NAGEL-Redaktion – Panische Eltern: Warum uns die Flut an Warnhinweisen in den Wahnsinn treibt – und die Kinder ebenso

Kinder leben gefährlich. Sie werden entführt und missbraucht. Sie erleiden schreckliche Unfälle, sie verirren sich und verpassen nach Einbruch der Dunkelheit den Bus. Ständig! Das jedenfalls ist die Botschaft einer Erkelenzer Firma an alle, die Kinder haben. Und, siehe da, die Erkelenzer haben ein System entwickelt, das verängstigten Eltern Sicherheit bieten soll. „Kids protect“, so sein Name, arbeitet mit Handytechnik und kann den Aufenthaltsort eines Kindes überwachen – verlässt es einen genau definierten Aktionsradius, schlägt das System Alarm. In den USA verkauft sich so was gut, und auch Deutschland scheint bald reif für die elektronische Vollkontrolle.

Denn: Unter den Eltern grassiert die Angst. Die Angst vor Kriminellen und Perversen, aber auch die Angst vor Computerspielen und dem Fernsehen. Wir haben Angst vor Allergien, vor Schadstoffen, Fett- und Magersucht, vor den Gefahren des Autoverkehrs, Alkohol und Drogen, UV-Strahlen, vor Schulversagen, dem plötzlichen Kindstod und vor Teenieschwangerschaften. Wir haben sogar Angst vor Gartenteichen, denn das Kind könnte ja darin ertrinken.

Wo ist nur die Lockerheit geblieben, dieses Gefühl, „die kriegen wir schon groß“? Durch den brennenden Wunsch, wirklich alles, alles richtig zu machen, verkrampfen wir zusehends. Wenn etwas passiert, ganz klar, sind wir schuld. Schließlich hätten wir ja den Erste-Hilfe-Kurs für Säuglinge buchen, den Sohn bei der Nachhilfe oder die Tochter beim Mädchen-Selbstverteidigungs-Training anmelden können.

Überhaupt anmelden. Wir lieben es, unsere Kinder irgendwo anzumelden, weil wir sie dann in Sicherheit wähnen. Turnen, Tennis, Ballett oder Blockflöte – lückenlose Kinderaufsicht ist auch ein Statussymbol geworden. Straßenkinder gelten als Schmuddelkinder.

Auch die letzten kindlichen Vergnügungen wollen gut durchorganisiert sein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder“ in Bonn warnte Eltern in diesem Winter eindringlich vorm Schlittenfahren. Eltern sollten die Rodelpiste vorher in Augenschein nehmen und die Kinder nie bäuchlings oder mit dem Kopf voran rodeln lassen. Die Bahn dürfte weder zu steil noch zu schmal sein, die Schneedecke bitte nicht gefroren. Außerdem sollte das Kind einen Helm und der Schlitten ein TÜV-Zeichen tragen. Was hätten wohl die Kinder von Bullerbü zu diesen Rodelregeln gesagt?

Wahrscheinlich wären sie gleich zu Hause geblieben. Das empfiehlt sich übrigens auch im Sommer, wie eine Plakatkampagne uns Eltern vor zwei Jahren nahe legte. Das Motiv: ein Kind mit nacktem Oberkörper auf dem Spielplatz, das gerade von einem großen, schwarz gewandeten Mann entführt wird. Sexueller Missbrauch? Nein. Die Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Prävention warb damals mit dem Slogan: „Holen Sie Ihr Kind aus der Sonne, bevor es ein anderer tut.“ Wen schaudert’s da nicht? Ein zartes, halbnacktes Kind, ein gesichtsloser Sensenmann … Hu!

Der natürliche Impuls, uns um unsere Kinder zu sorgen, macht uns offen für solche Schreckensbilder. Die Melodie der Elternliebe hat vor allem ein Grundrauschen: Schuldgefühle. Und Lobbyisten aller Art beherrschen es perfekt, dieses Geräusch niemals verstummen zu lassen.

Zum Beispiel mit allgegenwärtigen Warnhinweisen, die dafür sorgen, dass ein latent vorhandenes Unbehagen immer wieder in lodernde Panik umschlägt. So liegen angeblich überall Kleinteile herum, die kleine Kinder auf der Stelle verschlucken, um daran jämmerlich zu ersticken. Nahrungsmittel sollen nach dem Willen der NRW-Verbraucherschutzministerin Bärbel Höhn nicht unbeschrieben bleiben – sie forderte jüngst erst Karies-Warnhinweise auf Süßigkeiten-Packungen. Und fast hysterisch mutet das Kleingedruckte auf einem Osterbastelbogen an. „Nur geeignet für Kinder ab vier Jahre“, steht da geschrieben – wegen „Verletzungsgefahr mit der Schere“.

Je weniger Kinder es in Deutschland gibt, desto mehr Lust hat die Nation, sie mitzuerziehen. Jeder einzelne Aufruf mag gut gemeint sein – in der Masse beginnen uns die wohlmeinenden Warnungen zu erdrücken. Ihr Eltern, so das unterschwellige Signal der Botschaften, Ihr Eltern seid eigentlich nicht ganz zurechnungsfähig. Was gut und richtig ist für Kinder, das wissen nur die Sicherheitsexperten, Pädagogen oder auch eine TV-Supernanny. Ohne konkrete Anweisungen geht alles gründlich schief.

Danke sehr dafür, aber wir können uns vor guten Ratschlägen kaum mehr retten. Wir setzen den Kindern zu wenig Grenzen, heißt es, dafür gönnen wir ihnen zu viele Süßigkeiten, zu wenig Bewegung und zu viel Fernsehen. Von Anfang redet jeder mit – wieviel Muttermilch das Baby braucht und wie lange, welche Betreuungsform optimal ist und wie Eltern ihre Kleinen am besten fördern. Denn Pisa geht uns ja alle an, und schließlich ruht auf den kleinen Schultern die Hoffnung künftiger Rentnergenerationen.

Unser Selbstbewusstsein schrumpft im Laufe unserer Eltern-Sozialisation auf die Größe einer Erbse. Und die Kinder, die wir ja so dringend schützen wollen? Die sind auch ohne übertriebene Vorsichtsmaßnahmen heute gesünder, materiell besser gestellt und weniger Gefahren ausgesetzt als je zuvor. Aber sie beginnen immer mehr, die Leidtragenden der kollektiven Panikmache zu werden. Während sie früher auch ohne Aufsicht spielen durften, erlauben das heute immer weniger Eltern. Immer hockt irgendwo eine Mutter oder ein Vater, um Streit zu schlichten, geschältes Obst aus Tupperdosen zu verteilen und bei Langeweile lustige Spiele zu erfinden. Es könnte ja ein Kind auf eigene Ideen kommen. Dumme Ideen.

Indem alles als gefährlich gilt, wird es für Kinder immer schwieriger werden, sich selber, die eigenen Kräfte auszuprobieren, an dosierten Risiken zu wachsen und Erfolgserlebnisse zu spüren. Was soll aus einer Vierjährigen werden, der wir nicht zutrauen, mit einer Schere zu hantieren? Einem Siebenjährigen, der seinen Schulweg nur mit Mami bewältigt? Und aus einem Neunjährigen, der nur (behelmt) einen Rodelberg runterrutschen darf, wenn seine Eltern vorher die Piste abgeschritten und für ungefährlich befunden haben? Und was werden seine Kumpels zu der Aktion sagen? Hier ein ganz persönlicher Warnhinweis: Richten Sie diesen Kindern frühzeitig ein Therapiekonto ein. Sicher ist sicher.

(Ismene Poulakos in der Wochenendbeilage des Kölner Stadt-Anzeigers vom 23. April 2005)

i-Punkt 6-2005

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