Christopher Roch

Zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe

Von Manfred Kappeler

Ich möchte eingehen auf Begriffe wie Systemgewalt, Erziehungsgewalt, Erziehungsverantwortung, Grenzensetzen, die in die Diskussion gegeben worden sind. Dabei geht es mir um die Frage, was der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen für die praktische Arbeit im gesamten Bereich der Jugendhilfe bedeutet. Ich habe diesen Fokus gewählt, weil ich glaube, dass das gemeinsame Nachdenken über die Realisierung des Subjektstatus eine Klammer bilden kann für alle Bereiche der Jugendhilfe und uns dieser Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Situation vielleicht helfen könnte, jugendpolitisch in die Offensive zu kommen.

Bevor ich genauer auf den Subjektstatus eingehe, möchte ich jedoch an einen Kontext erinnern, in dem diese Überlegungen stattfinden: die Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Es sind eine Reihe von Fragen aufgetaucht, mit denen die Wiedergabe einer Diskussion skizziert wird, die den Tenor hat (wenn ich das richtig verstanden habe): Wer macht die Arbeit mit den Kindern, den Jugendlichen und Familien besser – die Formen der offenen Arbeit, z.B. der Jugendsozialarbeit oder die Hilfen zur Erziehung? Wer ist näher dran an den Kindern und Jugendlichen? Wer erfüllt die Essentials des VIII. Jugendberichts (Lebensweltorientierung, Partizipation etc.) besser? usw. usf.

Diese Diskussion ist m.E. von Konkurrenz und gegenseitigem Misstrauen bestimmt. In dem Versuch, da herauszukommen, wurde der Vorschlag gemacht, zu überlegen, ob nicht jeder Träger der Jugendhilfe jede ihrer Aufgaben wahrnehmen soll. Wie müssen aber, wenn wir diesen Vorschlag diskutieren wollen, den Kontext unseres gegenwärtigen pädagogischen Handelns berücksichtigen. Ökonomisierung heißt: die Soziale Arbeit wird verändert in einem weiteren Kontext: dem sogenannten Umbau des Sozialstaates, u.a. mit der fadenscheinigen Begründung des Missbrauchs sozialer Leistungen und knapper Ressourcen in den öffentlichen Haushalten. Die Missbrauchsdebatte ist das Instrument, warum in der Bevölkerung eine große Koalition für den Abbau sozialer Leistungen und Netze durchzusetzen möglich wird. Ein Beispiel dazu: bis vor einigen Jahren wurde im Bereich der Sozialhilfedebatte darüber nachgedacht, wie man es erreichen könnte, dass die Hunderttausenden, die ihre Rechtsansprüche nicht wahrnehmen, zu ermutigen sind, die Schwelle zum Sozialamt zu überschreiten und die Scham der Armut zu überwinden, ihre Rechtsansprüche offensiv wahrzunehmen. SozialpädagogInnen haben sich in Gruppen zusammengetan, mit Sozialhilfe-Broschüren, mit selbstorganisierten Beratungsstellen usw. gegenüber der restriktiven Struktur der Bürokratie, die Menschen zu unterstützen. Sie haben den Subjektstatus der „Hilfeempfänger“ ernst genommen, die Menschen ermutigt, sich nicht abkanzeln zu lassen als „Schlaucher“, als Arme usw. Damals wurde ausgerechnet, dass mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten in der Bundesrepublik ihre Ansprüche auf Leistungen nicht wahrnehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert, es ist vielmehr noch schlimmer geworden, weil die Erfahrungen, die die Leute in den Sozialämtern machen, heute noch mehr dazu beitragen, aus Scham und Stolz auf Leistungsansprüche zu verzichten. Aber jeden Tag wird von Politikern und Bürokraten über die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe lamentiert, und jeden Tag werden Forderungen zur Einschränkung von sozialen Leistungen in die Diskussion gebracht.

Das ist eine Katastrophe. Es ist vor allem eine Katastrophe, dass wir unsere Profession, die Soziale Arbeit für die Politik der Privatisierung gesellschaftlich produzierter Lebensrisiken funktionalisieren lassen.

Ökonomisierung heißt: die zentrale, theoretische und gesellschaftliche Kategorie für die soziale Arbeit ist der Markt. Soziale Leistungen als Dienstleistungen haben sich auf dem Markt auszuweisen. Es wird ideologisch und scheinheilig mit dem begriff der Kunden gearbeitet, als seien die Menschen, die die sozialen Leistungen in Anspruch nehmen müssen und wollen, im Status von Käufern, die das Geld in der Tasche haben, um geschützt durch Verbrauchergesetzgebung sich auf irgendeinem Markt die sozialen Leistungen auswählen und einkaufen zu können, die sie brauchen. Welch ein Zynismus!

„Marktgängigkeit“ – neue Leitlinie Sozialer Arbeit?

Die SozialpädgogInnen werden aufgefordert, ihre Dienstleistungen als „Produkte“ zu beschreiben und sie in Katalogen öffentlich zu offerieren und auszulegen, damit die „Kunden“ sich das ihnen genehme Produkt auswählen können. Das wird unter dem Begriff der Beteiligung (Partizipation) verkauft. Das sind neue Sprachregelungen, die anfangen, das Fühlen, Denken und Handeln der Professionellen zu bestimmen. In Berlin wird in weiten Bereichen fast nur noch so geredet. Im Rahmen der Verwaltungsstrukturreform haben die KollegInnen in allen sozialen Diensten monatelang fast nichts anderes getan, als Produktkataloge zu erstellen, die termingerecht vorgelegt werden mussten. Bei der Ausarbeitung dieser „Produkte“ war nichts von irgendeiner Selbstbeteiligung der Adressaten solcher Dienstleistungen zu sehen. In Berlin ist das weit fortgeschritten, und die ganze Sache wird im Rahmen der „Neuen Steuerung“ im Prinzip mit betriebswirtschaftlichem Denken betrieben. Damit kommt eine Haltung in die soziale Arbeit, die aus einem anderen gesellschaftlichen Bereich stammt, wo sie ihre Berechtigung haben mag. Hier werden aber Sprachregelungen eingeführt, in denen die Entwicklungen, die wir in den letzten 20 Jahren in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zustande gebracht haben, verloren gehen. Das heißt, der „Markt“, auf dem sich die soziale Arbeit bewegt, ist nicht etwa ein Markt, in dem zwischen uns als den Anbietern und den Adressaten  als den Abnehmern unserer Arbeit sich irgendein Marktgeschehen abspielt, sondern es ist der Markt der Subventionen, der sich zwischen den Trägern der sozialen Arbeit abspielt. Der öffentliche Träger, der nach inhaltlichen Kriterien die Mittel zu verteilen hat, und die freien Träger, die sich darum bewerben müssen, sind die „Partner“ auf diesem Markt. Auf ihm müssen die Träger bestehen, da müssen sie „Produkte“ anbieten, die „marktgängig“ und „kostengünstig“ sind, d.h. die der jeweiligen politischen Definition, was marktgängig sei, entsprechen müssen. Auf diese Kategorie Markt reduziert sich zunehmend das Denken in der Sozialen Arbeit. Provokativ gesagt: Es gibt eine neue Elite in der Sozialen Arbeit – die ausgesprochen qualifizierten und gewieften GeschäftsführerInnen und Sozialmanager, die eben das Know How haben müssen, zu akquirieren und zu requirieren; die das große Ohr am Markt der Subventionen haben müssen, um so schnell wie möglich, jeweils das als „Leistung“, als „Produkt“ anbieten zu können, wofür es gerade Geld gibt – oder zumindest eine entsprechende Verpackung vorweisen.

Ich denke, das ist der Kontext, in dem wir uns hier bewegen. Wenn uns das nicht deutlich wird, dann werden wir über kurz oder lang die uns angebotenen Sprachregelungen übernehmen. Das bedeutet, dass wir unser eigenständigen professionelles Denken aufgeben, denn es gibt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken. So wie wir reden, wie wir unsere Sprache gebrauchen, fangen wir auch an zu denken und schließlich zu handeln. Demgegenüber müssen wir außerordentlich sensibel sein. Die Diskussion, die hier in Hamburg gerade geführt wird zwischen „Offener Arbeit“ und „Hilfen zur Erziehung“ resultiert aus der skizzierten Dynamik. Deshalb muss in diese Diskussion die Frage hineingenommen werden: Wie verhalten wir uns gegenüber der machtbetriebenen Tendenz der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, die zu einer Hegemonie des Ökonomischen über das Soziale führen wird? Eine Hegemonie, die ohnehin schon immer besteht, nun aber auf das Soziale, auf die Soziale Arbeit selbst übertragen wird und sich im Innern dieses Systems, im Denken und Handeln der Professionellen festsetzt. Sie wissen alle, dass mit Begründungen wie EG-Entwicklung, Globalisierung, Standort Deutschland usw. die Strategie des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft begründet wird, mit der wir uns in diesem Zusammenhang auseinandersetzen müssen. Ich möchte hier keinen Horizont eröffnen, hinter den wir uns wieder vor notwendigen Veränderungen flüchten können, indem wir sagen: „Wir Armen werden betriebswirtschaftlich und ökonomisch an die Kandare genommen, nun brauchen wir nicht mehr genau hinzugucken, was wir in unserem eigenen Bereich zu verantworten haben!“ Der Blick hat sich dahin zu wenden, wo wir denn selbst diese Strukturen schon längst mitbereitet haben. Denn der „Markt“ macht die, die sich auf ihm unkritisch bewegen, zu Objekten von fremdbestimmten Tendenzen und verhindert, dass sie Subjekte ihres Handelns werden.

Die Bedeutung des KJHG …

Nun zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe: Wir haben das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und den ausgezeichneten Kommentar von meinem Kollegen Johannes Münder. In das KJHG wurden eine ganze Reihe von Forderungen, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik diskutiert und gestellt worden sind, aufgenommen. Man kann einiges kritisieren, z.B. die ungenügende Rechtsstellung von Kindern gegenüber Erwachsenen, aber in ganz zentralen Punkten hat das KJHG die Diskussion der vergangenen 30 Jahre in der BRD aufgenommen. Stünden wir heute in der Situation, das alte JWG zu reformieren, würde es das KJHG nicht schon geben – so eingesetzt würde es unter den heutigen politischen Bedingungen nicht mehr zustandekommen! Im Kontext der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird in den Zentralen pausenlos daran gearbeitet, dieses Gesetz mit seinen Ansprüchen zu boykottieren, es auszuhebeln, dafür zu sorgen, dass die in ihm benannten Standards nicht in die Praxis umgesetzt werden. In dieser Situation sollten wir uns daran erinnern, dass wir professionell sozial Arbeitenden uns zum ersten Mal in der Geschichte unseres Berufes in der glücklichen Situation befinden, dass wir uns auf gesetzlich fixierte und demokratisch legitimierte Positionen berufen und deren Umsetzung in die Praxis fordern können. Wir sollten das im § 1 KJHG formulierte „Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft“ übernehmen und darüber wachen, dass die hier artikulierten Ansprüche auch realisiert werden und nicht mit dem Hinweis auf die Knappheit der Ressourcen schlicht auf den Müllhaufen geschmissen werden.

… und seiner Leitnormen

§ 1 KJHG enthält die Leitnorm, auf die ich eingehen will: jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner – nicht irgendeiner anderen! – und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Pflege und Erziehung sind „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechtes nach § 1 …“ usw. – Wir kennen diese Formulierungen auswendig. Aber weil es so wichtige Sätze sind, lohnt es sich, sie wirklich auswendig zu lernen, damit man in den Debatten der Ausschüsse, den 78er-Kommissionen und wo auch immer, diese gesetzlich formulierten Positionen als Argumente in der Tasche hat. Wir müssen sie als Anspruchsnormen in der Auseinandersetzung um die Finanzierung und die Qualitätsstandards der Jugendhilfe parat haben, um die gravierende Diskrepanz zwischen den normativen Ansprüchen und der gesellschaftlichen Realität immer wieder bewusst zu machen. Wir sollten nicht sagen, das sei die große Politik, das seien die Präambeln, um die sich sowieso keiner kümmere. Mein Plädoyer ist, diese Ansprüche ernst zu nehmen, diese Normen beim Wort zu nehmen, um sie mit ihrer gesamten demokratischen Legitimation, die sie haben, zu einem politischen Kampfinstrument zu machen. Absatz 3 lautet: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

  1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
  2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
  3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
  4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen.“ Das sind die Leitnormen.

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

Wie immer bei allen Gesetzen in der BRD steht darüber die Leitnorm des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist das oberste Prinzip, und diese Würde soll unantastbar sein.

Wenn wir uns fragen, was Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe heißt, müssen wir das auf den Begriff der Menschenwürde beziehen, dem § 1 KJHG verpflichtet ist. Das geht soweit, dass die Leitnormen des Grundgesetzes bis in die allerletzte Entscheidung eines öffentlichen Trägers der Jugendhilfe umzusetzen sind. Das ist nicht eine Geschichte, die irgendwo auf irgendeiner abstrakten Ebene abgetan wird, sondern die heruntergeholt wird, heruntergeholt werden muss in unsere alltägliche Arbeit. Damit vertrete ich eine Position, die die UNO 1993 für die Soziale Arbeit formuliert hat: Soziale Arbeit sei eine Menschenrechtsprofession. Das heißt, die in der sozialen Arbeit Tätigen müssen AnwältInnen im Prozess der Realisierung der Menschenrechte sein, überall da, wo sie tätig sind. Man muss nicht in die weite Welt schauen, um zu erkennen, dass das eine Forderung ist, die es erst zu realisieren gilt. Wenn es heißt, Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, müssen wir übersetzen: Sie soll eine sein, weil sie in der Praxis heute noch weithin das Gegenteil ist.

Definitionsprobleme

Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit: das sind die Erziehungsziele bzw. Ziele menschlicher Entwicklung, die im KJHG festgeschrieben worden sind. Bezogen auf die Essentials im VIII. Jugendbericht muss die Frage gestellt werden: Wer definiert diese Werte in der Praxis? Wer definiert, was Förderung und was Erziehung ist im Hinblick auf die Entwicklungen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit?

In Verbindung mit § 9 spricht das KJHG primär den Eltern bzw. den Personen und Sorgeberechtigten diese Definitionsmacht zu; sie, so heißt es dort, bestimmen die Grundrichtung der Erziehung, die von der Jugendhilfe zu beachten ist. Und schon befinden wir uns in einem Dilemma. Können wir eigentlich davon ausgehen, dass in der „natürlichen Erziehung“ – gibt es denn so etwas, wie das natürliche Recht auf Erziehung? – ein derartig hochkarätiger Wert wie die Eigenverantwortlichkeit der Persönlichkeit angelegt ist? Können wir einfach davon ausgehen? Oder erleben wir nicht in unserer alltäglichen Praxis an vielen Stellen genau das Gegenteil?

Welches für ein Verständnis von „Gemeinschaftsfähigkeit“ finden wir in der Alltagspraxis von Erziehung wieder? Dieser Begriff ist noch viel schwieriger als der der Eigenverantwortlichkeit. Er hat in Deutschland eine lange, problematische und teilweise schreckliche Tradition. „Gemeinschaftsfähigkeit“ war für die Nazis der zentrale Begriff der Selektion, war Fokus ihrer Bevölkerungspolitik. Gemeinschaftsfähig waren diejenigen, die sich als Volksgenossen den nationalsozialistischen Vorstellungen von Gemeinschaft widerspruchslos einordneten und sie mittrugen. Als „gemeinschaftsunfähig“ und „asozial“ wurden alle diejenigen bezeichnet, die diesen Vorstellungen widersprachen, die sich verweigerten, die nicht konformistisch waren – überwiegend Jugendliche übrigens. Mit der Behauptung, sie seien nicht „gemeinschaftsfähig“ und mit den „Mitteln der Jugendhilfe nicht mehr in die Volksgemeinschaft zu integrieren“, wurden Tausende von Mädchen und Jungen in speziell für sie eingerichtete KZ gebracht; Jugendliche, die inmitten der faschistischen Barbarei auf ihrem Subjekt-Sein bestanden haben. Und mit Unterstützung der Jugendhilfe sind in jedem einzelnen Fall Mädchen und Jungen in die KZ gebracht worden. Kein Mädchen, kein Junge kam ohne ein Gutachten des jeweiligen zuständigen Jugendamtes und der Fachkräfte der Jugendhilfe – trotz aller Mitwirkung der SS – in eines dieser Konzentrationslager. Das ist ein Teil der Geschichte unserer Profession, der bis heute so gut wie nicht bekannt ist. Grundlage dieser Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung waren solche Begriffe wie „gemeinschaftsfähig“. Es gab fachliche Kriterien, mit denen sie operationalisiert wurden. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein dominierte dieses Denken in der alten Bundesrepublik wie auch der DDR. Mitte der fünfziger Jahre gab es in Bonn eine Debatte, dass ein „Bewahrungsgesetz“ gebraucht würde, für die „nicht mehr mit den Mitteln der öffentlichen Erziehung Besserungsfähigen“. Die Nazis hatten ein solches Bewahrungsgesetz schon fix und fertig; es ist nur nicht zum Zuge gekommen, weil am 8. Mai 1945 mit ihrer Herrschaft Schluss war.

Lebensentwürfe junger Menschen und die Rolle der Pädagogik

Als ich 1959 in die Soziale Arbeit ging, habe ich eine Praxis vorgefunden, die aus diesem Denken resultiert. Die Debatte um den Verwahrlosungsbegriff und was damit verbunden war, ist bekannt.

Was eine „gemeinschaftsfähige Persönlichkeit“ ist, das ist eine hochambivalente Angelegenheit. Da wir diejenigen sind, die zum Schluss diese Ziele, die im § 1 KJHG definiert sind, in die Praxis umsetzen, da wir diejenigen sind, die zum Schluss das Wächteramt auszuüben haben – wenn nämlich die Wahrnehmung des „natürlichen Rechts der Erziehung“ auf irgendeine Weise nicht funktioniert – kommt die Sache zuletzt immer zu uns. Die Jugendhilfe ist das System, das am Ende die Definitionsmacht in der Praxis besitzt. Das sind konkret die professionell handelnden Frauen und Männer. Nicht alleine die bürokratischen, rechtlichen und politischen Systeme, in denen die Handelnden angesiedelt sind und in denen sie sich bewegen müssen, von denen sie beeinflusst werden in ihren Entscheidungen, bestimmen die praktische Umsetzung der Leitnormen. Letztendlich sind es wir als Subjekte, die lebendigen SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, die bezogen auf lebendige Kinder und Jugendliche als Subjekte ihre Entscheidung treffen müssen.

Da kommen wir mit allgemeinen Vorstellungen von „Grenzsetzungen“ nicht mehr weiter. Wir müssen uns auf einer grundsätzlichen Ebene der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten den Anforderungen stellen und uns darüber klar werden, wie wir im Alltag damit umgehen wollen.

Da das KJHG solche Leitnormen aufstellt, sie aber nicht lebendig machen kann, sind wir in der Verantwortung und müssen das in unserer praktischen Arbeit mit den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, gestalten. Weil uns der Gesetzgeber, wie ich finde, zurecht misstraut, ob wir das immer wollen und können, gibt es den § 8 KJHG: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – der nur dann einen Sinn hat, wenn wir ihn als die Anerkennung des Subjektstatus für die Minderjährigen begreifen. Das kann nur bedeuten, dass die Lebensentwürfe und die Selbstdefinitionen der Kinder und Jugendlichen gefragt sind. Und dort, wo sie von ihnen nicht offensiv geäußert werden können, müssen wir sie im Kontakt mit ihnen in Erfahrung bringen. Wenn die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Vorstellungen nicht offensiv an uns herantragen, dann sind wir aufgefordert – das ist Teil unserer Professionalität – uns mit ihnen auf die Suche zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir – sollten die nicht sagen können, was jetzt im Moment für sie das Richtige ist – uns die Kompetenzen zubilligen, den richtigen Weg, die richtige Entscheidung für sie schon zu wissen. Das Gesetz nimmt uns in die Pflicht, und wir müssen uns selbst in die Pflicht nehmen, diese Suchbewegung mit ihnen zu manhen.

Demokratisierung der Instrumente

Was das für die Ausgestaltung sozialpädagogischer Praxis bedeutet, kann man sich vorstellen: welches Setting muss ich für die tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich haben, um mich auf derartige Suchbewegungen einlassen und sie mit den Kindern, den Jugendlichen und den Familien machen zu können? Die Leitnormen des KJHG müssen wir also zurückbeziehen auf die materielle Ausgestaltung unserer Arbeitsbedingungen.

Es gibt ein Instrument im KJHG, das dafür vorgesehen ist: die Hilfeplanung und die Hilfekonferenz. Diese haben von der Idee her die Funktion, die Definitionsgewalt des einzelnen, der an diesem Prozess beteiligt ist, zu begrenzen. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass in den alten RJWG- und JWG-Zeiten die einsame Fürsorgerin in ihrer Amtsstube, vielleicht noch kontrolliert durch das Vormundschaftsgericht, die Definitionsmacht darüber hatte, was zu erfolgen habe. Damit hier kein Missbrauch von Definitionsmacht mehr entstehen kann, existiert eine demokratische Institution: Hilfeplan und Hilfekonferenz. Alle Beteiligten sollen sich darüber austauschen, wie sie die Situation sehen; und wenn ich von Sichtweisen rede, wird schon deutlich, dass es sich um subjektives Hinschauen und Beurteilen handelt, im Kontext der jeweiligen Biographie dessen, der da schaut. Wenn er oder sie noch so viele professionelle Instrumente in der Hand hat, ist es zum Schluss immer ein Subjekt mit subjektiven Sichtweisen, das hier Situationen von anderen zu verstehen meint und sie beurteilt. Die Hilfekonferenz ist also ein Instrument der Annäherung an das Fremde. Was wir im großen und ganzen heißt, dass wir uns mit unseren mittelschichts-sozialisierten Sichtweisen in der Praxis mit Lebensbedingungen und Erfahrungen auseinandersetzen müssen, die nicht unsere sind, die wir nicht durch bloßes Draufschauen einfach schon verstehen können. Deshalb ist die Hilfekonferenz ein Instrument der Annäherung. In ihr steckt die Idee, dass wir vorsichtig in unseren Beurteilungen und Zuschreibungen sein müssen. Die Beteiligten sollen ihre Sichtweisen offenlegen; dann soll darüber beraten werden, was zu tun sei. Bezogen sich auf die Zusammensetzung dieser Konferenzen kann das heißen: wer ist denn da alles beteiligt? Da sitzen eben acht Professionelle mit ihrer Mittelschichtorientierung. Ihre Blicke unterscheiden sich also gar nicht so sehr voneinander, wenn sie vielleicht auch institutionenspezifisch unterschiedlich sind – wenn da etwa die LehrerIn aus der Schule, die die „Meldung“ an das Jugendamt gemacht hat, wenn da die Erzieherin aus der Kindertagesstätte sitzen (oder wer sonst noch aus dem pädagogischen Feld). Das gibt es zwar institutionenspezifische Unterschiede, denn die Schule hat beispielsweise andere Beurteilungskriterien für konkretes Handeln von Mädchen und Jungen, hat andere Ansatzpunkte für „Meldungen“ an die Ämter als die PädagogInnen aus der offenen Jugendarbeit. In diesem Sprachgebrauch kommt aber die alte Kontrollfunktion des Jugendamtes, dem man „etwas meldet“, damit es in Ordnung gebracht werde, zum Ausdruck. In dieser Runde nun von Professionellen sitzen auch Angehörige der Familie des Kindes oder des Jugendlichen wie auch die Kinder und jugendlichen selbst (sofern sie, was eigentlich grundsätzlich gilt, dazu eingeladen werden). Man muss sich fragen, ob die Idee der Hilfekonferenz so eigentlich wirklich zu realisieren ist? Für mich steht hier die Frage auf der Tagesordnung, wie man dieses Instrument weiter demokratisieren könnte.

Beteiligungsrechte

Zwei weitere Bemerkungen zu den Beteiligungsansprüchen nach § 8 KJHG von Kindern und Jugendlichen. Es heißt da: „Sie sind zu beteiligen entsprechend ihrem Entwicklungsstand“. Und weiter: „Sie sind zu beteiligten und über ihre Verfahrensrechte gegenüber den Gerichten in geeigneter Weise“ aufzuklären. Da haben wir wieder die Ambivalenz, die einfach nicht wegzukriegen ist.

Es gibt die Entwicklungstatsache von Kindern und Jugendlichen, d.h. sie wachsen heran und machen ihre Erfahrungen. Zugleich haben wir den Begriff der Sozialisation als einen Prozess des allmählichen Hineinwachsens in die Gesellschaft und des Kennenlernens der gesellschaftlichen Erwartungen. Andererseits wissen wir, wie problematisch die Normsetzungen sind, mit denen dieses „Hineinwachsen“ beurteilt wird; dass es immer heimliche Messlatten gibt, die an das konkrete Handeln von Kindern und Jugendlichen angelegt werden. Wenn wir also im Gesetz lesen „entsprechend ihrem Entwicklungsstand“, dann hört sich das so an, als sei der Entwicklungsstand eine klare Sache, als könne man mit den Mitteln, die die Profession entwickelt hat, mit quasi objektivierten Verfahren und Standards messen, was denn der Entwicklungsstand (Entwicklungsquotient!) in jedem einzelnen Fall ist. Wenn Kinder und Jugendliche „angemessen an ihrem Entwicklungsstand“ beteiligt werden sollen, dann gibt es zuletzt wieder die Instanz, die das beurteilt und möglicherweise ihre Kriterien im Prozess der Hilfeplanung nicht offenlegt. Das heißt, die Beteiligten müssen sich darüber verständigen, was sie denn für Kriterien anlegen, wenn sie den „Entwicklungsstand“ beurteilen. Da wird sehr viel einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, so als würden sich alle in der Runde verstehen, was mit „angemessen“ gemeint ist.

Man muss sich fragen, ob denn der in § 1 artikulierte und in § 8 verstärkte Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen einer ist, der von einem durch uns zu beurteilenden „Entwicklungsstand“ abhängig ist? Erwirbt ein Mensch seinen Subjektstatus erst im Prozess seiner „Reifung“? Ist man denn erst dann ein „vollwertiger Mensch“, wenn die gesellschaftlich definierten sogenannten Entwicklungsaufgaben, die an die Heranwachsenden getragen werden, von ihnen erfüllt werden? Wenn sie das Zertifikat der „Reife“ bekommen?

Angeborener Subjektstatus?

Nein! Der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen ist völlig unabhängig – das ist mir außerordentlich wichtig – von jedem irgendwie definierten Entwicklungsstand, auf den hier Bezug genommen wird. Der Subjektstatus ist die praktische Seite dessen, was im Grundgesetz die Würde des Menschen genannt wird, die unantastbar sein soll. Kinder und Jugendliche müssen sich ihren Subjektstatus nicht erst erwerben oder erarbeiten oder verdienen durch ein irgendwie von den Erwachsenen oder von gesellschaftlichen Institutionen zu akzeptierendes Verhalten. Sie haben diesen Status, er ist ihnen angeboren; sie bringen ihn als Menschen mit auf die Welt. Sie können ihn auch nicht von sich aus aufgeben oder an den Nagel hängen. Und es hat niemand das Recht, ihnen ihren Subjektstatus abzusprechen. Auf jeder denkbaren und von uns definierten Stufe von Entwicklung haben Kinder und Jugendliche und natürlich alle Menschen diese Subjektposition. Das ist ein Kriterium, das uns herausfordert, das uns zwingt, jeweils genau darüber nachzudenken, wie bezogen auf diese Subjektposition das Handeln der Professionellen im Sinne von Unterstützung und Hilfe gestaltet werden muss.

Ich bin auf die Bedeutung des Subjektstatus gekommen, weil ich mir überlegt habe, was denn eigentlich im gegenwärtigen Prozess der Ökonomisierung Sozialer Arbeit eine politische Position und Kategorie sein könnte, auf die sich die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe gemeinsam verständigen können, um sie öffentlich in die Diskussion zu werfen. Ich glaube, dass das diese Position ist. Wir sind dafür verantwortlich, uns wird darüber ein Wächteramt zugesprochen, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft öffentlich zu machen und zu unterstützen, zu verteidigen, zu helfen, ihn zu realisieren usw. Wenn wir davon ausgehen, muss jeder Bereich von den Hilfen zur Erziehung bis hin zur offenen Jugendarbeit sich fragen, was denn diese Position bezogen auf die von uns betriebene Arbeit jeweils für Anforderungen stellt. Wenn wir das als gemeinsame Ausgangsbasis nehmen, dann haben wir eine Ebne der Verständigung, auf der wir uns gegenseitig kritisch befragen können. Je vereinzelter wir in diesem Geschäft tätig sind, desto größer ist die Gefahr, diese Position nicht entwickeln zu können oder sie zu verlassen. Denn zur Realisierung dieses Anspruchs benötigen wir die Kommunikation, den fachlichen Austausch und vor allem die öffentliche Debatte über unser Scheitern in unserer Arbeit; unser Scheitern auf der politischen Ebene, auf der individuellen Ebene, im Teamprozess usw. Um darüber zu diskutieren, wie wir uns der Position annähern, müssen wir über unsere Grenzerfahrungen reden können; müssen wir darüber reden, wo wir in Ambivalenzen geraten. Bin ich jetzt derjenige, der weiß, wo der richtige Weg für das Kind ist, welche Zeit ich habe, das herauszufinden, wie schnell „eingegriffen“ werden muss? Wenn ich mit all diesen schwierigen Fragen und Erfahrungen mit mir alleine klarkommen muss, dann bin ich mit der Zeit enorm gefährdet, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen aus dem Bewusstsein zu verlieren und in den Bedingungen und Zwängen meiner alltäglichen Arbeit nur noch zu funktionieren.

„Totalverweigerung“ von Jugendlichen …

Vor ein paar Wochen gab es in Berlin im Landesjugendamt eine Diskussion darüber, wie SozialpädagogInnen mit „Straßenkindern“ (einem, wie ich finde, schwierigen Begriff angesichts der Existenzformen von Kindern in Sao Paulo, in Bogotá, in Lima oder woanders in der so genannten Dritten Welt) im städtischen Untergrund umgehen können. Mit Kindern also, die aus Familien, Wohngemeinschaften oder sonstigen Formen stationärer „Unterbringung“ weggelaufen sind, es also aus welchen Gründen auch immer dort nicht mehr aushalten konnten. Durch die Skandalisierung ist der Berliner Senat darauf gestoßen, dass es in Berlin ungefähr dreitausend so genannte Straßenkinder gibt. Wie soll die Jugendhilfe nun mit diesen Kindern umgehen? Welche Angebote soll sie ihnen machen?

In der Diskussion stellte sich heraus, dass nahezu die gesamte Jugendhilfe, ob nun offene Arbeit oder Hilfen zur Erziehung, diesen Kindern lediglich Angebote unter der Voraussetzung der Sesshaftmachung bieten können und wollen. Nun gibt es aber unter diesen dreitausend eine beträchtliche Gruppe von ungefähr 10 Prozent, die diese Angebote radikal zurückweisen; die sagen, dass die Angebote der Jugendhilfe, die auf Sesshaftigkeit basieren und hinzielen, ihren Vorstellungen vom Leben hier und jetzt nicht entsprechen. Es gibt auch schon einen neuen Begriff für diese Jugendlichen: das sind die „Totalverweigerer“ in der Jugendhilfe. Sie verweigern alles: sie ignorieren die Schulpflicht, wie wollen nicht mehr in der Familie leben, sie weisen sämtliche gängigen Angebote der Jugendhilfe zurück; sie sind in einem qualitativen Sinne wirklich Totalverweigerer und bringen uns als Jugendhilfe-Menschen in Grenzsituationen. Wie nun darauf reagieren?

… und die „Dequalifizierung“ Sozialer Arbeit

Die „Totalverweigerer“ praktizieren in einer zugespitzten Form gegenüber den VertreterInnen der Jugendhilfe ihre Subjektposition. Nun hilft es uns überhaupt nichts, danach zu fragen, was denn dies für eine Existenzform sei? Ob man da überhaupt von einer Subjektposition reden könne? Ob es nicht eher entsetzlich ist, wie diese Jugendlichen da existieren, unter wirklich menschenunwürdigen Lebensbedingungen? Sie müssen sich doch prostituieren, sie müssen mit Drogen handeln usw.? Kann man das überhaupt noch eine Subjektposition nennen? Ist denn da überhaupt noch Subjektives, d.h. Selbstbestimmtes in der Lebensführung vorhanden?

Das haben wir nicht zu entscheiden. Und exakt das ist das Dilemma. Diese Grenzsituationen gibt es immer wieder. Die einzig mögliche Annäherung an solche Jugendlichen ist die schlichte Frage: Wie kannst Du unter solchen Bedingungen überleben? Wie kann ich Dich dabei unterstützen? Als wir in Berlin in der Diskussion an diesem Punkt waren, wurde von TeilnehmerInnen eine Position formuliert: dass die zunehmende soziale Verweigerung von Kindern und Jugendlichen PädagogInnen immer mehr in die Situation bringt, „dequalifizierende“ Arbeit leisten zu müssen, die sich im Begriff der „Überlebenshilfe“ erschöpfe. Das würde doch bedeuten, dass wir uns auf den Stand des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen ließen, wo wir wie die Heilsarmee mit Suppenküchen und allen möglichen Überlebensveranstaltungen nichts anderes getan hätten, als auf die unmittelbar geäußerten Alltagsbedürfnisse irgendwie materiell zu reagieren. Das sei eine Dequalifizierung Sozialer Arbeit.

Verständnis dafür zu schaffen, dass diese Form der radikalen offenen Annäherung an solche Kinder und Jugendlichen große Anforderungen an das professionelle Know How von SozialpädagogInnen stellt, ist außerordentlich schwierig. An keiner anderen Stelle professioneller Arbeit müssen wir so sehr reflektiert unser Denken und Handeln überprüfen wie in diesen Grenzsituationen. Und an keiner Stelle ist es so schwer, diesen einen Satz nicht zu sagen: dass doch irgendwo auch eine Grenze und Schluss mit der Toleranz sein müsse.

Akzeptanz, nicht Toleranz!

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz herauszuarbeiten. Toleranz heißt: zu dulden, was uns nicht passt. Es ist eine Position, die besagt, dass solche Jugendlichen auch hier leben dürfen mit ihren Minderheitenpositionen, solange sie bestimmte Grenzen nicht in Frage stellen. Dagegen ist Akzeptanz eine hochqualifizierte Geschichte, die allerdings in der Diskussion oft diskriminiert wird als Gewährenlassen, Gefälligkeitspädagogik, einfach alles nur hinüberschicken, ohne noch Ansprüche zu stellen usw. So geht es nicht!

Wenn wir Akzeptanz in einem professionellem Sinne begreifen wollen, dann steckt darin die Frage nach der Offenheit unserer Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten – bezogen auf Lebensbedingungen und subjektive Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen, die sich in anderen Lebenswelten bewegen als den unseren. Dazu gehört auch, dass wir ihre Entscheidungen und Schritte, die wir als „Notlösungen“ empfinden, so verstehen, dass auch die Notlösung eine Lösung ist, in diesem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Im weiteren ist zu sehen, in welche Situationen von Not dieser Weg der Lösung sie wieder bringt. Das ist unsere Aufgabe, sie damit zu konfrontieren; aber nicht, um ihnen den Weg vorzuschreiben, sondern um zu klären, wie sie das durchstehen und überleben können. Wenn wir eine solche Haltung einnehmen in den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, dann haben wir eine gemeinsame Klammer, die Ernst mit dem Ansatz gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und mit der Realisierung des Subjektstatus macht. Dann haben wir einen Bezugspunkt, auf den hin wir unser Denken und Handeln qualitativ überprüfen können. Politisch wäre das eine Basis, ein Punkt, an dem wir gemeinsam auftreten können und müssen.

Das Elend der Prävention

In Hamburg ist in einer „gemeinsamen Kommission Jugendhilfe und Polizei“ kritisiert worden, dass die Polizei eine Sonderkommission Graffiti eingerichtet hat, was von der Jugendhilfe nicht verhindert werden konnte. Die Jugendbehörde reagierte darauf mit einem präventiven Angebot in der Form der Zur-Verfügung-Stellung von Freiflächen und Sprayfarben, die bekanntlich – weil teuer – von vielen Jugendlichen geklaut werden müssen. Gegen solch ein Angebot ist nichts zu sagen. Aber ich finde es problematisch, wenn damit gegenüber den Politikern dieser Stadt von der Jugendhilfe ein Präventionsversprechen abgegeben wird. Anstatt zu vertreten, dass es Jugendliche gibt, die im Rahmen der offenen Angebote der Jugendarbeit ihre kreativen Fähigkeiten in Form von Graffiti ausprobieren – eine genuine Aufgabe von Jugendarbeit auch im Hinblick auf den Subjektstatus – sagt die Jugendhilfe, sie würde mit diesem Angebot Jugendliche davon abhalten können, an öffentlichen Gebäudeflächen die gesellschaftliche Grundnorm des Eigentums zu verletzen. So werden durch die präventive Strategie der Jugendhilfe die jugendlichen Sprayer, die im Prinzip alle dasselbe machen, aufgeteilt in diejenigen, die die Angebote der Jugendhilfe wahrnehmen und diejenigen, die trotz dieser Angebote weiterhin an ihrem kriminellen Handeln festhalten. Letztere sind dann die Zielgruppe kriminalpolizeilicher Strategien. So geht es nicht!

Wieso lässt sich die Jugendarbeit in die Position treiben, Präventionsversprechen öffentlich abzugeben, die genau den Kriterien entsprechen, die in der „Klientelisierung“ dieser Gruppe von Jugendlichen enthalten sind? Warum wird nicht dagegen aufgestanden und gesagt, dass diese Aktion gegen Graffiti-„Kriminalität“ eine Sauerei ist? Die öffentlichen Räume müssen doch auch Jugendlichen zur Aneignung zur Verfügung stehen. Und die Verregelung und Verrechtlichung des öffentlichen Raumes wird von Jugendlichen immer wieder nicht akzeptiert werden. Wer darauf mit kriminalpolizeilichen Strategien antwortet und diese Strategien mit Präventionsstrategien ergänzt, betreibt eine absolut verfehlte Jugendpolitik.

Wenn wir, die wir diese Gesellschaft so gestaltet haben wie sie ist, dafür sorgen, dass die Aneignungsfähigkeit öffentlicher Räume für Kinder und Jugendliche gegen Null geht, dann dürfen wir uns doch nicht wundern, dass diese Kinder und Jugendlichen sich in teilweise auch aggressiven Aktionen ihren Aktionsraum zurückholen und den öffentlichen Raum als Bühne zur Selbstinszenierung vorführen und sagen: Ihr könnt uns mal! Darauf mit Präventionsstrategien zu antworten, ist das Letzte!

Es ist das Gegenteil von Anerkennung des Subjektstatus. Damit betreibt die Jugendhilfe und Jugendarbeit die Klientelisierung der nonkonformistischen Gruppen von Jugendlichen. Die Jugendarbeit hat das nicht nötig. Sie kann sagen: Unsere Graffiti-Aktionen sind ein Angebot für diejenigen, die nicht im öffentlichen Raum ihre Bedürfnisse realisieren wollen; die Lust haben, dies in unseren von der Jugendarbeit zur Verfügung gestellten Räumen zu machen. Dann entgehen wir auch dem berechtigten Vorwurf der Gettoisierung, die immer wieder – in bester Absicht – von der Jugendhilfe betrieben wird!

Der Autor Dr. Manfred Kappeler ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der TU Berlin.

Der vorstehende Beitrag erschien in DER NAGEL 59/1997 und wurde im Juli 2003 hier eingestellt.

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Armut und Gesundheitsgefährdungen im Kindes- und Jugendalter

Von Klaus Hurrelmann und Andreas Klocke

Einleitung

Mit dem Begriffspaar Armut und Gesundheit ist ein Zusammenhang thematisiert, der in der – nach wie vor – reichen Bundesrepublik gerne verdrängt wird. Der Armut wird in den Sozialwissenschaften und in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie tritt in der Bundesrepublik überwiegend als Gegenstand sozialpolitischer Regulierung auf und ist damit zu einem großen Teil dem gesellschaftlichen Diskurs entzogen. Armut kann als unterstes Segment der sozialen Stratifikation angesehen werden und bezeichnet damit nicht Menschen, die quasi außerhalb der Gesellschaft leben, sondern eine inferiore Randstellung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens einnehmen Das Phänomen der Armut verweist eine Gesellschaft zugleich auf ihre normativen Standards, auf das Maß an Armut, das eine Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren. Die Ursachen der Armut werden sowohl in strukturellen Gegebenheiten („Modernisierungsverlierer“) als auch im individuellen Versagen der einzelnen gesehen.

Im Kindes- und Jugendalter wirken sich gesundheitliche Beeinträchtigungen besonders nachhaltig aus. Mangelnde Teilhabe der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen an Aktivitäten der Gleichaltrigengruppe gehen oftmals mit Deprivationen einher, die für die weitere Entwicklung von nachhaltiger Bedeutung sein können. Neben körperlichen Beschwerden treten insbesondere soziale und psycho-soziale Störungen auf.

Um den Zusammenhang von Armut und Gesundheit zu erschließen, müssen beide Begriffe umfassend verstanden werden. Dabei wird Armut nicht lediglich als Einkommensarmut gesehen, unter die solche Personen fallen, die über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügen. In neueren Konzeptionen wird Armut mehrdimensional als Kumulation von Unterversorgungslagen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Arbeitsbedingungen, Versorgung mit technischer und sozialer Infrastruktur sowie Einkommen verstanden. So betrachtet, ist der Zusammenhang von Armutsbetroffenheit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen naheliegend. Wohl ist dieser Zusammenhang als wechselseitiger Einfluss zu verstehen, d.h. sowohl Armut kann zu Krankheit führen als auch Krankheit Armut bedingen, jedoch ist in sehr vielen Fällen eine soziale Randstellung oder Armutslage für gesundheitliche Beeinträchtigungen verantwortlich. Dieser kausale Einfluss erschließt sich, wenn Gesundheit bzw. Krankheit in einem umfassenden Verständnis von physischen, psychischen und sozialen Komponenten konzeptionalisiert wird. Mangelnde Teilhabe an den gesellschaftlichen Werten und Errungenschaften auf Grund der Armutslage bedingen oftmals eine soziale und psychische „Verarmung“, die sich in psychosomatischen Störungen und allgemein mangelndem Wohlbefinden äußern. Nicht selten geraten Menschen über diesen Mechanismus in einen nur schwer entrinnbaren Kreislauf von materieller Verarmung und psychischer und physischer Krankheit.

Inwieweit sind nun Kinder und Jugendliche von Armut betroffen und wie wirkt sich dies auf den Gesundheitszustand aus? Wie verschiedene Studien gezeigt haben, besteht generell ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Gesundheitszustand der Menschen. Es gibt gute Gründe dafür, anzunehmen, dass sich die soziale Lage auch auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen auswirkt.

Wir werden:

  • zunächst die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und den Grad ihrer Armutsbetroffenheit in der Bundesrepublik betrachten;
  • sodann in empirischen Analysen den Einfluss sozialer Ungleichheit auf die wahrgenommene Gesundheit und auf die Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen überprüfen und
  • abschließend Fragen der gesundheitspolitischen Intervention aufgreifen, da gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter erhebliche Auswirkungen auf deren Entwicklungsgang und Lebenschancen haben.

Armut – Wer ist betroffen?

Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders von Armut betroffen? Alle statistischen Unterlagen zeigen ein deutliches Ansteigen der Sozialhilfeempfänger seit 1980. Im Zeitraum von 1980 bis 1990 sind nach Angaben der nationalen Armutskonferenz 1993 die Anteile der Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung um 76 % gestiegen. Heute, so wird geschätzt, nehmen schon fast 5 Mio. Menschen Sozialhilfe in Anspruch, weitere 1 bis 2 Mio. Menschen hätten diesen Anspruch nach den rechtlichen Grundlagen, lösen ihn aber aus verschiedenen Gründen nicht ein. In unserer Gesellschaft geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Bei einer im Durchschnitt steigenden Wohlstandsmarge wächst zugleich Armut und Benachteiligung, eben weil sich die Spanne zwischen den sehr gut privilegierten und den ganz schlecht gestellten Menschen in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander bewegt.

Waren noch bis vor etwa 10 Jahren vor allem die Menschen in Armutssituationen, die das Kriterium „nicht mehr im Erwerbsleben“ erfüllten, also die alten Menschen, so gilt das heute nicht mehr. Immer stärker rückt die Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen in die Armutsgruppe vor, insbesondere durch das Ereignis Arbeitslosigkeit. Von dieser Entwicklung sind ganz besonders stark auch die ausländischen Bevölkerungsgruppen betroffen. Und schließlich gibt es eine historisch neue Gruppe, die ebenfalls zur Armutsbevölkerung zu rechnen ist, nämlich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Armut trifft vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens haben. Insofern ist die neue Entwicklung, wonach Kinder und Jugendliche in hoher Zahl zu der Armutsbevölkerung zu rechnen sind, ganz besonders ernst zu nehmen. Denn Kinder haben, wie vielleicht sonst nur noch die ausländischen Bevölkerungsgruppen, kaum verbriefte Rechte, die ihre Teilhabe an wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen sichern könnten. Sie haben ja noch nicht einmal die elementarsten Rechte der politischen Partizipation, geschweige denn Wahlrechte. Sie können deswegen auch im politischen System praktisch vernachlässigt werden, da sich aus ihrer Vernachlässigung keine unmittelbaren politischen bzw. machtpolitischen Konsequenzen ergeben.

Die strukturelle Armutsentwicklung betrifft immer mehr junge Menschen und Kinder

Die strukturellen Veränderungen in der Gruppe der Armutsbevölkerung sind auf drei große Ursachenkomplexe zurückzuführen, die in den letzten Jahren besonders auch Kinder und Jugendliche stark betroffen haben:

  1. Bis etwa Mitte der 1980er Jahre lebten überwiegend ältere Menschen und insbesondere Frauen mit unzureichender Rente in Armut. Heute ist die Hauptursache für die Betroffenheit von Armut die Massenarbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bezieht sich definitionsgemäß auf Personen im erwerbsfähigen Alter, also Menschen im Alter von etwa 20 bis 55 Jahren, die in der überwiegenden Zahl in Familien leben. Und dies ist der Grund, warum immer mehr Kinder über eine kürzere oder längere Zeit in Armut aufwachsen.
  2. Des weiteren hat der Anteil von Alleinerziehenden in den letzten Jahren stark zugenommen. Insgesamt sind etwa 15 % aller Familien in der Bundesrepublik Einelternfamilien, und von diesen Familien lebt ungefähr ein Drittel an der Armutsgrenze.
  3. Kinderreiche Familien stellen eine weitere Bevölkerungsgruppe, die von Armut bedroht ist. Kinder verursachen in der Bundesrepublik monatliche Kosten, die gegenwärtig mit etwa 500 bis 800 DM pro Kind zu veranschlagen sind. Bei drei und mehr Kindern kommen schnell monatliche Ausgaben zusammen, die eine Normalverdiener-Familie in den Bereich der Einkommensarmut drängen. Familien mit drei und mehr Kindern gelten dementsprechend zu 42 % in Ostdeutschland und zu 22 % in Westdeutschland als arm.

Diese drei Entwicklungen in den letzten Jahren machen deutlich, warum Kinder und Jugendliche so stark von Armut betroffen sind. Armut ist eben heute nicht mehr auf die älteren Bevölkerungsgruppen konzentriert und beschränkt, sondern betrifft vor allem die jüngeren ganz stark: Kinder unter 11 Jahren sind inzwischen diejenige Altersgruppe, die am häufigsten von Armut bedroht ist. Die psychischen Belastungen sind bei den jüngeren teilweise ganz ähnlich wie bei den älteren Bevölkerungsgruppen: Soziale Auffälligkeit, Angst vor Stigmatisierung, Verleugnung der Armut in Außenkontakten. Leistungsstörungen, Abbruch sozialer Kontakte, Delinquenz, soziale Isolation und psychosomatische Störungen werden in Untersuchungen berichtet. Während alte Menschen vielleicht noch den Vorteil haben, dass sie ihre Armutssituation verschweigen können, gilt das für jüngere Menschen meist nicht. Auch deswegen sind die psychischen Belastungen durch Armut, die Kinder und Jugendliche zu ertragen haben, möglicherweise sogar höher als die bei älteren Menschen.

Gesundheitsgefährdungen durch Armut

Ist der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit im Erwachsenenalter in vielen Industriegesellschaften belegt, so wird offenbar mit Blick auf den vergleichsweise guten Gesundheitszustand Jugendlicher dieser Einfluss als eher gering eingestuft. Der Befund eines allgemein guten Gesundheitszustandes Jugendlicher ist nicht überraschend, da die Jugendphase im Lebensverlauf eines Menschen in der Regel die Lebensphase mit der geringsten Krankheitshäufigkeit darstellt. Dieser Befund muss aber relativiert werden, denn Untersuchungen haben gezeigt, dass Jugendliche nicht in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen Erkrankungen durch medizinische oder psychosoziale Versorgungseinrichtungen behandeln lassen und so der Gesundheitszustand der Gruppe der Jugendlichen systematisch überschätzt wird.

Gesundheitsbeeinträchtigungen Jugendlicher basieren auf verschiedenen Ursachen. Neben physiologischen und psychobiologischen Beeinträchtigungen spielen im Jugendalter insbesondere soziale Rahmenbedingungen eine Rolle. Kinder und Jugendliche reagieren von jeher sehr sensibel auf gesellschaftliche Klimata. Ein sozioökonomisch und soziopolitisch bedingtes Schwinden von individuellen Zukunfts- und Berufsperspektiven verlangt von den Jugendlichen eine Anpassung an einen so nicht geplanten Lebensweg, der nicht selten mit psychosomatischen Störungen und körperlichen Krankheiten einhergeht. Individuell erfahrene Lebensbedingungen, psychosoziales Wohlbefinden und erwartete Lebens- bzw. Zukunftschancen umreißen die alltägliche Lebenssituation der Jugendlichen. Gesundheit, als Balancezustand sozialökologischer, physiologischer und seelisch-psychischer Faktoren verstanden, steht in unmittelbarem wechselseitigen Bezug zu diesen Rahmenbedingungen. Entsprechend lässt sich der Gesundheitszustand Jugendlicher auf die erfahrenen Lebensumstände zurückführen.

Studie

Die Fragestellung nach sozialer Ungleichheit und dem Gesundheitszustand Jugendlicher steht vor dem Problem, die soziale Ungleichheitslage von Kindern und Jugendlichen erfassen zu müssen, ohne das klassische Instrumentarium anwenden zu können. Soziale Ungleichheit wird konventionell in empirischen Studien mit einem Schichtindex operationalisiert. Hierzu zählen die Dimensionen: Einkommen, Bildung und Berufsstatus. Alle drei Dimensionen lassen sich nicht auf Kinder und Jugendliche anwenden. Da in unserer Befragung ausschließlich die Kinder und Jugendlichen selbst befragt werden, also nicht zugleich auch deren Eltern, muss folglich mit vergleichsweise robusten und einfachen Indikatoren sozialer Ungleichheit gearbeitet werden. Es bietet sich an, die Kinder und Jugendlichen nach ihrem sozialen Herkunftsmilieu zu befragen. Das Wohlstandsniveau des Haushalts berührt direkt die Kinder und Jugendlichen. Ungünstige, beengte Wohnverhältnisse, finanzielle Restriktionen, die zur sparsamen Haushaltsführung (Ernährung und Kleidung) nötigen, sowie geringe Mittel für Freizeitaktivitäten beschneiden Kinder in ihren Entfaltungs-. und Teilnahmemöglichkeiten. Weiterhin wirkt sich die Milieuzugehörigkeit, über das Berufsprestige und die Bildung der Eltern indiziert, auf die Lebensbedingungen, auf die kognitive und die evaluative Entwicklung sowie auf die psychische, soziale und körperliche Gesundheit der Jugendlichen aus. Aus diesen Überlegungen kann ein Einfluss der sozialen Herkunft – und damit von sozialer Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter – auf den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen abgeleitet werden. Der so gebildete Schichtindex umfasst 5 Stufen und repräsentiert in der untersten Stufe eine Armutsgruppe. Datenbasis ist die Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“, die Teil eines internationalen Forschungsverbundes ist, der von der WHO gefördert wird und an dem gegenwärtig 24 Länder beteiligt sind. Die Studie richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von 11, 13 und 15 Jahren. Die Befragung der Kinder und Jugendlichen fand in der Zeit von März bis Mai 1994 an Schulen in Nordrhein-Westfalen statt. Es wurde eine kombinierte Quotenstichprobe anhand der Merkmale Alter, Schultyp und Region gebildet. Die Fallzahl beträgt N=3.328.

Gesundheitsbefinden 11-15 jähriger SchülerInnen

Soziale Ungleichheit

Gesundheitsindikatoren

1
unten

2

3

4

5
oben

Insg

Gesundheitszustand

 

 

 

 

 

 

Subjektiv bewerteter Gesundheitszustand
sehr gesund

21

34

37

43

47

37

Subjektiv bewertetes Wohlbefinden
sehr glücklich

17

25

30

35

37

29

Selbstvertrauen
immer/ sehr oft

58

73

72

80

86

75

Hilflosigkeit
immer/ sehr oft

14

7

6

5

3

6

Einsamkeit
sehr/ ziemlich oft

19

14

9

8

9

11

Gesundheitsverhalten

 

 

 

 

 

 

Rauchen
täglich/ öfters die Woche

17

14

10

9

7

12

Alkohol trinken (Bier)
täglich/ öfters die Woche

9

9

8

8

12

9

Zähneputzen
mehrmals täglich

64

71

73

81

79

74

Sport
täglich/ öfters die Woche

35

38

43

46

48

42

Ernährung
Obst täglich

65

67

68

71

73

68

Pommes Frites täglich

13

8

8

7

5

8

Gesundheitsbeschwerden

 

 

 

 

 

 

Kopfschmerzen
täglich/ öfters die Woche

22

11

13

11

9

12

Rückenschmerzen
täglich/ öfters die Woche

16

10

9

7

7

9

Allgemein schlecht
täglich/ öfters die Woche

16

7

8

5

1

7

Nervös
täglich/ öfters die Woche

22

12

15

13

8

13

Schlecht Einschlafen
täglich/ öfters die Woche

26

17

18

15

16

17

Studie: Health Behaviour in School-Aged Children – A WHO Cross-National Survey, Universität Bielefeld

Alle Zusammenhänge sind statistisch signifikant. Geschlecht und Alter auspartialisiert. N=2.491

Ergebnisse

Die Analyse des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsgefährdungen der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11-15 Jahren basiert auf den subjektiven Bewertungen ihres Gesundheitszustandes und den Selbstberichten über ihr Gesundheitsverhalten. Obwohl es sich bei den Selbstberichten nicht um epidemiologisch abgesicherte Daten handelt, sehen wir gleichwohl in der Befragungsmethode einen validen und aussagekräftigen Ansatz zur Erforschung der gesundheitlichen Situation im Jugendalter. Das hier verwendete „Maß der Gesundheit“ auf Basis der subjektiven Bewertung muss jedoch mit dieser Einschränkung gelesen werden. Es werden im folgenden die Verteilungen nach der sozialen Ungleichstellung aufgeschlüsselt und die Angaben „sehr positiv“ bzw. „sehr oft“ ausgewiesen.

Wie in Tabelle 1 ausgewiesen, zeigt sich durchgängig, über alle Bereiche, ein Einfluss der sozialen Lebenslage auf die berichtete Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Besonders deutlich tritt der Einfluss der sozialen Lage zwischen den beiden Extremgruppen („unten“ und „oben“ im sozialen Ungleichheitsspektrum) hervor. Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Positionen zeigen in nahezu allen Gesundheitsindikatoren eine schlechtere Bewertung ihrer gesundheitlichen Situation. Nicht selten beträgt die Prozentsatzdifferenz zwischen diesen beiden Extremgruppen über 20 Punkte. Die geringsten Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen zeigen sich im Gesundheitsverhalten. Hier wirkt, so können die Ergebnisse interpretiert werden; die Leitbildfunktion jugendlicher Lebensweisen nivellierend auf das Verhalten der einzelnen. Deutlicher sind die Unterschiede in der Bewertung des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsbeschwerden. Nur jedes fünfte Kinder aus der unteren, aber jedes zweite Kind aus der oberen sozialen Position bewertet den Gesundheitszustand mit sehr gut. Gesundheitliche Beschwerden werden von Kindern erheblich häufiger berichtet, die aus sozial niedrigeren Positionen kommen. Da den Kindern niedrigerer sozialer Herkunft oftmals eine geringere Sensibilität und Berichtsfähigkeit über psychosoziales Wohlbefinden zugesprochen wird, sind die deutlich höheren Prävalenzraten der berichteten gesundheitlichen Beschwerden und der schlechter bewertete Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen niedrigerer sozialer Herkunft um so erstaunlicher.

Unsere Untersuchung zeigt noch ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis. Ebenso wie jüngst eine amerikanische Studie für eine Erwachsenenpopulation auswies, zeigt sich auch schon im Kindes- und Jugendalter ein direkter, linearer Zusammenhang zwischen dem Grad der sozialen Privilegierung und dem Ausmaß von Gesundheit. Wie die überwiegend stetig ansteigenden oder fallenden Prozentzahlen zwischen den sozialen Indexpositionen in Tabelle 1 ausweisen, haben wir es bei den meisten Gesundheitsindikatoren mit einem linearen Zusammenhang über alle Positionen der sozialen Stufenleiter zu tun. Dies bedeutet: Je niedriger die Position in der Privilegienstruktur einer Gesellschaft, desto niedriger ist auch die Qualität der Gesundheit; je höher die Position in der Privilegienstruktur, desto größer die Qualität der Gesundheit. Bemerkenswert ist, dass diese Abhängigkeit nicht nach qualitativen Stufen gegliedert ist, sondern einen gleichförmigen Verlauf hat. Die lineare Beziehung zwischen sozialer Lebenslage und individuell erfahrener Gesundheit unterstreicht den fließenden Übergang von absoluter über relativer Armut zu den sozial in den unteren Segmenten der Gesellschaft stehenden „Normalfamilien“.

Schlussfolgerungen

Was lässt sich hieraus ableiten? Zunächst einmal ein wichtiger Hinweis auf die angemessene Definition und Konzeptionalisierung von Gesundheit. Gesundheit ist eindeutig ein Indikator für das subjektive und das objektive Wohlbefinden, teilweise wahrscheinlich sogar mit diesem Wohlbefinden gleichzusetzen. Gesundheit ist von den Lebensbedingungen abhängig und sie muss ganz offensichtlich mehrdimensional verstanden werden, nämlich als der Balancezustand sowohl im körperlich-physischen als auch im seelisch-psychischen wie im sozialen Bereich. Es spricht also sehr viel für eine mehrdimensionale Konzeption von Gesundheit, wie sie etwa von der Weltgesundheitsorganisation seit vielen Jahrzehnten proklamiert wird. Gesundheit hängt ganz offensichtlich von den Ressourcen ab, die ein Mensch zur Verfügung hat. Dabei sollten die personalen von den sozialen Ressourcen unterschieden werden. Zu den personalen Ressourcen sind insbesondere das Temperament einer Person zu rechnen, die Intelligenz mit all ihren verschiedenen Facetten, die Selbststeuerungsfähigkeit und die Fähigkeit, die eigene Lebenssituation zu kennen und zu interpretieren, verbunden mit der Kompetenz, sich in komplizierten Situationen körperlicher, psychischer und sozialer Art in effektiver Weise selbst zu managen. Neben diesen personalen Ressourcen sind insbesondere die sozialen Ressourcen angesprochen, und sie sind sehr stark in den schon angesprochenen Lebensbedingungen des Menschen abgebildet. Hier ist an erster Stelle natürlich die finanzielle Komponente von sozialen Ressourcen zu nennen, denn mit finanziellen Mitteln kann ein Individuum in unserer Gesellschaft sich Informationen und Leistungen erkaufen, die für Wohlbefinden und Gesundheit von großer Bedeutung sind. Eine weitere Dimension ist die emotionale und die soziale Unterstützung, die nach allen vorliegenden Untersuchungen von großer Bedeutung für die Stabilisierung des Balancezustandes „Gesundheit“ ist, da sie die nötigen Stützungen zur Verfügung stellt, wenn es z.B. zu Krisen- und Belastungssituationen kommt. Weiterhin ist auf die soziale Ressource „Bildung“ hinzuweisen, die dafür sorgt, dass ein Individuum selbstgesteuert und flexibel in Belastungssituationen reagieren kann und die selbstverständlich auch von erheblicher Bedeutung ist, wenn es um das Heranziehen von Informationen und Wissen geht. Das Zusammenspiel von sozialen Ressourcen und personalen Ressourcen, die selbstverständlich auch in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, entscheidet also ganz offensichtlich über den Grad von Gesundheit, über den ein Individuum verfügt. Und die Befunde aus unserer und anderen Untersuchungen unterstreichen, wie stark gradiert der Zusammenhang zwischen den sozialen Lebensbedingungen und der Gesundheit ist.

Sozialpolitische Konsequenzen

Was ist politisch zu tun? Armut entsteht, wie die bisherige Analyse zeigt, eindeutig aufgrund von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen in der Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft. Die Bekämpfung der Armut kann deswegen auch nur politisch geregelt werden und ist eine Frage der Verteilungspolitik insgesamt. Wie die nationale Armutskonferenz betont hat, wächst die Zahl derer, die Gefahr laufen, keinen ausreichenden Schutz in der Sozialversicherung zu erhalten, und die beim Eintreten von Existenzrisiken auf Sozialhilfe verwiesen sind. Darüber hinaus werden angesichts einer Tendenz zur Pluralisierung von Lebensformen die traditionellen Sicherungsnetze von Ehe und Familie in ihrer Schutzfunktion immer brüchiger. Sie stellen daher die bisherige indirekte Existenzsicherung von Familienmitgliedern, z.B. von Frauen, in Frage. Zugleich ist in den letzten Jahren der sozialpolitische Schutz vor Verarmungsrisiken eher verringert worden, z.B. durch die Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes und des Renten- und Gesundheitsgesetzes. Die politische und soziale Zuständigkeit für soziale Problemlagen hat sich von der Sozialversicherung auf die Sozialhilfe verschoben und damit von der Bundesebene auf die Ebene der Gemeinden. Die Gemeinden aber sind z.Zt. die finanziell am ungünstigsten ausgestatteten Institutionen unseres politischen Systems.

Bündnispartner für eine Lobby der Armen

Die Bevölkerungsgruppen in Armut sind aus den oben angegebenen Gründen nicht in der Lage, sich miteinander zu solidarisieren. Sie sind auch kaum in der Lage, auf ihre eigene prekäre Situation hinzuweisen. Sie können sich deswegen kaum eine wirksame öffentliche Lobby aufbauen. Deswegen sind potentielle Bündnispartner gefordert, diesen Prozess zu unterstützen und öffentlich Position zu beziehen. Als Bündnispartner kommen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und die Gewerkschaften in Betracht. Als Bündnispartner ist aber auch die Wissenschaft gefragt. Durch kontinuierliche öffentlichkeitswirksame Aktionen kann auch sie sich um benachteiligte Bevölkerungsgruppen kümmern und das Tabu brechen, das immer noch über der Armut liegt. Durch öffentliche Diskussion und durch sachlichen Hinweis auf die Verursachung von Armut als eines kumulativen Prozesses kann auch von wissenschaftlicher Seite ein nachdrücklicher Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der Schwächsten geleistet werden.

Gesundheitspolitische Intervention

Einen besonderen Stellenwert muss dabei schließlich auch eine gezielte Veränderung des Versorgungssystems, ganz besonders auch im gesundheitlichen Bereich, einnehmen. Wir brauchen spezifisch zugeschnittene Angebote der gesundheitlichen Versorgung für die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen. Dabei müssen viel stärker als heute auch ambulante und mobile Dienste eingesetzt werden. Denn das gehört zu den Charakteristiken der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen, dass sie sich die Leistungen des Versorgungssystems nur schwer aktiv erschließen können. Die Konsequenz ist, dass die Angebote zu den armen Bevölkerungsgruppen hin orientiert werden müssen, z.B. – sofern es um Kinder und Jugendliche geht – durch die Integration von Versorgungsangeboten in Kindergärten und Schulen.

Dr. Klaus Hurrelmann ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Beirat des ABA Fachverbandes Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Dr. Andreas Klocke ist Direktor am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg.

Vorstehender Artikel wurde veröffentlicht in DER NAGEL 60/1998, ins Internet gestellt im Juni 2003.

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Perspektiven der kommunalen Haushaltskonsolidierung

Von Robert Schmitz

Sowohl in den Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen als auch im übrigen Bundesgebiet steht ein Thema ganz oben auf der Tagesordnung: die Konsolidierung des Haushalts. Die konjunkturelle Lage mit ihren Auswirkungen auf die Steuereinnahmen und Sozialausgaben, die finanziellen Belastungen der Vereinigung, die mit diesen Entwicklungen in Zusammenhang stehenden Verlagerungen von Aufgaben und Ausgaben von Bund und Land auf die kommunale Ebene sowie die erheblichen, heute Folgekosten verursachenden Ausgabensteigerungen der Städte und Gemeinden zu Beginn der 90er Jahre haben insgesamt zu teilweise dramatischen Differenzen zwischen Ausgaben und Ein-nahmen geführt.(1) Die aktuelle Zuspitzung dieser Situation und die zu erwartende weitere Entwicklung zwingen die Kommunen zur Einleitung von Konsolidierungsmaßnahmen, wenn sie ihre Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit wiedergewinnen wollen.

Die dabei zu ergreifenden Maßnahmen sind nicht an einer kurzfristigen Entlastung des Haushalts, sondern vielmehr an einer mittel- bis langfristigen Wirksamkeit zu orientieren. Denn auf der Ausgabenseite sind weitere Belastungen aufgrund der vollen Einbeziehung der ostdeutschen Länder und Gemeinden in den Finanzausgleich ab 1995 bereits abzusehen (2), und auf der Einnahmenseite sind ausreichende Steigerungen frühestens in einigen Jahren zu erwarten. Eine Verbesserung der Haushaltssituation für die Kommunen durch Maßnahmen des Bundes oder Landes, die selber mit enormen finanzwirtschaftlichen Problemen konfrontiert sind, ist nicht in Sicht. Auch die Hoffnung auf eine baldige Entspannung der Haushaltslage durch einen Konjunkturaufschwung ist unbegründet. Auf der Einnahmenseite wird er sich mit höheren Steuereinnahmen erst mit einiger Verzögerung bemerkbar machen, und auf der Ausgabenseite wird eine Entlastung im Bereich der Sozialausgaben angesichts der Arbeitsmarktlage erst mit erheblichem Zeitverzug eintreten.

Damit stehen die Kommunen vor der Herausforderung, aus eigener Kraft eine längerfristig wirksame Konsolidierung herbeizuführen. Dazu stellt eine weitere Erhöhung der Verschuldung keinen geeigneten Ansatz dar. Abgesehen davon, dass die Aufnahme von Krediten nur für Umschuldungsmaßnahmen oder, ihrerseits Folgekosten verursachende, investive Zwecke zulässig ist (3), führen die fälligen Zins- und Tilgungszahlungen zu zusätzlichen Belastungen der Haushaltslage in den kommenden Jahren. Daher sind Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer dauerhaften Haushaltsentlastung führen, wobei der entscheidende Ansatzpunkt in einer Reduktion der Ausgaben liegt.

Die Erhöhung der Kommunalabgaben, soweit durch die einzelne Kommune beeinflussbar (Gewerbe- und Grundsteuer, Benutzungs- und Verwaltungsgebühren, Beiträge, Benutzungsentgelte), könnte zwar zur Steigerung der Einnahmen und im Einzelfall auch zu einer dauerhaften Entlastung der angespannten Haushaltslage führen; sie dürfte aber angesichts der Diskussion um den Standort Deutschland und die bereits erreichte Steuer- und Abgabenbelastung nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung auf Verständnis stoßen. (4) Eine Einnahmensteigerung müsste sich dabei primär auf die weitere Erhöhung der Hebesätze der Gewerbe- und Grundsteuer stützen, da Gebühren und Beiträge zum volumenmäßig größten Teil (Abwasser und Abfall) aufgrund der weitgehend erreichten Kostendeckung nur noch wenig Spielraum für Erhöhungen bieten. Die weiteren Gebühren und Benutzungsentgelte ließen zwar teilweise erhebliche Steigerungen zu, erreichten aber auch dann nur einen sehr geringen Umfang. (5) Da höheren Kommunalabgaben entgegenwirkende Parteien großen Zulauf und entsprechenden Einfluss gewinnen dürften, ist eine langfristig wirksame Lösung der Haushaltsprobleme mit diesem Mittel nur schwer vorstellbar.

Geeignetere Maßnahmen sind daher in nachhaltigen Senkungen von Ausgaben zu suchen. Ansatzpunkte könnten Verringerungen des Leistungsangebots bei der Erfüllung pflichtiger Selbstverwaltungsaufgaben sowie der Abbau von nicht zu den Pflichtaufgaben gehörenden, also freiwilligen kommunalen Dienstleistungen sein. In Verfolgung dieser Ansätze stehen in mehreren Städten und Gemeinden Einrichtungen und Angebote in den Bereichen Soziales, Jugend, Kinder, Sport, Erholung, Kultur und Freizeit in der Diskussion, wobei die Trennlinie zwischen pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und freiwilligen Leistungen nicht immer ausreichend berücksichtigt wird. (6) Leistungsverringerungen oder -abbau verlangen mit Blick auf die längerfristige Wirksamkeit, dass kurzfristig realisierbare Ausgabensenkungen nicht mit künftigen Mehrausgaben erkauft werden. So wäre es beispielsweise verhängnisvoll, zur kurzfristigen Haushaltsentlastung in der Prävention tätige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu schließen. Denn in der Folge ist vermutlich die vermehrte Unterbringung in Heimen zu finanzieren, was kumuliert die Ausgabenreduktion um ein Vielfaches überkompensieren würde; zusätzlich wären Begleiterscheinungen und Spätfolgen im sozialen Umfeld und bei den Betroffenen zu berücksichtigen. Dass dennoch solche und ähnliche Ratsentscheidungen gefällt werden, wirft sowohl ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Durchsetzung starker, gut organisierter Interessen zu Lasten schwächerer, schlecht organisierter als auch auf das Vorherrschen kurzfristigen Denkens in Jahreshaushalten bei den Verwaltungen. Schließlich entscheidet der Rat auf der Grundlage von Verwaltungsvorlagen.

Als ähnlich problematisch hinsichtlich einer mittel- und langfristigen Haushaltskonsolidierung stellt sich die als „Rasenmähermethode'“ bekannte Kürzung sämtlicher Ausgabenansätze um einen einheitlichen Prozentsatz dar. Aus ihr resultiert ganz unmittelbar eine Senkung der Leistungsintensitäten, womit die Wirksamkeit der Leistungen selber in Frage gestellt ist. Zusätzlich können damit auch zeitlich versetzte Ausgaben in anderen Bereichen verursacht werden, die künftige Handlungsspielräume begrenzen. Beispielsweise kann in Folge einer solchen globalen Kürzung die zur Gewährleistung der Sicherheit und zum Substanzerhalt notwendige Unterhaltungsintensität von Spielplätzen nicht mehr aufrechterhalten werden. Dies führt zu einem erhöhten Haftungsrisiko und beschleunigtem Substanzverlust aufgrund unterlassener Reparaturen und Pflegearbeiten und damit letztlich zu aufwendigen Neubau- oder Restaurierungsmaßnahmen. Unter rein finanzwirtschaftlichen Aspekten wäre es in einem solchen Fall sinnvoller, die Ausgabenkürzung durch die Schließung von einigen Spielplätzen, bei Erhaltung der Pflegeintensität auf den verbleibenden, zu realisieren.

Selbstverständlich existieren Bereiche, in denen eine Senkung der Leistungsintensität, eine Verringerung des Leistungsangebots oder die Einstellung freiwilliger Leistungen keine Abnahme der Wirksamkeit oder erhöhte Ausgaben verursachen. Dies ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen. Daneben sind nicht finanziell messbare Wirkungen zu beachten, die sich im sozialen, kulturellen, politischen oder optischen Erscheinungsbild, der Lebensqualität und Attraktivität einer Stadt oder Gemeinde niederschlagen.

Eine wichtige Rolle in der Diskussion um die Haushaltskonsolidierung spielt die Privatisierung von Leistungen. Sie ist aber nur dann finanzwirtschaftlich sinnvoll, wenn einwandfrei festgestellt wurde, dass die entsprechende Leistung durch private Unternehmen kostengünstiger als durch die Verwaltung selber erbracht werden kann, wobei die der Kommune entstehenden Mehrkosten aufgrund zusätzlicher Vergabe- und Kontrolltätigkeiten infolge der Privatisierung zu berücksichtigen sind. Eine solche Angaben bereitstellende, umfassende Kostenrechnung ist nur in wenigen Kommunalverwaltungen in Angriff genommen worden. Ohne eine entsprechende Datenbasis erhält die Behauptung, dass bestimmte Leistungen durch privatwirtschaftliche Unternehmen kostengünstiger als durch die Kommunalverwaltungen zu erbringen sind, auch durch ihre stereotype Wiederholung keinen größeren Wahrheitsgehalt. (7) Weiterhin ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Gefahr einer zukünftigen Abhängigkeit von einem Anbieter besteht, der dann in der Lage ist, Monopolpreise zu setzen. Eine derartige Situation befürchten die Kommunen, die ihre Müllabfuhr privatisiert haben und sich nun insgesamt einem Oligopol und, bezogen auf das jeweilige Gemeindegebiet, einem Monopol gegenübersehen. Ein weiterer, hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung breit diskutierter Punkt ist die Umstrukturierung der Verwaltungen analog zu Organisationsstrukturen in der Privatwirtschaft und Vorbildern ausländischer Kommunalverwaltungen. Schlagworte wie „von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen“, „lean-administration“ oder „Konzern Stadt“ geben die Diskussionsrichtung an, und in einigen Kommunalverwaltungen sind auch entsprechende Schritte eingeleitet worden. Inwieweit ihre Realisation im Ergebnis den privatwirtschaftlichen und ausländischen Verwaltungsvorbildern entsprechen wird, bleibt abzuwarten.

Im Rahmen dieser Umstrukturierungen werden die klassischen Ämterstrukturen überdacht und aufgebrochen, indem Leistungen gebündelt und zu Leistungsbereichen zusammengefasst werden. Die weitgehende Delegation von fachlichen Entscheidungskompetenzen und Verantwortungen auf niedrigere bis hin zu untersten Hierarchiestufen lassen eine Verringerung der Leitungsstellen und eine Abflachung der Hierarchie zu. Insgesamt können damit verwaltungsinterne Abläufe vereinfacht, Dienstwege verkürzt und damit Verfahren beschleunigt werden. Mit einer schnelleren Antragsbearbeitung lässt sich außer einem Kostensenkungseffekt auch eine höhere Bürgerfreundlichkeit erreichen. (8) Einen weiteren Schritt in Richtung größere Bürgernähe kann die Zusammenführung von Leistungen und Beratungen nach dem Vorbild der Bürgerämter und Bürgerläden darstellen. (9)

Ergänzt wird diese Umstrukturierung durch die unter dem Stichwort „dezentrale Ressourcensteuerung“ diskutierte Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen hinsichtlich der Organisation und Sachmittelausstattung sowie der finanziellen und personellen Ressourcen von den Querschnittsämtern auf die neu zu bildenden Leistungsbereiche. Eine derartige Dezentralisation beschränkt auf die finanziellen Ressourcen ist auch als isolierte Maßnahme ohne weitgehende Umstrukturierung möglich und wird auch unter dem Stichwort „Budgetierung“ praktisch umgesetzt. Im Kern geht es dabei um die Zuweisung eines bestimmten, festgelegten Betrages für einen Leistungsbereich, ein Dezernat oder ein Amt, den diese für ihre Aufgabenerfüllung zur Verfügung gestellt bekommen und für dessen Nichtüberschreitung sie verantwortlich sind. Soweit in einem Verwaltungsbereich Einnahmen vorgesehen sind, werden diese bei der Bemessung des Budgets in Ansatz gebracht, wobei die Realisation und wenn möglich die Steigerung der Einnahmen der Verwaltungseinheit übertragen werden. Bei der gegenwärtigen Haushaltslage wird die Budgetierung häufig mit einer globalen oder nach Leistungsbereichen, Dezernaten oder Ämtern differenzierten Ausgabensenkung verbunden. Dahinter steht die berechtigte Erwartung, dass die Mitarbeiter in den Verwaltungseinheiten selber am besten wissen, in welchen Leistungsbereichen Ausgabenkürzungen ohne negative Konsequenzen vertretbar sind bzw. wie die Leistungserstellung effizienter (wirtschaftlicher) gestaltet werden kann, sodass keine Verminderung von Leistungsintensitäten erforderlich ist. Die Umsetzung dieser Erwartungen verlangt aber auch eine über die Budgetierung hinausgehende Dezentralisation von Entscheidungskompetenzen in den Bereichen Personaleinsatz, Organisation und Sachmittelausstattung. Unabhängig davon, ob eine Kürzung der Ansätze erfolgt, besteht durch die Schaffung entsprechender Anreize die Chance, Einsparungen durch eine Erhöhung der Effizienz zu realisieren. Ein entsprechender, teilweise in der Praxis eingesetzter Anreiz für solche Einsparungen besteht dann, wenn die Verwaltungseinheit, die ihr Budget nicht ausschöpft, zumindest über einen Teil der verbleibenden Mittel frei verfügen, ihn für zusätzliche Leistungen, für die eigene Ausstattung, als Übertragung in das nächste Jahr oder als Rücklage für spätere Jahre einsetzen kann. Auf diesem Weg lässt sich eine Motivation für die Verbesserung der Effizienz der Leistungserstellung schaffen, womit eine auch längerfristig wirksame Ausgabensenkung einhergeht. Zusammen mit einer weitergehenden Umstrukturierung dürfte sich dieser Effekt erheblich steigern und mit größerer Bürgernähe verbinden lassen.
Die erfolgreiche Einführung solcher Strukturen kann nur unter Beteiligung der Mitarbeiter erfolgen, denn ihr Verhalten entscheidet, ob die beabsichtigten Effekte realisiert werden; sie kennen am ehesten die Probleme und Bedürfnisse der Bürger und vorhandene Rationalisierungspotentiale. Zudem fördern eine Beteiligung und weitgehende Entscheidungskompetenzen die Motivation und erhöhen die Attraktivität der Arbeitsplätze.

Zur Bewältigung der finanzwirtschaftlichen Herausforderung durch die Kommunen scheint eine weitgehende Umstrukturierung in Verbindung mit einer Dezentralisation der Ressourcensteuerung wesentlich geeigneter als die Verfolgung einer der vorher genannten isolierten Maßnahmen. Denn im Gegensatz zu diesen, geht es nicht um die Verringerung, Einstellung oder Privatisierung von Leistungen oder die Verminderung von Leistungsintensitäten, sondern um die Mobilisierung des gesamten Rationalisierungspotentials der Verwaltung im Bereich der Pflichtaufgaben und der freiwilligen Leistungen unter Einbeziehung der Querschnittsfunktionen möglichst ohne Einschränkungen des Leistungsangebots für die Bürger. Zur Steuerung einer so veränderten Kommunalverwaltung, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf die Leistungserstellung, müsste ein Controllingsystem eingeführt werden, das sich auf eine ausgebaute Kostenrechnung und ein durchgängiges Berichts- und Planungssystem stützt. Mit einer solchen Umstrukturierung und Verlagerung von Entscheidungskompetenzen erhalten Führungskräfte und Mitarbeiter der Kommunalverwaltung neue Rollen und stehen vor veränderten Anforderungen, zu deren erfolgreicher Bewältigung entsprechend Qualifizierungsmaßnahmen in breitem Umfang anzubieten sind.

Das Ausmaß, in dem mittels eines solchen Modernisierungsprozesses eine Haushaltskonsolidierung gelingt und der Aufbau eines durchgängigen Planungssystems, hängen aber nicht nur von Veränderungen in der Verwaltung, sondern ebenso von einem geänderten Zusammenspiel von Politik und Verwaltung ab. Die Steuerung der Verwaltung durch die Politik geschieht bislang über die Zuteilung von Finanzmitteln durch Verabschiedung eines Haushaltsplanes sowie durch vielfältige Einzeleingriffe in das Verwaltungshandeln, immer auf der Grundlage von Entscheidungsvorlagen durch die Verwaltung. Bei der mit dieser Art der Steuerung verbundenen Detailfülle gerät die Orientierung an Zielvorstellungen für die das Verwaltungshandeln bestimmenden, politischen Entscheidungen leicht aus dem Blickfeld. Sinnvoller als die Steuerung über den finanziellen Input und die im Detail scheint die Vorgabe von klaren Zielen für das Verwaltungshandeln, wobei die Erreichung dieser Ziele der Verwaltung überlassen und lediglich durch den Rat kontrolliert wird. Auf der Basis längerfristiger Zielvorstellungen, die einen Schlingerkurs von Politik und Verwaltung verhindern, lassen sich klare Prioritäten formulieren, anhand derer gegebenenfalls auch Entscheidungen über die Kürzung oder Einstellung von Leistungen, die Verringerung von Leistungsintensitäten und die Privatisierung von Leistungsbereichen getroffen werden können. Ein derart geändertes politisches Entscheidungsverhalten verlangt von der Verwaltung eine andere Art der Entscheidungsvorbereitung: Die zu erbringenden Leistungen sind als Produkte der Verwaltung klar zu definieren und abzugrenzen, die Kosten ihrer Produktion und die damit verbundenen Ausgaben sind zu beziffern und in übersichtlicher Form auszuweisen. Mit einem derart veränderten Zusammenspiel von Rat und Verwaltung lassen sich problematische Entscheidungen wie die oben beschriebenen verhindern, da die Verwaltung zur Entscheidungsfindung abgesicherte Daten liefern und der Rat sich an klaren Zielvorstellungen orientieren kann.

Das hier skizzierte Konzept entspricht im wesentlichen dem „neuen Steuerungsmodell“, (10) das derzeit die Diskussion um die Verwaltungsmodernisierung beherrscht, die durch die Zuspitzung der Finanzlage der Kommunen einen erheblichen Auftrieb erfahren hat. Zielsetzung des Modells ist die Steigerung von Effektivität (Wirksamkeit), Effizienz und Bürgernähe des Verwaltungshandelns bei der Umsetzung des politischen Willens. Soweit eine Umsetzung dieses Modells gelingt, besteht die Chance, dass die Kommunen mittelfristig ihre Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit nicht nur in finanzieller Hinsicht wiedergewinnen und der geforderten Bürgernähe Rechnung tragen. Zwar verstärkt die derzeitige Haushaltslage den Handlungsdruck auf die Kommunen, sich in diese Richtung zu verändern; gleichzeitig besteht damit aber auch die Gefahr der finanzwirtschaftlichen Verkürzung des Ansatzes, so dass den Herausforderungen des beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses ebenso wenig Rechnung getragen wird, wie den Chancen zur Wiedergewinnung der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit die Möglichkeit der Realisation gegeben wird, die ein bürger- und mitarbeiterorientierter, Rat und Verwaltung umfassender Modernisierungsprozess bietet.

Vorstehender Artikel wurde von Robert Schmitz für den NAGEL verfasst und in der Ausgabe 56/1994 veröffentlicht. Ins Internet gestellt wurde er im August 2002. Robert Schmitz ist Dipl.-Ökonom, studierte in Bochum Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er betrieb eine mehrjährige Forschungstätigkeit im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung und ist Referent am Institut für Kommunal- und Verwaltungswissenschaften (IKV) in Bochum.

Anmerkungen:

1 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.; Wer im Glashaus sitzt – Finanzen der Gemeinden, in: iwd vom 20. Jan. 1994; Leistungen des Landes an die Kommunen im Rahmen der Finanzplanung 1993-1997, in: Mitteilungen NWStGB vom 05.11.1993, S. 355.

2 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.

3 vgl. Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (III), in: Eildienst LKT NW 22/1993, S. 421 ff.

4 vgl. Tacke, Walter: Gewerbesteuer hoch – Nein! Personalabbau – Ja!, in: Kommunalpolitische Blätter 1/1994, S. 27 ff.

5 vgl. Kommunen auf Sparkurs, in: Mitteilungen NWStGB vom 20.02.1994, S. 51 f.

6 So sind beispielsweise die im KJHG genannten Aufgaben insgesamt Pflichtaufgaben, darunter auch pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben, bei denen nur die Art der Durchführung in die Entscheidungskompetenz der Kommune gelegt ist. Zu den Bestimmungen des KJHG im Einzelnen vgl. ABA-TEXTEDIENST Nr. 12/1994 (Prof. Dr. Ulrich Preis: Bleibt das Kinder- und Jugendhilfegesetz auf der Strecke?) und Stellungnahme des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, in: ABA Fachverband: Der Zug fährt ab. Teil 1/1994 (Dokumente und Materialien), S. 52 ff.

7 Zur Problematik der Privatisierung siehe auch Banner, Gerhard: Neue Trends im kommunalen Management, in: VOP 1/1994, S. 5-12, 8-10.

8 vgl.: Banner, Gerhard: Neue Trends im kommunalen Management, in: VOP 1/1994, S. 5-12, 10.

9 vgl. Liesenfeld, Joachim; Loss, Kay: Die Modernisierung von Stadt- und Gemeindeverwaltungen in den achtziger Jahren, in: WSI Mitteilungen 7/1993, S. 448-455, 451.

10 Einen kurzen Überblick über die Diskussion um ein „neues Steuerungsmodell“ gibt Blume, Michael: Zur Diskussion um ein neues Steuerungsmodell für Kommunalverwaltungen – Argumente und Einwände, in: Der Gemeindehaushalt 1/1993, S. 1-9.

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Kinder wollen draußen spielen

Die Bedeutung des Wohnumfeldes für das Heranwachsen junger Menschen – Städte brauchen außerhäusliche Aktionsräume

Von Baldo Blinkert

Eine Freiburger Studie¹ legt dar, dass Kinder in der Stadt immer weniger Möglichkeiten zum Spielen im Freien finden. Die Untersuchung zeigt aber auch, was kommunalpolitisch dagegen getan werden kann. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Neil Postman hat das “Ende der Kindheit” postuliert. Diese These ist missverständlich, denn es spricht viel für die Vermutung, dass sich Kindheit als soziale und ökonomisch verwertbare Institution erst richtig etabliert und immer mehr die Form einer “inszenierten Kindheit” annimmt.

Die in Großstädten lebenden Kinder verlieren immer mehr die Möglichkeit zum spontanen und unbeaufsichtigten Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld ihrer Wohnung. An die Stelle von unmittelbaren Erfahrungen treten immer mehr Erfahrungen aus zweiter Hand und mit Simulationen.

Kinder leben immer mehr in Reservaten, in Welten, die für sie inszeniert und simuliert werden: auf Spielplätzen, in Organisationen, in den künstlichen Welten der Medien. Immer mehr Kinder wachsen in einer Umwelt auf, die entweder gefährlich ist oder in der man nichts erleben kann. “Wirklichkeitsverlust” und “Erlebnismangel” werden für immer mehr Kinder zu zentralen Merkmalen ihrer Lebenswelt.

Wie man Kommunalpolitik für Kinder macht

In Freiburg im Breisgau wurde im Auftrag der Stadtverwaltung eine Untersuchung durchgeführt, um diese Probleme zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu entwickeln (in dieser Untersuchung wurden Informationen über die Spielmöglichkeiten von über 4.000 Kindern erhoben). Die folgenden Fragen standen im Vordergrund:

  • Über welche Aktionsräume können Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren verfügen?
  • Welche Konsequenzen hat eine schlechte Aktionsraumqualität für die Lebensqualität und für die Entwicklungschancen von Kindern?
  • Welche politisch veränderbaren Merkmale von städtischen Umwelten sind für die Aktionsraumqualität von Kindern verantwortlich?

In der Untersuchung ging es um praktische Fragen. Denn nicht alles, was wissenschaftlich interessant ist, ist auch unter politischen Gesichtspunkten wichtig. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass die Situation von Kindern durch Veränderung in Ehe und Familie beeinflusst wird oder durch das Bildungsmilieu der Eltern oder durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile, so sind das wertvolle Erkenntnisse – aber keine Kommunalverwaltung wird diese Verhältnisse ändern können. Wir haben uns also auf Bedingungen konzentriert, die sich auch kommunalpolitisch beeinflussen lassen. Und dazu gehört alles, was mit dem Begriff des Aktionsraumes beschrieben werden kann. Unter einem Aktionsraum verstehen wir ein Territorium, das Kindern zugänglich ist, das für Kinder dieser Altersgruppe gefahrlos ist, das den Gestaltungsmöglichkeiten dieser Altersgruppe entspricht und wo es Interaktionschancen mit Gleichaltrigen gibt.

Die Untersuchung zeigt, dass von allen berücksichtigten Bedingungen die Aktionsraumqualität den Kinderalltag am stärksten beeinflusst (siehe Kasten „Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie“). Das gilt besonders für die frei disponierbare Zeit am Nachmittag und frühen Abend. Die Merkmale der unmittelbaren Wohnumgebung haben auf die Zeitverwendung von Kindern einen erheblich größeren Einfluss als die Merkmale Alter, Geschlecht, Familienstatus, Erwerbstätigkeit und Bildungsmilieu der Eltern. Das ist ein außerordentlich bedeutsames Ergebnis, denn es zeigt, dass die wichtigste Determinante für den Kinderalltag kommunalpolitisch gestaltbar ist. Wenn man etwas verändern will, so ist das auch möglich.

Wie man Kindern zu Defiziten verhilft

Die Annahme scheint plausibel, dass die dauerhafte Erfahrung ungünstiger Aktionsraumbedingungen zu Autonomie- und Kreativitätsdefiziten bei Kindern führen kann. Drei Argumente sprechen dafür:

  • Eine dauerhaft schlechte Aktionsraumqualität im Wohnumfeld trägt vermutlich dazu bei, dass Kinder nur wenig Selbstständigkeit entwickeln. Es kommt zu einer Art „Bedürfnisfixierung“: eine unzureichende Lösung von Sicherheitsbedürfnissen und ein geringes Interesse am Ausprobieren, Entdecken und Problemlösen. Dieses Phänomen ist uns bei den Begehungen von Wohnquartieren mit Kindern begegnet. Auf die Frage, was sich denn auf einem Spielplatz ändern müsste, erhielten wir nicht selten die Antwort: noch eine Schaukel, eine Rutsche, eine Wippe, ein Wackeltier.
  • Von allen Fachleuten wird betont, wie wichtig für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter die Möglichkeit zum Herstellen ist – Herstellen von Dingen, aber auch soziales Herstellen von Regeln und Beziehungen. Kinder, die diese Möglichkeit besitzen, können Selbstbewusstsein, Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, aber auch Einsicht in die Grenzen ihres Handelns gewinnen. Anregende und offene Aktionsräume bieten Kindern vielfältige Möglichkeiten zum Herstellen, zum dinglichen und sozialen Herstellen. Das Fehlen von Aktionsräumen regt dagegen eher zum Konsumieren fertiger Dinge und Dienstleistungen an.
  • Eine dritte Vermutung bezieht sich auf die Kompetenz von Kindern. Kinder entwickeln möglicherweise unter dauerhaft ungünstigen Aktionsraumbedingungen ein Defizit, das eine Ähnlichkeit mit den Defiziten der künstlichen Intelligenz bei Computern hat: sie erwerben hochentwickelte formale Fähigkeiten, aber nur eine unterentwickelte Semantik. Sie können immer besser und differenzierter kommunizieren, aber sie wissen nicht, worüber – ihnen fehlen die Bedeutungen und Inhalte.²

Ein Symptom für dieses Defizit ist die Unfähigkeit zum Erzählen. Inhalte und Bedeutungen, also etwas Erzählenswertes, kann man nur erwerben, wenn man etwas erlebt. Viele Kinder leiden heute unter einem extremen Erlebnismangel. Welche Erlebnisse haben Kinder, worüber sollten sie sich den halben Nachmittag auf einem Spielplatz mit Rutschen, Wippen, Kriech- und Wackeltieren beschäftigt haben?

Hinter der Freiburger Untersuchung stand, wie erwähnt, eine praktische Fragestellung: Was kann eine Stadt tun, um die Situation von Kindern zu verbessern? Was also kann getan werden, wenn man nicht die Politik der 70er und 80er Jahre fortsetzen will, in der immer mehr Kinderreservate eingerichtet und immer mehr Therapien für Kinder angeboten wurden?

Eine sinnvolle Alternative ist die politische Gestaltung einer kinderfreundlichen städtischen Umwelt. Die von uns formulierten Vorschläge konzentrieren sich auf drei Bereiche:

  • auf die Gefährdung durch den Straßenverkehr
  • auf die Frage, wie sich soziale Risiken für Kinder verringern lassen
  • auf die Frage, wie sich gestaltbare Spielorte in erreichbarer Nähe einrichten lassen.
    Wie man die Gefahren des Straßenverkehrs verringert

Wichtig erscheint die Schaffung von bespielbaren und sicheren Übergangszonen zwischen Haustür und Straße. Dazu gibt es schon eine Reihe von guten Vorschlägen. In einigen Wohngebieten würde es sich anbieten, die Vorgärten stärker für Kinder zugänglich zu machen.

Wichtig ist ferner eine konsequente Fortsetzung der Politik umfassender Verkehrsberuhigungen. Unsere Untersuchung zeigt, dass die Lebensqualität von Kindern durch die Einrichtung von Spielstraßen erheblich verbessert werden kann. In Großstädten wie Freiburg gibt es noch viele Möglichkeiten, autofreie Straßenplätze und Spielstraßen zu schaffen. In den verdichteten Wohnquartieren wird das im übrigen die einzige Möglichkeit sein, wie man für Kinder mehr Freiräume schaffen kann. Baulücken für Spielplätze sind in diesen Gebieten kaum mehr vorhanden.

Die Befürchtung, dass Kinder beim Spielen draußen durch andere Menschen gefährdet sein könnten, spielt insgesamt eine geringere Rolle als die Furcht vor dem Straßenverkehr. Nur zehn Prozent der Eltern erwähnen soziale Risiken als Gründe für schlechte Spielmöglichkeiten. In einigen Stadtgebieten besitzen aber gerade diese Risiken eine erhebliche Bedeutung, und es wäre wichtig, dafür jeweils Lösungen zu finden. Im wesentlichen haben diese Risiken zwei Gründe:

  • In vielen Wohngebieten sind informelle soziale Kontrollen nicht mehr wirksam – „Quartierswächter“ fehlen.
  • In einigen Wohngebieten werden Probleme durch “zwielichtige Gestalten” befürchtet: Stadtstreicher, Alkoholiker, Drogenabhängige, die sich auf Spielplätzen aufhalten.

Da sich informelle Kontrollen kaum wieder beleben lassen werden, schlagen wir in der Studie zwei Lösungen vor: Zum einen sollte der Einsatz von “Quartierspolizisten” überprüft werden. Zum anderen erscheint eine Einrichtung interessant, die es in Australien gibt: “safety houses”. Das sind Häuser oder Wohnungen von Privatleuten, die Kinder anlaufen können, wenn sie sich bedroht fühlen.

Das Problem der “zwielichtigen Gestalten” lässt sich nicht durch mehr Kontrolle lösen. Wir empfehlen deshalb, für diesen Personenkreis Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen, damit sie nicht die Spielplätze von Kindern nutzen müssen.

Wie man gestaltbare Spielorte für Kinder schafft

Alle Spielorte für Kinder sollten erstens durch begeh- und bespielbare Wege miteinander verbunden sein. Zweitens ist es nicht ausreichend, wenn Kinder nur einen bestimmten Typ von Spielort regelmäßig nutzen können. In den verdichteten Innenstadtgebieten ist Vielfalt sicher nur möglich, wenn es zu einer weiteren Verkehrsberuhigung kommt. Große Bedeutung hat auch die Möglichkeit, noch mehr als bisher schon die Schulhöfe für Kinder am Nachmittag zu öffnen. Drittens sollten Spielorte den Kindern die Möglichkeit zur Gestaltung bieten. Die herkömmlichen Spielplätze können das nicht. In einem Experiment soll in Freiburg versucht werden, in einigen Wohngebieten die Spielplätze „zurückzubauen“ – mit verformbarer Erde, mit ein paar Hügeln aus Bauaushub, mit Vertiefungen, in denen sich Regenwasser sammeln und Matsch bilden kann, mit einer sich selbst überlassenen Vegetation – also keine Zierpflanzen und künstliche Biotope, und mit beweglichen Gegenständen: Bretter, Balken, Steine, nach Möglichkeit mit fließendem Wasser und als Zugabe ein Autowrack.

Ein Spielort dieses Typs wird vielleicht Protest hervorrufen – bei Eltern, aber auch bei Kindern, von denen einige den vertrauten Kriech- und Wackeltieren nachtrauern werden. Dennoch sollte solch ein Versuch gewagt werden. Und das nicht nur in Freiburg.

 

Ergebnisse der Freiburger Kinderstudie

  1. Freies und unkontrolliertes Spielen mit Gleichaltrigen im Umfeld der Wohnung – also in einem Umkreis von 150 bis 200 Metern – ist für Kinder zwischen fünf und elf Jahren von herausragender Bedeutung und durch nichts zu ersetzen.
  2. Im Durchschnitt wenden Kinder für dieses Spielen nicht mehr als fünf Prozent ihres Alltags auf – rund 40 Minuten pro Tag.
  3. Von diesem Durchschnittswert gibt es beachtliche Abweichungen. Diese hängen stark von der Aktionsraumqualität im Wohnumfeld ab: Wenn die Bedingungen sehr schlecht sind, können Kinder nicht mehr als 20 Minuten draußen spielen. Unter guten Bedingungen dagegen nahezu eineinhalb Stunden.
  4. Auch andere Komponenten des Kinderalltags werden in deutlicher Weise von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Der Bedarf für eine organisierte Nachmittagsbetreuung hängt beispielsweise nicht allein vom Familienstatus oder vom Alter der Kinder ab, sondern auch davon, ob es im unmittelbaren Wohnumfeld zugängliche und gefahrlose Freiräume zum Spielen gibt.
  5. Auch der Medienkonsum von Kindern wird von der Aktionsraumqualität beeinflusst. Ist das Wohnumfeld gefährlich oder erlebnisarm, sitzen diese Kinder sehr viel länger vor dem Fernseher oder an Computerspielen als unter günstigen Bedingungen.

Vorstehender Beitrag wurde veröffentlicht in: DER NAGEL 57/1995. Dr. Baldo Blinkert arbeitet an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Anmerkungen:

¹Anm. d. Red.: Inzwischen wird regelmäßig von d e r “Freiburger Studie” gesprochen.

²Anm. d. Red.: Wie weit dieser Prozess inzwischen vorangeschritten ist, konnte die PISA-Studie (2001) belegen.

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Das „problematische“ Kind in der Offenen Arbeit

Von Norbert Kohlmann

Erstveröffentlichung: DER NAGEL 54/1992

Mit der Einrichtung von pädagogisch betreuten Spielplätzen, Spielmobilen, Spielhäusern und Jugendzentren als offene Einrichtungen (auch als Anlaufstelle, Treffpunkt), ergibt sich zwangsläufig die Anforderung und Notwendigkeit, sich auch (und besonders) mit schwierigen und verhaltensauffälligen Kindern zu beschäftigen. Daraus darf sich allerdings nicht der Anspruch ergeben, quasi als „Beratungs- oder Therapieeinrichtung“ zu arbeiten. Trotzdem erfüllen offene Einrichtungen mit ihrem pädagogischen Auftrag eine wichtige Funktion im sozialen Netz eines Stadtteils. „Problemkinder“ machen Probleme und – davon können wir ausgehen – haben Probleme. Um diesen Kindern wirksam helfen zu können und um ihre Verhaltensweisen zu verändern, ist es unverzichtbar, sie auch einfühlsam zu verstehen. Dazu im folgenden einige Anmerkungen:

VERSTEHEN wird hier als Haltung, als grundsätzliches Prinzip verstanden, mit dem Ziel, sich in einem aktiven, gemeinsamen Prozess mit dem Kind eine größere Klarheit über sein Verhalten zu verschaffen.

  1. Wir versuchen, die Situation, das Verhalten aus der Sicht des Kindes zu sehen, nachzuvollziehen, sich in die Fußstapfen des Kindes zu stellen, mit den Augen des Kindes zu sehen … Wir versuchen, uns an ähnliche Situationen zu erinnern: verlassen zu werden, Angst zu haben, abgelehnt zu werden, etwas nicht zu schaffen, zu verlieren, sich minderwertig zu fühlen … Wir fragen uns: Wie müsste eine Situation beschaffen sein, dass wir uns so (wie das Kind) verhalten würden?
  2. Wir gehen davon aus, dass das Kind in der jeweiligen Situation überzeugt ist, z.Zt. nichts Besseres tun zu können (so naiv, unvernünftig, widersprüchlich usw. das Verhalten auch sein mag)! „Alles zu verstehen heißt alles zu verzeihen“ (franz. Sprichwort) bedeutet aber nicht, alles richtig zu finden oder zu gestatten. Zumindest erfahren aber die Kinder, in ihren Absichten und Gefühlen verstanden worden zu sein. Unser Verstehen ermöglicht uns, dem Kind mit seinen (nicht mit unseren) Begriffen klarzumachen, weshalb seine Methode/sein Verhalten ungeeignet ist, seine Ziele zu erreichen.
  3. Wir achten auch (oder mehr) auf die Gefühle des Kindes als auf das Verhalten (was „objektiv“ passiert). Wir verstehen das problematische Verhalten als Symptom, Signal oder in extremen Fällen als „Hilferuf“ des Kindes. Es ist für das Kind oft der einzig möglich erscheinende „Lösungsweg“, um mit den Belastungen in der Familie oder Lebenswelt fertig zu werden (Symptome als „Fenster“ zu den Gefühlen und Bedürfnissen der Kinder). Wir versuchen, die „hinter“ dem problematischen Verhalten liegenden wichtigen Bedürfnisse und Motive zu erkennen, das Verhalten zu „entschlüsseln“.
  4. „Verstehen“ betrachtet das Kind als grundsätzlich gleichwertig – besonders bezogen auf die Echtheit und die Wichtigkeit seiner Gefühle (nicht unbedingt bezogen auf Reife, Erfahrung).
  5. Janusz Korczak (polnischer Pädagoge) schreibt zum Verstehen von Kindern: „An den erwachsenen Leser: Ihr sagt: ‚Der Umgang mit den Kindern ermüdet uns.‘ Ihr habt recht. Ihr sagt: ‚Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, uns herabbeugen, kleiner machen.‘ Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern, dass wir uns zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“

Verstehen durch Beobachten

Wir erfahren die Kinder in Einzelkontakten, in verschiedenen Gruppensituationen, im Umgang mit ihren Eltern, Lehrern oder mit anderen Kindern und Erwachsenen. Durch unsere Beobachtungen versuchen wir, Antworten u.a. auf folgende Fragen zu finden:

  • welche Impulse und Motive vermuten wir hinter den jeweiligen Verhaltensweisen?
  • welches (Symptom-)Verhalten „wählt“ das Kind aus?
  • welche wiederkehrenden Muster sind zu erkennen?
  • wie geht es mit Regeln und Grenzen in der Gruppe um?
  • wie verhält es sich im Kontakt mit anderen Kindern?
  • welche Position hat es in der Gruppe?

Verstehen durch den gezielten Einsatz von Medien

Durch die Arbeit mit unterschiedlichen Medien (z.B. Theater-, Rollenspiel, Video, Musik) und Materialien (z.B. Malen, Ton-, Holzarbeiten) gewinnen wir Einblick darin, wie das Kind sich selbst, seine Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und anderen Kindern und Erwachsenen sieht.

Wiederkehrende Alltagssituationen in der Arbeit erhalten eine pädagogische Relevanz, wenn es uns gelingt, die dabei zum Ausdruck kommenden Gefühle und Bedürfnisse der Kinder zu entschlüsseln.

Ergänzt durch den Austausch zwischen den MitarbeiterInnen kann so ein „gemeinsames Bild“ (im Sinne einer Momentaufnahme) von dem jeweiligen Kind entstehen. Bevor wir zu den Überlegungen zum Verändern der Verhaltensweisen kommen, sollen noch einige „Vermutungen“ über die Verfassung dieser Kinder angestellt werden:

  • das natürliche Gleichgewicht des gesamten Organismus ist gestört (die Kinder ruhen nicht in sich selbst!)
  • es sind häufig entmutigte Kinder mit einem negativen Selbstbild als Ergebnis von negativen Kreisläufen und Zuschreibungen
  • häufigste Probleme/Symptome: Störung der Wahrnehmungs- und Kontaktfähigkeit, mangelnde Selbststeuerung von Bedürfnissen

Daraus lassen sich folgende Ziele für das VERÄNDERN der problematischen Verhaltensweisen ableiten. Wir versuchen

  • das kindliche Selbstbewusstsein (sich selbst bewusst sein!) zu entwickeln
  • das kindliche Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu stärken bzw. wiederherzustellen
  • die beeinträchtigten Wahrnehmungs- und Sinnesfunktionen zu unterstützen und wieder lebendig werden zu lassen (hierfür bieten die Arbeitsbereiche Spielplatz und Spielmobil hervorragende Möglichkeiten)
  • das selbstverantwortliche Handeln schrittweise zu erweitern und die eigene Kraft aufzubauen
  • und damit das natürliche Gleichgewicht des gesamten Organismus wieder aufzubauen und ein gesundes Wachstum zu ermöglichen.

Um diese Ziele zu erreichen, berücksichtigen wir zwei wichtige Prinzipien:

  • die ganzheitliche Sichtweise; das bedeutet: keine Reduzierung des Kindes auf das Problemverhalten (nicht ein aggressives Kind kommt zum Spielen, sondern ein Kind, das auch aggressive Verhaltensweisen zeigt) und – nach Möglichkeit – Einbeziehung des familiären Hintergrundes des Kindes
  • die positive Orientierung; das bedeutet: nicht gegen den „Fehler“ – aber alles für das Fehlende tun, Orientierung am Wachstum und an den Fähigkeiten und Stärken des Kindes.

Daraus ergeben sich für das konkrete Handeln drei sich ergänzende Ansätze:

1. Grundsätzliche Akzeptanz und Wertschätzung der Kinder (unabhängig vom jeweiligen Verhalten):

  • wir holen die Kinder dort ab, wo sie stehen (Verzicht auf „Vorleistungen“, Erfüllen von Bedingungen);
  • wir unterstützen und fördern ihre Fähigkeiten und Stärken (viel Lob und Zuwendung);
  • wir ermöglichen ihnen vielfältige sensorische Erfahrungen, um ihre Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten zu stärken;
  • wir vermitteln ihnen vielfältige, differenzierte Spielerfahrungen.

2. Wir richten unsere Aufmerksamkeit stärker auf die „verdeckten“ und „verschlüsselten“ Gefühle und Bedürfnisse:

  • wir helfen den Kindern, ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen und auszudrücken (Verbalisieren von Gefühlen);
  • wir unterstützen die Kinder, sich ihren Bedürfnissen entsprechend zu verhalten bzw. alternative Verhaltensweisen zu finden.

3. Wir lassen Konsequenzen eintreten

  • wir steuern und dosieren die Konsequenz, um eine Balance zwischen Unterstützung und Anforderung zu finden;
  • wir setzen Grenzen und achten auf die Einhaltung von Regeln.

(Hier kann es leicht zu einem Zielkonflikt kommen zwischen dem Erfüllen der Bedürfnisse der Kinder einerseits und dem Einhalten von Regeln andererseits. Es schließt sich aber z.B. nicht aus, ein konkretes Verhalten zu untersagen bzw. zu verurteilen, dem Kind aber trotzdem akzeptable Motive zuzugestehen).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für die Arbeit auf pädagogisch betreuten Spielplätzen, in Spielmobilen und anderen Feldern offener Arbeit mit Kindern keine „Minitherapeuten“ erwartet werden, aber einfühlsame Erwachsene, die versuchen,

  • Kinder zu verstehen,
  • ein alternatives Modell für die Kinder zu bieten,
  • verlässlich und kontinuierlich für sie da zu sein,
  • ein attraktives und differenziertes Spielangebot für verschiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten zu entwickeln und
  • Zeit für die Kinder zu haben.

Um eine in diesem Sinne wirkungsvolle Arbeit zu leisten und die dargestellten Ziele erreichen zu können, darf es keine Isolation der pädagogischen Mitarbeiter geben. Deshalb sollten

  • die Einrichtungen grundsätzlich mit (mindestens) zwei MitarbeiterInnen besetzt sein,
  • die MitarbeiterInnen regelmäßige Supervision erhalten,
  • eine Zusammenarbeit (Vernetzung) mit anderen sozialen Diensten im Stadtteil angestrebt werden.

Norbert Kohlmann ist Psychotherapeut in Münster

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