NAGEL-Redaktion – Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Bettina Lischewski

Vor wenigen Tagen berichtete mir ein Jugendlicher, dass er eine ältere Dame auf der Straße nach der Uhrzeit fragte. Diese drehte sich erschrocken um, hielt ihre Handtasche fest mit beiden Händen und begann, um Hilfe zu rufen. Wie gut für den Jugendlichen, dass keine Polizei in der Nähe war.

Die Schlagzeilen in den Zeitungen, gerade vor der Wahl: „Jugendkriminalität steigt“,. „Jugend immer gewaltbereiter“ oder „Mit 14 schon ein schwerer Junge“. Die Botschaft: Sie werden immer jünger, lassen alte Damen um Hilfe schreien und geben vor, nach der Uhrzeit zu fragen. Für die Medien sind derartige Nachrichten Waren, die anschaulich und mit dramatischen Überschriften verziert sein sollen, damit sie gelesen und die Blätter verkauft werden. Diese vorgebliche Lebendigkeit scheint das Leben spannender, die alltäglichen Dramen kleiner zu machen. Das Resultat ist Angst und Unsicherheit der älteren Generation.

Mit Angst hat sich immer schon gut Politik machen lassen. Der Ruf dieser Art von Politik geht in Richtung nach mehr Polizei, nach Stärkung der Inneren Sicherheit, nach sofortigem Handeln, nach dem Ende des angeblichen „Immer-nur-Reden“. Mit härteren Strafen bekäme man die kriminelle Jugend schon in den Griff. Ein guter Weg, von den eigentlichen Problemen abzulenken: Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und damit verbundene Gefühle von Ohnmacht und fehlender Anerkennung. Die Polizei hat mit höheren Präsenzanforderungen genug zu tun und muss sich um Stellenstreichungen nicht kümmern. In Zeiten der hohen Arbeitslosigkeit eine dankbare Angelegenheit. Hätten die Jugendlichen die Möglichkeit, etwas zu sagen, dann würde man vielleicht wissen, dass sich viele vergessen und nicht verstanden fühlen.

Die Beweise der dramatischen Realität liefert die Polizei mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Besonders aussagekräftig ist diese nicht: vergegenwärtigt man sich, dass circa 90 Prozent der Delikte auf Anzeigen aus der Bevölkerung zurückgehen, wird klar, dass für Anstieg und Fallen der Kriminalitätszahlen besonders die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung eine größere Rolle spielt als das wirkliche Geschehen. Nicht richterliche Verurteilungen, sondern vermeintliche Kriminalitätswahrnehmungen werden in der PKS abgebildet. Ganz abgesehen davon, dass auch Kinder erfasst werden, die nicht strafmündig sind.

Mehr als die „wirkliche“ Entwicklung der Kriminalität scheint die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung von der Vorstellung über Umfang und Schwere sozialer Probleme abzuhängen. Damit setzt das Dauerthema „Innere Sicherheit“ erst die Probleme, die es zu lösen vorgibt, in die Welt. Nicht die objektive Bedrohung älterer Menschen ist das Problem, sondern deren Bedrohtheitsgefühl und die gleichzeitige Senkung der Hemmschwelle zur Anzeigenerstattung.

Die Konsumgesellschaft lebt es den Jugendlichen vor: Nur wer Arbeit hat und Geld, sitzt vorne in der Reihe. Was da eigentlich zählt, unterstrich der ehemalige Bürgermeister Hamburgs in diesem Jahr bei einem Besuch des Jugendklubs Burgwedel. Neben guten Ratschlägen an die jungen Leute („Hört auf zu rauchen!“ oder „Ernährt euch gesund!“) gab er ihnen mit auf den Weg, sie müssten sich nur viel Mühe geben, dann würde auch bei ihnen bald ein Mercedes vor der Tür stehen. Welche Mühen er damit gemeint hat, liegt auf der Hand, aber: unter den gegenwärtigen Bedingungen dürfte es nachvollziehbar sein, daß Jugendliche schneller mit fünf geklauten Autoradios ans Ziel kommen als mit der Hoffnung auf ein Taschengeld oder auch 480 Mark Ausbildungsvergütung.

Es geht im Rahmen der Kriminalitätsdiskussion um alle Jugendlichen, auch um die „einfachen“ Normabweichler. Dass für junge Menschen vielleicht andere Normen und Werte existieren als für Erwachsene, wird kaum mehr berücksichtigt. Es ist schon klar, daß Bürgerschafts-Spitzenkandidaten einen anderen Geschmack als die Kids haben, wenn sie sich im Wahlkampf aufmachen, Hamburg von Tags und Graffitis zu befreien. Wo Jugendliche ihre Art moderner Kunst im öffentlichen Raum ausleben, mit sogenannten „Schmierereien“ ihre Duftmarke nach dem Motto „Mich gibt es! Vergesst mich nicht!“ setzen wollen, wird kriminalisiert und verfolgt. Den Kick, den Jugendliche bei ihren Aktionen brauchen, mit dem sie ihre Grenzen und Möglichkeiten austesten, ist ein Bedürfnis, das ohne Sanktionen anscheinend nicht mehr auskommen darf.

Statt die gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt zu stellen, an ihnen etwas zu ändern, wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Mehr Einsatz von Polizei wird nur mehr Unsicherheit schaffen. Bei derartigen Stammtischparolen werden sich Jugendliche wohl bald nicht mehr auf die Straße trauen dürfen.

Die Autorin war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im NAGEL Mitarbeiterin im Jugendclub Burgwedel des Verband Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg.

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