ist das synergetische Netzwerk Schule, Kultur, Jugend, Soziales, das – so Oberbürgermeister Christian Ude im Vorwort – „den Status der jungen Menschen als eigenständige, mit Rechten und Beteiligungsansprüchen ausgestattete Subjekte stärkt.“(KoFo: Kinder- und Jugendkulturarbeit 1999, S.3) Es geht um „die zunehmende kulturelle Vielfalt in unserer Stadtgesellschaft, die in der Praxis der kulturellen Jugendbildung als Chance zu interkulturellem Verstehen und Zusammenspiel genutzt werden kann. Oder die um die rasante Entwicklung einer medialen, virtuellen Realität, die Kinder und Jugendliche stark in ihren Bann zieht, die diese sich aber auch beneidenswert locker und kompetent aneignen.“ (a.a.O.)

Im Konzept heißt es dann ganz allgemein: „Die authentische Lebenswelt Stadt als erfahrungsstiftende Spiel- und Lernwelt mit sowohl historischer wie zeitaktueller Dimension ist einem ganzheitlichen und sozialökologischen Verständnis von Bildung verpflichtet. Der kommunale Handlungsansatz ist es, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, die städtische Umwelt mit ihren urbanen Funktionen kennen zu lernen, von ihr aktiv Gebrauch machen zu können, sich sicher und mobil in dieser Umwelt zu bewegen. Dafür sind Hilfen und Anstöße notwendig.“ (a.a.O., S. 17)

Das pädagogische Denkmodell und Handlungskonzept ist das „Netzwerk“, das zwischen den Feldern und Bereichen einer Stadt, die mit Kindern, Jugendlichen, Familien zu tun haben, vermittelt mit dem Ziel, Synergien herzustellen.

„In einem überschaubaren und kulturpädagogischem Handeln zugänglichen Territorium, wie dies die Stadt ist, konkretisiert sich das Netzwerk in Dienstleistungen, Einrichtungen, Maßnahmen, Projekten, die ineinander greifen, sich verzahnende Elemente des Ganzen sind. Es präzisiert sich weiter auf der Ebene der Stadtteile, bietet aber auch Anknüpfungspunkte nach außen, in die Region und ist offen für Impulse von außen.“ (a.a.O., S. 18)

Als Elemente dieses urbanen Netzwerks für Spiel und Kultur werden neben schulischer Vermittlung benannt und sind real dann auch als Orte, Programme, Angebote raum-zeitlich zu benennen: Kinder- und jugendkulturelle Szenen; institutionelle Kinder- und Jugendkulturorte; Kulturorte mit didaktisch-pädagogischen Abteilungen und Räumen; Virtuelle Orte, Welten und Netze; Provider Bildung/Kinder und Jugendkultur; Ausstattungspools; mobile Dienste; Produktionen mit Künstlern; Offene Werkstätten, Atelier- und Studiobesuche; Beratung und Fortbildung; Exekutionen und Reisen, kommerzielle Kultur- und Spielorte, bzw. -angebote.

Eins gemerkt: Entsprechend eines weiten Spiel-, Kunst- und Kulturbegriffs sind hier auch immer vielerlei Spielarten des Spielens mit gemeint – Spiel als Kultur des Kindes, Spielen als gestaltende Aktivität und als Motivation zu Selbstbildungsprozessen.

  1. Spiel und Kultur – mit und gegen PISA

Die bildungspolitische Diskurslage 2002, 2003 meint es insgesamt nicht gut mit Spiel, ästhetischer Erziehung und kultureller Bildung, gleich welcher Sparte und mit welchen institutionellen Vermittlungskontexten auch immer. Im internationalen Nationen-Ranking der PISA-Studie (Deutsches PISA-Konsortium) 2001) der vorrangig wirtschaftsorientierten OECD geht es nicht um einen – ganzheitlichen und humanen – weiten Bildungsbegriff, sondern um die Zuspitzung auf kognitives Wissen und Erkennen entsprechend interpretierender Lesekompetenz sowie analytischer Kompetenzen in Sachen Mathematik und Naturwissenschaften. Dies wurde überprüft und ist weitgehend zu vermitteln im Zusammenhang von Schulunterricht. Fachliche und allgemeine (Schlüssel-)Kompetenzen außerhalb des vorgegebenen Spektrums bleiben entsprechend der bildungspolitischen PISA-Folgediskussionen außen vor, obwohl die PISA-Studie selbst davor warnt, ihren Ausschnitt an Bildungswerten für das Ganze zu nehmen. Die Selbstbescheidung der PISA-Autoren ist hier ehrlicher als die öffentliche Aufregung: „Man kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, dass PISA keineswegs beabsichtigt, den Horizont moderner Allgemeinbildung zu vermessen, oder auch nur die Umrisse eines internationalen Kerncurriculums nachzuzeichnen. Es ist gerade die Stärke von PISA; sich solchen Allmachtsfantasien zu verweigern.“ (a.a.O. S.21) Kunst, Kultur und Spiel in Vermittlungskontexten werden trotzdem gerade durch die vereinfachende PISA-Rezeption geschädigt und bedroht.

Die PISA-Studie hat, sozusagen im Kleingedruckten veröffentlicht und öffentlich marginal kommuniziert, noch ein weiteres Phänomen untersucht, an dem das deutsche Bildungssystem an letzter Stelle landete – die Abhängigkeit der Bildungschancen vom jeweiligen sozialen und kulturellen Milieu:

Dass Deutschlands Schulsystem die soziale Ungleichheit verschiedener Bevölkerungsteile nicht nur nicht ausgleicht, sondern verschärft, ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. Das deckt die PISA-Studie schonungslos auf. Es sind die soziokulturellen Unterschiede, die Bildungschancen ermöglichen oder verwehren – Bildung ist in Deutschland herkunftsabhängig. Wolf Lepenies schreibt dazu in der SZ (8.9.2001): „In der Überraschung über diesen Zusammenhang zeigt sich ein eklatanter Mangel in der Wahrnehmung unserer sozialen Wirklichkeit.“ Die GEW formulierte bereits am 4.12.2001: „Nur bei der sozialen Auslese sind die deutschen Schulen spitze.“

Das überraschenderweise gerade durch die PISA-Studie aufgedeckte zentrale deutsche Bildungsproblem also ist, dass die alltäglichen Lebensbedingungen, die sozialen und kulturellen Ressourcen, die Kinder schulfähig und lebenskompetent machen, fehlen. Sie sind – sozusagen als Fundamente kognitiver Lern- und Wissensleistungen – dem schulischen Unterricht vorgelagert bzw. sowohl in wie außerhalb der Schule notwendigerweise parallel bereitzustellen.

Dies ist, wäre die allgemeinbildende Rolle von Spiel, Kunst, Kultur, des Ästhetischen generell als Teil der Lern- und Bildungslandschaft und zugunsten von „Schlüsselkompetenzen“. Eben das ist eine Konsequenz aus der PISA-Studie, nimmt man die Perspektive einer „Kultur des Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung“ ernst und verortet dabei kulturelle Bildung als unverzichtbarer Teil Allgemeiner Bildung in aller Vielfalt von Orten, Inhalten, pädagogischen Institutionen, didaktischen Strukturen und professionellem pädagogischem Personal.

„Umwelt als Spiel- und Lernraum“, die „Inszenierung und Öffnung“ des „gelebten Raums“, die Chance zu authentischen, einmaligen, sinnlich-ganzheitlichen Spielerfahrungen trägt in zweierlei Weise zu einem angemessenen erweiterten Bildungsbegriff, zu einer pluralen „Spiel- und Bildungslandschaft“ bei

Gegen die vereinseitigt kognitive Dominanz von Schule und Unterricht entsprechend des historischen und aktuellen institutionellen "Ist-Zustands"
Gegen die vereinseitigt entsinnlichte Medialisierung und Digitalisierung der virtuellen Spiel- und Lernwelten

Darum geht es spielpädagogisch und im Prinzip nachhaltiger Bildungsvielfalt: Um Balancen, Angebotsreichtum, Ganzheitlichkeit ist den räumlich-konkreten Lebensumwelten der Kinder und Familien, in Stadt und Land.

Literatur

Bartscher, Matthias/ Kriener, Martina: Rechte von Kindern und Jugendlichen, in: Schröer, W./ Struck, N./ Wolff, M. (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim 2002
BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) (Hg.): Kultur - Jugend - Bildung: Kulturpädagogische Schlüsseltexte 1970 - 2000, Remscheid 2001
BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) (Hg.): Kultur leben lernen, Remscheid 2002
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1970
Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974/ 1994
Bundesjugendkuratorium/ Ingrid Mielenz: Bildung ist mehr als Schule, Bonn 2002
Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 1/ 2/ 3, Darmstadt 1953/ 1954
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000, Opladen 2001
Grüneisl/ Mayrhofer/ Zacharias: Umwelt als Lernraum, Köln 1973
Grüneisl, G./ Zacharias, W. (Hg.): 30 Jahre Spiel & Kultur mobil in München, Spiel- und kulturpädagogisches Lesebuch Nr. 5, München 2002 (Bezug: PA/ SPIELkultur e.V., Augustenstr. 47/Rgb., 80333 München, FAX 089/ 268575)
GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Spielalmanach für die Jugend 1802 und 1803, Leipzig/ München 1975
Huizinga, Johan: Homo ludens, Reinbek 1981 (1954)
Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981
KoFo (Koordinationsforum Kinder- und Jugendkultur München): Kommunales Gesamtkonzept Kinder- und Jugendkultur, Fortschreibung 1997/ 1998, Stadtjugendamt/ Sozialreferat München 1999 (Bezug: Stadtjugendamt/ Jugendkulturwerk, Orleansplatz 11, 81667 München)
Mayrhofer, H./ Zacharias, W.: Ästhetische Erziehung: Lernorte für aktive Wahrnehmung und soziale Kreativität, Reinbek 1976
Neuss, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder, Frankfurt a.M. 1999
to, G.: Die Territorien Ästhetischer Erziehung - Zwischenbilanz als kartographischer Versuch, in: Jentzsch/ Lehmann/ Wolters (Hg.): Das Bild der Welt in der Welt der Bilder, Hannover 1987
Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften III. Anthropologie der Sinne, Frankfurt 1980
Rötzer, F.: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a.M. 1991
Rötzer, Florian: Schöne neue Welten? Auf dem Weg zu einer neuen Spielkultur, München 1995
Scheuerl, Hans: Das Spiel, Weinheim und Basel 1979
Schmidt, Wilhelm: Auf der Suche nach der neuen Lebenskunst, Frankfurt 1991
Schmidt, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M. 1998
Martin: Ethisch-Ästhetische Studien, Frankfurt 1996
Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München 2000
von Hentig, Hartmut: Bildung, München 1996
Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996
Wulf, Christof (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/ Basel 1997
Zacharias, Wolfgang: Lebensweltliche Didaktik. Die Entstehung didaktischer Strukturen am Beispiel der Pädagogischen Aktion 1970 - 1980, München 1994
Zacharias, Wolfgang: Kulturpädagogik, kulturelle Jugendbildung - Eine Einführung, Opladen 2001 (a)
Zacharias, Wolfgang: Kultur und Pädagogik, Kunst und Leben, Bonn 2001 (b)

Special Tipp:

Einige der zitierten Veröffentlichungen der Pädagogischen Aktion aus den Siebziger- und Achtziger Jahren sind noch erhältlich bei der Pädagogischen Aktion Spielkultur, Augustenstr. 47/ Rgb., 80333 München, z.B.

Zacharias/ W. und IPA/ BRD (Hg.): Spielraum für Spielräume - Zur Ökologie des Spiels, München 1987, 144 S., viele Abb. (10,00 EUR)
Pädagogische Aktion e.V. (Hg.): Spielen in der Stadt - Arbeit an der Zukunft, (Kulturpädagogisches Lesebuch IV/ Teil 3) München 1988, 160 S., viele Abb. (13,00 EUR), U.a. für die Praxis: 10 Varianten Spielbus München/ Spielmobil, z.B. Winterspielbus, Festespielbus, Alte Spiele, Produktionsspielbus, Wasserbaustelle, Forscherfahrten, Physikspielbus, Geisterspiele, Materialspiele, Weltreise
Pädagogische Aktion e.V. (Hg.): Gelebter Raum - Beiträge zu einer Ökologie der Erfahrung, München 1989, 216 S., viele Abb. (12,00 EUR)

Weitere Informationen im Internet unter www.pa-spielkultur.de/literatur

Der Autor:

Dr. Wolfgang Zacharias ist Kulturrat bei der Landeshauptstadt München und Projektleiter der Pädagogischen Aktion/SPIELkultur e.V. Er ist darüber hinaus in zahlreichen anderen Zusammenhängen engagiert

Bei vorstehendem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, der auf der Fachtagung „Spielen – Lernen -Bilden“ im November 2002 in Berlin gehalten wurde. Veröffentlicht war er zunächst in der „Spielmobilszene“ 14/2003. Wir bedanken uns bei Claudius Beck von der BAG Spielmobile für die Erlaubnis, ihn hier einstellen zu dürfen.

Dortmund, im Juli 2003

Mitglied werden

ABA-Mitglieder begreifen sich als Solidargemeinschaft. Sie setzen sich in besonderer Weise für die Belange der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein.

Mehr …

Aktuelle Projekte

Was macht der ABA Fachverband eigentlich? Hier stehts´s! Besuchen Sie die derzeitigen ABA-Baustellen.

Mehr …

Der i-Punkt Informationsdienst: handverlesene Infos aus der ABA-Welt, regelmäßig und kostenlos, direkt in Ihr Postfach.
Hinweis: Ihre E-Mail Adresse wird gespeichert und verarbeitet, damit wir Ihnen eine Bestätigungsmail schicken können. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Nach oben scrollen