NAGEL-Redaktion – Vom Gejaule, vom Zorn und vom aufrechten Gang

(Kolumne aus: DER NAGEL 59/1997)

Von Rainer Deimel

Gejaule bringt uns überhaupt nicht weiter. Uns? Die Pädagogik, die Fachwelt und die, für die, mit denen wir aktiv werden: Kinder, Jugendliche, Familien. Aufhänger meines Beitrags soll hier das Lamento über die Zunahme kindlicher und jugendlicher Kriminalität sein. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin fährt nach New York, um sich dort zu informieren, wie es die harte New Yorker Hand geschafft hat, das ehedem überdimensioniert kriminelle Gemeinwesen anscheinend wieder zu befrieden. Petra Roth muss feststellen, dass die Rigidität, mit der in der US-Metropole mit dem Drahtbesen die Habenichtse, Organisierer und „andere Elemente“ auf den Kehricht verbracht werden, zwar auf gewisse Weise eindrucksvoll, aber auf westeuropäische Verhältnisse kaum übertragbar ist.

Zum Thema Kinder- und Jugendkriminalität gibt es inzwischen zahlreiche Verlautbarungen. Ich möchte mir ein weiteres Eingehen darauf deshalb hier sparen, als Resümee aber folgende Thesen aufstellen:

  • Kriminelle Handlungen junger Menschen gegenüber älteren Menschen stagnieren.
  • Gewalttätige Handlungen zwischen nahezu Gleichaltrigen nehmen beunruhigend zu.
  • Die Verantwortlichen für möglicherweise zunehmende Verwahrlosungserscheinungen sind nicht bzw. selten in den Institutionen zu finden, die sich mit jungen Menschen beschäftigen (ergo Familie, Schule, Jugendarbeit usw.). Verantwortlich für Verwahrlosungserscheinungen, Kriminalität, Gewalt, Gewaltbereitschaft usw. ist das System der skrupellosen Marktwirtschaft, das es mittlerweile soweit gebracht hat, daß 80 Prozent der Weltbevölkerung überflüssig geworden sind.

Letztgenannte These provoziert möglicherweise Zorn; soll sie auch. Mein Anliegen dabei ist allerdings, die Richtung des Zorns klar zu bestimmen. Jeremy Rifkin, amerikanischer Wirtschaftskritiker, stellt in seinem Buch „Das Ende der Arbeit – und ihre Zukunft“1 fest, dass uns am „Ausgang der modernen Welt“ eine „neue Barbarei“ erwarte. Es gäbe die Alternative zwischen fundamentalen Reformen oder sozialer Katastrophe. Hans-Peter Martin und Harald Schumann2 kommen zu der Erkenntnis, dass für das Funktionieren der Weltwirtschaft nur noch 20 Prozent der arbeitsfähigen Weltbevölkerung benötigt werden. Amerikanische Manager vertreten die Auffassung, dass man die restlichen 80 Prozent durch eine Mischung aus Mindestsicherung und Entertainment durch die permanent gegenwärtige Unterhaltungsindustrie bei Laune halten müsse, vermutlich, um durch sie nicht weiter behelligt zu werden. Viviane Forrester3   glaubt, dass es sich in einer Demokratie (noch) niemand wagen würde, zu erklären, „das Leben sei kein Recht an sich und eine Vielzahl von Menschen sei einfach überflüssig“.4 Forrester macht die Verantwortlichen für den Niedergang, den wir augenblicklich erleben und gegen den wir tagtäglich zu kämpfen haben, in den Wirtschaftsmächtigen aus, die den gesamten Globus mit ihrem Terror des profitablen Wirtschaftens überziehen. Gleichzeitig bescheinigt sie der Politik deren Unfähigkeit, sich diesem zu widersetzen.

Am Beispiel junger Leute in französischen Vorstädten zeichnet Forrester ein bedrohliches Szenario, die ständig die Schmach ihrer Existenz und Hoffnungslosigkeit erleben. Und „nichts schwächt und lähmt derart wie die Schmach. Sie greift an der Wurzel an und untergräbt jede Tatkraft, sie degradiert Menschen zu beliebig beeinflußbaren Objekten und reduziert alle, die unter ihr leiden, zur wehrlosen Beute. Daher ihr Reiz für die Mächtigen, sich ihrer (Anmerkung: der Schmach) zu bedienen und sie zu verbreiten; sie erlaubt es, Gesetze aufzustellen, ohne auf Gegner zu stoßen, und sie dann zu übertreten, ohne Protest befürchten zu müssen. Die Schmach führt in eine ausweglose Situation, sie verhindert jeglichen Widerstand, führt dazu, dass jegliche Bekämpfung, jegliche rationale Beschäftigung, jegliche Auseinandersetzung mit dem Problem aufgegeben wird. Sie lenkt von allem ab, was ermöglichen würde, sich der Erniedrigung zu verweigern und eine Analyse der politischen Verhältnisse zu fordern. Und sie ermöglicht auch die Ausnutzung der Resignation und der virulenten Panik, ihrem Nebenprodukt.“5 Folgt man diesen Gedanken, ergeben sich aus meiner Sicht über den Zorn hinaus Anforderungen pädagogischen Tätigwerdens. Pädagogik ist Stimulans. Sie bringt denjenigen, die sie erreicht, Wertschätzung und Akzeptanz entgegen, eine Grundlage, gegen Hoffnungslosigkeit aktiv zu werden. Pädagogik stimuliert ferner das Denken, also die Grundlage, Zusammenhänge transparent zu machen. „Nichts mobilisiert so wie das Denken. Denken ist alles andere als ein trübsinniges Verharren, es ist vielmehr die Quintessenz des Tätigseins. Es gibt keine subversivere, keine gefürchtetere Tätigkeit. Es gibt auch nichts, was stärker verleumdet würde, und das ist weder zufällig noch harmlos: Denken ist politisch. Und zwar nicht nur das politische Denken. … Die bloße Tatsache zu denken ist politisch. Deshalb der heimtückische und dadurch um so effizientere Kampf, der heute so heftig gegen das Denken geführt wird, gegen die Fähigkeit zu denken.“6 Pädagogik muss sich als Tugend den aufrechten Gang bewahren; da, wo sie gebeugt geht, ihn sich wieder erobern.

Unseren Beobachtungen zufolge, auch unter Berücksichtigung von Aussagen renommierter Wissenschaftler, wird dies vermutlich nicht leicht. Das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und das Psychologische Institut der Universität Leipzig bilanzieren für Deutschland erschreckende Folgen zunehmender Deklassierung durch Arbeitslosigkeit. So wird festgestellt, dass Arme weniger die Chance hätten, das Rentenalter zu erreichen als solche mit ausreichendem Einkommen. „Die Feststellung krasser sozialer Ungerechtigkeit, die einen Teil der Gesellschaftsmitglieder wesentlicher Grundrechte beraubt, wirft … die Frage nach der Legitimität einer solchen Gesellschaft auf. Die liberal-kapitalistische Gesellschaft hat sich bislang mit einem Trick beholfen: Sie preist zwar – mit größter Berechtigung – die ´allgemeinen Menschenrechte´ wie Religions-, Versammlungs- oder Meinungsfreiheit, spricht aber den sozialen Menschenrechten – Recht auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnung, auf gleiche Gesundheitschancen – die Verbindlichkeit ab. Sie kommen in unserer Verfassung nicht vor. Paradoxerweise gilt, wer auch die sozialen Menschenrechte einfordert, als Gleichmacher, als wenig liberal. Als ob auf dem Gebiet der Menschenrechte weniger mehr sein könnte.“7   

Verwahrlosung und Kriminalität sind konsequente Folge von Deklassierung und menschlicher Entwürdigung. Wer nichts mehr zu verlieren hat, hat eben Nichts mehr zu verlieren. Nicht ohne guten Grund beschreibt Stephen King in seinem Roman „The Green Mile“ die Breite der Gänge in den Zellen der zum Tode Verurteilten. Denen ist „egal“, was in ihrem Leben noch geschieht. Der breite Gang soll die Wärter davor schützen, zu nahe an die Zellengitter zu geraten. Aus dem „modernen“ Amerika ist bekannt, dass Besitzende immer häufiger ihre Kinder mit Hubschraubern aus ihren schlossartigen Ghettos in ihre Nobel-Konsum-Burgen fliegen lassen, quasi damit ausreichend Abstand zu den Gittern gehalten werden kann.

Pädagogik und Kinderlobby sind aufgefordert, über das Gejaule hinaus, zornig zu sein, nicht depressiv. Der Zorn hilft mit, aufrecht zu gehen. Wir haben immer wieder betont, Pädagogik könne Machtverhältnisse nicht verändern. Dieses Denken halte ich inzwischen für einschränkend linear-kausal. Natürlich taugen pädagogische Mittel nicht dazu, materielle – sprich: finanzielle – private Ressourcen im Sinne gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu verteilen. Aber, wie gesagt, Pädagogik ist Stimulans. Indem sie sich selbst den aufrechten Gang bewahrt, indem sie denjenigen gegenüber Wertschätzung und Akzeptanz aufbringt, die qua System zum lebensunwerten – ich benutze dieses vielgeschmähte Wort ganz bewußt – Leben degradiert werden, hilft sie gerade auch diesen, ihren aufrechten Gang zu erlernen. Und dies ist allemal eine politische Kraft, die ihre Wirkung zeitigen wird. Die Formel der sechziger und siebziger Jahre „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ greift zu kurz. Erst einmal muss der aufrechte Gang erlernt werden. Danach gibt es kaum mehr einen Grund, etwas zu zerstören.

Der Autor ist Bildungsreferent beim ABA Fachverband und Systemischer Berater DGSF.

Eingestellt in das Internet im Juli 2003.

Anmerkungen:

1 Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1995

2 Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996

3 Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie, Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997

4 ebenda, S. 38

5 ebenda, S. 14

6 ebenda, S. 98

7 Anton-Andreas Guha: Die kranke Gesellschaft, in: Frankfurter Rundschau v. 2.1.1998

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