Der Vorstand des ABA Fachverbandes hat am 6. Juli 2010 die Ehrenmitgliedschaft von Karl-Friedrich Lehmann beschlossen. Damit wird die Arbeit eines ausgewiesenen und engagierten Praktikers gewürdigt.
Zur Person
„Das sollte ich eigentlich auch können“, dachte der junge Schreiner aus Recklinghausen manchmal, wenn er es mit Architekten zu tun hatte. So kam Karl Friedrich („Charly“) Lehmann dazu, ein Architekturstudium zu absolvieren und als Innenarchitekt abzuschließen. Dies war in den 1970er-Jahren der Fall. Im Oktober 1971 beobachtete er am Rande der Recklinghäuser Altstadt auf einem großen Baum in akrobatischer Höhe ein Baumhaus und auf dessen Dach einen Jungen, der dort Dachpappe festnagelte. Aus der Bude eine Stimme: „Komm’ runter, lass mich auch mal nageln!“ Der Junge auf dem Dach rief: „Ich hab’ die Pappe besorgt und klopp’ sie auch fest!“ Aus der Bude die Frage: „Wat soll ich denn machen?“ Antwort vom Dach: „Hol’ doch schon mal die Leitungen von unten!“ Aus der Bude ertönt es: „Schitt, ich mach’ doch nicht immer nur die Hilfsarbeitermaloche!“
Auf Intervention von Nachbarn und mit deren eigenem Einsatz wurde kurze Zeit später nicht nur die Bude entfernt, sondern mit Hilfe von Polizei und Feuerwehr gleich der ganze Baum gefällt. Die Baumbude war den Erwachsenen ein Dorn im Auge. Kaum drei Wochen später, Mitte November 1971, berichtete die WAZ in Recklinghausen: „Dreimal schon haben Erwachsene Jungen von der Straße ‚Am Südpark’ ihre ‚Buden’ angesteckt.“ Auf dem Foto zum Artikel konnte man sie neben den abgebrannten Trümmern sehen. Und in der Zeitung hieß es weiter: „‚Wo sollen wir denn eigentlich spielen’, fragten sie den Fotografen. Der Spielplatz im Südpark sei zu weit entfernt und viel zu langweilig. ‚Da können wir höchstens die Rutsche runtersausen oder auf ein Gestell klettern’, meinten sie.“
Dies waren Schlüsselerlebnisse für Charly Lehmann hinsichtlich seines weiteren Werdegangs. Sein Studium hatte er aufgenommen, nachdem er seinen Wehr- und Zivildienst beendet hatte. Wehr- und Zivildienst? Ja, er verweigerte den Wehrdienst, während er ihn bereits absolvierte, „schoss“ infolgedessen bei Manövern während der dreimonatigen Grundausbildung bei der Bundeswehr mit einer Attrappe (einem „Stück Holz“) auf „Fähnchen“, da ihm menschliche Nachbildungen („Pappkameraden“) überhaupt nicht lagen. Er gehörte zu den wenigen jungen Männern, die nach dem Grundwehrdienst als Kriegsdienstverweigerer in den Zivildienst „entlassen“ wurden.
Zum Abriss der Baumbude und Fällen des Baums schrieb er seinerzeit an den damals existierenden „Arbeitskreis Spielplätze“ und die WAZ. Sein Text wurde in der WAZ vom 13. November 1971 veröffentlicht: „In meinem Studium befasse ich mich mit experimenteller Umweltgestaltung. Im Bereich der Freizeiteinrichtungen in Wohngebieten habe ich auch Kinder- und Erwachsenenspielplätze aufgesucht und festgestellt, dass diese, egal ob herkömmlich oder modern ausgestattet, gering benutzt wurden. Mit Freude habe ich bisher immer Spielplätze fotografiert, die aus eigener Initiative entstanden und Aktivität zeigten. So habe ich auch die ‚Baumbude’ im Bild festgehalten. Da die Bewohner mich nicht bemerkt hatten, konnte ich einen sehr originellen Dialog hören, den ich hier nicht vorenthalten möchte (es folgt das einleitend zitierte Gespräch der zwei Jungen). Kindgerechtes Spielen geht uns verloren, da die entsprechenden Stellen und die breite Masse anscheinend von der Notwendigkeit dieser Spiele keine Ahnung haben. Es sollte die Aktion ‚Der spielende Mensch’ ins Leben gerufen werden und die gleiche Verbreitung finden wie andere Aktionen für Mensch und Tier auch. Bevor ich den Zeitungsbericht las, hatte ich gerade noch eine Erdbude fotografiert, die Kinder an der Straße ‚Am Südpark’ gebaut haben. Vielleicht können Sie den Kindern helfen, die gebaute Bude unter ‚Denkmalschutz’ zu stellen, bevor auch diese auf Antrag hin zerstört wird. Zum Bericht der Baumbude finde ich noch erwähnenswert, dass eine der hiesigen Tageszeitungen auf derselben Seite den Baumfrevel anspricht. Die Stadtgärtnerei sucht nach unbekannten Tätern, die drei junge Ebereschen im Werte von 500 DM absägten. Ich bin gespannt, ob man auch was über die Kosten der Baumfäller (Polizei und Feuerwehr) hört, die den Baum fällten, auf dem die Bude gebaut war.“ Was vor knapp vierzig Jahren noch geeignet war, in der Presse skandalisiert zu werden, wäre vermutlich heute kein Thema mehr – oder kann man sich ernsthaft vorstellen, dass Kinder in zehn bis fünfzehn Metern Höhe in aller Öffentlichkeit ein Baumhaus bauen, sich irgendwo – etwa im Park – eine Erdhöhle graben oder sich sonstwo eine Bude zusammenzimmern?
Seine damaligen Erfahrungen waren jedenfalls für den Architekturstudenten Charly Lehmann so prägend. Er gelangte zu der Auffassung, kindliche und jugendliche Kreativität sei derart ausgeprägt, dass Vorgaben von Architekten auch nicht unbedingt nötig seien, Kindern bei ihrer Entwicklung feste Vorgaben zu machen. Während er sich während des Studiums schwerpunktmäßig unter anderem mit Freizeitplanung in Wohngebieten und bei seiner Examensarbeit mit der Gestaltung von Kinderarztpraxen („Was brauchen Kinder?“) befasst hatte, war es ihm irgendwann ein Anliegen, als pädagogische Fachkraft unmittelbar mit Kindern zu arbeiten; dies tat er immer wieder in Jobs. Und er schloss noch ein Studium an der damaligen Pädagogischen Hochschule (inzwischen Technische Universität) Dortmund an, das er aber nicht beendete. Lehrer an einer Schule zu sein reizte in weniger als die Potenziale, die die Offene Arbeit zu bieten hatte. So begann er schließlich im Frühjahr 1982 seine Tätigkeit auf der Bauspielfarm Suderwich in Recklinghausen, die seinerzeit noch als Bauspielplatz bezeichnet wurde.
Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre wurde der Bauspielplatz durch eine Eltern- und Studenteninitiative, die aus dem erwähnten „Arbeitskreis Spielplätze“ hervorging, gegründet und 1974 von der örtlichen AWO (Arbeiterwohlfahrt) übernommen. Schließlich ging der Platz im Sommer 1977 in die Trägerschaft des Vereins für Jugendheime, einem den Falken nahe stehenden Trägerverein. Dieser betreibt den Platz – seit kurzem an einem neuen Ort –noch heute. Wie Charly Lehmann es die ganze Zeit über auch war, ist der Verein ebenso aktives Mitglied im ABA Fachverband. „Wir verfahren dual!“, äußerte der gegenwärtige Geschäftsführer, Eckehard Klein, gegenüber dem ABA Fachverband. „Als Falkenträger sind wir natürlich Mitglied im Falken Bildungs- und Freizeitwerk. Die Mitgliedschaft im ABA Fachverband ist uns allerdings ebenso eine Selbstverständlichkeit.“
Über ein Vierteljahrhundert hat Charly Lehmann, Handwerker, Architekt, pädagogisches Naturtalent und einer der erfolgreichsten Organisatoren (außerhalb des ehemaligen Ostblocks), die Geschicke der Bauspielfarm geprägt, davon die längste Zeit als ihr Leiter. In einem Zeitungsinterview in der WAZ vom 5. August 2000 gab er zu „Protokoll“: „Hier wird Offene Arbeit von pädagogischen Mitarbeitern geleistet. Den Kindern werden Aktivitäten, Materialien und Hilfen angeboten, wenn sie ihre Ideen in die Tat umsetzen möchten. Wichtig ist, dass sie einfach kommen können, ohne etwas Bestimmtes tun zu müssen. Es gibt keine vorgegebenen Anforderungen, und im Gegensatz zu gebuchten Kursen oder Vereinssport können sie spontanen Bedürfnissen nachgehen. Und das ist auch, mal nichts zu tun, die Zeit zu haben, eine Stunde lang die Ziegen auf der Wiese zu beobachten. Die Bauspielfarm ist ein Ort, an dem sie sich zurückziehen können aus den Anforderungen der Schule, Kursen, Eltern. Hier müssen sie nichts ‚Sinnvolles’ produzieren oder konsumieren. Im heutigen Stadtleben … werden viele Erlebnisse für Kinder unmöglich: Das Ausgesetzt-Sein gegenüber der Witterung, Verhalten der Tiere in natürlicher Umgebung beobachten, provisorische Bauten aus ‚Nutz’-Müll zusammenzimmern, kokeln am Feuer und matschen. Bei uns haben sie diese Möglichkeiten.“ In diesem Gespräch wies er ferner auf einen Umstand hin, den vermutlich manche Eltern gegenwärtig nicht unbedingt präsent haben: „Ein ‚Fantasialand’ sind wir nicht!“
Die um das Jahr 2000 herum erschienene Broschüre „Wir über uns“ fasst einige wichtige Aspekte zusammen: Die Bauspielfarm „ist eines der wenigen Beispiele im Ruhrgebiet, bei denen der Umgang mit Tieren, ihre Betreuung und Pflege wesentlicher Bestandteil eines pädagogisch sinnvollen Freizeitangebots ist“. Die Anlage wird als ein Verbund aus Spielpark, Abenteuerspielplatz und einem kleinen Tierpark „zwischen Zechenbahn und Bergmannssiedlung“ beschrieben. Seinerzeit wurde von 40 bis 60 Kindern berichtet, die täglich zum Platz kamen. „Ihrem Drang zu bauen und sich damit eine eigene Spielwelt zu schaffen, können die Sechs- bis Vierzehnjährigen durch Planen und Gestalten von Hütten und Buden nachkommen. Das Floßbecken bietet mancherlei Anreiz, mit dem Element Wasser umzugehen. Zur Ausstattung gehören weiterhin eine gepflasterte Feuerstelle mit Sitzgelegenheit und ein bepflanzter Teich. Die Tierfarm, zu der noch Weideflächen gehören, beherbergt in Stallungen und Freigehegen rund 100 Tiere, die so weit wie möglich frei im Gelände herumlaufen (1) können: Pferde, Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner, Gänse, Enten, Kaninchen.“ Unvergessen auch die großen Rinder, die friedlich zwischen den Kindern weideten. „Zum festen Programm der Farm gehört die tägliche Pferdepflege. Montags und mittwochs werden Kutschfahrten veranstaltet. Das Spielhaus erlaubt auch witterungsunabhängige Aktivitäten wie Discoveranstaltungen und Theaterspiel.“
Zum Konzept führt die Vorstellungsbroschüre aus: „Die besondere Attraktivität solcher Plätze macht ihre erlebnis- und abenteuerpädagogische Orientierung aus. Auch wenn es keine allgemeinbindende Konzeption gibt, nach der alle Plätze arbeiten, vielmehr jeder Platz seine Arbeitsweisen und Ziele an den örtlichen und personellen Bedingungen ausrichtet, so gibt es dennoch einige Leitgedanken, an denen sich alle Einrichtungen orientieren. Dazu gehört unter anderem das Prinzip der Offenheit (Freiwilligkeit des Besuchs, Kostenfreiheit der Nutzung, keine Ausgrenzung von bestimmten Kinder- und Jugendgruppen). Pädagogisch betreute Spielplätze sind gegründet worden mit dem Ziel, die Spiel- und Lebenssituation der Kinder zu verbessern. Dies soll erreicht werden durch das Raum- und Erlebnisangebot der Jugendfarmen und Abenteuerspielplätze und die persönlichen Beziehungen zwischen Betreuern und Kindern und der Kinder untereinander.“
Weiter wird festgestellt: „Die Welt unserer Kinder stellt sich zunehmend als eine Welt dar, in der
◦ mehr Autos und Straßen Spielen gefährlich oder unmöglich machen;
◦ immer komplexere Zusammenhänge die alltäglichen Abläufe für Kinder immer undurchschaubarer machen;
◦ Kinder stärker denn je durch Schule und Freizeitaktivitäten verplant sind;
◦ zunehmender Konsumdruck auch Kinder dazu verleitet, das, was sie haben, für das zu halten, was sie sind;
◦ eigene Kreativität und Improvisation immer stärker verkümmern, weil in einer vorgeformten, normierten und reglementierten Umwelt nur noch wenige Freiräume bleiben;
◦ ‚Zweite-Hand-Erlebnisse’, wie sie vor allem durch die elektronischen Medien produziert werden, eigene, selbst gemachte Erfahrungen immer mehr verdrängen;
◦ die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Kindern außerhalb der Familie immer wichtiger wird, weil die Familien immer kleiner und die Treffpunkte im Stadtteil immer weniger werden;
◦ selbst einfache ökologische Zusammenhänge und Kreisläufe von Kindern immer weniger unmittelbar erlebt werden können.“
Unschwer lässt sich auch hinter folgenden Ausführungen Charly Lehmanns Einschätzung erahnen: „Sicher und doch wieder nicht, denn es gibt diese Plätze, und wenn sie vielleicht auch nicht immer alle dieses Möglichkeiten bieten, so erschließen sie doch den Kindern einiges davon. Natürlich erscheinen sie in den Augen der Erwachsenen zunächst oft als Plätze der ‚Unordnung’ oder gar des Chaos’, weil sie eben nicht in der sonst gewohnten Weise ‚gestylt’, begradigt und vom Reißbrett herunter gebaut sind und damit nicht ins DIN-geschärfte Auge passen. Aber gerade die Tatsache, dass hier nicht alles fertig und für die Ewigkeit errichtet ist, dass hier Improvisation und Veränderbarkeit möglich sind, ergeben eine besondere Qualität, die gewollt ist. Plätze wie diese brauchen feste (haupt- und ehrenamtliche) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. An sie sind nicht nur pädagogische Anforderungen gestellt, sondern sie sollten auch über eine Vielzahl praktischer, organisatorischer und medialer Qualifikationen verfügen. Die Kinder sollen zwar sich selbst überlassen werden, aber nicht allein gelassen sein.“ Die genannten Qualitätsmerkmale und Qualitäten hat Charly Lehmann im Umgang mit den Besuchern konsequent persönlich ausgefüllt.
Anfang 1975 lief im ARD-Fernsehen die beachtliche zehnteilige Serie Krempoli von Michael Verhoeven. Bei Wikipedia heißt es zur Serie: „Der freundliche Besitzer eines Sperrmüll-Lagers – von den Kindern später liebevoll ‚Opa Krempel’ genannt – lässt sie auf sein Grundstück und hilft ihnen dabei, eine Art Abenteuerspielplatz aufzubauen. Dieser Ort bekommt den Namen ‚Krempoli’ (wegen des vielen Krempels, der dort herumliegt) und wird zu einem Lebensmittelpunkt der Kinder. Die Nachbarn sind jedoch spießig und den Behörden ist das Treiben ein Dorn im Auge. So erleben die Kinder allerlei Abenteuer, müssen ihren ‚Platz für wilde Kinder’ verteidigen, und hecken darüber hinaus allerlei Streiche aus.“ Zur Intention der Serie wird bei Wikipedia ausgeführt: „‚Krempoli’ steht zweifellos in der Tradition von Filmen wie Pippi Langstrumpf (hier allerdings ohne das phantastische Element) und ist überdies ein typisches Produkt der 1970er-Jahre: Es ging darum, die Interessen der Kinder gegenüber den Interessen der Erwachsenen zu emanzipieren. Während die Erwachsenen größtenteils als egoistisch und trottelig dargestellt werden (mit Ausnahme einiger Sympathieträger), handeln die Kinder untereinander solidarisch und interessieren sich auch für die Bedürfnisse ihrer Umwelt. In ihrer Spontaneität und Kreativität sind sie den Erwachsenen überlegen, so dass sie bei Auseinandersetzungen – trotz vermeintlich schwächerer Position – häufig als Sieger hervorgehen. Es ist anzunehmen, dass die Autoren der Serie die jungen Zuschauer ermuntern wollten, ihren Selbstwert zu erkennen und ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Insofern ist Krempoli ein Manifest gegen das ‚Artigsein’ und für die ‚Ungezogenheit’“.
Kaum vorstellbar, aber Charly Lehmann hat „Krempoli“ nie kennengelernt, wie er im Gespräch betont – auch wenn die örtliche Presse ihn als Stadtteil-Institution charakterisiert. Anlässlich seines 25-jährigen Dienstjubiläums im Jahr 2007 beschrieb ihn die WAZ (6. April 2007) in der Überschrift als „Charly von der Bauspielfarm“ und weiter: „Bei ihm dürfen Kinder in Fantasiewelten abtauchen, bauen und toben – ohne das ständige Einmischen der Erwachsenen.“ In der „Recklinghäuser Zeitung“ (10. April 2007) wird er gar in der Überschrift als „Der König der Kinder“ betitelt. Autor Alexander Spieß kam nicht umhin, im Gegensatz zu „Krempoli“ doch „phantastische Elemente“ einzuführen, wenn er ausführt: „Der Köing des Taka-Tuka-Landes trägt Jeans, einen blauen Pulli und darüber eine helle Weste. Die kurzen Haare sind grau, der Schnurrbart ist es auch. Charly Lehmann hat vor seinem hölzernen Palast (2) Platz genommen, empfängt bürgerlichen Besuch und spricht über sein Reich: Seine Majestät gebietet über 100 Untertanen. Während der König redet, grast sein Volk auf den umliegenden Weiden zwischen den allgegenwärtigen Bauwagen. Stier Ernie mit den mächtigen Hörnern döst in der Mittagssonne, die Esel Paul und Lisa zupfen Grasbüschel aus dem Boden, eine Katze balanciert auf dem Rand des aufgestellten Trampolins. Meerschweinchen und Kaninchen knabbern unentwegt in ihren Ställen. Siesta im Taka-Tuka-Land, das in Wirklichkeit ‚Bauspielfarm’ heißt und an der Schulstraße liegt.“
Ähnlich liebevoll wird weiter berichtet: „Die Tiere sind kein Selbstzweck. Sie sollen Kindern in Zeiten von Playstation und Netzwerkpartys das hautnahe Naturerlebnis bringen. Die Vorbilder für die Bauspielfarm finden sich in der Kinder- und Jugendliteratur. Auf dem eingezäunten, 6.000 Quadratmeter großen Areal dürfen die Kinder sich aufführen wie Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga in einer Person. ‚Wir wollen den Kindern den Freiraum zurückgeben, den sie früher hatten’, sagt Charly Lehmann. Regeln und Normen sind dem Leiter ein Gräuel. Auf der Farm darf es ruhig einmal destruktiv zugehen. ‚Es ist mir lieber, die Kinder zerlegen ein selbstgebautes Baumhaus als das Wartehäuschen einer Bushaltestelle’, sagt der 63-Jährige. … Generationen von Kindern hat er auf den Erdhügeln der Farm herumtoben und Holzhütten bauen sehen. Allzu viel Hilfe dürfen die kleinen Bauherren von dem Innenarchitekten nicht erwarten. Sie sollen selbst experimentieren.“
Dass er sich während seines Architekturstudiums u.a. schwerpunktmäßig mit der kindgerechten Gestaltung von Kinderarztpraxen und Spielzimmern befasst hat und so zur praktischen Pädagogik kam, wird auch von der „Recklinghäuser Zeitung“ aufgegriffen. Am Tage der Reportage waren der elfjährige Sebastian und der zehnjährige Erdinc die ersten Besucher. Alexander Spieß schreibt: „Ohne lange Begrüßung greifen sich die beiden Jungen Nägel und zwei Hämmer und verschwinden im hinteren Bereich des Geländes. Dort stehen die oft bizarren Gebilde der jungen Konstrukteure. Sebastians und Erdincs Bau sieht vergleichsweise solide aus. Das Duo hämmert seit Tagen eine Pyramide zurecht.“
Sie greifen sich Nägel und Hämmer? Auf vielen Abenteuerspielplätzen dürfte dies einiges Befremden auslösen, wo es dort doch eine Werkzeugausgabe gibt, in der es nach festen Regeln zugeht. Charly Lehmann, der „eigentlich nie der Spielplatz-Opa sein“ wollte (WAZ vom 6. April 2007), hat die Erfahrung gemacht, dass man sich den praktischen Ablauf eines Abenteuerspielplatzes auch leichter machen kann, indem man das zur Verfügung stehende Material pünktlich zur Öffnungszeit auf einer umgebauten Tischtennisplatte nach draußen fährt und „öffentlich“ zugänglich macht. Die Verlustquote ist nach diesem organisatorischen Kniff nicht gestiegen, im Gegenteil eher gesunken. Schließlich erfuhren die Kinder so selbst ganz praktisch, wie hilfreich und sinnvoll es für die eigene Handlungsfähigkeit ist, die Dinge beisammen zu halten. Mit dem Telefon, das zur Öffnungszeit in eine selbstgebaute Telefonzelle gestellt und zur Nutzung freigegeben war, wurde nie „Schindluder“ getrieben; vielmehr nutzen es die Kinder allenfalls dann, wenn sie zu Hause anrufen wollten, um ggf. irgendwelche Änderungen im Alltagsablauf mitzuteilen oder neue Absprachen mit ihren Eltern zu treffen. Hinter diesem – auf den ersten Blick – unkonventionellen Regelwerk steht die Philosophie des Zutrauens: „Wir trauen euch zu, mit den Dingen und Möglichkeiten, die es hier gibt, angemessen umzugehen!“ Effekt en passant: Kinder lernen auf wunderbar praktische Weise, wie es ist, Verantwortung zu übernehmen.
Ähnlich war es auch mit der selbstgebauten, aus „Abfallmaterial“ (Töpfe, Tennisbälle, alte Reifen/-teile, Pedalen, Seile und Schlaufen) konstruierten Kletterwand am Haus. Die Kinder hatten nach dem Hinaufklettern die Möglichkeit, vom Vordach des Hauses auf eine dicke Turnmatte zu springen, eine Beschäftigung, von der sie gar nicht genug bekommen konnten. Bei warmem Wetter wurde ruckzuck ein „Schwimmbecken“ gebaut. Dazu waren vier ausgediente Türblätter erforderlich, eine Plane, Sand, um ein Reißen der Plane zu vermeiden, eine Leiter, um in das Becken hineinzulangen und natürlich Wasser. Große Treckerreifen – ein wenig den aus dem Sport bekannten Rhönrädern nachempfunden – waren neben dem zur Verfügung stehenden Trampolin und ungezählten anderen sportlichen Optionen eine hervorragende Gelegenheit, eine Menge Spaß zu haben und gleichzeitig die grobmotorischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Wie viel Spaß hat es gemacht, im Winter einen Tisch auf den Hügel auf dem Platz zu schleppen, ihn als einen abenteuerlichen Rodelschlitten mit der Tischplatte nach unten zu drehen und mit großer Geschwindigkeit den Berg herunterzusausen! Oder ein Erlebnisgarten im Pferdeanhänger … Der Phantasie waren mit Hilfe von Charly keine Grenzen gesetzt. Unvorstellbares wurde Realität, Träume zum Alltag.
Dass Eier nicht zufällig im Supermarkt zum Kauf liegen, konnten die Kinder ebenfalls ganz praktisch erfahren. Milch kommt nicht – wie viele meinen – aus der Fabrik, sondern aus dem Euter einer Kuh: Erfahrungen, die immer seltener im Alltag stattfinden, die allerdings wesentlich zum Bildungserwerb beitragen. Auch die Vorteile der Tierhaltung in der Offenen Arbeit ließen sich endlos lang fortsetzen: Die Welt ist nicht fertig. Wir müssen sie jeden Tag aufs Neue entdecken und erfinden. Donata Elschenbroich hat es gegen Ende der 1990er-Jahre mit Hilfe eines beachtlichen Films und einem dazugehörenden Buch auf den Punkt gebracht: Kinder brauchen zur Bildung immer wieder neue Erfahrungen. Sie müssen das Rad immer wieder neu erfinden. Und Prof. Gerold Scholz von der Universität Frankfurt ergänzt: „Kinder sind unbelehrbar. Sie können nur lernen!“ Einige grundlegende Aussagen sind auch in der bereits mehrfach zitierten Vorstellungsbroschüre der Bauspielfarm zu finden. Da heißt es beispielsweise: „Mit allen Sinnen lernen, Umwelt und Lebensräume gemeinsam erleben und Erfahrenes weitergeben, Schlüsselqualifikationen für das jetzige und spätere Leben entwickeln, Stärken und Schwächen erkennen und umsetzen …“
Lassen wir Charly Lehmann noch einmal zu Wort kommen. Er ist der Auffassung, ein gut organisierter Abenteuerspielplatz biete „Vollwertkost für die Sinne“. Geistige Beweglichkeit meine keine schulische Bestleistung, sondern Neugier, Phantasie, Experimentierlust und ein spielerisch-vielseitiges Interessenspektrum. Was das Thema „Grenzensetzen“ betrifft, befindet er sich im Einklang mit den Sichtweisen von Dr. Eckhard Schiffer, der durch seine wunderbaren Bücher – gespickt voll mit brauchbaren Metaphern (z.B. „Der Kleine Prinz in Las Vegas“ oder „Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde“) – einen unvergesslichen Namen gemacht hat. „Grenzen setzen? Das kann immer nur eine Notfallreaktion und kein pädagogischer Selbstzweck sein. Es geht auf Dauer darum, die Wahrnehmungsfähigkeit für die Belange des DU zu fördern, was angesichts selbst erlittener Grenzverletzungen sehr mühselig werden kann. Es geht darum, sich unterscheiden zu lernen.“ Schließlich geht es darum, auch am Grenzensetzen teilhaben zu können.
Leider hat Charly Lehmann kurz vor seinem Renteneintritt einen bösen Unfall erleben müssen, von dem er sich zwischenzeitlich wieder einigermaßen erholt hat. Ambitionen auf eine Politkarriere hat er nie gehegt, obwohl aus einer alten sozialdemokratisch orientierten Ruhrgebietsfamilie stammend. Umso mehr freut sich der ABA Fachverband, mit ihm einen beachtlichen Praktiker zum Ehrenmitglied ernennen zu können.
Die Bauspielfarm ist zwischenzeitlich umgezogen, da das frühere Gelände als Bauland erschlossen wird. Der Träger beabsichtigt, etliche Elemente, die Charly Lehmanns Arbeit gekennzeichnet haben, auch in das neu zu entwickelnde Konzept zu integrieren. Bei dieser Mammut-Aufgabe wünscht der ABA Fachverband viel Erfolg und reichlich Energie und Ressourcen, diese stemmen zu können.
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Fußnoten
(1) An diese Situation erinnern sich heute noch viele Besucherinnen und Besucher der damaligen Bauspielfarm. Manche zeigten sich von der „offenen Tierhaltung“ schier begeistert, andere wiederum stießen an ihre Grenzen. So empfanden manche Fachschülerinnen den Marsch über Ziegenköttel als „Zumutung“. Gern wurde diese Abwehr dann von Kritikern auch mit angeblicher Tierliebe verbrämt. Gestandene Praktiker aus anderen Einrichtungen blickten bisweilen auch mit einer Portion Neid auf die Bauspielfarm Suderwich, die eindeutig Charly Lehmanns „Handschrift“ trug.
(2) Gemeint ist hier das Spielplatzhaus.
Zusammenstellung und Text: Rainer Deimel