NAGEL-Redaktion – Selbstbestimmung als Bildungsziel in der Praxis eines Mädchentreffs

Von Ulrike Graff

„Selbstbestimmung für Mädchen“, so lautet das grundlegende Anliegen feministischer Mädchenpädagogik. Damit hat sie einerseits dasselbe humanistische Bildungsziel wie andere kritisch emanzipatorische Pädagogiken auch, andererseits unterscheidet sie sich von ihnen in der Frage der Organisationsform in Bezug auf Geschlecht. Da feministische Pädagogik von der These ausgeht, dass die Selbstbestimmung von Mädchen in koedukativer Pädagogik behindert wird, strukturiert sie sich bewusst wieder geschlechtshomogen.

Der folgende Beitrag über den Mädchentreff Bielefeld untersucht, wie sich das Ziel Selbstbestimmung für Mädchen in diesem neuen geschlechtshomogenen Praxisfeld realisiert. Er referiert Ergebnisse einer qualitativen Studie, die von mir als Auswertung der Theorie und Praxis des Mädchenreffs durchgeführt wurde (Graff 1999). Als Mitinitiatorin und pädagogische Mitarbeiterin habe ich das selbstgesteckte Ziel, Mädchen in ihren Selbstbestimmungsprozessen zu unterstützen, evaluiert. In von Pädagoginnen und Mädchen geschilderten Situationen versuche ich, der Beziehung zwischen ihnen auf die Spur zu kommen. Beziehung, realisiert in Interaktion, ist einer der Orte, wo sich Pädagogik konkret abspielt.

Im vorliegenden Beitrag stelle ich zunächst exemplarische Interviewpassagen mit Mädchen aus dem Mädchentreff vor. Sie erzählen, welche Beziehungsmöglichkeiten sie im Mädchentreff zu den Pädagoginnen erleben, welche Art von Unterstützung und Anregung sie bekommen und welche Konflikte es für sie gibt. Dann analysiere ich die Geschichten gelungener und misslungener pädagogischer Situationen, die die Mädchentreff-Pädagoginnen erinnern. Hier wird es immer dann pädagogisch spannend, wenn die Mädchen anders sind oder andere Dinge tun als die Pädagogin erwartet. Die Frage nach Selbstbestimmung ist keine, die sich mit einem feministischen Konzept von selbst erledigt.

Der Mädchentreff wurde 1985 gegründet als eine der ersten Einrichtungen außerschulischer Mädchenbildungs- und Kulturarbeit in Nordrhein-Westfalen. Neu am Mädchentreff ist auch das Konzept einer feministischen Mädchenpädagogik; nach den Erfahrungen der Grenzen koedukativer Jugendarbeit macht es Geschlechtshomogenität bewusst wieder zu einem Prinzip der Arbeit (vgl. hier zunächst stellvertretend Spender 1985).

Im Begriff „Selbstbestimmung“ treffen sich hier zwei Traditionen: zum einen die pädagogische, deren klassisch-humanistische Aufgabe Erziehung zu Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit ist (vgl. Benner 1983 sowie Hornstein in diesem Band), zum anderen die feministische, deren wichtigstes Ziel ebenfalls als „Selbstbestimmung für Frauen“ formuliert wird (vgl. Beyer u.a. 1983).

Im pädagogischen Diskurs nimmt die Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstbestimmung breiten Raum ein: Erziehung zu Mündigkeit, Förderung persönlicher Autonomie, Emanzipation tauchen als „Bildsamkeitspostulat“ in geisteswissenschaftlicher Pädagogik (vgl. Dilthey 1961) ebenso auf wie in analytisch-empirischer (vgl. Brezinka 1974) und emanzipatorisch-kritischer Pädagogik (vgl. Mollenhauer 1974, Gamm 1979).

Dietrich Benner macht dies als „Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns“ (Benner 1983) in einer Matrix deutlich:

 

 

das Individuelle von Erziehungspraxis

das Gesellschaftliche von Erziehungspraxis

1. prinzipielle Bildsamkeit des Menschen zur Selbstbestimmung für eine produktive Freiheit,

3. Erkennen der gesellschaftlichen Bedingtheit von Erziehung als ihre pädagogische Aufgabe,

2. Aufforderung zur Selbsttätigkeit der Individuen,

4. Verständnis von Pädagogik als gesellschaftliche Praxis neben anderen Praxen (Arbeit, Kunst, Politik), die sich gemeinsam dem Streben für eine „bessere Welt“ verpflichten.

 

 

Selbstbestimmung ist mit diesem Hintergrund klassisch pädagogisches Ziel. Es ist der positiven Utopie verpflichtet, dass alle Menschen frei und demokratisch über ihre Kompromisse zwischen individuellen und kollektiv-gesellschaftlichen Belangen entscheiden können sollen.

Dieses Ziel verweist auf ein Menschenbild, für das ein „Selbst“ als selbstreflexives Bewusstsein konstitutiv ist. Dieses Selbst steht in dialektischem Verhältnis zur Umwelt, d.h. es lernt im Handeln mit anderen als Individuum die Balance zwischen eigenen Interessen und Anforderungen des Kollektivs.

Bezugspunkte für eine feministische Begründung von Selbstbestimmung können zwei Arbeiten bilden, zum einen:

die amerikanische Untersuchung „Die verlorene Stimme“ (Brown/Gilligan 1994). Sie fragt als Weiterentwicklung von Carol Gilligans Studie zu weiblicher Moral (Gilligan 1984) nach dem Wissen, das Mädchen über Beziehungen haben, wie sich dies mit der Adoleszenz verändert und welche Bedeutung erwachsene Frauen für eine „eigene Stimme“ von Mädchen haben.

Zum anderen: die Überlegungen des Mailänder Frauenbuchladens zum Konzept „affidamento“ (Libreria delle donne 1988). Affidamento heißt wörtlich: „sich anvertrauen“, Frauen vertrauen sich einander an.

Dies wird entwickelt als politisch-feministische Strategie in einer patriarchalen Kultur, die Männer und Frauen auf den Vater-Mann-Sohn zentriert und die Beziehungen unter Müttern-Frauen-Töchtern leugnet oder diffamiert. Konkrete und symbolische Frauenbezogenheit will diese Struktur männlicher Herrschaft aufbrechen und gilt als Voraussetzung für weibliche Selbstbestimmung.

Feministische Mädchenpädagogik überträgt dies Konzept der Geschlechtshomogenität sowohl auf die Mädchen als Adressatinnen als auch auf die Pädagoginnen als Professionelle. Intendiert ist hier zum einen die Stärkung der Beziehungen der Mädchen untereinander, zum anderen die bewusste Auseinandersetzung mit dem Mädchen-/Frauenbild der Mädchen durch Prozesse positiver oder negativer Identifikation zwischen Mädchen und Pädagoginnen (vgl. Haasis 2002).

Feministische Pädagogik will „Selbstbestimmung für Mädchen“ anstatt „Gleichberechtigung mit Jungen“ und kombiniert dieses Ziel mit der Form Geschlechtshomogenität. Mädchen sollen ohne direkten männlichen Einfluss entscheiden können, wer und wie sie sein wollen. Feministische Pädagogik überträgt damit die feministische Strategie der Frauenbezogenheit als Voraussetzung für weibliche Selbstbestimmung auf die Pädagogik.

Bildungsziele formulieren einen Horizont für pädagogisches Handeln, sie sagen, was Jungen und Mädchen lernen sollen: „Selbstbestimmung bezeichnet die erlernbare Fähigkeit, Beziehungszusammenhänge in der Lebensumwelt aufzugreifen, ihre Wertgrundlage zu erfassen und in Auseinandersetzung mit ihnen nach eigenem Urteil Handlungsstandards zu entwickeln.“ (Schiefele 1974, S. 12)

Diese Definition stellt Selbstbestimmung als Ziel von Bildung, als erlernbare Fähigkeit, dar.

Im Kontext feministischer Pädagogik werden Bedingungen formuliert, die Selbstbestimmungsprozesse von Mädchen positiv beeinflussen:

  • Formen geschlechtshomogener Pädagogik, die in emanzipatorischer Absicht eingerichtet werden, sind geeignet, Mädchen (und Jungen) ein Lernfeld für persönliche Entwicklungen zu geben, die traditionelle Rollenklischees von Weiblichkeit (und Männlichkeit) überschreiten können (vgl. Lemmermöhle 1996).
  • Selbstbestimmung in der Entwicklung von Geschlechtsidentität braucht einen experimentellen Freiraum. Freiraum heißt im Kontext des Mädchenreffs: die Abwesenheit männlicher Konkurrenz und eines normierenden männlichen Blicks.
  • Das ermöglicht Mädchen sowohl die Übernahme von Positionen und Aktivitäten, die überwiegend Jungen besetzen (Dominanz, Leitung, Aggressivität, Technik, Sport, Rockmusik), als auch das Ausleben sogenannter mädchentypischer Kompetenzen und Vorlieben (Beziehungsorientiertheit, Kooperation, Versorgung, Gestaltung, Körperpflege, Tanz, Schreiben) (vgl. Metz-Göckel 1999).
  • Die Qualität eines Freiraums für Selbstbestimmung liegt dann in der Möglichkeit des Ausprobierens der einen oder anderen Rolle, ohne auf alte traditionelle oder auf neue „feministische“ Mädchenbilder festgelegt zu werden; insofern kann die Eröffnung von „Selbstbestimmung“ auch einen Feiraum von feministischer Normierung beinhalten. Wenn diese Erfahrungen mit pädagogischer Hilfe reflektiert werden können, unterstützt das Selbstbestimmung von Mädchen
  • Selbstbestimmung entwickelt sich an und in Beziehungen. Für Selbstbestimmungsprozesse von Mädchen haben eine starke Mädchen peer group und erwachsene Frauen als Vorbilder einen großen Stellenwert. Die Beziehung zwischen Pädagogin und Mädchen muss sowohl positive Identifikation als auch negative Abgrenzung seitens der Mädchen erlauben, das heißt eine Selbstbestimmungsorientierte Beziehungsgestaltung ist auch „konfliktfreundlich“. Dann fördert sie die aktive Auseinandersetzung der Mädchen mit dem eigenen Mädchen- und Frauenbild und damit einen bewussten Selbstentwurf (vgl. Brown/Gilligan 1994).

Selbstbestimmung ist ein zentraler Begriff in Theorie und Praxis des Mädchentreffs: er ist pädagogische Zielkategorie der Konzeption und er ist thematisch präsent im Mädchentreff als Ort, wo Lebensplanung und Berufsorientierung in Seminaren oder in offenen Alltagsgesprächen stattfinden. Er konkretisiert sich dort in den Situationen, die Mädchen und Pädagoginnen gemeinsam erleben, in pädagogischen Beziehungen.

Als Untersuchungsgegenstand entzieht sich Selbstbestimmung eindeutigen, operationalisierenden Hypothesen: Sie kann nicht an Entscheidungsergebnissen überprüft werden, wie etwa: die Entscheidung für einen technischen Beruf ist „selbstbestimmter“ als die Entscheidung für einen sozialen Beruf. Selbstbestimmung ist ein Begriff, der etwas über die Qualität eines Entscheidungsprozesses aussagt. Insofern geht es in der diesem Text zugrunde liegenden Studie darum zu untersuchen, wieSelbstbestimmungsprozesse von Mädchen unterstützt werden.

Selbstbestimmung als Entscheidungskompetenz braucht Raum und Gelegenheit für Entscheidungen, braucht sowohl Entscheidungsmaterial/-inhalte/-alternativen, als auch die Fähigkeit zu Selbstreflexion, um die Integration von Norm und Individualität, von eigenen und äußeren Perspektiven als bewussten Prozess gestalten zu können. Selbstbestimmung entwickelt und übt sich im Kontakt und in Konflikten. Und sie braucht solidarische Bezugspersonen.

Der Mädchentreff muss auf die Bedingungen hin betrachtet werden, die er für Selbstbestimmungsprozesse von Mädchen schafft. Im Sinne des Konzeptes des pädagogischen Affidamento heißt das, die Beziehungen zwischen Pädagoginnen und Mädchen ins Zentrum der Untersuchung zu setzen.

Der Mädchentreff Bielefeld als offene Freizeit-, Bildungs- und Kultureinrichtung wurde von mir im Rahmen einer pädagogischen Praxisforschung (vgl. Graff 1997) im Hinblick auf die Realisierung seines Bildungsziels Selbstbestimmung untersucht

Die Studie ist angelegt als qualitativ-empirische Analyse der Pädagogik des Mädchentreffs. Diese Analyse findet auf zwei Ebenen statt:

  1. auf der Ebene pädagogischer Situationen als konkrete Praxis des Mädchentreffs; diese Situationen wurden eingefangen in zehn selbstreflexiven Geschichten von fünf Pädagoginnen zum Thema „Selbstbestimmung“. Dieses Material eröffnet den subjektiv-professionellen Blick z.B. auf Alltagsbedingungen, Beziehungsdynamiken, Handlungsaspekte.
  2. auf der Ebene der Adressatinnen, der Mädchen als Besucherinnen des Mädchentreffs; in Leitfadeninterviews wurden 13 Mädchen daraufhin befragt, was Selbstbestimmung für sie bedeutet und welchen Stellenwert der Mädchentreff in diesem Zusammenhang für sie hat; anders gesagt: welche Erfahrungen und Bedingungen sie im Mädchentreff als förderlich (oder hinderlich) für eigene Selbstbestimmung erlebten.

Das Material wurde in Kontext der Methodologie qualitativer Sozialforschung mit dem Instrument der „strukturellen Beschreibung“ (Schütze 1984) ausgewertet, hier können jedoch nur Zusammenfassungen der ausführlichen Interpretationen des Material vorgelegt werden.

Die Untersuchung bringt Erkenntnisse darüber, wie sich in einem feministischen geschlechtshomogenen Feld Pädagogik realisiert, im Hinblick auf ihr Bildungsziel Selbstbestimmungsprozesse von Mädchen zu unterstützen. Sie erforscht pädagogische Beziehungen in einem Mädchentreff anhand der von den Mädchen und Pädagoginnen erinnerten Begegnungen, Situationen, Ereignisse, Konflikte, Ärgernisse und Highlights. Die „feine“ Analyse dieses empirischen Materials bringt Ergebnisse, die zunächst auf der Ebene der Rekonstruktion pädagogischer Phänomene und dann auf der Ebene von Verstehen alltäglicher pädagogischer Interaktion liegen.

Zum anderen wird die Pädagogik innerhalb eines Mädchentreffs evaluiert, um Leistungen und Probleme der Praxis zu identifizieren, aber auch um Jugendhilfeplanungen und Jugendpolitik empirisch fundierte Hinweise zu geben auf die Bedeutung dieser relativ jungen (wieder) geschlechtshomogenen Einrichtungen im Feld der Jugendarbeit.

Eine Annäherung an konkrete förderliche und hinderliche Bedingungen im Hinblick auf die Realisierung des Bildungsziels „Selbstbestimmung für Mädchen“ soll nun zum einen auf institutioneller Ebene: Mädchentreffs als Einrichtungsform der Jugendarbeit und zum anderen auf der Ebene pädagogischer Praxis als Beziehungsarbeit passieren.

Die Sicht der Mädchen

Die Evaluation einer Pädagogik im Hinblick auf ihr Ziel, Selbstbestimmungsprozesse zu unterstützen, muss nach Brumlik (1992) die Selbstaussagen ihrer Adressatinnen einbeziehen. In der vorliegenden Studie wurden daher Besucherinnen über ihre Zeit im Mädchentreff interviewt.

Ein Mädchentreff als Ort für Mädchen

1. „Wir werden akzeptiert wie wir sind!“

Ein wesentliches Ergebnis der Interviews mit den Mädchen ist ihre durchgängige Aussage, sie fühlen sich im Mädchentreff so akzeptiert, wie sie sind. Dieses Akzeptieren geht für sie über das hinaus, was sie in Schule oder Freizeit erleben: Sie fühlen sich ernst genommen sowohl mit ihren Bedürfnissen nach „abhängen, Spaß, rumflippen“, als auch mit Anliegen und Problemen, die sie außerhalb des Mädchentreffs haben. Dabei ist für sie wichtig, nicht danach beurteilt zu werden, was ein „richtiges“ Mädchen macht. In der Anerkennung der Vorlieben und Neugierden müssen sie nicht mit Jungen konkurrieren.

Diese ungewöhnliche Erfahrung stärkt ihr Selbstbewusstsein und unterstützt sie in ihrer Selbstbestimmung sowohl bei alltäglichen Entscheidungen als auch bei Entscheidungen, die ihre Berufs- und Lebensplanung betreffen. Die Mädchen sagen, dass die Pädagoginnen „für sie da sind“. Dabei geht es um „da sein“ in Bezug auf Interessen bei anderen, in der Schule oder zu Hause. Sie erleben, dass sie legitime Rechte haben und die Pädagoginnen sich für sie und ihre Rechte einsetzen. Sie werden ermutigt, ihre Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen. Insofern macht der Mädchentreff Selbstbestimmung relevant als etwas, was Mädchen zusteht, und bricht mit der kulturellen Haltung Mädchen gegenüber, in erster Linie „nett“ zu sein, und d.h. oft, ihre eigenen Interessen denen anderer unterzuordnen (vgl. Brown/Gilligan 1994).

2. „Der Mädchentreff unterstützt uns Mädchen in Krisen!“.

Viele Mädchen erzählen, dass sich die Pädagoginnen in großen persönlichen Krisen parteilich für sie eingesetzt haben. Dabei machen sie deutlich, dass sie es keineswegs als selbstverständlich erleben, dass Menschen in ihrem Umfeld sich in Konfliktsituationen auf die Seite von Mädchen stellen. In einer Kultur, die Mädchen noch immer sehr viel weniger Experimente und Fehler zugesteht als Jungen, empfinden sie es als besonders, wenn ihre Interessen gegenüber anderen verteidigt, wenn sie bei der Bewältigung von Fehlern unterstützt werden und wenn versucht wird, für die Realisierung ihrer Pläne Raum zu schaffen. Mädchenparteiliche Ressourcen dieser Art scheinen angesichts des aktuellen, ?modernen? Mädchenbildes zunehmend wichtig zu sein. Die Auswirkungen von Pluralisierung und Individualisierung (vgl. Beck 1993) machen es heute nötig zu fragen:

„Wie also können Konflikte/Probleme, auch Zuwendungsbedarf von Mädchen erkannt werden, wenn ihre Bewältigung für das Erscheinungsbild verschwiegen werden muss: ich habe keine Probleme, ich bin nicht benachteiligt, ich bin kompetent.“ (Bitzan/Daigler 2001, S. 209)

3. „Es ist nicht selbstverständlich für uns Mädchen, in den Mädchentreff zu kommen!“

Die Mädchen beschreiben, dass sie immer wieder erklären müssen, warum sie in den Mädchentreff zu gehen. Ein Mädchentreff provoziert eine Stellungnahme zum Geschlechterverhältnis, weil er eine Kategorie Geschlecht explizit macht: „Mädchen“. Warum ein extra Mädchentreff in einer Gesellschaft, die von der Gleichberechtigung ausgeht und getrenntgeschlechtliche Einrichtungen als überholt ansieht? Ein Mädchentreff ist mit der feministischen Begründung für sein geschlechtshomogenes Konzept immer auch Kritik am bestehenden Geschlechterverhältnis. Pädagogik speziell für Mädchen ist traditionell für die, die sie „nötig“ haben. Mädchenarbeit ist nicht wirklich selbstverständlich und positiv anerkannt. Mädchenräume gelten in unserer Kultur nach wie vor als defizitär. Das konstruierte Defizit bezieht sich zum einen auf die Situation selbst, es besteht angeblich im Mangel an Jungen. Es existiert eine Art black box: „Was machen Mädchen denn so ohne Jungen?“ Geselligkeit, Spaß, interessante und relevante Kontakte können demnach nur gemischtgeschlechtlich gedacht werden, genauer: Jungen sind dafür als Anwesende notwendig. Jungen allein hingegen gelten nicht als „allein“. Gesellige Situationen mit Jungen sind mit Attributen wie interessant, spannend, wichtig, richtig belegt. Entsprechend werden gesellige Mädchensituationen als langweilig, unvollständig, vorläufig, nicht wichtig und nicht richtig bezeichnet. Für Mädchen ist es schwer, sich dem herrschenden Bild vom Mädchen, das nur stark und akzeptiert ist, wenn es sich auf Jungen bezieht, entgegenzustellen.

Wenn Mädchen in den Mädchentreff gehen, müssen sie sich mit dem kulturellen Status von Mädchen in dieser Gesellschaft auseinander setzen. Ein Mädchentreff ist eine „kulturkritische“ pädagogische Einrichtung, die Mädchen eine eigene Kultur einräumen will, neben einer von Jungen dominierten Jugendkultur. Ein Mädchentreff sagt: Darauf haben Mädchen ein Recht. Er sagt nicht: das haben Mädchen nötig. Auf diesem Hintergrund reflektieren die Mädchen ihr Selbstbild, wenn sie den Mädchentreff aufsuchen, und sie müssen von außen provoziert Stellung beziehen. Das macht die Hürde für den Besuch des Mädchentreffs als offene Freizeit- und Kultureinrichtung sehr hoch. Andererseits erringt sich ein Mädchen mit Überschreiten dieser Hürde ein Stück Selbstbestimmung gegen die dominante Kultur der Gemischtgeschlechtlichkeit.

Im Rahmen offener Jugendarbeit wird mit einem Mädchentreff Raum für Mädchen geschaffen, ohne geschlechtsspezifische Einschränkungen und Zuschreibungen aufgrund direkter Interaktion mit Jungen. Mit Michael Walzer (1992) könnte man sagen, dass der Mädchentreff eine „Sphäre der Gerechtigkeit“ darstellt, innerhalb einer „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1993), in der Mädchenkultur anerkannt wird neben und in einer von Jungen dominierten Jugendkultur (vgl. BKJ (Hg.) 2000). Das ist das eigentlich historisch/gesellschaftlich Neue an einem Mädchentreff: er ist ein öffentlicher, damit im Symbolischen präsenter (vgl. Muraro 1989), positiv besetzter Raum für mädchenbezogene Geselligkeit, ein Freiraum für Selbstbestimmung und Eigensinn jenseits von pädagogischen Defizitkonstruktionen, oder anderen erzieherischen Zumutungen. Mädchen können kommen und gehen, wann sie wollen, ohne etwas lernen zu müssen und ohne Probleme haben zu müssen. Mädchen prägen und gestalten ihre eigene Kultur (vgl. Jaeckel 1998; Möhlke/ Reiter 1995). Mit diesem Bildungspotential wird institutionell umgesetzt, was Annedore Prengel in der „Pädagogik der Vielfalt“ (1993) als Gegenentwurf zu „Assimilationspädagogik“ fordert. Der gleichberechtigten Anerkennung und Pflege differenter Kulturen soll Ausdruck in eigenen Orten gegeben werden.

 

 

Die Beziehung der Mädchen zu den Pädagoginnen

Gerade Selbstbestimmung als Bildungsziel verlangt ihre Konkretisierung durch die Adressatinnen: welches Verständnis haben sie von ihrer Selbstbestimmung in pädagogischen Prozessen, die sie freiwillig suchen?

Im Folgenden wird die Synopse der Interpretationen von Interviewpassagen vorgestellt, in denen die Mädchen über die Pädagoginnen und ihre Beziehungen zu ihnen sprechen. Weiter unten werden die Inhalte dieser Liste an einzelnen Beispielen belegt.

– Es ist eine Beziehung unter Verschiedenen und das finden sie gut so.

– In der Beziehung erwarten sie, dass die Pädagogin ihnen ihr Mehr an Wissen zur Verfügung stellt.

– Sie erwarten Verschwiegenheit von der Pädagogin.

– Sie nutzen die Pädagogin zur Stärkung ihrer eigenen Interessen.

– Sie machen deutlich, wie wichtig ihnen ihre Selbstbestimmung ist.

– Sie kritisieren einen unoffenen Umgang der Pädagoginnen mit den zu befolgenden Regeln im Mädchentreff.

– Sie merken, wenn sie nicht ernst genommen werden und kritisieren das.

– Sie behalten im Kontakt die Verantwortung für sich selbst.

– Sie übernehmen die Verantwortung in der Interaktion, wenn sie meinen, die Pädagogin zu überfordern.

Als Quintessenz aller Deutungen im empirischen Material stellt sich heraus: die Mädchen schätzen die Differenz zwischen sich und der Pädagogin positiv.

An der Differenz zwischen Mädchen und Pädagogin lassen sich alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, positive Unterstützung und negative Einmischung in der Beziehung zwischen Mädchen und Pädagogin verhandeln (vgl. Bitzan/Daigler 2001, 174ff.; Wolf 1998, S. 172f.).

Die drei nun folgenden Beispiele beziehen sich auf Beziehungssituationen, in denen Ratsuchen und Ratgeben im Mittelpunkt stehen Sie belegen die oben nur zusammengefassten differenzierten Interviewaussagen.

Susanne (15 Jahre alt, Schülerin der Laborschule Bielefeld, Rollifahrerin) entwirft unter dem Motto „… ich brauche die Pädagoginnen auch!“ ein klares Konzept der Beziehung zwischen Mädchen und Pädagogin auf der Basis von Differenz und Gleichheit: Differenz der Rollen bei gleichem Anspruch auf Anerkennung der verschiedenen Rollen. Die Rolle der Pädagogin ist die derjenigen, die für Mädchen da ist, ihnen auf Nachfrage hilft; die Rolle der Mädchen ist die der Ratsuchenden, die sich mit der Bitte um Unterstützung an die Pädagogin wendet. Das ermöglicht Susanne ganz selbstverständlich und ohne sich klein oder abhängig zu fühlen, Rat und Hilfe nachzufragen. Die Differenz der Rolle und das Mehr an Wissen und Erfahrung macht die Pädagogin interessant für Susanne. Sie findet es „angenehm“, dass diese klare und unkomplizierte Art der Beziehung im Mädchentreff möglich ist. Dieses Beziehungsmodell scheint Konsens im Mädchentreff zu sein – sowohl für die Mädchen als auch für die Pädagoginnen.

Carola (19 Jahre alt, ausgebildete Werkzeugmacherin, erwerbslos) schildert ebenfalls einen Kontakt, den sie als Ratsuchende initiiert: „Da bin ich einmal zu Esther (einer Pädagogin) hingegangen, …“. Aufgrund ihres „harten Problems“, sie erwägt eine operative Geschlechtsumwandlung, sucht sie das Gespräch mit einer Pädagogin. Hier ist das Merkmal Differenz in der Weise wichtig, dass es aus Sicht des Mädchens von der Pädagogin nicht beachtet wird, und in der Folge in ihre Selbstbestimmung eingegriffen wird. Die Interviewpassage konzentriert sich im Kern auf die Verhandlungen über den Umgang mit Differenz. Die Differenz zwischen Carola und Esther besteht zunächst darin, dass Carola das Problem hat und Esther nicht. Carola verlangt, dass Esther diese Differenz zwischen ihnen lediglich aushält. Esther macht jedoch Carolas Problem quasi zu ihrem eigenen, denn sie sucht auf eigene Faust eine Lösung. In dem Bemühen, das Problem möglichst schnell aus der Welt zu schaffen, greift sie in Carolas Selbstbestimmung ein, die auch in Bezug auf ihren Prozess der Problemlösung gilt. Carola kritisiert Esthers Verhalten klar als Einmischung, die sie in keiner Weise erwartet.

Carola geht mit der Differenz zwischen sich und der Pädagogin darüber hinaus in der Weise um, dass sie im Kontakt die Verantwortung für sich selbst behält. In der Rolle der Ratsuchenden gibt sie sich nicht an die Pädagogin ab, schiebt ihr nicht die Verantwortlichkeit für die Lösung des Problems zu, sondern signalisiert mit ihrer expliziten Bitte um Verschwiegenheit im Gegenteil klar ihre Eigenverantwortlichkeit.

Als kontrastierender Vergleich zu Carolas negativer Erfahrung liegt im nächsten Fall mit Bärbel (23 Jahre alt, ausgebildete Verkäuferin, erwerbslos) ein Beispiel für den positiven pädagogischen Umgang mit Differenz vor. Ihre Erinnerung an die Ereignisse rund um die gemeinsam erstellte Liste der „Berufe, die Bärbel nicht mag“, beschreibt eine Interaktion zwischen Pädagoginnen und Mädchen, in der Probleme nicht direkt gelöst, sondern zunächst lediglich als existierend wahrgenommen werden. In Bärbels Äußerungen im Interview wird deutlich, wie sie die bloße Anerkennung ihrer Lebenssituation entlastet. Über das Aufschreiben der Zumutungen, die sie während ihrer Erwerbslosigkeit erlebt hat, und die Veröffentlichung dieser Liste im Mädchentreff (sie wurde ans Infobrett gehängt) muss sie lachen. Das ermöglicht ihr Distanz zu sich selbst. Sie sieht sich mit eigenen Ansichten spezifisch und different dargestellt. Obwohl ihre Situation sehr düster und ausweglos erscheint, gibt es in ihren Ausführungen nirgendwo einen Hinweis darauf, dass sie von den Pädagoginnen eine Lösung ihrer Probleme erwartet. Sie sucht Zuwendung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Es wird deutlich, dass sie aus dem Kontakt mit den Pädagoginnen die Bestätigung zieht, die sie zur Stabilisierung ihrer Lebenslage braucht. Sie will standhalten in einer Situation, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre nähere Umwelt eng geworden ist, sie bedrängt und ihr unakzeptable Arbeiten zumutet. Beziehung, Arbeitsweise und reflexiver Freiraum des Mädchentreffs unterstützen also Bärbels vorhandene Selbstbestimmungspotentiale, ohne in das Paradox zu geraten, diese „herstellen“ zu wollen.

Die genannten Fälle zeigen beispielhaft empirisch Konzepte und Erfahrungen von Mädchen in pädagogischen Beziehungen. Mit ihnen erschließt sich die von ihnen eingeforderte positive Qualität von Differenz als Abstinenz der Pädagoginnen in Bezug auf Drängen auf Problemlösung. Die Anerkennung der Differenz von Rollen und Lebenslagen zeigt sich als Voraussetzung, Mädchen in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen.

Judith und Mechthild erzählen von anderen Situationen und Verhältnissen im Mädchentreff, für die sie ebenfalls gleiche Anerkennung in der Rollendifferenz fordern.

Bei Judiths (17 Jahre alt, Gymnasiastin) Geschichte von ihrem ersten Besuch im Mädchentreff geht es darum, dass sie sich auf merkwürdige Art nicht ernst genommen fühlt. Sie schildert, wie sie auf eine rhetorische Frage („Kannst du gut Handball spielen?“) hin ihr Selbstbewusstsein demonstrieren soll. Hier geht situativ die Differenz zwischen pädagogischen Zielen der Pädagoginnen und authentischem Kontakt verloren. Judith soll den Wunsch der Pädagogin Rebecca, dass Mädchen selbstbewusst sind, exemplarisch erfüllen. Dieses Paradox spürt Judith und es befremdet sie. Sie fühlt sich als Objekt von Pädagogik. Differenz zwischen Pädagogin und Mädchen zeichnet sich auf dem Hintergrund dieser Geschichte dadurch aus, dass die Pädagogin auf der Basis gleicher Anerkennung der eigenen und der Ansichten des Mädchens die Beziehung gestaltet. Das hieße, dass die Pädagogin um ihre pädagogischen oder feministischen Herzenswünsche weiß und sie bei sich selbst anerkennen kann, etwa: „ich möchte, dass Mädchen selbstbewusst sind“ – in Anerkennung der Wünsche von Mädchen nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung auch gegenüber der Pädagogin. Das wiederum bietet die Chance, dass die Pädagogin im Kontakt zwischen sich und den Mädchen zu unterscheiden weiß und nicht unbewusst die Erfüllung ihrer Ziele an die Mädchen delegiert (vgl. Brown/Gilligan 1994, S. 247).

Mechthild (16 Jahre alt, im Berufsvorbereitungsjahr) kritisiert die Praxis der „ungeschriebenen Gesetze“ im Mädchentreff. Sie wünscht sich klare Regeln in Bezug auf Programm- und Raumgestaltung. Gleichheit und Differenz zwischen Pädagoginnen und Mädchen sind in diesem Beispiel auf der faktischen Ebene klar: die Pädagogin setzt in ihrer qua Profession verantwortlichen Rolle die Regeln; auf der alltagspraktischen Ebene sind sie unklar, weil es keine erklärten Verbote oder Gebote gibt, die Mädchen ihre Grenzen und Möglichkeiten im Mädchentreff transparent machen würden.

Mechthilds Ausführungen lassen sich als Plädoyer dafür verstehen, dass die Pädagoginnen ihre Rolle als Hausherrinnen des Mädchentreffs insofern übernehmen, dass sie ihre Regeln veröffentlichen. Diese Setzung müsste gegenüber den Mädchen begründet und mit ihnen verhandelt werden.

Ein wesentliches Merkmal der Rollendifferenz zwischen Pädagoginnen und Mädchen in diesem Prozess wäre die Gesamtverantwortung der Pädagoginnen für Leib und Seele der Mädchen als letztes Beurteilungskriterium für Regeln. Gleichheit zwischen Pädagoginnen und Mädchen würde hergestellt in Bezug auf das Recht an der Teilnahme am Aushandlungsdiskurs und das Geltendmachen von plausiblen Argumenten (vgl. dazu beispielhaft Wolf 1998).

Resümee:

Die Aussagen der Mädchen enthalten differenzierte Rückmeldungen, Wünsche und Ansprüche an die Pädagoginnen:

– sie schätzen die Selbstverständlichkeit des Rats und der Unterstützung, die sie im Mädchentreff erfahren

– sie sehen sich in ihrem Anspruch auf Anerkennung ihrer Lebenssituationen selbstbewusst neben den Pädagoginnen

– sie haben ein deutliches Empfinden von ihrer Selbstbestimmung und können Einmischungen, Unklarheiten oder Projektionen seitens der Pädagoginnen klar benennen

– sie wollen jenseits pädagogisch-feministischer Ziele ernst genommen werden.

So wird durch die Mädchen das Beziehungsmodell pädagogischen Affidamentos deutlich mit dem Aspekt parteilicher Unterstützung durch das Mehr an Wissen und Erfahrung der Pädagoginnen, auf der Grundlage gleicher Anerkennung der Wohlergehensansprüche von Mädchen und Pädagoginnen (vgl. Prengel 1993), dem Plädoyer für einen offenen Umgang der Pädagoginnen mit ihrer Machtbefugnis.

 

Differenz und Gleichheit: zum Verständnis produktiver pädagogischer Beziehungen

Die Begriffe „Differenz und Gleichheit“ haben sich für eine Annäherung an die Beschreibung von Selbstbestimmungsprozessen als überaus produktiv erwiesen. Differenz und Gleichheit, verstanden als egalitäre Differenz, bilden die zentrale Denkfigur innerhalb der „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1993), die als wesentlicher erziehungswissenschaftlicher Rahmen feministischer Mädchenpädagogik gelten kann.

Was bedeuten die Begriffe Gleichheit und Differenz für die Pädagogik? Gleichheit für Gerechtigkeit, für das allgemeine Recht auf Gleichheit, Differenz steht für Verschiedenheit aller Menschen und Verhältnisse. Das Verhältnis zwischen Gleichheit und Differenz wird als egalitäres begriffen. Das bedeutet, beide Elemente gehören zusammen und sind gleich wichtig: „Denn aus Gleichheit ohne Differenz folgt Gleichschaltung und aus Differenz ohne Gleichheit folgt Hierarchie“ (Prengel 1994, S. 3).

Es folgt nun ein Vergleich der Aussagen der Pädagoginnen mit den Aussagen der Mädchen zu gemeinsamen Situationen und Interaktionen im Mädchentreff Bielefeld.

In den Geschichten der Pädagoginnen, in denen sie gelungene und misslungene Situationen mit Mädchen reflektieren, werden förderliche und hinderliche Herangehensweisen an pädagogische Beziehungen deutlich.

In den Interviews mit Mädchen über ihre Zeit im Mädchentreff gibt es direkte und indirekte Rückmeldungen auf ihre Beziehungen zu den Pädagoginnen. Direkt sind ihre Aussagen über die Pädagoginnen, indirekt lässt sich ihre Haltung deuten, die sie zu den Pädagoginnen einnehmen.

Es ist interessant, dass beide Seiten unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Beziehungsmodell werfen. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen einer Frau und einem Mädchen in einem freiwilligen pädagogischen Setting, in dem beide differente Rollen haben: die Rolle der Frau ist die (qua Profession), ihr Wissen unterstützend zur Verfügung zu stellen; die des Mädchens (qua Status der Jugendlichen), Hilfe und Anregung im pädagogischen Rahmen von Mädchenarbeit nachzufragen. Innerhalb dieses Rahmens treffen Pädagogin und Mädchen aufeinander. Gleichheit bezieht sich auf die (auf seiten der Mädchen klar formulierte) gleiche Anerkennung der differenten Rollen – der Differenz.

Die Geschichten der Pädagoginnen zeigen, wie aus ihrer Sicht das Gelingen bzw. Misslingen pädagogischer Situationen mit der Realisierung egalitärer Differenz (Prengel 1993) in pädagogischen Beziehungen zusammenhängt. Die Klarheit der Pädagoginnen in Bezug auf ihre professionelle Rolle stellt sich her in der Wahrnehmung subjektiver Vorlieben und Grenzen. Auf dieser Grundlage können pädagogische Ziele authentisch umgesetzt werden. Pädagogische Vorhaben können dann so gestaltet werden, dass tragfähige, anerkennende Beziehungen möglich sind: z.B. in gemeinsamer Fotoarbeit, einer Freizeitorientierten Mädchengruppe und in der stärkenden Beschäftigung mit Gewalterfahrungen, Ohnmacht, Wut und Trauer.

Als Ursache dafür, dass Rollenklarheit auf Seiten der Pädagoginnen verloren geht, zeigt sich das Ausblenden subjektiver Befangenheiten und Gefühle in der Beziehung zu Mädchen. Aufgrund des normativen Anspruches an die eigene Professionalität, Subjektivität kontrollieren zu können, wird sie negiert. So wird die Beziehung zwischen Pädagoginnen und Mädchen gestört, da auf Seiten der Pädagoginnen das Management „unerlaubter“ Regungen im Mittelpunkt steht und nicht die Wahrnehmung dessen, was Mädchen und Pädagoginnen (aus welchen Gründen auch immer) in die Interaktion mitbringen. Hier wird die paradoxe Wirkung normativer Ansprüche deutlich: sie verhindern genau das, wofür sie antreten. Nur die Anerkennung eigener Subjektivität ermöglicht einen selbstreflexiven und in diesem Sinne pädagogisch-professionellen Umgang mit ihr (vgl. Brown/Gilligan 1994; Thiersch 1998) und damit erst die Öffnung für die Subjekthaftigkeit, für die Selbstbestimmungspotentiale des Gegenübers.

Besonders relevant wird der Zusammenhang von pädagogischer Professionalität und reflexiver Subjektivität, wenn es um die Wahrnehmung negativer Gefühle Mädchen gegenüber geht. Hier scheint der Grundsatz der Parteilichkeit letztlich als Argument für das Vermeiden von Konflikten mit Mädchen zu wirken. Parteilichkeit betont den Aspekt, Mädchen anzunehmen, wie sie sind, und widerständiges Verhalten unter dem Gesichtspunkt ihrer Stärke zu sehen. Diese Maximen sind als Gegenentwurf zu konservativer und koedukativer Mädchenerziehung entstanden, in der von Mädchen Anpassung verlangt wird oder sie im Vergleich mit Jungen defizitär beurteilt werden (vgl. Bitzan/Daigler 2001).

Im Konzept einer feministischen Mädchenpädagogik bedeutet der Grundsatz, Mädchen anzunehmen, wie sie sind, nicht, alles gut zu finden und zu tolerieren, was Mädchen tun. Annehmen meint ernst nehmen im Sinne einer Subjektorientierung Mädchen als Verantwortliche ihres Tuns zu sehen. Es verlangt, ihnen positive Bestätigung und kritische Rückmeldung zuzumuten, und es erlaubt der Pädagogin auch, sich gegen unfaires Verhalten von Mädchen zu wehren und eigene Grenzen körperlicher und psychischer Belastbarkeit zu schützen. Dieser Aspekt von Parteilichkeit ist auf der Ebene bewusster Reflexion sicherlich unstrittig. Wenn jedoch in schnellen und anspruchs-vollen Alltagssituationen Interessen oder Meinungen von Mädchen und Pädagoginnen auseinander gehen, scheint Parteilichkeit normativ zu wirken und das Argument für die Vermeidung von Konflikten mit Mädchen zu liefern und damit die darin liegenden Chancen der Ausweitung von Selbstbestimmung zu verpassen.

An dieser Stelle müsste das theoretische Konzept feministischer Mädchenpädagogik weitergeführt werden. Folgende Frage stellt sich aufgrund der empirischen Untersuchung pädagogischer Beziehungen: was bedeutet Konfliktorientierung für die Beziehungen von Mädchen und Pädagoginnen in Anerkennung der überwiegend negativen Konflikterfahrungen von Mädchen und Frauen in Beziehungen? (Vgl. dazu Bitzan 1998.) Ohne direkte Handlungsanweisungen zu geben, bestätigen sowohl Prengel (1993) als auch Großmaß (1993) diese Frageperspektive. Als analytisches Konstrukt für ein konfliktfähiges professionelles Selbstverständnis der Pädagogin ist das Subjekt-Subjekt-Modell pädagogischer Beziehungen von Prengel hilfreich. Dort werden die Wohlergehensansprüche von Mädchen und Pädagogin gleich anerkannt. Das Recht der Pädagogin auf eigenes Wohlbefinden wird als notwendig dafür angesehen, dass sie auf Bedürfnisse von Mädchen eingehen kann. Als Symbol dafür beschreibt sie zwei Menschen auf einem weiten Strand: Die Pädagogin hat Raum und läßt Raum für die Selbstbestimmung des Mädchens.

Ruth Großmaß analysiert ebenfalls die Notwendigkeit auf Seiten der Pädagogin, persönliche und institutionelle Grenzen anzuerkennen, um eine fördernde pädagogische Beziehung gestalten zu können. Sie betont die unvermeidliche Realität und letztliche Produktivität von Konflikten, die Affidamento, verstanden als ehrliche Beziehung zwischen Pädagogin und Mädchen, bedeutet. Es scheint sich zu lohnen, dieses Wagnis einzugehen, denn:

„Wenn Frauen und Mädchen sich an der Wegkreuzung der Adoleszenz begegnen, öffnet sich die Nahtstelle zwischen den Generationen, die Teil einer patriarchalen Kultur ist. Wenn Frauen und Mädchen sich zusammen dagegen wehren, die Beziehung um der „Beziehung“ willen aufzugeben, dann liegt in dieser Begegnung das Potential für eine soziale und eine kulturelle Veränderung.“ (Brown/Gilligan 1994, S. 256)

Die Mädchen beziehen Aussagen über ihre Beziehung zu den Pädagoginnen im Mädchentreff klar auf die Grenzen und Möglichkeiten eines pädagogischen Settings. In ihren positiven und negativen Rückmeldungen an die Pädagoginnen wird deutlich, was sie sich wünschen. Sie schätzen, dass sie im Mädchentreff auf unkomplizierte Art und Weise Unterstützung, Rat und Entlastung erfahren. Der Kontakt zu erwachsenen Frauen, mit denen sie nicht privat oder familiär verbunden sind, ist ihnen wichtig. „Unverstrickt und doch vertraut“ (Bitzan/Daigler 2001, S. 175) kennzeichnet treffend die positive Qualität pädagogischer Beziehungen für Mädchen. Sie holen sich, was sie in ihrer jeweiligen Lebenssituation brauchen. Die Mädchen kritisieren scharf, wenn die Pädagoginnen mit dem Argument, zu helfen, eigenmächtig handeln und in ihre Selbstbestimmung eingreifen. Dies wird als Verhalten dargestellt, das sie nicht erwartet hätten. Als Eingriff in ihre Selbstbestimmung empfinden sie auch, wenn sie merken, dass sie im Kontakt bestimmte Erwartungen der Pädagoginnen erfüllen sollen und ihr eigenwilliges Agieren nicht gefragt ist.

Die Mädchen akzeptieren die Rolle der Pädagogin als Betreuerin und verantwortliche Hausherrin im Mädchentreff. Aber sie verlangen, dass die Pädagogin mit dieser Rolle eindeutig umgeht, sowohl in Bezug auf authentischen Kontakt als auch in Bezug auf Regeln und Machtbefugnisse im Mädchentreff.

Die Aussagen der Mädchen sind Aufforderung und Ermutigung an die Pädagoginnen, ihre Lebenserfahrung und ihre Ansichten einzubringen, mit ihrem Mehr an Wissen und Macht im Mädchentreff offen umzugehen.Die Mädchen wollen einen klaren Umgang mit der Verschiedenheit zwischen Pädagoginnen und Mädchen auf der Basis gleicher Anerkennung der jeweiligen Lebenssituationen und Bedürfnisse. Sie wollen die Anerkennung ihrer Selbstbestimmung in Bezug auf eigene Entscheidungen und sie wollen die Auseinandersetzung über Regeln im Mädchentreff. Die Haltung der Mädchen in ihren Ausführungen ist selbstbewusst und klar zwischen sich und den Pädagoginnen unterscheidend. Ob sie diese Reife wegen der Beziehungsmöglichkeiten im Mädchentreff zeigen, kann hier nicht entschieden werden. Jedenfalls finden sie dort ein verlässliches Übungsfeld für genau diese Auseinandersetzungen (vgl. Möhlke/Reiter 1995; Wolf 1998).

Die Mädchen haben ein Modell von Gleichheit und Differenz für die Beziehungen zu den Pädagoginnen im Mädchentreff, ein Modell, das auf der Basis gleicher Anerkennung die Verschiedenheit der Beteiligten und ihrer Rollen wahrnimmt und positiv schätzt.

Mädchenarbeit als Bildung zu Selbstbestimmung

Bildungspotentiale von Mädchenarbeit liegen darin, dass Mädchen die Möglichkeit haben, im Prozess des erwachsen Werdens ihre Lebenserfahrung zu thematisieren und sich damit selbstbestimmtem Handeln anzunähern ? aber warum brauchen sie dafür ein geschlechtshomogenes Angebot?

Moderne Mädchen sind starke Mädchen, sie können alles, sie haben keine Probleme. Attraktiv am diesem veränderten Mädchenbild ist die Unterstellung von Durchsetzungsvermögen und Kompetenz. Problematisch daran ist, dass bei Mädchen wirkliche Durchsetzung im Sinne von Eigensinn nicht gefragt ist. Unsere Kultur ist nach wie vor geprägt von der Haltung, dass Mädchen stets den Erwartungen anderer an sie entsprechen sollen. Der Wechsel vom braven zum starken Mädchen ist klischeehaft insofern, als die Qualitäten der Zuschreibungen nicht interessieren. So hat im Grunde gar kein Wechsel des Mädchenbildes stattgefunden. Ironisch zugespitzt ließe sich formulieren: früher sollten Mädchen brav und brav sein, heute sollen Mädchen stark und brav sein.

Das Bild der „Stärke“ dethematisiert Überforderungs- und Unsicherheitserfahrungen von Mädchen. Erfahrungen von Zurücksetzung gegenüber Jungen und Konflikte im Prozess des Vereinbarens Ausbildungsbezogener mit Beziehungsorientierten Wünschen und Zielen werden tabuisiert.

Feministische Parteilichkeit als ein Eintreten für eigene Orte für Mädchen, in denen sie sich untereinander und mit parteilich auf ihrer Seite stehenden Pädagoginnen diesen Verunsicherungen annähern können, erscheinen vor diesem Hintergrund als gesellschaftlich notwendiges Korrektiv gegen die Zumutungen, die die Moderne für heranwachsende junge Frauen bereithält.

In Folge der positiven Erfahrungen der Mädchenarbeit werden im Moment entsprechende Konzepte für Jungen gefordert. Falsch verstanden ist der Zusammenhang, wenn er als „- jetzt sind die Jungen dran!“ formuliert wird. Mädchenarbeit und Jungenarbeit sind Teil qualifizierter Jugendarbeit. Sie sind jedoch nur dann langfristig erfolgreich, wenn sie konzeptionell als Regelangebot verankert sind und nicht als Sonderangebot der Mädchen- oder Jungenförderung. Mädchen und Jungen nehmen ihre Selbstbestimmung so ernst, dass sie dazu mit Recht sagen: „Das haben wir nicht nötig!“

 

Ulrike Graff, ( Jg. 1957) Dr. phil., Dipl. Päd., Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft „Mädchenarbeit in NRW“ e.V., Schwerpunkte: Theorie und Praxis feministischer Mädchenpädagogik, Vernetzung von Pädagoginnen. Ulrike Graff ist Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes. Dieser Beitrag wurde ins Netz gestellt im Oktober 2004.

 

 

 

 

Literatur

Beck, U: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M. 1993

Benner, D.: Grundstrukturen pädagogischen Denkens und Handelns. In: Lenzen (Hg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Band 1, 1983, S. 283-300

Beyer, J. / Lamott, F./ Meyer, B.: Frauenhandlexikon. Stichworte zur Selbstbestimmung. München 1983

Bitzan, M./ Daigler, C.: Eigensinn und Einmischung. Einführung in Grundlagen und Perspektiven parteilicher Mädchenarbeit. Weinheim und München 2001

BKJ – Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V. (Hg.): Kulturarbeit mit Mädchen. Remscheid 2000

Brezinka, W.: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München 1974

Brown, L. M./ Gilligan, C.: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen und Frauen. Frankfurt/New York 1994

Brumlik, M.: Advokatorische Ethik. Bielefeld 1992

Dilthey, W.: Pädagogik. Gesammelte Schriften, Bd. IX. Stuttgart 1961

Gamm, H.-J.: Allgemeine Pädagogik. Die Grundlage von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft. Reinbek 1979

Gilligan, C.: Die andere Stimme. München 1984

Graff, U.: Selbstbestimmung für Mädchen. Pädagogische Auswertung der Theorie und Praxis des Mädchentreffs Bielefeld. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.), Ideen & Konzepte Band 13, Münster 1999

Graff, U.: Selbstevaluative Forschung in einem feministischen Projekt. Überlegungen zu einem Prozess in Nähe und Distanz. In: Friebertshäuser, B./Prengel, A.. (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 1997, S. 731-744

Haasis, M.: Die feministische pädagogische Beziehung. Ausgewählte pädagogische Konzepte und der Beitrag des Affidamento. Königstein/Taunus 2002

Heinemann, G.: Mädchenarbeit im Stadtteil. In: Stiftung SPI – MÄDEA, Interkulturelles Zentrum für Mädchen und junge Frauen (Hg.): Mädchen in sozialen Brennpunkten. 2000, S. 193-207

Hornstein, W.: Bildungsziele und Bildungsaufgaben der Kinder- und Jugendarbeit auf der Grundlage jugendlicher Entwicklungsaufgaben. In diesem Band 2003

Jaeckel, M.: Weibliche Gegenkultur als Chance selbstbestimmten Lebens für Mädchen und junge Frauen. In: Hartmann u.a. (Hg.): Lebensformen und Sexualität. 1998, S. 122-126

Lemmermöhle, D.: Persönlichkeitsentwicklung und Geschlecht. Ziele und Ansatzpunkte einer geschlechterbewußten Mädchen- und Jungenbildung. In: Die Deutsche Schule, H.2, 1996, S.192-197

Libreria delle Donne di Milano: Wie weibliche Freiheit entsteht. Berlin 1988

Metz-Göckel, S.: Koedukation – nicht um jeden Preis. Eine Kritik aus internationaler Perspektive. In: Behm, B.L. u.a. (Hg.): Das Geschlecht der Bildung. Die Bildung der Geschlechter. 1999, S. 131-147

Möhlke,G. / Reiter, G.: Feministische Mädchenarbeit – Gegen den Strom. Münster 1995

Mollenhauer, K.: Vergessene Zusammenhänge. München 1983

Muraro, L.: Weibliche Genealogie und Geschlechterdifferenz. Vorträge. Herausgegeben vom Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Bildung für Frauen e.V., Frankfurt/M. 1989

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Walzer, M.: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt/M. 1992

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Wollstonecraft, M.: Thoughts on the Education of Daughters. London 1787

Woolf, V.: Ein Zimmer für sich allein. Frankfurt/M. 1994

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