NAGEL-Redaktion – Jugendpolitische Überlegungen aus Sicht eines aktiven Politikers

Ein Interview mit Prof. Dr. Gerd Bollermann

Interview mit Prof. Dr. Gerd Bollermann anlässlich des 20-jährigen Bestehens des ABA Fachverbandes (1993).

Gerd Bollermann war 1973 einer der Initiatoren und Gründungsmitglied des Verbandes (damals Landesarbeitsgemeinschaft Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze NRW). Zum Zeitpunkt des Interviews war er beschäftigt als Hochschullehrer an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und seit 1999 deren Leiter. In seiner politischen Funktion war er zum Zeitpunkt des Interviews Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses in Dortmund (1987 – 1994). Seit dem Jahr 2000 gehört er als Abgeordneter dem nordrhein-westfälischen Landtag an. Dort nimmt er das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses wahr. Das Interview wurde von Rainer Deimel, Referent beim ABA Fachverband und verantwortlicher Redakteur, geführt. Es wurde zuerst veröffentlicht in: DER NAGEL 56/1994. Interessanterweise scheint sich an vielen politischen Umständen, die zum Teil Inhalt des Gesprächs waren – vor allem hinsichtlich der kommunalpolitischen Dimensionen – bis heute, also fast zehn Jahre später – kaum etwas geändert zu haben. Die den Texte ergänzenden bzw. erläuternden Fußnoten wurden vor der Einstellung in das Internet eingefügt.

DER NAGEL: Herr Prof. Bollermann, 20 Jahre ABA, lag eine solche oder gar längere Zeit in Ihrer und in der Vorstellung Ihrer Mitstreiter, als Sie Anfang der siebziger Jahre die LAG ABA gründeten?

Gerd Bollermann: Nein, überhaupt nicht. Wir haben in einer Notsituation diese Gründung vorgenommen. Wir waren am Anfang auch in einer Kampfsituation, die Idee durchzusetzen. Wir haben nicht einen Zeitraum von zwanzig Jahren gesehen; wir haben vielleicht über fünf Jahre geblickt und gesagt, wenn wir es in diesen fünf Jahren schaffen, die Idee in Deutschland und hier in Nordrhein-Westfalen stärker zu etablieren, dann haben wir einen tollen Erfolg erzielt. Da hat sich auch relativ schnell gezeigt, dass die eine Initiative oder das andere Projekt erfolgreich war. Nach den ersten fünf Jahren war wohl erkennbar, dass es länger gehen würde, dass wir über den ersten kleinen Berg hinweg waren. Wir wussten allerdings lange nicht, ob sich die Idee wirklich durchsetzen würde. Im Rückblick muss man auch sagen, dass es immer Hochs und Tiefs gegeben hat.

DER NAGEL: Was haben Sie sich damals dabei gedacht, die Organisation „Landesarbeitsgemeinschaft Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze“ (LAG ABA) zu nennen? Wie war das mit den Begriffen?

G.B.: Seinerzeit gab es eine sehr deutliche inhaltliche Auseinandersetzung – auch – über die Begrifflichkeit. Der Begriff „Abenteuerspielplatz“ war geprägt durch den ersten Abenteuerspielplatz, den es in Deutschland überhaupt gab, nämlich den Abenteuerspielplatz im Märkischen Viertel in Berlin. Der Begriff „Bauspielplatz“ kam aus Dänemark zu uns herüber und wurde favorisiert von Prof. Schottmeier aus Hamburg, der auch in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenbereich seinerzeit versucht hat, den Begriff „Aktivspielplatz“ einzuführen. Dann gab es hier eine besondere Dortmunder Entwicklung. Hier wollte man eigentlich auch auf den Begriff „Aktivspielplatz“ hinaus. Es gab auch Zeiten, in denen es Mehrheiten für den einen oder anderen Begriff gab – ich will mal eine Klammer aufmachen: Jugendfarmen, Spielmobile usw., das spielte zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Rolle. In unserem Team, auf dem Abenteuerspielplatz in Dortmund-Lütgendortmund (Anm. d. Red.: Hierbei handelte es sich 1970 um den ersten Abenteuerspielplatz in Nordrhein-Westfalen), in dem ich hauptamtlicher Mitarbeiter war und die übrigen Praktikantinnen und Praktikanten waren, haben wir um den Begriff, wie denn der zu gründende Verein/Verband heißen sollte, geknobelt. Eine Praktikantin kam auf die Idee, einen Namen zu wählen, der auch klingt, unabhängig von den begrifflichen Auseinandersetzungen. Unter Beteiligung der Kinder des ASP in Lütgendortmund kam es dann zu der Namensgebung. Damals ist auch unser Maskottchen, der Hamster, kreiert worden. Der Hamster mit seinem Werkzeug, der Dokumentation dessen, was die Kinder auf einem ASP tun, half auch mit, ein Stück Identität aufzubauen.

DER NAGEL: Was bewegt Sie, wenn Sie gegenwärtig über die lange Vereinsgeschichte nachdenken?

G. B.: Mich bewegt, dass es in der zwanzigjährigen Verbandsgeschichte immer wieder ein Auf und Ab gegeben hat durch Personen, die diesen Verein mitgeprägt haben. Es sind nicht immer innerverbandlich harmonische Phasen gewesen. Ich habe manchmal den Eindruck gehabt – als später Außenstehender -, es würde nicht weitergehen. An manchen Stellen hätte ich mir den Verlauf etwas harmonischer gewünscht. Das gilt allerdings auch für die Anfangsphasen, in denen wir uns manches Mal im Vorstand gefetzt haben, da es unterschiedliche Interessen gab. Wir waren alle Individualisten mit einem hohen Sendungsbewusstsein. In so einem Zusammenhang sind Reibungen dann zwangsläufig.
Das Zweite, was mich bewegt, ist der Blick nach außen. Wir haben in einer für Kinder gesellschaftspolitisch schwierigen Situation angefangen. Ich hatte geglaubt, wir hätten die Situation für Kinder in diesen zwanzig Jahren ein Stück weiter entwickelt. Es gibt heute das eine oder andere mehr an Angeboten. Defizite allerdings gibt es nach wie vor. Viele Dinge zeichnen sich heute noch viel deutlicher ab als vor zwanzig Jahren. Ich denke da z.B. an das Thema „Gewalt“.
Ein Drittes ist die finanzpolitische Situation. Wir haben als Leute angefangen, die improvisiert haben, die ein Sendungsbewusstsein hatten und davon überzeugt waren, dass die Aufgabe zu schaffen sei. Finanzpolitisch gesehen waren das keine rosigen Zeiten, obwohl es irgendwie ging. In den zwanzig Jahren hat es auch in dieser Beziehung ein Hoch und Nieder gegeben. Augenblicklich sind wir bezüglich der kommunalpolitischen Seite der Finanzierung in einem deutlichen Tief. So schlecht, wie es heute aussieht, war es in der Anfangszeit – selbst bei einer Verklärung, die man manchmal vornimmt – nicht.

DER NAGEL: Sie sind uns nach wie vor als Mitglied verbunden. Für wie wichtig halten Sie die ABA-Arbeit im Augenblick? Worin sehen Sie gegenwärtig die wichtigsten Aufgaben für ABA?

G.B.: Ich bin ABA als Mitglied verbunden – wenn auch in den letzten Jahren eher als passives Mitglied – und werde das auch bleiben. Ich halte den Blick von „außen“ zeitweise für interessant: Ich halte es für wichtig, dass es einen Landesverband gibt, der Interessen artikuliert, der auch sehr deutlich gegenüber Financiers – wie den Kommunen – einen bestimmten fachlichen Anspruch erhebt sowie Interessen und Macht dokumentiert. Viele Leute zeigen Macht; warum nicht auch die PädagogInnen? Zum Zweiten halte ich einen solchen Verband elementar wichtig hinsichtlich Informationsaustausches und Qualifizierung. Fortbildung ist ein ganz wesentliches Instrument. Ein Letztes: Als wir anfingen, waren wir Exoten, die aus einzelnen Städten, z.B. Berlin, Köln und Dortmund kamen, die weite Reisen machen mussten, um sich kennen zu lernen und auszutauschen. Heute ist das Regionalprinzip wichtig. Ich persönlich habe mich seinerzeit lange dagegen gesträubt; inzwischen bin ich davon überzeugt, dass regionale Zusammenhänge einen wichtigen Teil der verbandlichen Arbeit ausmachen.

DER NAGEL: Sie werden es mitbekommen haben, und unsere diesjährige Mitgliederversammlung wird voraussichtlich eine Satzungsänderung beschließen, die zum Ziel hat, (politische) „Interessenvertretung für Kinder“ ebenfalls als Verbandsaufgabe festzuschreiben. Wie stehen Sie dieser Entwicklung gegenüber?

G.B.: Da müssen wir über Politik streiten, was man unter einer politischen Interessenvertretung versteht. Für mich persönlich war der Weg in eine politische Partei in meiner weiteren Entwicklung irgendwie zwangsläufig als jemand, der sich engagiert hat für Bürgerinitiativen. Ich halte von einer Interessenvertretung sehr viel, wenn man politisch als gesellschaftspolitisch versteht. Insofern ist für mich ABA auch immer eine gesellschaftspolitische Interessenvertretung für Kinder gewesen. Man muss Politik in Gesamtzusammenhängen sehen und diskutieren. Insofern kann ich eine Entwicklung hin zu einer global-gesellschaftspolitischen Interessenvertretung sehr gut vertreten. Eine zu enge politische Sichtweise würde ich nicht für gut halten.

DER NAGEL: Unserer Auffassung nach wird es höchste Zeit, dass die VertreterInnen und MitarbeiterInnen der Einrichtungen wieder deutlich an politischem Profil zulegen, und zwar auch genau in dem von Ihnen genannte Sinn, gesellschaftspolitisches Bewusstsein wieder stärker entwickeln, dies sowohl in Richtung Absicherung einer professionellen Arbeit mit Kindern als auch im Sinne o.g. Interessenvertretung für Kinder. Im Zuge dieser Überlegungen haben wir teilweise das Schwergewicht unserer Bildungsarbeit verstärkt auf Perspektiven zur Klärung (fach-)politischer Fragen gelenkt. Würden Sie unsere Auffassung teilen, und könnten Sie uns ad hoc Einschätzungen geben, was Ihrer Meinung nach dabei vor allem zu beachten ist?

G.B.: Wer sich für Kinder einsetzt, wer Defizite deutlich machen will, muss auch politisches Profil zeigen. Für mich gibt es nur wenige demokratische Parteien, die in der Vergangenheit Politik für Kinder gemacht haben; deshalb will ich das nicht parteipolitisch sehen. Dem, was hinter der Frage steht, ist voll zuzustimmen. Ich habe bedauert, dass viele, die in den pädagogischen Bereich gegangen sind, sich apolitisch entwickelt haben. Ich halte es für sträflich, wenn pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht über die politischen Zusammenhänge, in denen sie arbeiten, Bescheid wissen. Zu einer vernünftigen pädagogischen Arbeit gehört auch ein politisches Grundbewusstsein. Dazu gehört auch, den Kindern deutlich zu machen, warum man dieses Grundbewusstsein hat. Ich bin dagegen, jemanden – auch im pädagogischen Prozess – auf eine politische Partei hin auszurichten. Als Demokrat muss man Kindern sehr deutlich sagen, welches demokratische Spektrum vorhanden ist. Ich bin erschrocken über die Rechtsentwicklung, über die Gewaltauseinandersetzung. Ich meine, genau an der Stelle ist ein Pädagoge oder eine Pädagogin gefragt. Wir müssen als Pädagogen Farbe bekennen und deutliche Signale setzen, deutliche Signale gegen Rechts, gegen die Braunen und gegen Gewalt. Es ist der richtige Weg, stärker Perspektiven zu entwickeln und ein Schwergewicht der Bildungsarbeit hierauf zu setzen.

DER NAGEL: Wir stellen in immer größerem Maße eklatante Widersprüche innerhalb der politischen Parteien fest. Diese beginnen bei Aussagen der Bundesregierung im Verhältnis zu der von Bonn betriebenen Politik und setzen sich häufig mit unterschiedlich großen Divergenzen bis hin auf die kommunale Ebene fort. Wir sehen bei den GRÜNEN augenblicklich das größte Maß an Glaubwürdigkeit, was gewiss auch aus der politischen Opposition heraus nicht sehr schwer ist. Der außerordentliche Landesparteitag der NRW-Sozialdemokraten am 5.3.1994 in Rheine hat beschlossen, dass in der nächsten Legislaturperiode des Landtages ein „Gesetz zur Förderung der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit als 3. Ausführungsgesetz“ zum KJHG durchgesetzt werden soll. In vielen, auch neu formulierten Inhalten und Zielen sozialdemokratischer Politik sehen wir unsere Arbeit in weiten Teilen bestätigt. Wir erleben aber, dass es vor allem sozialdemokratische KommunalpolitikerInnen sind, die mit Nachdruck – und offensichtlich schamlos und wider besseres Wissen – sozial- und jugendpolitischen Kahlschlag betreiben. Wie schätzen Sie diesen Widerspruch ein?

G.B.: Ich will mit dem Stichwort „Glaubwürdigkeit“ beginnen. Es ist richtig, dass eine Partei in der Opposition nicht nachzuweisen braucht, ob sie das, was sie verspricht, auch hält. Da würde ich dann manchmal auch ein großes Fragezeichen setzen. Zur Oppositionsarbeit gehört meines Erachtens dazu, dass das, was man meint und fordert, auch ehrlicherweise umsetzbar ist. Das Schlimme, was ich derzeit im politischen Geschäft erlebe, ist, dass es Unmengen von Schauanträgen gibt, Unmengen an Vernebelungstaktiken laufen und jeder versucht, sich auf Kosten des anderen zu profilieren. Entkleidet man mal diese ganzen Nebelschwaden und kommt auf den Kernpunkt, dann ist es in der Kommunalpolitik vielfach auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Durchsetzungsfähigkeit von Personen.
Die Sozialdemokraten haben meines Erachtens jugendpolitisch wieder Tritt gefasst. Wir haben uns einige Zeit lang viel zu sehr nur mit einem Teilbereich beschäftigt, nämlich dem des Kindergartens. Wenn man die Vorgaben der Bundesregierung und die Nachfolgeentwicklungen des Landes sieht, wird ein Großteil des Geldes für den Kindergartenbereich aus den anderen Bereichen der Jugendhilfe herausgenommen. Das ist der Punkt, dass sich diese Widersprüche zwangsläufig ergeben. Mit dem Landesparteitag haben wir jugendpolitisch einen deutlichen Akzent gesetzt. Ich hoffe, dass Franz Müntefering, der Arbeits- und Sozialminister, aber auch der Jugendminister (Anm. d. Red.: des Landes Nordrhein-Westfalen) erkannt hat, dass das Thema „Kinder- und Jugendarbeit“ über den Bereich des Kindergartens hinaus ein ganz wichtiges Thema für die gesellschaftliche Entwicklung dieses Landes ist. Aus Gesprächen mit dem Minister weiß ich, dass er das so sieht. Ich bin der Hoffnung, dass wir mit dem „Gesetz zur Förderung der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit“, also dem 3. Ausführungsgesetz, etwas Vernünftiges hinbekommen werden. Wie das im Detail aussehen wird, das muss man nach den nächsten Landtagswahlen abschätzen und auch sehen, wie sich die wirtschaftspolitischen Entwicklungen darstellen werden.  
Nun zu den offensichtlich sozialdemokratischen Kahlschlägen: Wenn man politische Verantwortung zu übernehmen hat, muss man auch finanzpolitische Verantwortung übernehmen, und hier darf man nicht verkennen, dass derzeit enorme Finanzmittel in Richtung Osten gelenkt werden. Es ist tatsächlich so, dass die Kommunen ganz erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten haben, dass sie sich beschränken, dass sie Prioritäten setzen müssen. So kommt es dann dazu, dass es in Nordrhein-Westfalen ganz unterschiedliche jugendpolitische Entwicklungen gibt. Es gibt Städte, in denen alle Jugendheime geschlossen werden, in denen beim Bau von Kindergärten und Kinderspielplätzen nichts mehr funktioniert. Es gibt Städte, die die Abenteuerspielplätze abschaffen  , weil sie der Auffassung sind, dass deren Aufgaben auch vom Jugendheim übernommen werden können  , und, und, und…  Oftmals wird eine Politik des geringsten Widerstandes betrieben. Wo sind die wenigsten betroffen, und wo sind diejenigen, die sich am wenigsten stark durchsetzen können? Dann muss man sich fragen, wenn in einer Stadt den Abenteuerspielplätzen „das Messer an die Kehle gesetzt“ wird: Wie haben wir uns denn eigentlich politisch aktiv beteiligt? Sind wir in einem Stadtteil so verwurzelt, dass wir durch unsere Arbeit Legitimation nachweisen können? Ich könnte das nicht für jede Einrichtung beantworten. So kommt es natürlich auch, dass es Widersprüche gibt, die sich über Personen, in ihren politischen Zielvorstellungen zeigen, aber auch Widersprüche, die sich aus dem Umfeld einer Stadt ergeben. Insofern ist das nie eine einseitige Sache, egal ob das nun SPD-, CDU- oder Koalitionsregierungen auf kommunaler Ebene sind. Ich glaube, wenn es zu so eklatanten Widersprüchen kommt, dass Abenteuerspielplätze geschlossen werden, dann hat das auch was mit denjenigen zu tun, die die Arbeit dort machen. Per Order de Mufti schließt keiner eine Einrichtung. Da heißt es dann wiederum, politisches Profil zeigen. Es wird nur der in ein politisches Geschehen eingreifen können, der, bevor es Konflikte gegeben hat, mit Politikern geredet, der Interessen deutlich gemacht, der Menschen gezeigt hat, dass die Arbeit, die dort geleistet wird, interessant ist.

DER NAGEL: In letzter Zeit lässt sich mancherorts der Eindruck nicht verdrängen, dass die gesetzlich vorgeschriebene Jugendhilfeplanung instrumentalisiert wird, um Kahlschläge zu legitimieren. An einigen Stellen laufen gegenwärtig Verwaltungsgerichtsprozesse gegen die öffentliche Jugendhilfe mit – nach Meinung renommierter Jugendhilferechtsexperten – durchaus berechtigter Hoffnung auf Erfolg. Würden Sie als Jugendpolitiker auch die Auffassung vertreten, dass die Jugendarbeit sich u.U. mithilfe der Gerichte aus der Zange zwischen dem GTK (2. AG KJHG) und den erzieherischen Hilfen befreien soll?

G.B.: Nach meinen Erfahrungen – auch im Umgang mit Gerichten in der Jugendhilfe – führt das langfristig nicht sehr weit. Im Einzelfall kann der Weg über die Gerichte mal der richtige sein. Viel wichtiger ist, im Bereich der Jugendhilfeplanung offensiver zu werden. Ich weiß, dass das Instrument der Jugendhilfeplanung in jeder Stadt anders benutzt wird, in jeder Stadt andere Formen der Partizipation gefunden werden. Trotzdem ist es ein Instrument – das uns der Gesetzgeber vorgegeben hat -, mit dem man arbeiten kann, ob nun in der „klassischen“ Jugendhilfeplanung oder in der sogenannten Vorfeldplanung zur Jugendhilfeplanung. Entscheidend ist, dass der öffentliche Träger mit den freien Trägern und den Initiativen in einen Kommunikationsprozess kommt. Ich sehe auch, dass die Initiativen dabei manchmal benachteiligt sind, da sie zuwenig Kapazitäten haben. Unterm Strich glaube ich, dass der Weg der Gerichte ein zu umständlicher, ein zu wenig effektiver und vor allem kein auf Dialog gerichteter ist, sondern er zementiert Fronten. Das halte ich für nicht gut.  

DER NAGEL: Können Sie auch unsere Auffassung teilen, dass sich viele JugendpolitikerInnen nicht in ausreichendem Maße ihrer Verantwortung und ihres Gewichtes, das sie durch das KJHG gewonnen haben, bewusst sind?

G.B.: Ich kenne viele, die damit überfordert sind, weil sie Jugendpolitik als „Feierabend-Politik“ neben anderen Politikfeldern haben. Der Kernpunkt ist meines Erachtens ein anderer: Dieses Bundesgesetz ist ein Gesetz, dem der „richtige Biss“ fehlt. Der richtige Biss in das Gesetz wäre gekommen, wenn es gleichzeitig ein Leistungsgesetz wäre mit einem echten Anspruch. Der Bund und die Länder haben sich gedrückt bei diesem Gesetz; sie haben nicht gesagt, wer „die Zeche bezahlen“ soll. Das beste Beispiel sind die Kindergärten, wo der Bund zwar richtige Entscheidungen getroffen hat, aber im Grunde genommen mit seinem Gesetz in die Tasche der Kommunen oder der Länder greift. Jugendhilfeplanung, vernünftig gemacht, kostet Geld. Nicht jede Stadt, nicht jede Kommune kann sich einen Wissenschaftler, einen langen Prozess der Partizipation erlauben. Es fehlt meines Erachtens da, wie an vielen anderen Stellen, im KJHG an wirklich harten Fakten. Von daher sehe ich die Perspektive etwas verschobener. Ich hätte mir ein besseres Gesetz, eine Leistungsverpflichtung von Bund und Land gewünscht. Dann würde es der eine oder andere auf der kommunalen Ebene auch besser durchsetzen können.

DER NAGEL: Wir sehen auch die finanzielle Misere der Kommunen, die wir für unerträglich halten. Gleichwohl sind wir der Auffassung, dass es gerade jetzt darauf ankommt, dass die Jugendpolitik ihr „Schwergewicht“ in die Waagschale wirft. Kinder und Jugendliche sind „die Zukunft unserer Gesellschaft“  . Was halten Sie von der Vorstellung, dass z.B. alle JugendpolitikerInnen ihr Amt zur Verfügung stellen würden – aparter Gedanke: Deutschland ohne JugendpolitikerInnen, um deren Gewicht einmal auf praktische Weise belegen zu können -, anstatt immer wieder darüber zu lamentieren, dass die Hände gebunden seien, kein Geld da sei usw.?

G.B.: Ein aparter und spontaner Gedanke, in der Tat, der aber letztendlich mehr Schaden provozieren und im Ergebnis noch weniger bringen würde, als das, was dahinter steckt. Wenn alle Jugendpolitiker oder diejenigen, die sich für Jugendpolitik engagieren, nicht gleichzeitig in derart schwierigen Situationen auch Lobbyisten in ihren Fraktionen für Jugend wären – und das würde das ja bedeuten: sie würden dieses Lobbyistentum in den Fraktionen aufgeben -, dann würde es noch viel düsterer, und wir würden um Jahre zurückgeworfen. Trotz aller Schwierigkeiten bin ich der Meinung, die Jugendpolitiker sollten bei der Stange bleiben. Ich würde mir wünschen, sie würden sich manchmal von dem einen oder anderen Finanzpolitiker nicht „unterbuttern“ lassen.

DER NAGEL: Wir beabsichtigen, im Laufe des Jahres Wahlprüfsteine zu entwickeln, in denen für uns die Glaubwürdigkeit der Politik hinsichtlich Kinderfreundlichkeit – nicht im formalisierten Sinne, sondern als politisches Konzept – eine zentrale Rolle spielen wird. Welche Kriterien wären für Sie erheblich in derartigen Wahlprüfsteinen?

G.B.: Wahlprüfsteine sind ein Instrument, das der Verband bereits in seiner frühen Geschichte benutzt hat. Es war seinerzeit kein sehr erfolgreiches Instrument. Trotzdem ist es legitim, Politiker, die sich zur Wahl stellen, zu fragen: Wie haltet ihr es denn mit den Interessen von Kindern? Wie wäre es zu fragen, wie man sich denn die Sozialpolitik in einer Stadt vorstellt? Kinderpolitik muss in einem Kontext mit Jugend- und Sozialpolitik gesehen werden. Wird z.B. im Bereich der Sozialpolitik ein Schwerpunkt gesetzt oder nicht? Oder gehört zur Kinderpolitik die Schaffung von Arbeitsplätzen dazu? Wird darin investiert oder nicht? Auch Kinder leiden ganz enorm unter Arbeitslosigkeit. Das wären für mich die beiden Eckpfeiler für derartige Kriterien:

1. Wie steht es mit Ideen zur Arbeitsmarktpolitik, zur Arbeitsplatzschaffung und zur Arbeit überhaupt;
2. Wie steht es mit der Sozialpolitik, und wie ist Kinderpolitik in diese eingebettet?

Ich halte diese beiden Punkte für die zentralen. Eine Partei, die sich zu diesen Punkten nicht äußert, wäre für mich auf kommunaler Ebene nicht wählbar.

DER NAGEL: Herr Prof. Bollermann, lassen Sie uns noch einmal zurückkommen auf den Kreis, der sich, nachdem ABA vor über zwanzig Jahren in Dortmund gegründet wurde, vor einiger Zeit geschlossen hat, indem die Landesgeschäftsstelle wieder nach Dortmund gekommen ist. Unterschwellig schwingen nach zwei Jahrzehnten seitens der Stadt immer noch irgendwelche „Animositäten“ mit, die wir bedauern, da sie bislang eine wünschenswerte fachliche Kooperation behindern. Über lange Jahre waren Träger der freien Jugendhilfe ein nicht unbedingt beliebtes Kind in dieser Stadt. Das scheint sich geändert zu haben. Gleichwohl haben wir das Gefühl, dass gegen unsere Arbeit immer noch ziemliche Vorbehalte bestehen, die wir in anderen Kommunen nicht haben, im Gegenteil: in zahlreichen Kommunen arbeiten wir sehr vertrauensvoll und intensiv mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zusammen. Plakativ gesprochen könnten wir feststellen, dass andere Kommunen unsere Geschäftsstelle „eher verdient“ hätte als Dortmund. Sehen Sie Möglichkeiten, diese unleidige Situation zu verbessern?  

G.B.: Am liebsten würde ich sie morgen am Tage verbessern. Ich muss allerdings auch hier die Geschichte sehen. Die Tatsache, dass wir die erste Geschäftsstelle nach der Gründung von ABA nicht in Dortmund angesiedelt haben, fiel unter anderem damit zusammen, dass wir bei der Gründung erhebliche Schwierigkeiten mit dem Jugendamt Dortmund hatten. Der damalige Jugendamtsleiter fand die ABA-Gründung nicht gut und sah überhaupt keine Notwendigkeit dafür. Wenn man so will, hat es in Dortmund von der Gründung an eine gewisse Aversion gegen diesen Verband gegeben. Nichtsdestotrotz muss man sagen, dass die Stadt Dortmund sehr zentral liegt, bezogen auf Nordrhein-Westfalen im Schnittpunkt angesiedelt. Auch von der Anzahl der Abenteuerspielplätze, die wir haben, gibt es eine gute Berechtigung, in dieser Stadt zu bleiben. Es ist richtig, festzustellen, dass Initiativen außerhalb der klassischen Wohlfahrts- und Jugendverbände in Dortmund ganz deutliche Beachtung gefunden haben. Das ist auch ein Stückchen Politik, das ich mitverantwortet habe und zu der ich auch stehe. Schwierig empfinde ich, dass wir in dieser Stadt zur Zeit nicht über ausreichend städtischen oder anderen billigen Büroraum verfügen, was sich hinsichtlich einer Kooperation mit dem Verband oder auch einer besseren Betreuung des Verbandes durch die Stadt erschwerend auswirkt. Es gibt nicht ausreichend Platz, wo Initiativen Raum hätten, ihre Geschäftsstellen bedarfsgerecht zu realisieren. Das trifft nicht nur ABA, sondern auch noch verschiedene andere Jugendverbände in dieser Stadt. Das kann man nicht so einfach lösen. Ich zumindest bin gern bereit, Vermittler zu sein. Mehr kann ich in dieser Situation wohl nicht, aber das will ich gerne tun.

DER NAGEL: Stünden Sie noch einmal für ein Mandat in unserem Verband, z.B. im Vorstand, zur Verfügung?

G.B.: Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber man soll nie „nie“ oder „nicht mehr“ sagen. Im Moment habe ich andere Prioritäten in meiner politischen Arbeit. Ich begleite die ABA-Arbeit aus einer gewissen wohlwollenden Distanz und fände es gut, wenn möglichst viele junge Pädagoginnen und Pädagogen sich bereit finden würden, sich hier zu engagieren, Ideen einzubringen, einen Verband nach vorn zu tragen und den Geist der Gründung mit einem „Pusch“ wieder aufzugreifen, um auf Dauer einen lebhaften Verband zu erhalten.

DER NAGEL: Herr Prof. Bollermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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