Zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe

Von Manfred Kappeler

Ich möchte eingehen auf Begriffe wie Systemgewalt, Erziehungsgewalt, Erziehungsverantwortung, Grenzensetzen, die in die Diskussion gegeben worden sind. Dabei geht es mir um die Frage, was der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen für die praktische Arbeit im gesamten Bereich der Jugendhilfe bedeutet. Ich habe diesen Fokus gewählt, weil ich glaube, dass das gemeinsame Nachdenken über die Realisierung des Subjektstatus eine Klammer bilden kann für alle Bereiche der Jugendhilfe und uns dieser Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Situation vielleicht helfen könnte, jugendpolitisch in die Offensive zu kommen.

Bevor ich genauer auf den Subjektstatus eingehe, möchte ich jedoch an einen Kontext erinnern, in dem diese Überlegungen stattfinden: die Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Es sind eine Reihe von Fragen aufgetaucht, mit denen die Wiedergabe einer Diskussion skizziert wird, die den Tenor hat (wenn ich das richtig verstanden habe): Wer macht die Arbeit mit den Kindern, den Jugendlichen und Familien besser – die Formen der offenen Arbeit, z.B. der Jugendsozialarbeit oder die Hilfen zur Erziehung? Wer ist näher dran an den Kindern und Jugendlichen? Wer erfüllt die Essentials des VIII. Jugendberichts (Lebensweltorientierung, Partizipation etc.) besser? usw. usf.

Diese Diskussion ist m.E. von Konkurrenz und gegenseitigem Misstrauen bestimmt. In dem Versuch, da herauszukommen, wurde der Vorschlag gemacht, zu überlegen, ob nicht jeder Träger der Jugendhilfe jede ihrer Aufgaben wahrnehmen soll. Wie müssen aber, wenn wir diesen Vorschlag diskutieren wollen, den Kontext unseres gegenwärtigen pädagogischen Handelns berücksichtigen. Ökonomisierung heißt: die Soziale Arbeit wird verändert in einem weiteren Kontext: dem sogenannten Umbau des Sozialstaates, u.a. mit der fadenscheinigen Begründung des Missbrauchs sozialer Leistungen und knapper Ressourcen in den öffentlichen Haushalten. Die Missbrauchsdebatte ist das Instrument, warum in der Bevölkerung eine große Koalition für den Abbau sozialer Leistungen und Netze durchzusetzen möglich wird. Ein Beispiel dazu: bis vor einigen Jahren wurde im Bereich der Sozialhilfedebatte darüber nachgedacht, wie man es erreichen könnte, dass die Hunderttausenden, die ihre Rechtsansprüche nicht wahrnehmen, zu ermutigen sind, die Schwelle zum Sozialamt zu überschreiten und die Scham der Armut zu überwinden, ihre Rechtsansprüche offensiv wahrzunehmen. SozialpädagogInnen haben sich in Gruppen zusammengetan, mit Sozialhilfe-Broschüren, mit selbstorganisierten Beratungsstellen usw. gegenüber der restriktiven Struktur der Bürokratie, die Menschen zu unterstützen. Sie haben den Subjektstatus der „Hilfeempfänger“ ernst genommen, die Menschen ermutigt, sich nicht abkanzeln zu lassen als „Schlaucher“, als Arme usw. Damals wurde ausgerechnet, dass mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten in der Bundesrepublik ihre Ansprüche auf Leistungen nicht wahrnehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert, es ist vielmehr noch schlimmer geworden, weil die Erfahrungen, die die Leute in den Sozialämtern machen, heute noch mehr dazu beitragen, aus Scham und Stolz auf Leistungsansprüche zu verzichten. Aber jeden Tag wird von Politikern und Bürokraten über die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe lamentiert, und jeden Tag werden Forderungen zur Einschränkung von sozialen Leistungen in die Diskussion gebracht.

Das ist eine Katastrophe. Es ist vor allem eine Katastrophe, dass wir unsere Profession, die Soziale Arbeit für die Politik der Privatisierung gesellschaftlich produzierter Lebensrisiken funktionalisieren lassen.

Ökonomisierung heißt: die zentrale, theoretische und gesellschaftliche Kategorie für die soziale Arbeit ist der Markt. Soziale Leistungen als Dienstleistungen haben sich auf dem Markt auszuweisen. Es wird ideologisch und scheinheilig mit dem begriff der Kunden gearbeitet, als seien die Menschen, die die sozialen Leistungen in Anspruch nehmen müssen und wollen, im Status von Käufern, die das Geld in der Tasche haben, um geschützt durch Verbrauchergesetzgebung sich auf irgendeinem Markt die sozialen Leistungen auswählen und einkaufen zu können, die sie brauchen. Welch ein Zynismus!

„Marktgängigkeit“ – neue Leitlinie Sozialer Arbeit?

Die SozialpädgogInnen werden aufgefordert, ihre Dienstleistungen als „Produkte“ zu beschreiben und sie in Katalogen öffentlich zu offerieren und auszulegen, damit die „Kunden“ sich das ihnen genehme Produkt auswählen können. Das wird unter dem Begriff der Beteiligung (Partizipation) verkauft. Das sind neue Sprachregelungen, die anfangen, das Fühlen, Denken und Handeln der Professionellen zu bestimmen. In Berlin wird in weiten Bereichen fast nur noch so geredet. Im Rahmen der Verwaltungsstrukturreform haben die KollegInnen in allen sozialen Diensten monatelang fast nichts anderes getan, als Produktkataloge zu erstellen, die termingerecht vorgelegt werden mussten. Bei der Ausarbeitung dieser „Produkte“ war nichts von irgendeiner Selbstbeteiligung der Adressaten solcher Dienstleistungen zu sehen. In Berlin ist das weit fortgeschritten, und die ganze Sache wird im Rahmen der „Neuen Steuerung“ im Prinzip mit betriebswirtschaftlichem Denken betrieben. Damit kommt eine Haltung in die soziale Arbeit, die aus einem anderen gesellschaftlichen Bereich stammt, wo sie ihre Berechtigung haben mag. Hier werden aber Sprachregelungen eingeführt, in denen die Entwicklungen, die wir in den letzten 20 Jahren in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zustande gebracht haben, verloren gehen. Das heißt, der „Markt“, auf dem sich die soziale Arbeit bewegt, ist nicht etwa ein Markt, in dem zwischen uns als den Anbietern und den Adressaten  als den Abnehmern unserer Arbeit sich irgendein Marktgeschehen abspielt, sondern es ist der Markt der Subventionen, der sich zwischen den Trägern der sozialen Arbeit abspielt. Der öffentliche Träger, der nach inhaltlichen Kriterien die Mittel zu verteilen hat, und die freien Träger, die sich darum bewerben müssen, sind die „Partner“ auf diesem Markt. Auf ihm müssen die Träger bestehen, da müssen sie „Produkte“ anbieten, die „marktgängig“ und „kostengünstig“ sind, d.h. die der jeweiligen politischen Definition, was marktgängig sei, entsprechen müssen. Auf diese Kategorie Markt reduziert sich zunehmend das Denken in der Sozialen Arbeit. Provokativ gesagt: Es gibt eine neue Elite in der Sozialen Arbeit – die ausgesprochen qualifizierten und gewieften GeschäftsführerInnen und Sozialmanager, die eben das Know How haben müssen, zu akquirieren und zu requirieren; die das große Ohr am Markt der Subventionen haben müssen, um so schnell wie möglich, jeweils das als „Leistung“, als „Produkt“ anbieten zu können, wofür es gerade Geld gibt – oder zumindest eine entsprechende Verpackung vorweisen.

Ich denke, das ist der Kontext, in dem wir uns hier bewegen. Wenn uns das nicht deutlich wird, dann werden wir über kurz oder lang die uns angebotenen Sprachregelungen übernehmen. Das bedeutet, dass wir unser eigenständigen professionelles Denken aufgeben, denn es gibt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken. So wie wir reden, wie wir unsere Sprache gebrauchen, fangen wir auch an zu denken und schließlich zu handeln. Demgegenüber müssen wir außerordentlich sensibel sein. Die Diskussion, die hier in Hamburg gerade geführt wird zwischen „Offener Arbeit“ und „Hilfen zur Erziehung“ resultiert aus der skizzierten Dynamik. Deshalb muss in diese Diskussion die Frage hineingenommen werden: Wie verhalten wir uns gegenüber der machtbetriebenen Tendenz der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, die zu einer Hegemonie des Ökonomischen über das Soziale führen wird? Eine Hegemonie, die ohnehin schon immer besteht, nun aber auf das Soziale, auf die Soziale Arbeit selbst übertragen wird und sich im Innern dieses Systems, im Denken und Handeln der Professionellen festsetzt. Sie wissen alle, dass mit Begründungen wie EG-Entwicklung, Globalisierung, Standort Deutschland usw. die Strategie des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft begründet wird, mit der wir uns in diesem Zusammenhang auseinandersetzen müssen. Ich möchte hier keinen Horizont eröffnen, hinter den wir uns wieder vor notwendigen Veränderungen flüchten können, indem wir sagen: „Wir Armen werden betriebswirtschaftlich und ökonomisch an die Kandare genommen, nun brauchen wir nicht mehr genau hinzugucken, was wir in unserem eigenen Bereich zu verantworten haben!“ Der Blick hat sich dahin zu wenden, wo wir denn selbst diese Strukturen schon längst mitbereitet haben. Denn der „Markt“ macht die, die sich auf ihm unkritisch bewegen, zu Objekten von fremdbestimmten Tendenzen und verhindert, dass sie Subjekte ihres Handelns werden.

Die Bedeutung des KJHG …

Nun zum Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe: Wir haben das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und den ausgezeichneten Kommentar von meinem Kollegen Johannes Münder. In das KJHG wurden eine ganze Reihe von Forderungen, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik diskutiert und gestellt worden sind, aufgenommen. Man kann einiges kritisieren, z.B. die ungenügende Rechtsstellung von Kindern gegenüber Erwachsenen, aber in ganz zentralen Punkten hat das KJHG die Diskussion der vergangenen 30 Jahre in der BRD aufgenommen. Stünden wir heute in der Situation, das alte JWG zu reformieren, würde es das KJHG nicht schon geben – so eingesetzt würde es unter den heutigen politischen Bedingungen nicht mehr zustandekommen! Im Kontext der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird in den Zentralen pausenlos daran gearbeitet, dieses Gesetz mit seinen Ansprüchen zu boykottieren, es auszuhebeln, dafür zu sorgen, dass die in ihm benannten Standards nicht in die Praxis umgesetzt werden. In dieser Situation sollten wir uns daran erinnern, dass wir professionell sozial Arbeitenden uns zum ersten Mal in der Geschichte unseres Berufes in der glücklichen Situation befinden, dass wir uns auf gesetzlich fixierte und demokratisch legitimierte Positionen berufen und deren Umsetzung in die Praxis fordern können. Wir sollten das im § 1 KJHG formulierte „Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft“ übernehmen und darüber wachen, dass die hier artikulierten Ansprüche auch realisiert werden und nicht mit dem Hinweis auf die Knappheit der Ressourcen schlicht auf den Müllhaufen geschmissen werden.

… und seiner Leitnormen

§ 1 KJHG enthält die Leitnorm, auf die ich eingehen will: jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner – nicht irgendeiner anderen! – und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Pflege und Erziehung sind „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechtes nach § 1 …“ usw. – Wir kennen diese Formulierungen auswendig. Aber weil es so wichtige Sätze sind, lohnt es sich, sie wirklich auswendig zu lernen, damit man in den Debatten der Ausschüsse, den 78er-Kommissionen und wo auch immer, diese gesetzlich formulierten Positionen als Argumente in der Tasche hat. Wir müssen sie als Anspruchsnormen in der Auseinandersetzung um die Finanzierung und die Qualitätsstandards der Jugendhilfe parat haben, um die gravierende Diskrepanz zwischen den normativen Ansprüchen und der gesellschaftlichen Realität immer wieder bewusst zu machen. Wir sollten nicht sagen, das sei die große Politik, das seien die Präambeln, um die sich sowieso keiner kümmere. Mein Plädoyer ist, diese Ansprüche ernst zu nehmen, diese Normen beim Wort zu nehmen, um sie mit ihrer gesamten demokratischen Legitimation, die sie haben, zu einem politischen Kampfinstrument zu machen. Absatz 3 lautet: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

  1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
  2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
  3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
  4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen.“ Das sind die Leitnormen.

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

Wie immer bei allen Gesetzen in der BRD steht darüber die Leitnorm des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist das oberste Prinzip, und diese Würde soll unantastbar sein.

Wenn wir uns fragen, was Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe heißt, müssen wir das auf den Begriff der Menschenwürde beziehen, dem § 1 KJHG verpflichtet ist. Das geht soweit, dass die Leitnormen des Grundgesetzes bis in die allerletzte Entscheidung eines öffentlichen Trägers der Jugendhilfe umzusetzen sind. Das ist nicht eine Geschichte, die irgendwo auf irgendeiner abstrakten Ebene abgetan wird, sondern die heruntergeholt wird, heruntergeholt werden muss in unsere alltägliche Arbeit. Damit vertrete ich eine Position, die die UNO 1993 für die Soziale Arbeit formuliert hat: Soziale Arbeit sei eine Menschenrechtsprofession. Das heißt, die in der sozialen Arbeit Tätigen müssen AnwältInnen im Prozess der Realisierung der Menschenrechte sein, überall da, wo sie tätig sind. Man muss nicht in die weite Welt schauen, um zu erkennen, dass das eine Forderung ist, die es erst zu realisieren gilt. Wenn es heißt, Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, müssen wir übersetzen: Sie soll eine sein, weil sie in der Praxis heute noch weithin das Gegenteil ist.

Definitionsprobleme

Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit: das sind die Erziehungsziele bzw. Ziele menschlicher Entwicklung, die im KJHG festgeschrieben worden sind. Bezogen auf die Essentials im VIII. Jugendbericht muss die Frage gestellt werden: Wer definiert diese Werte in der Praxis? Wer definiert, was Förderung und was Erziehung ist im Hinblick auf die Entwicklungen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit?

In Verbindung mit § 9 spricht das KJHG primär den Eltern bzw. den Personen und Sorgeberechtigten diese Definitionsmacht zu; sie, so heißt es dort, bestimmen die Grundrichtung der Erziehung, die von der Jugendhilfe zu beachten ist. Und schon befinden wir uns in einem Dilemma. Können wir eigentlich davon ausgehen, dass in der „natürlichen Erziehung“ – gibt es denn so etwas, wie das natürliche Recht auf Erziehung? – ein derartig hochkarätiger Wert wie die Eigenverantwortlichkeit der Persönlichkeit angelegt ist? Können wir einfach davon ausgehen? Oder erleben wir nicht in unserer alltäglichen Praxis an vielen Stellen genau das Gegenteil?

Welches für ein Verständnis von „Gemeinschaftsfähigkeit“ finden wir in der Alltagspraxis von Erziehung wieder? Dieser Begriff ist noch viel schwieriger als der der Eigenverantwortlichkeit. Er hat in Deutschland eine lange, problematische und teilweise schreckliche Tradition. „Gemeinschaftsfähigkeit“ war für die Nazis der zentrale Begriff der Selektion, war Fokus ihrer Bevölkerungspolitik. Gemeinschaftsfähig waren diejenigen, die sich als Volksgenossen den nationalsozialistischen Vorstellungen von Gemeinschaft widerspruchslos einordneten und sie mittrugen. Als „gemeinschaftsunfähig“ und „asozial“ wurden alle diejenigen bezeichnet, die diesen Vorstellungen widersprachen, die sich verweigerten, die nicht konformistisch waren – überwiegend Jugendliche übrigens. Mit der Behauptung, sie seien nicht „gemeinschaftsfähig“ und mit den „Mitteln der Jugendhilfe nicht mehr in die Volksgemeinschaft zu integrieren“, wurden Tausende von Mädchen und Jungen in speziell für sie eingerichtete KZ gebracht; Jugendliche, die inmitten der faschistischen Barbarei auf ihrem Subjekt-Sein bestanden haben. Und mit Unterstützung der Jugendhilfe sind in jedem einzelnen Fall Mädchen und Jungen in die KZ gebracht worden. Kein Mädchen, kein Junge kam ohne ein Gutachten des jeweiligen zuständigen Jugendamtes und der Fachkräfte der Jugendhilfe – trotz aller Mitwirkung der SS – in eines dieser Konzentrationslager. Das ist ein Teil der Geschichte unserer Profession, der bis heute so gut wie nicht bekannt ist. Grundlage dieser Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung waren solche Begriffe wie „gemeinschaftsfähig“. Es gab fachliche Kriterien, mit denen sie operationalisiert wurden. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein dominierte dieses Denken in der alten Bundesrepublik wie auch der DDR. Mitte der fünfziger Jahre gab es in Bonn eine Debatte, dass ein „Bewahrungsgesetz“ gebraucht würde, für die „nicht mehr mit den Mitteln der öffentlichen Erziehung Besserungsfähigen“. Die Nazis hatten ein solches Bewahrungsgesetz schon fix und fertig; es ist nur nicht zum Zuge gekommen, weil am 8. Mai 1945 mit ihrer Herrschaft Schluss war.

Lebensentwürfe junger Menschen und die Rolle der Pädagogik

Als ich 1959 in die Soziale Arbeit ging, habe ich eine Praxis vorgefunden, die aus diesem Denken resultiert. Die Debatte um den Verwahrlosungsbegriff und was damit verbunden war, ist bekannt.

Was eine „gemeinschaftsfähige Persönlichkeit“ ist, das ist eine hochambivalente Angelegenheit. Da wir diejenigen sind, die zum Schluss diese Ziele, die im § 1 KJHG definiert sind, in die Praxis umsetzen, da wir diejenigen sind, die zum Schluss das Wächteramt auszuüben haben – wenn nämlich die Wahrnehmung des „natürlichen Rechts der Erziehung“ auf irgendeine Weise nicht funktioniert – kommt die Sache zuletzt immer zu uns. Die Jugendhilfe ist das System, das am Ende die Definitionsmacht in der Praxis besitzt. Das sind konkret die professionell handelnden Frauen und Männer. Nicht alleine die bürokratischen, rechtlichen und politischen Systeme, in denen die Handelnden angesiedelt sind und in denen sie sich bewegen müssen, von denen sie beeinflusst werden in ihren Entscheidungen, bestimmen die praktische Umsetzung der Leitnormen. Letztendlich sind es wir als Subjekte, die lebendigen SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, die bezogen auf lebendige Kinder und Jugendliche als Subjekte ihre Entscheidung treffen müssen.

Da kommen wir mit allgemeinen Vorstellungen von „Grenzsetzungen“ nicht mehr weiter. Wir müssen uns auf einer grundsätzlichen Ebene der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten den Anforderungen stellen und uns darüber klar werden, wie wir im Alltag damit umgehen wollen.

Da das KJHG solche Leitnormen aufstellt, sie aber nicht lebendig machen kann, sind wir in der Verantwortung und müssen das in unserer praktischen Arbeit mit den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, gestalten. Weil uns der Gesetzgeber, wie ich finde, zurecht misstraut, ob wir das immer wollen und können, gibt es den § 8 KJHG: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – der nur dann einen Sinn hat, wenn wir ihn als die Anerkennung des Subjektstatus für die Minderjährigen begreifen. Das kann nur bedeuten, dass die Lebensentwürfe und die Selbstdefinitionen der Kinder und Jugendlichen gefragt sind. Und dort, wo sie von ihnen nicht offensiv geäußert werden können, müssen wir sie im Kontakt mit ihnen in Erfahrung bringen. Wenn die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Vorstellungen nicht offensiv an uns herantragen, dann sind wir aufgefordert – das ist Teil unserer Professionalität – uns mit ihnen auf die Suche zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir – sollten die nicht sagen können, was jetzt im Moment für sie das Richtige ist – uns die Kompetenzen zubilligen, den richtigen Weg, die richtige Entscheidung für sie schon zu wissen. Das Gesetz nimmt uns in die Pflicht, und wir müssen uns selbst in die Pflicht nehmen, diese Suchbewegung mit ihnen zu manhen.

Demokratisierung der Instrumente

Was das für die Ausgestaltung sozialpädagogischer Praxis bedeutet, kann man sich vorstellen: welches Setting muss ich für die tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich haben, um mich auf derartige Suchbewegungen einlassen und sie mit den Kindern, den Jugendlichen und den Familien machen zu können? Die Leitnormen des KJHG müssen wir also zurückbeziehen auf die materielle Ausgestaltung unserer Arbeitsbedingungen.

Es gibt ein Instrument im KJHG, das dafür vorgesehen ist: die Hilfeplanung und die Hilfekonferenz. Diese haben von der Idee her die Funktion, die Definitionsgewalt des einzelnen, der an diesem Prozess beteiligt ist, zu begrenzen. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass in den alten RJWG- und JWG-Zeiten die einsame Fürsorgerin in ihrer Amtsstube, vielleicht noch kontrolliert durch das Vormundschaftsgericht, die Definitionsmacht darüber hatte, was zu erfolgen habe. Damit hier kein Missbrauch von Definitionsmacht mehr entstehen kann, existiert eine demokratische Institution: Hilfeplan und Hilfekonferenz. Alle Beteiligten sollen sich darüber austauschen, wie sie die Situation sehen; und wenn ich von Sichtweisen rede, wird schon deutlich, dass es sich um subjektives Hinschauen und Beurteilen handelt, im Kontext der jeweiligen Biographie dessen, der da schaut. Wenn er oder sie noch so viele professionelle Instrumente in der Hand hat, ist es zum Schluss immer ein Subjekt mit subjektiven Sichtweisen, das hier Situationen von anderen zu verstehen meint und sie beurteilt. Die Hilfekonferenz ist also ein Instrument der Annäherung an das Fremde. Was wir im großen und ganzen heißt, dass wir uns mit unseren mittelschichts-sozialisierten Sichtweisen in der Praxis mit Lebensbedingungen und Erfahrungen auseinandersetzen müssen, die nicht unsere sind, die wir nicht durch bloßes Draufschauen einfach schon verstehen können. Deshalb ist die Hilfekonferenz ein Instrument der Annäherung. In ihr steckt die Idee, dass wir vorsichtig in unseren Beurteilungen und Zuschreibungen sein müssen. Die Beteiligten sollen ihre Sichtweisen offenlegen; dann soll darüber beraten werden, was zu tun sei. Bezogen sich auf die Zusammensetzung dieser Konferenzen kann das heißen: wer ist denn da alles beteiligt? Da sitzen eben acht Professionelle mit ihrer Mittelschichtorientierung. Ihre Blicke unterscheiden sich also gar nicht so sehr voneinander, wenn sie vielleicht auch institutionenspezifisch unterschiedlich sind – wenn da etwa die LehrerIn aus der Schule, die die „Meldung“ an das Jugendamt gemacht hat, wenn da die Erzieherin aus der Kindertagesstätte sitzen (oder wer sonst noch aus dem pädagogischen Feld). Das gibt es zwar institutionenspezifische Unterschiede, denn die Schule hat beispielsweise andere Beurteilungskriterien für konkretes Handeln von Mädchen und Jungen, hat andere Ansatzpunkte für „Meldungen“ an die Ämter als die PädagogInnen aus der offenen Jugendarbeit. In diesem Sprachgebrauch kommt aber die alte Kontrollfunktion des Jugendamtes, dem man „etwas meldet“, damit es in Ordnung gebracht werde, zum Ausdruck. In dieser Runde nun von Professionellen sitzen auch Angehörige der Familie des Kindes oder des Jugendlichen wie auch die Kinder und jugendlichen selbst (sofern sie, was eigentlich grundsätzlich gilt, dazu eingeladen werden). Man muss sich fragen, ob die Idee der Hilfekonferenz so eigentlich wirklich zu realisieren ist? Für mich steht hier die Frage auf der Tagesordnung, wie man dieses Instrument weiter demokratisieren könnte.

Beteiligungsrechte

Zwei weitere Bemerkungen zu den Beteiligungsansprüchen nach § 8 KJHG von Kindern und Jugendlichen. Es heißt da: „Sie sind zu beteiligen entsprechend ihrem Entwicklungsstand“. Und weiter: „Sie sind zu beteiligten und über ihre Verfahrensrechte gegenüber den Gerichten in geeigneter Weise“ aufzuklären. Da haben wir wieder die Ambivalenz, die einfach nicht wegzukriegen ist.

Es gibt die Entwicklungstatsache von Kindern und Jugendlichen, d.h. sie wachsen heran und machen ihre Erfahrungen. Zugleich haben wir den Begriff der Sozialisation als einen Prozess des allmählichen Hineinwachsens in die Gesellschaft und des Kennenlernens der gesellschaftlichen Erwartungen. Andererseits wissen wir, wie problematisch die Normsetzungen sind, mit denen dieses „Hineinwachsen“ beurteilt wird; dass es immer heimliche Messlatten gibt, die an das konkrete Handeln von Kindern und Jugendlichen angelegt werden. Wenn wir also im Gesetz lesen „entsprechend ihrem Entwicklungsstand“, dann hört sich das so an, als sei der Entwicklungsstand eine klare Sache, als könne man mit den Mitteln, die die Profession entwickelt hat, mit quasi objektivierten Verfahren und Standards messen, was denn der Entwicklungsstand (Entwicklungsquotient!) in jedem einzelnen Fall ist. Wenn Kinder und Jugendliche „angemessen an ihrem Entwicklungsstand“ beteiligt werden sollen, dann gibt es zuletzt wieder die Instanz, die das beurteilt und möglicherweise ihre Kriterien im Prozess der Hilfeplanung nicht offenlegt. Das heißt, die Beteiligten müssen sich darüber verständigen, was sie denn für Kriterien anlegen, wenn sie den „Entwicklungsstand“ beurteilen. Da wird sehr viel einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, so als würden sich alle in der Runde verstehen, was mit „angemessen“ gemeint ist.

Man muss sich fragen, ob denn der in § 1 artikulierte und in § 8 verstärkte Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen einer ist, der von einem durch uns zu beurteilenden „Entwicklungsstand“ abhängig ist? Erwirbt ein Mensch seinen Subjektstatus erst im Prozess seiner „Reifung“? Ist man denn erst dann ein „vollwertiger Mensch“, wenn die gesellschaftlich definierten sogenannten Entwicklungsaufgaben, die an die Heranwachsenden getragen werden, von ihnen erfüllt werden? Wenn sie das Zertifikat der „Reife“ bekommen?

Angeborener Subjektstatus?

Nein! Der Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen ist völlig unabhängig – das ist mir außerordentlich wichtig – von jedem irgendwie definierten Entwicklungsstand, auf den hier Bezug genommen wird. Der Subjektstatus ist die praktische Seite dessen, was im Grundgesetz die Würde des Menschen genannt wird, die unantastbar sein soll. Kinder und Jugendliche müssen sich ihren Subjektstatus nicht erst erwerben oder erarbeiten oder verdienen durch ein irgendwie von den Erwachsenen oder von gesellschaftlichen Institutionen zu akzeptierendes Verhalten. Sie haben diesen Status, er ist ihnen angeboren; sie bringen ihn als Menschen mit auf die Welt. Sie können ihn auch nicht von sich aus aufgeben oder an den Nagel hängen. Und es hat niemand das Recht, ihnen ihren Subjektstatus abzusprechen. Auf jeder denkbaren und von uns definierten Stufe von Entwicklung haben Kinder und Jugendliche und natürlich alle Menschen diese Subjektposition. Das ist ein Kriterium, das uns herausfordert, das uns zwingt, jeweils genau darüber nachzudenken, wie bezogen auf diese Subjektposition das Handeln der Professionellen im Sinne von Unterstützung und Hilfe gestaltet werden muss.

Ich bin auf die Bedeutung des Subjektstatus gekommen, weil ich mir überlegt habe, was denn eigentlich im gegenwärtigen Prozess der Ökonomisierung Sozialer Arbeit eine politische Position und Kategorie sein könnte, auf die sich die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe gemeinsam verständigen können, um sie öffentlich in die Diskussion zu werfen. Ich glaube, dass das diese Position ist. Wir sind dafür verantwortlich, uns wird darüber ein Wächteramt zugesprochen, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft öffentlich zu machen und zu unterstützen, zu verteidigen, zu helfen, ihn zu realisieren usw. Wenn wir davon ausgehen, muss jeder Bereich von den Hilfen zur Erziehung bis hin zur offenen Jugendarbeit sich fragen, was denn diese Position bezogen auf die von uns betriebene Arbeit jeweils für Anforderungen stellt. Wenn wir das als gemeinsame Ausgangsbasis nehmen, dann haben wir eine Ebne der Verständigung, auf der wir uns gegenseitig kritisch befragen können. Je vereinzelter wir in diesem Geschäft tätig sind, desto größer ist die Gefahr, diese Position nicht entwickeln zu können oder sie zu verlassen. Denn zur Realisierung dieses Anspruchs benötigen wir die Kommunikation, den fachlichen Austausch und vor allem die öffentliche Debatte über unser Scheitern in unserer Arbeit; unser Scheitern auf der politischen Ebene, auf der individuellen Ebene, im Teamprozess usw. Um darüber zu diskutieren, wie wir uns der Position annähern, müssen wir über unsere Grenzerfahrungen reden können; müssen wir darüber reden, wo wir in Ambivalenzen geraten. Bin ich jetzt derjenige, der weiß, wo der richtige Weg für das Kind ist, welche Zeit ich habe, das herauszufinden, wie schnell „eingegriffen“ werden muss? Wenn ich mit all diesen schwierigen Fragen und Erfahrungen mit mir alleine klarkommen muss, dann bin ich mit der Zeit enorm gefährdet, den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen aus dem Bewusstsein zu verlieren und in den Bedingungen und Zwängen meiner alltäglichen Arbeit nur noch zu funktionieren.

„Totalverweigerung“ von Jugendlichen …

Vor ein paar Wochen gab es in Berlin im Landesjugendamt eine Diskussion darüber, wie SozialpädagogInnen mit „Straßenkindern“ (einem, wie ich finde, schwierigen Begriff angesichts der Existenzformen von Kindern in Sao Paulo, in Bogotá, in Lima oder woanders in der so genannten Dritten Welt) im städtischen Untergrund umgehen können. Mit Kindern also, die aus Familien, Wohngemeinschaften oder sonstigen Formen stationärer „Unterbringung“ weggelaufen sind, es also aus welchen Gründen auch immer dort nicht mehr aushalten konnten. Durch die Skandalisierung ist der Berliner Senat darauf gestoßen, dass es in Berlin ungefähr dreitausend so genannte Straßenkinder gibt. Wie soll die Jugendhilfe nun mit diesen Kindern umgehen? Welche Angebote soll sie ihnen machen?

In der Diskussion stellte sich heraus, dass nahezu die gesamte Jugendhilfe, ob nun offene Arbeit oder Hilfen zur Erziehung, diesen Kindern lediglich Angebote unter der Voraussetzung der Sesshaftmachung bieten können und wollen. Nun gibt es aber unter diesen dreitausend eine beträchtliche Gruppe von ungefähr 10 Prozent, die diese Angebote radikal zurückweisen; die sagen, dass die Angebote der Jugendhilfe, die auf Sesshaftigkeit basieren und hinzielen, ihren Vorstellungen vom Leben hier und jetzt nicht entsprechen. Es gibt auch schon einen neuen Begriff für diese Jugendlichen: das sind die „Totalverweigerer“ in der Jugendhilfe. Sie verweigern alles: sie ignorieren die Schulpflicht, wie wollen nicht mehr in der Familie leben, sie weisen sämtliche gängigen Angebote der Jugendhilfe zurück; sie sind in einem qualitativen Sinne wirklich Totalverweigerer und bringen uns als Jugendhilfe-Menschen in Grenzsituationen. Wie nun darauf reagieren?

… und die „Dequalifizierung“ Sozialer Arbeit

Die „Totalverweigerer“ praktizieren in einer zugespitzten Form gegenüber den VertreterInnen der Jugendhilfe ihre Subjektposition. Nun hilft es uns überhaupt nichts, danach zu fragen, was denn dies für eine Existenzform sei? Ob man da überhaupt von einer Subjektposition reden könne? Ob es nicht eher entsetzlich ist, wie diese Jugendlichen da existieren, unter wirklich menschenunwürdigen Lebensbedingungen? Sie müssen sich doch prostituieren, sie müssen mit Drogen handeln usw.? Kann man das überhaupt noch eine Subjektposition nennen? Ist denn da überhaupt noch Subjektives, d.h. Selbstbestimmtes in der Lebensführung vorhanden?

Das haben wir nicht zu entscheiden. Und exakt das ist das Dilemma. Diese Grenzsituationen gibt es immer wieder. Die einzig mögliche Annäherung an solche Jugendlichen ist die schlichte Frage: Wie kannst Du unter solchen Bedingungen überleben? Wie kann ich Dich dabei unterstützen? Als wir in Berlin in der Diskussion an diesem Punkt waren, wurde von TeilnehmerInnen eine Position formuliert: dass die zunehmende soziale Verweigerung von Kindern und Jugendlichen PädagogInnen immer mehr in die Situation bringt, „dequalifizierende“ Arbeit leisten zu müssen, die sich im Begriff der „Überlebenshilfe“ erschöpfe. Das würde doch bedeuten, dass wir uns auf den Stand des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen ließen, wo wir wie die Heilsarmee mit Suppenküchen und allen möglichen Überlebensveranstaltungen nichts anderes getan hätten, als auf die unmittelbar geäußerten Alltagsbedürfnisse irgendwie materiell zu reagieren. Das sei eine Dequalifizierung Sozialer Arbeit.

Verständnis dafür zu schaffen, dass diese Form der radikalen offenen Annäherung an solche Kinder und Jugendlichen große Anforderungen an das professionelle Know How von SozialpädagogInnen stellt, ist außerordentlich schwierig. An keiner anderen Stelle professioneller Arbeit müssen wir so sehr reflektiert unser Denken und Handeln überprüfen wie in diesen Grenzsituationen. Und an keiner Stelle ist es so schwer, diesen einen Satz nicht zu sagen: dass doch irgendwo auch eine Grenze und Schluss mit der Toleranz sein müsse.

Akzeptanz, nicht Toleranz!

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz herauszuarbeiten. Toleranz heißt: zu dulden, was uns nicht passt. Es ist eine Position, die besagt, dass solche Jugendlichen auch hier leben dürfen mit ihren Minderheitenpositionen, solange sie bestimmte Grenzen nicht in Frage stellen. Dagegen ist Akzeptanz eine hochqualifizierte Geschichte, die allerdings in der Diskussion oft diskriminiert wird als Gewährenlassen, Gefälligkeitspädagogik, einfach alles nur hinüberschicken, ohne noch Ansprüche zu stellen usw. So geht es nicht!

Wenn wir Akzeptanz in einem professionellem Sinne begreifen wollen, dann steckt darin die Frage nach der Offenheit unserer Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten – bezogen auf Lebensbedingungen und subjektive Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen, die sich in anderen Lebenswelten bewegen als den unseren. Dazu gehört auch, dass wir ihre Entscheidungen und Schritte, die wir als „Notlösungen“ empfinden, so verstehen, dass auch die Notlösung eine Lösung ist, in diesem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Im weiteren ist zu sehen, in welche Situationen von Not dieser Weg der Lösung sie wieder bringt. Das ist unsere Aufgabe, sie damit zu konfrontieren; aber nicht, um ihnen den Weg vorzuschreiben, sondern um zu klären, wie sie das durchstehen und überleben können. Wenn wir eine solche Haltung einnehmen in den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, dann haben wir eine gemeinsame Klammer, die Ernst mit dem Ansatz gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und mit der Realisierung des Subjektstatus macht. Dann haben wir einen Bezugspunkt, auf den hin wir unser Denken und Handeln qualitativ überprüfen können. Politisch wäre das eine Basis, ein Punkt, an dem wir gemeinsam auftreten können und müssen.

Das Elend der Prävention

In Hamburg ist in einer „gemeinsamen Kommission Jugendhilfe und Polizei“ kritisiert worden, dass die Polizei eine Sonderkommission Graffiti eingerichtet hat, was von der Jugendhilfe nicht verhindert werden konnte. Die Jugendbehörde reagierte darauf mit einem präventiven Angebot in der Form der Zur-Verfügung-Stellung von Freiflächen und Sprayfarben, die bekanntlich – weil teuer – von vielen Jugendlichen geklaut werden müssen. Gegen solch ein Angebot ist nichts zu sagen. Aber ich finde es problematisch, wenn damit gegenüber den Politikern dieser Stadt von der Jugendhilfe ein Präventionsversprechen abgegeben wird. Anstatt zu vertreten, dass es Jugendliche gibt, die im Rahmen der offenen Angebote der Jugendarbeit ihre kreativen Fähigkeiten in Form von Graffiti ausprobieren – eine genuine Aufgabe von Jugendarbeit auch im Hinblick auf den Subjektstatus – sagt die Jugendhilfe, sie würde mit diesem Angebot Jugendliche davon abhalten können, an öffentlichen Gebäudeflächen die gesellschaftliche Grundnorm des Eigentums zu verletzen. So werden durch die präventive Strategie der Jugendhilfe die jugendlichen Sprayer, die im Prinzip alle dasselbe machen, aufgeteilt in diejenigen, die die Angebote der Jugendhilfe wahrnehmen und diejenigen, die trotz dieser Angebote weiterhin an ihrem kriminellen Handeln festhalten. Letztere sind dann die Zielgruppe kriminalpolizeilicher Strategien. So geht es nicht!

Wieso lässt sich die Jugendarbeit in die Position treiben, Präventionsversprechen öffentlich abzugeben, die genau den Kriterien entsprechen, die in der „Klientelisierung“ dieser Gruppe von Jugendlichen enthalten sind? Warum wird nicht dagegen aufgestanden und gesagt, dass diese Aktion gegen Graffiti-„Kriminalität“ eine Sauerei ist? Die öffentlichen Räume müssen doch auch Jugendlichen zur Aneignung zur Verfügung stehen. Und die Verregelung und Verrechtlichung des öffentlichen Raumes wird von Jugendlichen immer wieder nicht akzeptiert werden. Wer darauf mit kriminalpolizeilichen Strategien antwortet und diese Strategien mit Präventionsstrategien ergänzt, betreibt eine absolut verfehlte Jugendpolitik.

Wenn wir, die wir diese Gesellschaft so gestaltet haben wie sie ist, dafür sorgen, dass die Aneignungsfähigkeit öffentlicher Räume für Kinder und Jugendliche gegen Null geht, dann dürfen wir uns doch nicht wundern, dass diese Kinder und Jugendlichen sich in teilweise auch aggressiven Aktionen ihren Aktionsraum zurückholen und den öffentlichen Raum als Bühne zur Selbstinszenierung vorführen und sagen: Ihr könnt uns mal! Darauf mit Präventionsstrategien zu antworten, ist das Letzte!

Es ist das Gegenteil von Anerkennung des Subjektstatus. Damit betreibt die Jugendhilfe und Jugendarbeit die Klientelisierung der nonkonformistischen Gruppen von Jugendlichen. Die Jugendarbeit hat das nicht nötig. Sie kann sagen: Unsere Graffiti-Aktionen sind ein Angebot für diejenigen, die nicht im öffentlichen Raum ihre Bedürfnisse realisieren wollen; die Lust haben, dies in unseren von der Jugendarbeit zur Verfügung gestellten Räumen zu machen. Dann entgehen wir auch dem berechtigten Vorwurf der Gettoisierung, die immer wieder – in bester Absicht – von der Jugendhilfe betrieben wird!

Der Autor Dr. Manfred Kappeler ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der TU Berlin.

Der vorstehende Beitrag erschien in DER NAGEL 59/1997 und wurde im Juli 2003 hier eingestellt.

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