Von Rainer Deimel (ABA Fachverband Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen)
Ein praktische Möglichkeit der Partizipation in einer pädagogisch betreuten Einrichtung und über sie hinaus
Marxloh (ca. 21.000 Einwohner) ist ein Stadtteil im Duisburger (525.000 Einwohner) Norden. Marxloh kann eine Arbeitslosenquote von 25% vorweisen. 60% der Marxloher/-innen sind ausländischer Herkunft/Abstammung. Im Stadtteil ist eine fortschreitende Gettoisierung festzustellen. Der Stadtteil verfügt über einfache, billige Wohnungen. Früher war Marxloh ein „Malocherviertel“ (Arbeiterstadtteil), das vorwiegend durch Stahl- und Kohleindustrie geprägt war. Der Rückzug der Montanindustrie war mit einer rapiden Verarmung des Stadtteils verbunden. „Man zieht aus Marxloh fort, wenn man dazu eine Möglichkeit hat“, heißt es; dies auch beispielsweise bei türkischen Bewohner/-innen. Oder: „Man verschweigt nach Möglichkeit, dass man in Marxloh wohnt.“
Im Stadtteil leben ca. 2000 Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren. 80% dieser Kinder sind ausländischer Herkunft. Die Kolleg/-innen vor Ort berichten von einer „überdurchschnittlich hohen Betreuung“ durch den Allgemeinen Sozialen Dienst (Erzieherische Hilfen); ferner sei das „Sozialverhalten problematisch“. Man stelle eine „Neigung zur Bandenbildung“ fest. Gleichzeit könne man allerdings nicht bestätigen, dass die (von den Medien oft so hoch gehängte) Kriminalitätsquote höher als anderswo sei.
Bezogen auf die Gesamtbevölkerung Marxlohs kann gewissermaßen eine „selbstgewählte“ Kolonialisierung festgestellt werden, eine zunehmende Separierung nach Nationalitäten. Als signifikant auffallend werden dementsprechend „Sprachprobleme“ – das Verstehen und Kommunizieren der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen miteinander – geschildert. Selbst Kinder, die Deutsch gelernt hätten, „verfielen“ wieder zunehmend in ihre „Muttersprachen“. Aus diesem Phänomen lässt sich ein steigendes Aus- und Abgrenzungsverhalten nachvollziehen. Erwähnenswert scheint, dass Pädagog/-innen glaubten, es sei wichtig, sich sprachlich den „neuen Majoritäten“ anzupassen, etwa indem man selbst Türkisch lernen würde. Dem widersprachen die Kinder: nicht alle seien türkischer Herkunft, vielmehr gelte es zu berücksichtigen, dass auch Kinder aus anderen Gruppen – etwa aus Marokko, dem Libanon, aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien und etlichen mehr – an den Aktionen des Spielmobils partizipierten. Die Kinder schlugen vor, sich kommunikativ auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu einigen. Dies ist Deutsch und dies findet sich entsprechend in den Projektregeln, die die Kinder mithilfe der Mitarbeiter/-innen „erarbeiteten“, wieder (siehe weiter unten im Text).
Neben dem Spielmobil gibt es ein Jugendzentrum und zig Koranschulen. Außerdem werden zahlreiche bezuschusste Sprachkurse angeboten. Neben den Aktivitäten des Spielmobils „Kleiner Tam Tam“ werden keine weiteren organisierten Spielangebote, die vom 10. Kinder- und Jugendbericht als unverzichtbar dargestellt werden (vgl. 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Bonn 1998, S. 230 ff.), vorgehalten.
Unter dem Titel „Portrait eines Malocherviertels“ ist vom SWR (Sendung vom 23.2.1999) im Internet folgender Hinweis zu finden: „In Marxloh, dem „Malocherviertel“ im Duisburger Norden, sind nach Zechensterben und Stahlkrise 82 Straßen, bewohnt von 21.400 Menschen, zum Slum verkommen – Arbeitslosenquote 25%. Kaufhalle und Woolworth sind längst abgewandert, an der Trinkhalle (Anm. R.D.: „Trinkhallen“ nennt man in Ruhrgebiet die Kioske.) hängt ein Pappschild „Pächter gesucht“, vor der Pizzeria kifft die Jugend, der Kodi-Discount wirbt mit dem Slogan „Der Markt, in dem es nichts zu essen gibt“, die Jump-In-Spielhalle wird einmal im Monat ausgeraubt. ´Marxloh war mal schön´, sagt der ehemalige Schützenkönig.“
Das Spielmobil „Kleiner Tam Tam“ wurde 1995 gegründet. Von 1995 – 1997 wurden „normale Einsätze“ gefahren. „Einsatz“-Orte waren Schulhöfe. 1997 entstand im Team die Idee, die „Stadtteile zurückzuerobern“, sie sollten „gekapert“ werden. So entstand das Projekt „Piraten erobern Marxloh“. Zielgruppe waren Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren (wobei es eine Alterskarenz von drei bis 15 Jahren gab). Methodisch angesiedelt war das Projekt zwischen theaterpädagogischen Aktionen, Eroberungsstreifzügen (Streifzüge haben sich als probates Mittel im Rahmen von Beteiligungsaktionen erwiesen) und Spiel- und Lebensraumplanung. Die bisherige Stadtteilplanung fand von „grünen Tisch“ aus statt. Für das Projekt wurde auf den Schulhöfen, die räumlich einbezogen werden sollten, geworben. Bereits während der Werbeanimation verkleideten sich die Mitarbeiter/-innen. Dieses theaterpädagogische Hilfsmittel erwies sich als nützlich, wenngleich es sich für manche Teamer/-innen erst einmal eine Überwindung darstellte, die Identität zu wechseln.
Das Projekt wurde an sechs Standorten in jeweils vier Tagen realisiert.
- Tag:
Das Piratenschiff aus dem „Hinterkaspischen Meer“ (ein Schiffsnachbau, der mobil war) „strandete“. Die Piraten kaperten die komplette Umgebung („Alles unser!“). In die Animation waren Figuren eingebaut.
So gab es den „Smölf“, ein vermittelndes Wesen zwischen den Kindern und den Piraten, gespielt von einer verkleideten Mitarbeiterin. Der Kapitän, eine lebensgroße Puppe mit Augenklappe und Holzbein, wurde von den Kindern – was manche Mitarbeiter/-in als fantasiemäßiges Mittelmaß empfand – in „Captain Hook“ „getauft“. Diese Figur diente im Rahmen der Animation als Projektionsfigur, was die pädagogischen Agitationsmöglichkeiten der Teamer/-innen vergrößern half und sie somit entlasteten. Es fanden zahlreiche unterschiedliche Sinnes-Aktivitäten (Übungen) statt, unter anderem gab es eine „Prüfung der Seh-(See-)Tauglichkeit“. Danach wurden die Kinder Mitglieder im „Piratenclub“ (insgesamt gab es 800 Clubmitglieder), was durch einen Clubausweis dokumentiert wurde. Diese Ausweise lieferten den Pädagog/-innen gleichsam Hintergrundwissen über die Herkunft usw. der Kinder. Gemeinsam mit den Kindern wurden „Piratengesetze“ aufgelegt, die auf einer Gesetzesrolle festgehalten wurden. Die Erstellung der Gesetze gab Anlass, sich mit Themen zu beschäftigen, die für die Kinder „ein Thema“ sind, z.B. Gewalt und Gewalterfahrungen, Sprache, andere multikulturelle Aspekte u.a.m. Ein Beispiel für den Inhalt einer solchen Gesetzesrolle:
Es wird nicht gehauen und wehgetan.
Es wird nicht gedrängelt.
Wir sprechen alle eine Sprache.
Es wird an nix gezupft.
Es wird nicht durcheinander gequatscht.
Piraten helfen einander.
Bleibt die Frage, was getan werden sollte, wenn jemand gegen ein Gesetz verstieß. Hierzu ließen sich die Kinder auch etwas einfallen, z.B. musste ein „Gesetzesbrecher“ eine ganze Weile auf einem Bein stehen.
- Tag:
Basteln, Schminken und vertiefendes Spielen (Theater, Rollenspiele usw.) zum Projekt
- Tag:
Es fanden Streifzüge mit Fotoapparaten statt, Die Gruppen hatten jeweils Stadtteilpläne dabei. Unter anderem hielten sie ihre „Lieblingsecken“, aber auch „Schreckensecken“ fest.
- Tag:
Das zusammengestellte Material wurde zu großen Plänen verarbeitet und öffentlich ausgestellt. Mit Passanten, Eltern, anderen Kindern usw. wurde eine öffentliche Diskussion geführt.
Auch begleitende Aktivitäten standen ganz im Zeichen des Piratenprojekts. So wurde die Presse etwa mit einer „Flaschenpost“ zu einer Pressekonferenz und zu der Diskussion des Projekts eingeladen. Durch diese spektakuläre Aktion ließ sich die Wahrnehmung des Projekts vergrößern. Weiter folgten Ferienspiele unter dem Motto „Piratenstadt“ als zentrale dreiwöchige Aktion. Gegenüber den viertägigen dezentralen Aktivitäten betonten die Teamer/-innen, dass sich das Mehr an Zeit während der Ferienaktion für die pädagogische Kontinuität als vorteilhaft erwiesen habe. Man ziehe daraus die Konsequenz, vergleichbare Projekte künftig in den Ferien zu starten. Als sinnvoll stellte sich ferner heraus, gemeinsam mit den Kindern zu kochen und zu essen, da viele Kinder bis dahin in der Regel nur Fastfood, Kartoffelchips oder gar kein Mittagessen kannten.
In der Folge des Projekts – nach der Eroberung – wurden zwei Standorte für eine konkrete Veränderung (Stadtplanung) einbezogen, einmal ein Wasserspielplatz in einem Park. Es existierte eine „fertige Planung“ des Grünflächenamtes. Das Spielmobil machte zur Voraussetzung für ein Beteiligungsverfahren, dass die von den Kindern entwickelten Vorstellungen in der Planung und Realisierung berücksichtigt würden. Eine Geländererkundung wurde durchgeführt (unter methodischer Zuhilfenahme einer „Foto-Schnitzeljagd“). Diese Aktion half, dass die Kinder generell den Ort erfahren und kennen lernen konnten. Gleichzeitig wurden Erkenntnisse, die für den weiteren Planungsprozess wichtig waren, zutage gefördert, etwa dass zahlreiche Kinder den Ort bislang mieden, da er ihnen zu dunkel war. Nach der Annäherung wurde eine Bestandsaufnahme durchgeführt sowie eruiert, was für die Kinder „am Ende wichtig“ war. Dies geschah unter methodischer Einbeziehung von z.B. Traumzeichnungen und Modellbau. Bei Letztgenanntem ist es wichtig, eine Vielfalt die Phantasie anregendes (Bastel-)Material anzubieten. Erstellt wurde eine Wunschliste, eine Meckerliste, aber auch eine Elternliste sowie eine Kinderzeitung. Die Einbeziehung der Eltern wurde mithilfe eines Elterncafés erleichtert. Durchgeführt wurde das Projekt in den Osterferien 1999. Die Fertigstellung des neuen Spielplatzes wird Anfang des Jahres 2000 sein. Im Gesamtzusammenhang empfanden die Teamer/-innen es als nützlich, über persönliche Kontakte zu Politiker/-innen, zur Presse, zum Radio usw. zu verfügen.
Die Veränderung eines sich z.Zt. als dunkel und hässlich präsentierenden Spielplatzes ist gegenwärtig angelaufen. Das Team des Spielmobils hat hierbei die Möglichkeit, eine Architektin mit einbeziehen zu können, die sich an dem Partizipationsverfahren beteiligen wird.
Seitens des Spielmobils ist für das Jahr 2000 ferner geplant, weitere Beteiligungsaktionen durchzuführen und sich nach Möglichkeit auch konkret am Umbau von Spielplätzen zu beteiligen.
Informationen bei: Entwicklungsgesellschaft Duisburg mbH, Spielmobil „Kleiner Tam Tam, Willy-Brandt-Ring 44. 47169 Duisburg, Telefon 0203/54424-138. Ansprechpartnerin in Doris Grüning.
Vorstehender Beitrag ist entnommen dem Buch „Offene Angebote für Kinder“, herausgegeben von Bernd Kammerer, emwe-Verlag, Nürnberg 2000 (ISBN 3-932376-12-9)