Über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen – Zur Klärung eines Paradoxons

Von Rainer Deimel

Foto: Rainer Deimel
Foto: Rainer Deimel

„Wenn wir von Glück oder Unglück sprechen, so täuschen wir uns stets, weil wir nach den Verhältnissen und nicht nach den Personen urteilen. Eine Lage ist nie unglücklich, wenn man Gefallen an ihr findet. Und wenn wir von einem Menschen sagen, er sei unglücklich in seiner Lage, so meint dies nichts anderes, als dass wir unglücklich wären, wenn wir bei unserer organischen Beschaffenheit an seiner Stelle wären.“

In dieser Weise skizzierte der französische Schriftsteller und Staatsphilosoph Charles-Louis de Secondat Montesquieu (1689 – 1755) das hoffnungslose Unterfangen zu glauben, mit der Verabsolutierung einer bestimmten Sichtweise wäre man der Wahrheit näher gekommen. Beim Klatsch in einer Kaffeerunde dürften derartige Verlautbarungen – individuellen Sichtweisen entstammend – nicht weiter problematisch sein. Dramatisch wird es, wenn solche Sichtweisen zu Urteilen formalisiert werden, wenn sie möglicherweise über Wohl und Wehe eines Individuums mit weitreichenden Konsequenzen entscheiden.

Beschäftigen wir uns also zunächst mit den Urteilen. Wir kennen den Begriff einerseits aus dem Recht, andererseits aus der Logik. Das Fällen eines Urteils in der Rechtsprechung unterliegt einigen Formvorschriften, etwa dem Urteilseingang (Rubrum = an die Spitze eines Schriftstücks gestellte Bezeichnung der Sache (1), der Urteilsformel (Tenor = der entscheidende Teil des Urteils (2), dem Tatbestand und den Entscheidungsgründen. Es gibt auch Verfahren, denen eine Rechtsmittelbelehrung hinzugefügt wird. In der Regel sind gegen Urteile der Rechtsprechung Rechtsmittel – wie Beschwerde, Berufung oder Revision – zulässig. Das Urteil wird erst dann rechtskräftig, wenn die Rechtsmittelfristen abgelaufen sind. Derart formale Kontexte sind in unserem Alltagserleben eher selten, wenngleich man ihnen nahezu tagtäglich begegnen kann. Formalisierte Urteile gibt es ferner in Prüfungszusammenhängen (Führerschein, Ausbildung, Hochschule usw.), insbesondere erleben wir sie beständig in der unterrichtlichen Praxis der Schule. Während das formalisierte Urteil etwa beim Erwerb des Führerscheins nur „bestanden“ oder „nicht bestanden“ lautet (ähnliche Verfahrensweisen sind auch aus Hochschulen bekannt), ein Urteil vor Gericht mithilfe der beschriebenen Rechtsmittel zu weiteren Verhandlungen und damit zu neuen Abwägungen und deshalb zu einem neuen, geänderten Urteil führen kann, scheint das Urteil einer Schule so etwas wie ein unabwendbares Schicksal zu bedeuten.

Die traditionelle Logik begreift unter einem Urteil einen Satz, der das Bestehen oder das Nichtbestehen eines Sachverhaltes behauptet. Auf dieser Ebene haben wir es mit bejahenden (affirmativen) oder verneinenden (negativen) Urteilen zu tun. Denkbar ist auch, zu einem Urteil zu gelangen, indem man eine Synthese bildet. Laut Kant findet dabei eine Verknüpfung der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe zu einer Erkenntnis statt (Synthesis). Allgemein gesprochen ist ein Urteil somit eine Entscheidung über einen bestimmten Sachverhalt oder Erkenntnisgegenstand. (3)

Urteile in der Schule werden Noten oder Zensuren genannt. „Note“ ist abgeleitet vom lateinischen Begriff „nota“ (Merkmal). Der Begriff „Zensur“ (lateinisch „censura“) findet seinen Ursprung im „censor“, einem römischen Beamten, dessen Aufgabe das Schätzen (censere = schätzen) von Vermögen war. Zensuren oder Noten werden in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. In Deutschland haben wir es in der Regel (4) mit einem Ziffernsystem zu tun. Eine 1 bedeutet „sehr gut“, eine 2 „gut“, eine 3 „befriedigend“, eine 4 „ausreichend“, eine 5 „mangelhaft“ und eine 6 „ungenügend“. Nicht zufällig wird Zensur auch als Synonym für staatliche Überwachung und Unterdrückung – zumeist im Zusammenhang von Veröffentlichungen – benutzt.

Die Sinnverwandtschaft respektive Bedeutungsähnlichkeit der Begriffe „Urteil“, „Note“ und „Zensur“ dürfte also auf der Hand liegen. Interessant hierbei, dass dem Urteil in der Regel ein Vorurteil immanent ist. Dass jemand in der Lage sei, seine Umwelt vorurteilsfrei zu beobachten, kann inzwischen getrost als Ammenmärchen angesehen werden. Vorurteile entstehen bisweilen durch schnelle Schlüsse, regelmäßig durch unhinterfragte Annahmen, religiöse, moralische und kulturelle Vorstellungen. Vorurteile sind nicht nur überaus menschlich, sondern durchaus auch hilfreich, etwa in Situationen, in denen man Unangenehmes erlebt. Sie dienen dem Abbau von Unsicherheit in sozialen Handlungsfeldern und führen zur Entlastung des Urteilenden in Angstsituationen mangels Orientierung. (5) Vorurteile haben eine ähnliche Funktion wie eine Haftpflichtversicherung: sie sichern menschlichen Individuen das Recht auf Unbedachtsein, ein Recht, das niemandem abgesprochen werden darf. Der Mensch mutierte dann zur Maschine. Gewiss bergen Vorurteile auch immense Gefahren, vor allem wenn sie kollektive Ausmaße annehmen. Deutlich wird dies etwa bei Erscheinungen wie Rassismus, Antisemitismus und anderen Ismen. Allerdings: Sich als vorurteilsfrei bei der Beurteilung eines Umstandes zu begreifen, dürfte eine schwere Fehleinschätzung sein, hieße dies doch, sich als objektiv im traditionellen Sinne zu verorten.

Urteile der Schule implizieren in der Regel, sie entstünden unter einem objektiven Aspekt; objektiv steht hier im Gegensatz zu subjektiv. Mit derartigen Phänomenen hat sich unter anderem Niklas Luhmann befasst. Für ihn waren Objektivität und Subjektivität keine Gegensätze, sondern vergleichbare Begriffe in verschiedenartigen Systemen. Demnach ist objektiv, „was sich im Kommunikationssystem (= Gesellschaft) bewährt, subjektiv ist, was sich im einzelnen Bewusstseinssystem (grob gesprochen: im Kopf eines Menschen) bewährt. Bewusstseinssysteme können dann ‚subjektiv das für objektiv halten, was sich in der Kommunikation bewährt, während die Kommunikation ihrerseits Nicht-Zustimmungsfähiges als subjektiv marginalisiert’.“ (6)

Die chilenischen Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela führen aus: „Dies ist wie eine Gratwanderung. Auf der einen Seite droht die Gefahr, dass wir kognitive Phänomene unmöglich verstehen können, wenn wir eine Welt von Objekten annehmen, die uns informieren, da es in der Tat keinen Mechanismus gibt, der solch eine ‚Information’ möglich macht. Zur anderen Seite eine andere Gefahr: das Chaos und die Willkür der Nicht-Objektivität, in der alles möglich erscheint. Wir müssen lernen, auf der Mittellinie zu bleiben, auf dem Grat selbst zu wandern (7) … und vermeiden, in eines der Extreme – das repräsentationistische (Objektivismus) oder das solipsistische (Idealismus) – zu verfallen.“ (8) Maturana spricht einerseits von einer „Objektivität ohne Klammern“; hierbei werde eine beobachterunabhängige Existenz der Objekte vorausgesetzt, die erkannt werden könne. Er versteht hierin eine „fraglose, auf Unterwerfung zielende Gültigkeit“. (9) Dies führe zu einer Negierung all derjenigen, die den „objektiven“ Feststellungen nicht zustimmten. Alternativ dazu beschreibt er eine „Objektivität in Klammern“: „Das Sein konstituiert sich durch das Tun des Beobachters.“ (10) Folge man diesem Erklärungswege, werde einem bewusst, dass man sich nicht im Besitz der Wahrheit befände. Vielmehr erkenne man, dass es zahlreiche mögliche Realitäten gebe. Jede dieser Realität sei legitim und gültig, wenn auch nicht in gleichem Maße wünschenswert. Im Gegensatz zur „Objektivität ohne Klammern“ verzichte man bei der „Objektivität in Klammern“ auf die Unterwerfung anderer, man höre zu, wünsche die Zusammenarbeit, suche das Gespräch und wolle herausfinden, „unter welchen Umständen das, was der andere sagt, Gültigkeit besitzt. Als wahr erscheint eine Aussage dann, wenn sie den Validitätskriterien des jeweiligen Realitätsbereichs genügt.“ (11) Objektivität schafft eine Realität, (Objektivität) in Klammern erzeugt viele Realitäten. Des Weiteren erläutert Maturana, warum er sich für diese Definition entschieden hat, ergo den Begriff „Subjektivität“ in diesem Zusammenhang vermieden hat, da jener geeignet sei, eine berechtigte Annahme abzuwerten. Dahinter stecke die Idee, andere mögliche Sichtweisen anzubieten. Paul Watzlawick ergänzt, dass weiterhin mit „tierischem Ernst und wissenschaftlicher ‚Objektivität’“ Menschen getestet würden. Damit setze man sich gegen die Bedrohungen eines überkommenen Weltbildes zur Wehr. (12)

Gewiss kann man die gegenwärtige Schule nicht mehr mit jener vor den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts existierenden vergleichen. Gerade besagte siebziger Jahre galten als Reformära; vieles wurde verändert. Aber die größten Hindernisse, die diese Versager-Produktionsmaschinerie ausmachen, wurden nicht beseitigt. Somit konnten sich im Grunde auch jene Strukturen erhalten, die bis heute formelles „Versagen“ herstellen. Dazu gehören die unterschiedlichen Formen von Sanktionen, Sitzenbleiben und Urteile – eben das Beurteilen von Kindern und Jugendlichen. Der Begriff „Schüler“ soll nach Möglichkeit vermieden werden, da er die jungen Menschen zu dem macht, was sie in aller Regel dort auch sind: Objekte, die man vergeblich zu formen trachtet. Es vermag einem schon dem Atem verschlagen, festzustellen, die Lehrmetapher vom „Nürnberg Trichter“ aus dem 17. Jahrhundert nach wie vor lebendig, weil angewandt, zu erleben. Diese Methode ging schlicht davon aus, Lernen geschähe durch passive Informationsaufnahme.

Heinz von Foerster (Kybernetiker, Physiker sowie Kognitions- und Perzeptionsforscher) führt eine andere Metapher ein, wenn er von der „Trivialen Maschine“ spricht. Bei dieser imaginären Maschine stellt er eine unbedingte und unveränderliche Relation zwischen Input und Output fest. „Sie ist ausgesprochen zuverlässig, ihre inneren Zustände bleiben stets dieselben, sie ist vergangenheitsunabhängig, synthetisch und analytisch bestimmbar.“ (13) Von Foerster hat – vor allem in der westlichen Welt – die Vorliebe der Menschen beobachtet, alles möge sich so verhalten. Nachvollziehbar: Man möchte, dass sein Staubsauger den kompletten Dreck in seiner Wohnung beseitigt, ist aber gleichzeitig darauf bedacht, dass er nicht die Polster zerreißt. Also gibt es unterschiedliche, bedienbare Komponenten. Die Maschine verhält sich immer auf eine vorauszusehende Art und Weise; das Resultat stellt zufrieden. Wenn nicht, weil es vielleicht einen Defekt hat, „bringen wir es zu einem Trivialisateur“ (14), der das Gerät „wieder trivialisiert“. (15) Mit anderen Worten: Drückt man auf den roten Knopf, wird zu Recht erwartet, dass die rote Lampe leuchtet, drückt man auf den gelben Knopf, leuchtet die gelbe Lampe usw.

In der Schule werden – abhängige – Menschen wie „Triviale Maschinen“ benutzt. Eine Geschichte, die Heinz von Foerster erzählt, soll hier nicht vorenthalten werden: „Ich war einmal bei einer befreundeten Familie zum Mittagessen eingeladen – und der kleine Bub, der von der Schule hätte kommen sollen, kommt und kommt nicht nach Hause. Schließlich erscheint er doch, er weint und sagt: ‚Ich musste nachsitzen! Die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen!’ Wir wollten natürlich von ihm wissen, was denn passiert sei. Er erzählte, dass die Lehrerin ihm gesagt habe, er sei frech gewesen, er habe freche Antworten gegeben. Der kleine Bub: ‚Sie hat mich gefragt, wie viel ist 2 x 3?’ Und ich habe ihr gesagt: ‚Das ist 3 x 2! Alles hat gelacht – und die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen.’ Ich habe diesen kleinen Bub gefragt: ‚Deine Antwort ist völlig richtig, aber kannst du sie beweisen?’ Da nimmt er Papier und Bleistift, zeichnet zwei Punkte und – darüber – drei Punkte. Er sagt: ‚Das ist 3 x 2!’ Und dann dreht er das Papier um 90 Grad und meint: ‚Siehst du, Heinz, das ist 2 x 3!“ Dieser kleine Bub, der sieben Jahre alt war, hat auf die ihm eigene Weise das kommutative Gesetz der Multiplikation bewiesen: A x B ist B x A. Dass die Lehrerin diese Einsicht nicht als großartig erkannte, ist traurig. Sie hatte von ihm erwartet, dass er auf ihre Frage, was ist 2 x 3 ‚sechs’ sagt. Da er dies nicht tat, schien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Das nenne ich Trivialisierung junger Menschen.“ (16) Heinz von Foerster wird gefragt, ob Lehrer mit der „prinzipiellen Nichttrivialität“ ihrer Schüler zu rechnen hätten. Er entgegnet: „Selbstverständlich. Und wenn die Trivialisierung schon erfolgt ist, dann heißt die Aufgabe für die Pädagogik: Enttrivialisierung, auf andere Antworten aufmerksam machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anregen. Man könnte diesem kleinen Bub zum Beispiel zeigen, dass sich eine Zahl auf äußerst vielfältige Weise beschreiben lässt. Wenn die Lehrerin die gewünschte Antwort „sechs“ erhalten hätte, könnte sie weiterfragen: ‚Was ist sechs?’ Mögliche Antworten sind: Sechs ist die Wurzel aus 36, sechs ist 5 + 1 und 8 – 2, 6 ist 2 x 3 und 3 x 2.“ (17) Irgendwie erinnert diese Geschichte an die Empörung von Lehrern über Kinder, die niemals eine Kuh gesehen haben, aber glauben, die Kuh sei lila.

Kinder wie „Triviale Maschinen“ zu behandeln kann dem Auftrag der Bildung und Förderung lebendiger Organismen in keiner Weise gerecht werden, wie wir sehen konnten. Aus einem solchen Fehlverhalten obendrein noch die Kompetenz ableiten zu wollen, die Resultate zu beurteilen, kann im Grunde nur zu dem Desaster führen, das wir vorfinden. Dies kann beispielsweise durch die Zahl von 250.000 Kindern und Jugendlichen dokumentiert werden, die bundesweit jährlich eine Klasse wiederholen. Die Kommission „Jugendarbeit und Schule“ der AGOT-NRW (18) stellt fest, dass allein für Nordrhein-Westfalen bei durchschnittlichen Kosten von 4.800 Euro pro Kind oder Jugendlichem in der Schule eine Reduzierung von 10.000 Nichtversetzten ein finanzielles Förderpotenzial von 48 Millionen Euro oder 1.200 Lehrerstellen ergebe. (19) Die Kommission zitiert Klaus-Jürgen Tillmann: „Addiert man die Zahl für Zurückstellungen, Sitzenbleiben, Schulformwechseln und Sonderschulüberweisungen, so ergibt sich eine erschreckende Schätzung: Mehr als 40 Prozent aller Schüler/innen machen zwischen der ersten und der zehnten Klasse mindestens einmal die Erfahrung, von ihrer Lerngruppe aufgrund angeblich mangelnder Fähigkeiten ausgeschlossen zu werden.“ (20) SPIEGEL ONLINE fragt, ob Sitzenbleiben nicht „verplemperte Zeit“ und die 1,2 Milliarden Euro, die es bundesweit jährlich nach Angaben der GEW verschlingt, nicht sinnlos „verpulvertes Geld“ seien. Laut Angaben des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm, der ausgeht von einer Größe von 850 Millionen Euro, die Sitzenbleiben bundesweit kostet, in diesem Zusammenhang 16.500 Lehrerstellen durch die Wiederholer gebunden sind. (21) In dem Bericht heißt es ferner, Sitzenbleiben stempele Jugendliche zu Versagern. Der volkswirtschaftliche Schaden ist, wenn man den angeführten Fakten folgt, immens; das individuelle Leid und die biografischen Folgeschäden unübersehbar.

Die AGOT-Kommission Jugendarbeit und Schule stellt fest: „Es gibt eine dramatische Anzahl von Klassenwiederholungen, Zurückstellungen, Überweisungen und Abschulungen. Das selektive Schulsystem mit seinen angeblich homogenen Gruppen produziert … zu viele Kinder und Jugendliche, die in der Schule scheitern und als Opfer des Systems nachhaltig die Leidtragenden sind. Zudem bringen Klassenwiederholungen, auch belegt nach PISA, nichts.“ (22) Als weiteren „Fakt zur Bildungswirklichkeit“ führt die AGOT-NRW Jugendliche ohne Schulabschluss an. Für Nordrhein-Westfalen bedeutet dies, dass nach Beendigung des Schuljahres 2004/2005 14.691 (= 5,2 Prozent) junge Leute keinen Hauptschulabschluss erreichten. Weitere 13.566 (= 4,8 Prozent) schafften lediglich den Hauptschulabschluss der neunten Klasse. Überproportional betroffen sind hier vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund. Zum Aspekt der Schulabschlüsse stellt die AGOT fest: „Es gibt eine große Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss. Diesen Jugendlichen … wird die Zukunft verstellt und das Grundrecht auf freie Berufswahl vorenthalten.“ (23) Vor genannten Hintergründen scheinen auch die seit Jahren zu beobachtenden „Phänomene“ Schulmüdigkeit und Schulverweigerung erklärbar. Hierin sieht die AGOT-NRW ein Armutszeugnis für das System. Sie konstatiert: „Der große Bedarf an Maßnahmen für Schulmüde zeigt, dass Schule es nicht schafft, junge Menschen angemessen zu fördern. Viele dieser jungen Menschen, die in dieser Förderung unterstützt werden müssen, haben vorher Akzeptanz und Teilnahme an ihrem Leben als Schülerinnen und Schüler nicht erfahren.“ (24)

Dem Sitzenbleiben, dem verpassten Schulabschluss, der Schulmüdigkeit und der Schulverweigerung voraus geht eine entsprechende Beurteilung durch „Lehrkräfte“. Verwiesen sei hier noch einmal auf das bereits erwähnte Ziffernnotensystem. Aber: Ein Urteil, eine abschließende Bewertung scheint mir in diesem Zusammenhang einfach nicht möglich zu sein. Und: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (25) Wie kommen denn mit den üblichen Methoden Bewertungen zustande? Es werden Klausuren geschrieben, Hausaufgaben gestellt und beurteilt. Ebenso fließt in die Beurteilung ein, wie sich das einzelne Kind oder die/der einzelne Jugendliche in den Unterricht einbringt. Eine Zensur kann somit immer nur Abbild einer Momentaufnahme sein; völlig unmöglich, sämtliche Faktoren, die den Augenblick bestimmen, auch nur annähernd zu bewerten, etwa das persönliche, gesundheitliche und psychische Befinden des Individuums, seine familiäre Situation, Einflüsse, die im sozialen Umfeld aktuell wirken und vieles andere mehr. Es sollen hier keine Zweifel darüber gestreut werden, dass Menschen sich bezüglich ihrer jeweiligen Kompetenzen unterscheiden. Mir ist allerdings selten jemand begegnet, dessen Kompetenzen nicht förderungsfähig erschienen.

Heinz von Foerster äußert ganz klar, wie beschrieben ginge es nicht: „Das funktioniert nicht. Meine Auffassung ist, dass man niemals wissen kann, was der Schüler weiß. Da dieser Schüler ein nichttriviales System ist, muss er als analytisch unzugänglich gelten. (26) Ich behaupte, dass diese Prüfung sich selbst prüft. Mein diesbezügliches Theorem lautet: ‚Tests test tests.’“ Um seine Überlegungen verständlich zu machen, wartet von Foerster mit einem Beispiel auf; dieses stammt von Alan Turing, seiner Meinung nach einer der genialsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Turing ging der Frage nach, ob Maschinen denken könnten, ob es künstliche Intelligenz gebe. Um dies herauszufinden, entwickelte er den Turing-Test. Von Foerster hält diesen für das Urparadigma eines Tests. Wie dies funktioniert, beschreibt er folgendermaßen: „Man stelle sich vor: Da ist ein kleines Theater mit einem roten Samtvorhang. Und hinter dem Vorhang befindet sich eine nicht näher bekannte Entität. Vor dem Vorhang sitzen mehrere Gelehrte mit Zwickern, Brillen und langen Bärten. Diese Gelehrten dürfen jetzt dem Etwas, dieser Entität Fragen stellen. Nach einiger Zeit werden sie sagen, dass sich hinter dem Vorhang eine Maschine oder ein Mensch befindet oder dass diese Frage unentscheidbar ist.“ (27) Von Foerster macht deutlich, hier werde nicht die eventuelle Intelligenz getestet; vielmehr prüften sich die Gelehrten selbst. „Sie testen sich selbst, ob sie in der Lage sind, einen Menschen von einer Maschine zu unterscheiden. Und wenn ihnen dies nicht gelingt, dann sind sie eben durchgefallen. Meine Behauptung, die ich hier vertrete, lautet, dass im Grunde genommen die Prüfer geprüft werden – und nicht die Entität, die hinter dem Vorhang sitzt und brav auf die Fragen Antworten gibt. Also nochmals: ‚Tests test tests’.“ (28)

Demzufolge sei ein gutes Schulzeugnis ein Beleg für eine geglückte Trivialisierung: „Wenn man wirklich immer – klick, klick, klick – die gewünschten Antworten gibt, dann kriegt man gute und hervorragende Noten, das ist alles. Einer meiner Studenten, ein Computerwissenschaftler, hat einmal ein sehr lustiges Programm erfunden, das man zur Abfassung von Diplom- und Doktorarbeiten verwenden kann. Dieses Programm konstruiert aus den Lieblings- und Schlüsselwörtern des jeweiligen Professors, die man sich in den Vorlesungen notieren muss, zahllose wohlgeformte Sätze. Natürlich muss man, wenn man dieses Schreibprogramm verwendet, hervorragende Noten bekommen. Das ist der ganze Trick.“ (29) (30) Üblicherweise habe man von einem Lehrer die Vorstellung, dieser wüsste alles, die Kinder hingegen nichts. In diesem Sinne wäre Lernen als die schrittweise Beseitigung von Unwissen zu begreifen. Hierbei werde Unwissen als schlechter Zustand verstanden. Gleich einem Alchimisten verwandele der Lehrer Eisen zu Gold. „Die Schüler erscheinen, wenn man von dieser sehr alten lerntheoretischen Metapher einer schrittweisen alchimistischen Transformation ausgeht, als billiges Material, das über verschiedene Stufen in ein besseres, edleres und wertvolleres verwandelt werden muss.“ (31) Folglich – so der allgemeine Glaube – sei das Zaubermittel, das diese Schülertransformation einleite, das Wissen. Von Foerster grenzt sich gegenüber der Idee von Wissensvermittlung ab. Seiner Meinung nach lässt sich Wissen nicht vermitteln, vielmehr müsse Wissen von den Menschen selbst generiert werden. Da komme es im Wesentlichen darauf an – eine potenzielle Aufgabe für die Schule! –, Umstände zu organisieren, in denen Prozesse der Generierung und Kreation ermöglich werden. „Das Bild des Lernenden wird auf diese Weise ein anderes. Er ist nicht mehr passiv, er ist keine leere Kiste, kein Container, in den eine staatlich legitimierte Autorität (ein Lehrer oder ein großer, weiser Professor) Fakten und Daten und seine enorme Weisheit hineinfüllt … Der Lernende erscheint aus einer solchen kognitions- und perzeptionstheoretischen Perspektive als aktiver Konstrukteur; er ist es, der sich das Wissen erarbeitet.“ (32)

Dementsprechend ist es sinnvoll, weil Erfolg versprechender, junge Leute ganz deutlich als Lernende (von Foerster: Perzipierende, Kognitoren) und nicht länger als zu Belehrende zu begreifen und ernst zu nehmen. Der Frankfurter Professor Gerold Scholz ergänzt: „Im Sinne von Verstehen, also dass Kinder etwas verstehen sollen, sind sie nicht belehrbar. Sie können nur selber lernen. Das heißt, ich kann Situationen herstellen, in denen Kinder etwas lernen können. Das ist auch meine Aufgabe. Und ich habe auch die Aufgabe, innerhalb dieser Situation zu agieren. Ich gucke nicht nur einfach zu. Aber jeder Versuch, sie zu belehren, ohne dass sie ihre eigenen Vorstellungen mit dem, was an neuen Konzepten angeboten wird, in Verbindung zu bringen, ohne sich damit auseinandersetzen zu können, bedeutet, dass sie es schlicht nicht begriffen haben.“ (33)

Wie Scholz ebenfalls anführt, vertritt auch von Foerster nicht die Position, sich herauszuhalten und einfach nur zuzusehen. Für Lehrerinnen und Lehrer allerdings sei es hilfreich, ihre vermeintlich überlegene Position aufzugeben. Vielmehr sollten sie die Haltung einer „sokratischen Ignoranz“ einnehmen nach dem Motto: Ich weiß, dass ich nichts weiß! Dieses allerdings sei etwas anderes als eine Haltung der fundamentalen Ignoranz, deren Devise lautet: Man weiß noch nicht, dass man nichts weiß. Ein sokratischer Nichtwisser, der wüsste, dass er nichts weiß, zöge eine vernünftige Konsequenz, er begänne nämlich zu forschen. Lehrerinnen und Lehrer würden in diesem Sinne zu Forschern, die Kinder und Jugendlichen ebenso. Die Ebene wäre dann: Junge Leute und Erwachsene würden zu kooperierenden Mitarbeitern, „die gemeinsam – ausgehend von einer sie faszinierenden Frage – Wissen erarbeiten. Es entsteht … eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens und Forschens. Man weckt die Neugierde und die Empathie, regt zu eigenen Gedanken an, serviert nicht irgendwelche fertigen Resultate, sondern Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit und des wechselseitigen Entzückens werden. Jeder stützt sich auf die Kompetenzen des anderen; das Zittern vor der Allwissenheit einer einzigen Person hat ein Ende.“ (34) Wie viel Befreiendes dürfte eine solche Haltung für Kolleginnen und Kollegen, die sich in der überkommenen unterrichtlichen Praxis nicht selten erfolglos abstrampeln, haben!

Bernhard Pörksen weist darauf hin, Lehrerinnen und Lehrer könnten eine solchermaßen neu definierte Rolle möglicherweise nicht besonders attraktiv finden. Er bezieht sich dabei unter anderem auf eine Untersuchung aus Deutschland zur Interpretation von literarischen Texten. In dieser Untersuchung wurde deutlich, dass „das Dogma von der einen, der einzigen und wahren Bedeutung eines Textes aus einer empirischen Perspektive einfach unhaltbar ist“. (35) Gleichwohl könne festgestellt werden, dass trotz dieser Erkenntnis Schulen und Lehrer/innen an einer Veränderung des Unterrichts normalerweise überhaupt kein Interesse hätten – vermuteter Anlass: Die Interpretationshoheit zur Disposition zu stellen, könne zu einem Verlust an „Deutungsautorität“ und „Macht“ führen. (36) In diesem Zusammenhang führt von Foerster an, die meiste Zeit im Unterricht werde darauf verwandt, „illegitime Fragen“ zu stellen und Antworten „einzufordern“. Er definiert eine Frage dann als illegitim, wenn die Antwort darauf bereits bekannt ist. „Wenn ein Lehrer diesen Typ von Frage stellt, dann ist das doch eine Schweinerei und Gemeinheit, denn er kennt die Antwort ja schon. Legitime Fragen sind dagegen echte Fragen: Für sie existiert noch keine fertige Antwort.“

Wenn bereits beantwortete Fragen illegitim sind, müssen es auch die bürokratisch vorbereiteten und politisch abgesegneten Lehrpläne sein, illegitim, weil eine Bürokratenclique ihre ureigene Weltsicht festlegt, von einer fachlich offenbar ahnungslosen bzw. ignoranten Politik durchgewinkt.

Lehrpläne zwingen Lehrerinnen und Lehrer in ein Korsett, das ihnen die Luft eng werden lässt. Spätestens wenn diese im „Apparat“ angekommen sind, zwängen sie sich in jenen hinein; wenn nicht – so hört man –, werden sie oftmals „kollegial“ dazu gezwungen. Dieser Normierungszwang könnte im Übrigen der Grund sein, weshalb nach wie vor die meisten Lehrer Beamte sind. Ich vermag deren hoheitliche Aufgaben nicht zu erkennen. Sollte eine Schule eine siegelführende Instanz sein, bei der ich mir meine Fotokopien aus irgendwelchen Zwecken beglaubigen lassen kann, würde es meines Erachtens ausreichen, den Rektor oder den Hausmeister zum befristet ernannten Beamten zu machen, damit er mir meine Kopien amtlich anerkennen kann. Das Handeln in der Schule im Sinne von Bildungsförderung wie Pädagogik überhaupt schließt in diesem Sinne hoheitliche Aufgaben geradezu aus; schon allein deshalb, da sich illegitime Fragen verbieten. Pädagogik unterliegt immer wieder auftauchender Irrtümer; obendrein ist sie massiv an ihrer Verbreitung beteiligt. Sollte Bildung vor allem unter Einbeziehung von „Fehlerfreundlichkeit“ gefördert werden, so müsste ein verbeamteter Lehrer in der Rolle eines Geburtshelfers zugleich die des Totengräbers spielen.

Unterstützt wird der Autor auch durch den Psychologen Peter Lauster; dies in Form seiner „Entlarvung von Lebenslügen“, die er erstmalig bereits 1976 veröffentlicht hat. (37) Entschieden widerspricht er der Auffassung, Intelligenz sei wichtiger als Gefühl. Genau dieser Auffassung sei die Schule aber immer mehr untergeordnet worden. Selbst die Eltern seien inzwischen auf diesen Kurs eingeschwenkt. Sie seien kaum noch davon zu überzeugen, dass Kinder durch Spielen, eine ihnen im Grunde ureigene Tätigkeit, gefördert werden müssten als vielmehr durch das Vermitteln von Fakten – deren auswendig gelerntes Abfragen dann zur Bewertung führe. „Überschätzung der Intelligenz“ nennt Lauster dies. Er dokumentiert ein Gespräch, das er mit einem Vater führte, der darauf insistierte, dass die Tochter nach erfolgreichem Studium die elterliche Apotheke übernehme. Jene Tochter hatte bereits vor dem Abitur und dem anschließend kaum erreichbaren Numerus Clausus „Lernstörungen“ – familiäre Ziele waren bedroht. Lauster zufolge waren die „Lernstörungen“, die sich in diesem System in Noten reflektieren, kein Manko der Tochter, sondern vielmehr eines des „konventionellen Schulsystems“. (38) Dies bestritt der Vater gegenüber dem Psychologen heftig. Grundsätzlich sprach er seiner Tochter den Wunsch nach Freiheit und Zwanglosigkeit ab. Niemand könne im Berufsleben erfolgreich sein, wenn er nicht Disziplin, Ordnung, Ausdauer und Fleiß eingebimst bekäme. Interessant die Reaktion des Psychologen darauf, vertrat er doch die Meinung, gerade die Härte der Fremdbestimmung sei es, die Tochter mit Lernstörungen rebellieren zu lassen, sie also aus gesundheitlicher Sicht völlig normal reagiere. „Die Intelligenzentfaltung ist zu einem Faktor des Lebenserfolgs degeneriert, der nur um seiner selber willen zählt. Die psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität werden dafür aufs Spiel gesetzt. So weit geht die Tyrannei der äußeren Verhältnisse über die Psyche.“ (39) Und weiter referiert Lauster: „Vor allem Kinder aus der Unterschicht (40) haben mit diesem Problem zu kämpfen, denn sie bringen nicht die erforderliche psychische Ausgeglichenheit mit und fallen deshalb in ihren Intelligenzleistungen ab. Ihre störenden psychischen und emotionalen Probleme sind schichtspezifisch bedingt. Nicht die Emotionen sollten deshalb abgeschafft werden, sondern die sozialen Verhältnisse, die emotionalen Konflikte und psychische Schwierigkeiten erzeugen. Der Umgang mit Emotionen wie Angst, Wut, Schuldgefühlen, Freude und Lust wird in unserer modernen Industriegesellschaft nicht gelernt. Die Intelligenz wird einseitig gefördert, die Emotionalität wird dagegen sich selbst überlassen.“ (41) Neben seiner Forderung, die Schule damit zu beauftragen, erst einmal das Zulassen von Emotionalität zu üben, kritisiert er, das Schulsystem sei vielmehr damit beschäftigt, entwicklungsförderliche Methoden zu verdrängen oder bewusst nicht zuzulassen.

Steht die Kultusbürokratie unter dem Kuratel des kapitalistischen Systems? Angesichts ihrer Ignoranz kann man ernsthaft zu keinem anderen Schluss kommen. Neue Experimente – auch der Verzicht auf Zensuren (Urteile) – geraten in den Ruch der Gefühlsduselei, und Sentimentalität. Genau dies führt laut Peter Lauster zu einem Abwehrmechanismus bei Kindern und Jugendlichen, der sie mit vermeintlichem Versagen reagieren lässt; vermeintlich, weil vom System selbst konstruiert.

Lauster konstatiert, die freie Lernentfaltung werde abgeblockt. Lernende müssten sich an den Lernapparat anpassen, nicht der Lernapparat an die Lernenden. Schulmodelle, wie die Glockseeschule in Hannover – und wir fügen hier noch den völlig unverständlichen „Dauer-Versuch“, die Laborschule in Bielefeld (42) ein –, die ohne Angst, Schuldgefühle und Fremdbestimmung nach eigener Selbstentfaltung lernen könnten, würden als „Utopien“ verunglimpft und nicht ernst genommen, „weil hier das Lernen spielerischer und freier geschieht als auf den traditionellen Unterdrückungs- und Ausleseschulen.“ (43) Für Lauster ist Schule ein teuer erkaufter Nachhilfeunterricht und „gnadenloser Lernkampf um den eigenen Vorteil gegen die Mitschüler in einem gnadenlosen pädagogischen Auslesesystem. Aus der pädagogischen Aufgabe der Förderung ist ein darwinistischer Wettkampf um Noten … geworden.“ (44) Das Konkurrenzstreben, zu dem dies führe, erzeuge ein Verhalten, das „eiskalt, knallhart, distanziert unterkühlt“ (45) Er forderte bereits 1976 psychische Gesundheit, Ethik, Persönlichkeit und Kreativität ein. Und wie präsentiert sich die Schule heute? Als nach wie vor hoheitlicher Apparat, den man wegen bestehender Schulpflicht besuchen muss, selbst wenn es bessere Alternativen gäbe, die fördern und nicht be(ver)urteilen. Schule ist Exekutive, hoheitliche.

Hoheitliches – und hier ist durchaus die exekutive Gewalt des Staates gemeint – behindert in der Regel die meisten Formen von Kreativität. Wie wir gesehen haben, können aber nur Kreativität, Phantasie, Eigenverantwortung und Kooperation als Eigenschaften und Haltungen den pädagogischen Bemühungen zum Erfolg verhelfen. Der Lehrplan gibt vor, was ein/e Jugendliche/r zu wissen hat und können muss. Er gibt dies in einer beängstigend atemberaubenden Weise vor. In einer dem Menschen artfremden Homogenität muss jedes Kind zu einem vorgeschriebenen einheitlichen und verbindlichen Zeitpunkt all jene Kompetenzen erworben haben, die die Exekutive in Form der Kultusminister und ihrer Bürokraten für sinnvoll befindet. Junge Leute verlassen dann diese „Versager-Produktionsmaschinerie“ Schule mit den entsprechenden Noten. Sollte ein Nicht-Versager das Zertifikat namens Abschlusszeugnis in Händen halten, will möglicherweise die nächste Hürde in Form eines so genannten Numerus Clausus genommen sein. Auch hier verhindern illegitime Maßnahmen oftmals solche Ziele, die sich junge Menschen vorzunehmen gedachten. Lehrpläne in den bestehenden Formen sind illegitim, da sie kindlichen und jugendlichen Forscherdrang nicht unterstützen, sondern boykottieren und in der Folge bekämpfen. Die „einzig richtigen Antworten“ haben die Bürokraten ja bereits gegeben.

Zum mehrgliedrigen Schulsystem mit all seiner Disfunktionalität ist vermutlich alles gesagt und dokumentiert worden. Die politisch Verantwortlichen halten gleichwohl daran fest. Deshalb wird es hier lediglich exemplarisch kurz erwähnt; dies am Beispiel der „Sonderschule“. Im Zuge der bereits erwähnten Schulreformen in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man „plötzlich“ Sonderschulen und nicht mehr die bis dahin existierenden Hilfsschulen. Nach wie vor beeindrucken die Qualifikation und die Reflexion mancher Lehrerinnen und Lehrer, die an diesen „Instituten für Chancenlose“ arbeiten. Jetzt gibt es sie wieder, die „gute alte Hilfsschule“. Politische Korrektheit hat allerdings dazu geführt, Hilfsschulen nunmehr Förderschulen zu nennen. In jenem positiven Sinne, wie es beabsichtigt war, bedeutet Förderung nämlich Hilfe. (46) Ebenfalls kein Zweifel soll gestreut werden an dem Engagement der „Sonder“-Pädagogen“, die sich dort in löblicher Weise um die Kindern und Jugendlichen bemühen.

Nur: Welche Chancen hat man denn, wenn man ein Zeugnis – eine Beurteilung – einer Förderschule abgibt, etwa bei der Bewerbung um eine Lehrstelle? Das Zeugnis mag noch so gut sein, perspektivische Aussichten und Möglichkeiten werden mit dem Abschluss an einer solchen Schule „automatisch“ verbaut. Und das Fatale: (Lern- oder sonst wie) behindert sind die Absolventen dieses Schultyps vermutlich überhaupt nicht! Sie sind wahrscheinlich schlicht unter die Räder einer förderungsunfähigen (Regel-)Schule geraten. Bestätigt wird diese Einschätzung aktuell durch die Dissertation von Brigitte Schumann, die im Besuch einer Förderschule ein stilles Drama programmierten Scheiterns sieht. (47) „Die beste Image-Kampagne ändert nichts daran, dass Jugendliche aus der Sonderschule mit ihrem Abschluss am Arbeitsmarkt Null Chancen haben“, so Brigitte Schumann. (48) Sie dokumentiert, gerade 2.650 der rund 10.000 Schulabgänger hätten 2004 den Hauptschulabschluss Klasse 9 geschafft, 551 (5,4 Prozent) den der Klasse 10 und 81 (0,8 Prozent) die Fachoberschulreife. 7.002 junge Männer und Frauen (68 Prozent) verließen die Förderschule ohne Abschluss. (49) Brigitte Schumann gelangt zu der Erkenntnis, der Schonraum, in dem die jungen Leute ihre individuellen Potenziale entwickeln sollen, überhaupt nicht funktioniere. Vielmehr führe er sie in die soziale Isolation. So genannte Lernbehinderte stammten ferner zu 90 Prozent aus sozial schwachen Familien, zwei Drittel seien überdies Jungen und Migrantenkinder besuchten doppelt so häufig die Förderschule wie deutsche. Gerade mal acht Prozent als Lernbehinderte Klassifizierte besuchten in Nordrhein-Westfalen eine Regelschule. Je länger dem ungeachtet Kinder in einer Sonderschule sind, desto ungünstiger entwickelt sich ihre Intelligenz und ihr Lernverhalten. Brigitte Schumann stellt unter dem Strich bei den „Sonderschüler/innen“ und deren Eltern ein extremes Leiden an diesem Status und in der Folge eine große Scham hierüber fest: „Wer sich aber klein und erbärmlich fühlt, kann gar nicht richtig lernen. Das muss aufhören, ganz schnell.“ (50) Man könnte geneigt sein, zum Trost sarkastisch hinzuzufügen, dass eine Eins der Hauptschule ist inzwischen ebenso fast wertlos ist.

Vielleicht gelingt es, zu der Einsicht beitragen zu können, dass Zensuren illegitime Beurteilungen sind, da sie in der Regel auf illegitimen Fragen fußen. Bewertet wird beispielsweise mit „gut“, „mittelmäßig“ oder „schlecht“ das geäußerte Wissen auf Fragen, wann beispielsweise Karl der Große zum letzten Mal an Diarrhö litt. Wer erinnert sich nicht an die Kolonnen von hunderten von Geschichtszahlen, die auswendig gelernt werden mussten, um sie anschließend herunterzubeten. (51) Die Basis von Lehrerurteilen fußt in aller Regel auf informellen Leistungsproben und beiläufigen Beobachtungen. Dies zumindest stellt eine wissenschaftliche Expertise der Universität Siegen fest. (52) Vorsichtig äußern die Experten, darauf basierende Bewertungen hätte lediglich eine eingeschränkte Validität. Sie merken an, verschiedene Lehrer/innen bewerteten nach unterschiedlichen Kriterien; ebenso orientierten sie sich an diversen Schwellenwerten. Sie vertreten die Einschätzung, Ziffernnoten seien ebenso problematisch wie verbale Beurteilungen, auf die wir an späterer Stelle noch zu sprechen kommen. Die Siegener Expert/innen berichten, dass bereits 1949 ein Deutschaufsatz völlig unterschiedlich bewertet wurde, vor allem, dass für ein und dieselbe Arbeit sämtliche Ziffern von 1 bis 6 vergeben wurden. Dieses „Phänomen“ wurde in Siegen weiter untersucht, die Ergebnisse waren vergleichbar. Man trennte sich in der Untersuchung ferner vom Deutschaufsatz, da man diesen „als besonders anfällig für subjektive Einschätzungen“ befand und gelangte bei Leistungen in anderen Fächern gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen. Jede/r beurteilt, wie es gerade kommt.

Eine Bestätigung über die Unmöglichkeit, objektiv zu urteilen, erhalten wir auch von Jean Piaget. Er zweifelt nicht an der Existenz eines Objekts – hier ein Kind oder Jugendlicher; (53) man entdecke seine Eigenschaften allerdings nur durch sukzessive Annäherung, denn: erreichen würde man das Objekt nie, „weil man dazu wohl eine Unendlichkeit von Eigenschaften entdecken müsste, von denen eine große Anzahl verborgen bleibt.“ (54)

Es geht somit nicht um schlechte Bewertungen; es geht um Bewertungen generell. Horst Bartnitzky hält den Glauben an die gerechte Note ebenfalls für einen Irrglauben; Gerechtigkeit und Objektivität stellen sich für ihn als Mythos dar. Er verweist darauf, dass dies seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesen sei. Interessant auch sein Hinweis darauf, dass Mädchen wohlwollender beurteilt werden als Jungen, „aggressive“ Jungen schlechter als stille, selbst wenn ihre Leistungsergebnisse gleichgesetzt werden können. (55)

„Schlechte“ Noten führen Kinder überdies in einen geradezu krankmachenden Circulus vitiosus; sie entmutigen und verhindern weitere Bemühungen. Solcherart Stigmatisierte gelten als unfähig, zunächst der Gruppe gegenüber; später glauben sie das auch von sich selbst. Jegliche Motivation ist dahin. „Die Angst vor Misserfolg erzeugt die nächsten Misserfolge.“ (56) „Sehr gute“ und „gute“ Beurteilungen können leicht zur Saturiertheit führen. In einer solchen Selbstzufriedenheit steckt beispielsweise die Gefahr, sich nicht weiter zu engagieren. Und was bedeutet „befriedigend“? Horst Bartnitzky zieht eine Parallele: Man solle sich vorstellen, man ginge zur Vorsorgeuntersuchung zum Arzt. Dieser würde als Ergebnis „befriedigend“ feststellen. Wäre man zufrieden? Höchstwahrscheinlich nicht!

Ein Vergleich von Kindern untereinander wirft noch ein weiteres Problem auf. Bereits Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) hat darauf hingewiesen. An den von ihm gegründeten Schulen gab es zu Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst keine vergleichenden Leistungsbewertungen, wohingegen andere Schulen zeitgleich damit begannen. Pestalozzi wollte nicht, dass Kinder miteinander verglichen würden; die Leistungen eines Kindes sollten allein an seinen eigenen Kräften und Anlagen gemessen werden. (57) Heutzutage ist eine „gute“ Note um so „mehr wert, je weniger Kinder sie haben. Es geht nicht nur um die Note, sondern auch um die Verteilung der Noten in der Klasse. Viele Eltern möchten deshalb gern den Klassenspiegel sehen. Dieser Vergleich der Kinder miteinander macht auf Dauer die Klasse zum Kampfplatz. Statt Team-Geist zu entwickeln, entsteht im Klassenraum eine Ellenbogen-Gesellschaft.“ (58) Man stelle sich den Druck vor, den ein Kind verspüren muss, wenn es beispielsweise als „zweit- oder drittbestes“ „gehandelt“ wird. Nicht der Beste zu sein, mag möglicherweise als Motivationshemmnis wirken; vom Sport her kennt man den so genannten „Verweis auf die Plätze“. Was aber geschieht mit einem Kind, das vielleicht das „beste“ war, und, aus welchen Gründen auch immer, „absackt“? Solche Phänomene sind nicht selten bei Pubertierenden zu beobachten. So kann der Status als ehemaliger „Klassenbester“ zu einer wahren Crux werden. Was ist mit dem „Zweitschlechtesten“? Zumindest hat er gute Gründe, den Schlechtesten für einen großen Versager zu halten. Bartnitzky zufolge verschiebt sich durch die Bewertung junger Menschen unter dem Strich das Ziel der Schule „vom Lernen der Sachen hin zum Lernen wegen der Noten.“ (59)

Nicht selten sieht man sich beim Infragestellen von Zensuren der Reaktion ausgesetzt, stattdessen es müsse stattdessen andere Bewertungen geben, etwa schriftliche Berichte. Darin spürt die Berliner Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. berechtigterweise einen weiteren Mythos auf. Für sie ist nicht die Frage, wie, sondern warum überhaupt bewertet werden soll. K.R.Ä.T.Z.Ä. bestätigt einmal mehr die von Horst Bartnitzky vertretene Position „zum Lernen wegen der Noten“; man stelle eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf: „Wieviel muss ich wissen/tun, um eine gute Zensur zu bekommen?“ Bewertung wird von K.R.Ä.T.Z.Ä. als Bestechung und Erpressung klassifiziert, die Aufmerksamkeit werde vom Lerninhalt weg auf eine mögliche Belohnung gelenkt. „Zensuren, Lob, Bienchen usw. sollen motivieren, heißt es. Dabei wird aber völlig übersehen‚ dass es einen entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen innerer und äußerer Motivation gibt – zwischen einem Interesse an dem, was man lernt um dieser Sache willen, und einer Vorstellung, in der Lernen als ein Mittel zum Zweck gesehen wird, wobei der Zweck darin besteht, Bestrafung zu vermeiden bzw. eine Belohnung zu erhalten. Nicht nur, dass diese beiden Orientierungen verschieden sind, sie wirken oft sogar in entgegengesetzte Richtungen“, (60) zitiert K.R.Ä.T.Z.Ä. den amerikanischen Schriftsteller Alfie Kohn, der sich intensiv mit den destruktiven Wirkungen von Konkurrenz und Wettbewerb auseinandergesetzt hat.

Plausibel resümiert K.R.Ä.T.Z.Ä.: „Bewertung setzt Kontrolle voraus, die in jedem Fall ein Eingriff in die Privatsphäre des Schülers ist. Ob, wann und in welcher Form bewertet werden soll, soll deshalb nur jeder Schüler selbst entscheiden. Zeugnisse und Bewertungsdokumente jeder Art ignorieren, dass Menschen sich auch nach Erhalt ihres letzten Zeugnisses ändern. Dies trägt dazu bei, dass andere sich Vor- bzw. Fehlurteile anhand des vor Jahren festgeschriebenen Erscheinungsbildes in der Schule bilden, welches wiederum keineswegs objektiv ist. Dieser Umstand kann zu einer lebenslangen Brandmarkung als beispielsweise „leistungsunfähig“ führen. Schon aus Gründen des Datenschutzes, der informationellen Selbstbestimmung, sind wir gegen Zeugnisse. Normalerweise merkt man doch, ob man eine Sache schon gut kann, man sich darin sicher fühlt. In den Fällen, in denen man überhaupt nicht das Gefühl hat, sich selbst einschätzen zu können, kann man ja andere fragen, was sie z.B. von den eigenen Singkünsten oder von der Qualität eines selbstverfassten Textes halten. Wichtig ist, dass sich dabei jeder bewusst ist, dass diese Einschätzung zwangsläufig subjektiv ist, aber man selbst die Ansprüche der anderen Person nicht teilen muss. Die Äußerung des anderen ist nicht mehr als eine Meinung! So läuft das im alltäglichen Leben, und so sollte es auch in der Schule sein. Wenn ein Schüler ein Feedback haben will, kann er einen Lehrer oder Mitschüler fragen. Wenn er keines will, sollte er in Ruhe gelassen werden. Da dieses Feedback eine persönliche Information des Lehrers (oder auch eines Schülers) an den Schüler ist, wird sie auch nirgendwo dokumentiert. Für Zeugnisse gibt es keine Rechtfertigung mehr. Auch die Eltern können keinen Anspruch auf Zeugnisse über ihre Kinder haben. Womit sich ein Schüler in der Schule beschäftigt, muss allein seine Sache sein. Nichtsdestotrotz werden sich viele junge Menschen freiwillig mit ihren Eltern darüber unterhalten, was sie in der Schule machen und wie es ihnen dort geht. Welche privaten Dinge sie anderen mitteilen, bleibt jedoch – nicht nur im Bereich Schule – in jedem Fall ihre eigene Entscheidung.“ (61)

Demokratische Schulen arbeiten in diesem Sinne. Sie bemühen sich intensiv darum, den Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen. Sie verzichten auf einen verbindlichen Lehrplan und selbstverständlich auch auf Zensuren und Prüfungen. An den Schulen werden die Belange des schulischen Zusammenlebens basisdemokratisch geregelt: Jeder Mensch hat eine Stimme. Die Regeln des schulischen Miteinanders werden so gemeinsam festgelegt. Es entsteht ein verbindliches Regelwerk. Nicht regelbar ist das, was etwa durch Gesetze bereits geregelt ist. Insofern kann etwa auch nicht über Menschenrechte neu bestimmt werden; ebenso nicht über andere geltende Gesetze. An demokratischen Schulen gilt ferner der „Kategorische Imperativ“ nach Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (62) Mit anderen, leichteren Worten: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Oder, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden!“ Eine der bekanntesten demokratischen Schulen ist beispielsweise die Sudbury Valley School in Framingham bei Boston/Massachusetts. (63)

Diskutiert werden soll an dieser Stelle nicht mehr die Unmündigkeit bzw. die Unfähigkeit junger Menschen. Das Bewusstsein, dass es sich bei solchen Einwänden um einen Mythos handelt bzw. dass Unmündigkeit und Unfähigkeit nicht selten Folgen eines hausgemachten Problems sind, darf bei mündigen Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden.

Deshalb sei – diesen Zusammenhang abschließend – noch ein Blick auf die „formale Erfolgsquote“ demokratischer Schulen erlaubt. Wie wir gesehen haben, gibt es auf demokratischen Schulen weder Zeugnisse oder anderweitige Rückmeldungen, noch Prüfungen, die die Zugänge für ein Studium bzw. eine Berufsausbildung vorsortieren. Absolventen demokratischer Schulen müssen sich, wenn sie eine formale Zugangsvoraussetzung etwa für eine Hochschule benötigen, extern, beispielsweise an einer staatlichen Schule, prüfen lassen. Von der 13. IDEC, der Internationalen Konferenz für Demokratische Bildung, die im Sommer 2005 in Berlin stattfand, nahm ich folgende Information mit: Eine Untersuchung, die der Frage nachging, wie hoch die Quote der Abiturientinnen und Abiturienten ausfiel, stellte fest, dass dies bei 95 Prozent der ehemaligen Besucher demokratischer Schulen der Fall war. (64) Welche Schule mit Zeugnissen und Zensuren kann auch nur annähernd eine vergleichsweise so hohe Anzahl vorweisen?

Die Frage sei erlaubt, ob es denn – im Gegensatz zu den demokratischen – auch undemokratische Schulen gibt. Eigentlich sollten die hier dargestellten Fakten und Argumente die Kenntnis längst zutage gefördert haben, dass diese Frage mit einem ganz eindeutigen „Ja!“ zu beantworten ist. Bei der so genannten Regelschule haben wir es in weiten Teilen mit demokratiefreien Zonen zu tun, allem offiziellen Partizipationsgefasel zum Trotz. Eindrucksvoll belegen dies, neben der kritisierten Praxis der Belehrungsanstalten, die deutschen Bundesländer selbst durch ihre Schulgesetzgebung. Zumindest an den Beispielen Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat der Autor dies überprüft. In den Schulgesetzen jener Länder ist jeweils ein Paragraph mit dem Titel „Einschränkung von Grundrechten“ zu finden. So heißt es im Artikel 120 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) aus dem Jahre 2000 kurz und eindrucksvoll: „Auf Grund dieses Gesetzes können im Vollzug der Bestimmungen über die Schulpflicht die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.“ Das Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) aus dem Jahre 1983 fasst sich noch knapper: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes) wird nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.“ Berlin (2004), Hessen (2002) und Nordrhein-Westfalen (2005) bemühen sich mit allerlei, dem Laien kaum nachvollziehbaren Querverweisen, Licht ins Dunkel zu bringen: Legitimieren will man hiermit gegebenenfalls die Verpflichtung, an der „Schulgesundheitspflege“ teilzunehmen; ferner will man mit einem solchen Passus natürlich auch die Schulpflicht auf sichere Füße stellen.

Aus aktuellem Anlass soll die betreffende Passage unserer Verfassung, dem Grundgesetz, hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Unter dem Titel „Persönliche Freiheitsrechte“ wird ausgeführt:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Demnach haben Kinder und Jugendliche, deren Status als Schüler festgezurrt wird, nicht mehr das uneingeschränkte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ihre Freiheit ist nicht unverletzlich. Die eingeräumte Möglichkeit, in diese Rechte per Gesetz auf diese Weise einzugreifen, haben sich ausgerechnet die Schulbürokraten zueigen gemacht. Ihre Intention, die sie somit „völlig legal“ ausbreiten, dokumentiert eindrucksvoll, dass tatsächlich beabsichtigt war und ist, Schulen expressis verbis zu demokratiefreien Zonen zu formen. In eine solche Zone passen Zensuren selbstverständlich wie maßgeschneidert.

Als neue Errungenschaft leistet sich Nordrhein-Westfalen die Wiedereinführung so genannter Kopfnoten. Ab dem Schuljahr 2007/2008 werden Ziffernnoten vergeben für Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit/Sorgfalt, Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit. Hier wird erneut ein illegitimes Vorgehen offiziell legalisiert. Junge Menschen werden mit einer solchen Kategorisierung keineswegs gefördert, sondern abgestempelt und gleichsam stigmatisiert. Insgesamt ein wahrlich gelungener Streich zur verschärften Verbreitung einer grassierenden Ellenbogen-Gesellschaft. Was bedeutet diese neue Praxis für Lehrerinnen und Lehrer? Einfache Rechnung: „30 Schüler pro Klasse mal sechs Kopfnoten pro Nase und Zeugnis ergeben 360 Noten im Schuljahr. Mit dieser Neuerung stehe Nordrhein-Westfalen national wie international weit vorn, sagte Klaus-Jürgen Tillmann, Pädagogikprofessor in Bielefeld, in der Landtagsanhörung zur neuen Ausbildungsordnung für die Sekundarstufe I.“ (65) In derselben Anhörung gab Dr. Siegfried Uhl vom hessischen Institut für Qualitätsentwicklung zu Protokoll: „Sechs (Kopfnoten) überfordern bei weitem die diagnostischen Fähigkeiten von Menschen – selbst von ausgebildeten Lehrkräften.“ (66)

Über das Thema „Diagnose“ kommen wir zum Begriff des „Paradoxons“, mit dem diese Auseinandersetzung unter anderem übertitelt ist. Eng damit verbunden ist zwangsläufig der Blick auf die menschliche Kommunikation. Begrifflich leitet sich Diagnose aus dem Griechischen ab und meint die Durchforschung im Sinne von Unterscheidung. Das dürfte uns bis hierher gefallen. Unterscheidungen finden wir gut, aber individuelle, nicht kategorische! Ebenfalls drückt es eine Erkenntnis aus, die zu einem Urteil führt. Letztlich ist ein Diagnoseversuch die Bemühung, die Heilung eines Menschen anhand vermuteter Symptome und deren Verbesserungschancen zu bewirken. Aus rechtlichen Gründen müssen Mediziner ihre Diagnosen gegenwärtig schriftlich dokumentieren. Im weiteren Sinne handelt es sich bei Diagnosen um Zuordnungen von Phänomenen zu einer Kategorie. In diesem Kontext sollte interessieren, dass das Diagnostizieren bislang Menschen in Heilberufen vorbehalten war; berechtigterweise – und auch hier immer wieder zweifelhaft, da Irrtümer niemals ausgeschlossen sind. Diagnostizieren in einem pädagogischen Kontext ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Der vorgegebene Versuch, junge Menschen zu fördern, wird hierdurch förmlich konterkariert. Während es Mediziner immer schwerer haben, Diagnosen zu erstellen, wird das Diagnostizieren Pädagogen immer leichter gemacht. Lehrerinnen und Lehrer mit derart unlösbaren Aufgaben zu überfrachten, zeugt von großer Verantwortungslosigkeit der Kultusbürokratie. Und wie wir am Beispiel der Kopfnoten sehen können, wird von dem, was nicht funktioniert, noch mehr determiniert: Im Handumdrehen pro Klasse im Jahr 360 Noten mehr – dies streng diagnostisch. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass sich Diagnosen in aller Regel mit Kranken befassen; gleichwohl wirft dies ein bezeichnendes Licht auf das formal organisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis: Hier der allwissende Magister, der „in Wirklichkeit“ nur ein exekutives Organ ist, dort das offenbar kranke (siehe Diagnose) und pflegebedürftige Kind, das man problemlos kategorisieren kann. (67)

Dieses Verhältnis kann nur als paradox klassifiziert werden. Als Paradoxon verstehen wir hier im Sinn der Logik eine sich selbst widerlegende Aussage, frei nach dem Motto: Nichts ist absolut! Paradoxie ist eine Aussage, die einen Widerspruch im Sinne der formalen Logik enthält, in sich widersprüchlich und der allgemeinen Erfahrung zuwiderlaufend und die unter Umständen eine andere, höhere oder spezifische Wahrheit spiegelt; im Zusammenhang mit „schlechten“ Zensuren beispielsweise eine – konstruierte – Unzulänglichkeit. Schulversagen als von der Schule selbst erzeugtes Konstrukt! Aber: Paradoxien erwecken Widerstände. Dies machen sich beispielsweise manche Arbeitsweisen der Psychotherapie zunutze. Im pädagogischen Kontext ist dies im Rahmen regulärer Verläufe alles andere als förderlich, da Widerstand zunächst (Abwehr-)Kampf erzeugt und somit Kooperation verhindert. Bei längerfristiger Anwendung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Erwachsenen „am längeren Hebel“ sitzen, endet der Widerstand schließlich in Resignation. Wie aus diesem Dilemma herauskommen?

Diagnosen, Beurteilungen, Urteile und Zensuren sind in einem pädagogischen Kontext widersinnig und völlig kontraproduktiv im Sinne der Förderung junger Menschen. Wie wird ein Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ein förderliches? Fördern funktioniert über Kooperation, Kommunikation „auf Augenhöhe“ und gemeinsames Forschen – wie beschrieben. Der verstorbene Direktor des „Brief Family Therapy Centers“ in Milwaukee (Wisconsin), Steve de Shazer, vertrat die Auffassung, Menschen könnten im Grunde nicht miteinander kommunizieren. Jede Kommunikation sei eine Verkettung gegenseitiger Fehlinterpretationen. Da Menschen allerdings zwingend auf Kommunikation angewiesen seien, sei eine einigermaßen geglückte Verständigung dann erreicht, wenn man sich bei seinen Fehlinterpretationen soweit angenähert habe, das weitgehend nachvollziehen zu können, was den Konversationspartner umtreibe. Der Erkenntnistheoretiker Ernst von Glasersfeld vergleicht Kommunikation mit einem Balztanz: Man nähert sich an, entfernt sich wieder voneinander, nähert sich wieder an, bis man Möglichkeiten der Viabilität, des gemeinsamen Weges, auf den man sich verständigen kann, entdeckt. Max Frisch brachte dies auf die einfache und dennoch überzeugende Formel: „Jeder Versuch, sich mitzuteilen, kann nur mit dem Wohlwollen des Anderen gelingen.“ (68)

Eine förderliche Haltung besteht dementsprechend in einer auf Wohlwollen basierenden Sichtweise und eines entsprechenden Habitus. Dabei geht es nicht, wie fälschlicherweise häufig angenommen, um Toleranz, vielmehr um Respekt und Akzeptanz. Dass Toleranz allenfalls eine vorübergehende Haltung sein könne, hat bereits Goethe konstatiert; er sah sie allenfalls als Vorstufe der Akzeptanz. (69) Akzeptanz holt die Kinder dort ab, wo sie stehen. Es wird dabei nicht übersehen, dass jedes Kind seine spezifischen Kompetenzen hat, die sich in einem entsprechenden Umfeld weiterentwickeln. So wird die Motivation und Kooperationsbereitschaft günstig stimuliert; dies um so stärker, je mehr sich die Eigenverantwortung junger Menschen entfalten kann. Auch ausreichender Raum für Eigeninteressen sollte vorhanden sein, das nämlich ist ein absolut günstiger Boden für das Gedeihen effektiven Lernens und dazu bedarf es keiner Beurteilungen; die Bestätigung, ein kompetenter Mensch zu sein, reicht völlig aus. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage gestattet, wie und mit welchen Mitteln man seine Kompetenzen erweitern kann und will.

Bei diesem Versuch einer Analyse, gepaart mit (fach-)politischen Forderungen, soll eingeräumt werden, dass der Autor möglicherweise völlig „daneben“ liegt. Allerdings spricht die Anzahl der vielen Menschen, deren natürlicher Zugang zu einer ihnen angemessenen Gesellschaft exekutiv verhindert werden konnte, eine deutliche Sprache. Brauchen wir unsere – vom System produzierten – Versager zwecks schimärenhafter Stabilisierung einer Gesellschaft, die längst nicht mehr stabil ist?

Lehrer, da Akademiker, werden nicht selten mit Wissenschaftlern, mit Forschern verwechselt (70), ein klarer Vorteil für ein künstlich und exekutiv aufgebautes Beurteilungswesen. Festzustellen bleibt, dass ihre Messergebnisse nichts belegen, geschweige denn beweisen können. Von seriösen Forschern erwartet man zu Recht eine nachprüfbare Annahme. Lehrer sind – als Administratoren ihrer jeweiligen Regierung – berechtigt, Wunschannahmen in solche Urteile zu verwandeln, die Lebensläufe exorbitant manipulieren und sogar in Richtung Demontage einleiten können; dies von den Beurteilten – wenn jene nicht durch Konkurrenz, Elterndruck und andere Zusammenhänge bereits manipuliert wurden – ungefragt und selten hinterfragt.

Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ihrer Rolle als förderliche Pädagoginnen und Pädagogen bewusst werden und entsprechende Haltungen entwickeln. Dazu gehört auch, sich aktiv gegen ihren Missbrauch als exekutive (Ver-)Urteiler zu wehren.

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Fußnoten

(1) Duden Band 5 – Das Fremdwörterbuch
(2) Ebenda
(3) www.wikidepia.de
(4) In der gymnasialen Oberstufe gibt es eine Punktwertung.
(5) vgl. Das Lexikon in 20 Bänden, Zeitverlag Gerd Bucerius, Hamburg 2005, Band 15, Seite 577
(6) www.wikipedia.de – Zitat: Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt 2002. Seite 19
(7) Humberto R. Maturana/Francisco J. Varel: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens, Scherz Verlag, Bern und München 1987 – zitiert aus der genehmigten Taschenbuchausgabe, Goldmann Verlag, o.J., Seite 146
(8) ebenda, Seite 259
(9) Humberto R. Marturana/Bernhard Pörksen: Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2002, Seite 39
(10) ebenda, Seite 40
(11) ebenda
(12) Paul Watzlawick: Selbsterfüllende Prophezeiungen, in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper Verlag, München, 8. Auflage 1994, Seite 100
(13) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 1998, Seite 55
(14) ebenda
(15) ebenda
(16) ebenda, S. 66
(17) ebenda, S. 67
(18) www.agot-nrw.de
(19) AGOT-NRW: „Auf dem Weg zur gelingenden Schule“. Eine bildungspolitische Streitschrift aus Sicht der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Düsseldorf 2006, Seite 5
(20) ebenda, Zitat aus Tillmann, Klaus Jürgen: Die homogene Lerngruppe oder System jagt Fiktion, in: Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden 2004, Seite 38
(21) SPIEGEL ONLINE vom 8. Juli 2005: Sitzenbleiben: Nichts als verplemperte Zeit?
(22) AGOT-NRW, a.a.O., S. 5
(23) ebenda, S. 6
(24) ebenda
(25) Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998. Zitiert ist mit diesem Satz übrigens das komplette abschließende 7. Kapitel des Tractatus.
(26) Unterstreichung von Rainer Deimel
(27) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 68
(28) ebenda
(29) ebenda, S. 68 f.
(30) Dass von Foerster hiermit meine bereits seit Jahren vorgetragene These bestätigt, Beurteilungen sagten immer mehr über die Persönlichkeit, Befindlichkeit usw. der Urteilenden aus als über die vermeintlich Beurteilten, kommt mir an dieser Stelle besonders entgegen.
(31) ebenda, S. 69
(32) ebenda, S. 70
(33) Gerold Scholz: Wortbeitrag aus der ersten Sequenz (Kinder sind unbelehrbar) des Films von Otto Schweitzer und Donata Elschenbroich: „Das Rad erfinden – Kinder auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Deutsches Jugendinstitut 1999
(34) Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, a.a.O., Seite 71
(35) ebenda, S. 72
(36) vgl. ebenda, S. 73
(37) Benutzt wurde hier die Neuauflage aus dem Jahr 1989. Neuauflagen gab es reichlich von Peter Lauster: Lassen Sie sich nichts gefallen! Die Kunst, sich durchzusetzen – Mut zum Ich. Düsseldorf 1989, ECON Taschenbuchverlag.
(38) ebenda, S. 202
(39) ebenda
(40) Die Unterschicht wird inzwischen „Prekariat“ genannt. Die Schule mit ihrer illegitimen Beurteilung war an seiner Erzeugung in erheblichem Maße beteiligt – vermutlich direkt an zweiter Stelle nach dem Fehlverhalten der Politik. Angesprochen sind hier sowohl Unkenntnis als auch der bewusste Wille, ein Prekariat existieren zu lassen. Nur: Das Prekariat zeugt noch, während die eigenen „Nachwuchskräfte“ aussterben!
(41) Lauster, a.a.O., S. 204
(42) Unverständlich insofern, da die Laborschule seit Jahrzehnten erfolgreich arbeitet, bei den PISA-Studien mit besten Ergebnissen aufwartet, die Kultusbürokratie gleichwohl nichts dazu beiträgt, eine solche Schulform endlich zur Regel zu machen.
(43) ebenda, S. 201
(44) ebenda
(45) ebenda, S. 202
(46) Der Duden bietet selbstredend unter anderem für „fördern“ „helfen“ und für „Förderung“ „Hilfe“ an. Duden, Band 8, Synonymwörterbuch, 4. Auflage, Mannheim 2007, Seite 388
(47) Brigitte Schumann: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“, Bad Heilbrunn 2007
(48) WAZ vom 20. März 2007
(49) vgl. ebenda – Die Zahlen beziehen sich laut mündlicher Auskunft von Brigitte Schumann auf Nordrhein-Westfalen (Statistik Schuljahr 2004/2005).
(50) ebenda
(51) Zumindest kann der Autor aufgrund seiner gymnasialen Erfahrungen davon ein „Lied singen“. Einen Zugang zur Geschichte hat er sich verschafft, nachdem er mit Schule nichts mehr zu tun hatte. Das eigene Forschen diesbezüglich findet er bis heute spannend. Ferner erinnert er sich an einen Spaß, den er sich auf der Obertertia erlaubte: Selbst in einem eigentlich so wunderbar kreativen „Fach“ wie Kunst wurden Zensuren erteilt. Der Autor legte im Abstand von sechs Wochen ein und dasselbe Bild, das er gemalt hatte, dem Lehrer fünf Mal vor; dies im Wissen, dass er sich ohnehin nicht mehr daran erinnern würde. Beim ersten Mal gab es für das Bild eine „Zwei“, beim zweiten Mal eine „Drei“. Verbunden war dies mit dem Hinweis, ein „gelber Klecks“ auf dem Bild sei nicht kräftig genug ausgefallen. Und ehe man sich versah, fuhr der Lehrer mit seinem eigenen Pinsel und weiterer gelber Farbe auf das Bild, um den Klecks kräftiger darzustellen. Bei der nächsten Sichtung des Bildes kritisierte er gerade diesen Klecks, den er eine Woche zuvor angebracht hatte, als völlig übertrieben, und er gab eine „Vier“. Selbstverständlich durfte nicht darüber gesprochen werden, dass er das Bild schon öfter gesehen hatte; ein ziemliches Dilemma. Nach einiger Zeit wurde das Bild auch noch mit einer „Eins“ bewertet. An dem Fakt, derart unterschiedlich zu bewerten, hat sich nichts geändert. Auch aktuell werden Vergleichsarbeiten aller möglichen Disziplinen quer durch die Republik von unterschiedlichen Lehrern mit allen (sic!) verfügbaren Zensuren bewertet.
(52) Hans Brügelmann, Axel Backhaus et al. (Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität:Siegen): Sind Zensuren nützlich – und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Arbeitspapier im Auftrag des Grundschulverbandes, Siegen 2006, Seite 22
(53) Politisch völlig unkorrekt, wenn man das Gesabbel berücksichtigt, bei allem und jedem handele es sich um ein Subjekt.
(54) Jean-Claude Bringuier: Jean Piaget. Ein Selbstportrait in Gesprächen. Beltz Verlag, Weinheim 2004, Seite 104
(55) Bartnitzky, Horst: Müssen Noten sein? Vom Problem gerechter Leistungsbeurteilung, in: Naegele, Ingrid M. und Haarmann, Dieter (Hg.): Schulanfang heute. Ein Handbuch für Elternhaus, Kindergarten und Schule, Beltz Verlag, Weinheim 1999, Seite 215
(56) ebenda, S. 213
(57) vgl. www.heinrich-pestalozzi.de
(58) Bartnitzky, a.a.O., S. 214
(59) ebenda
(60) http://kraetzae.de/schule/schulkritik
(61) ebenda
(62) Diverse Quellen geben den Kategorischen Imperativ in unterschiedlich formulierten Varianten wieder. Das hier benutzte Zitat entstammt aus: Das Lexikon in 20 Bänden, a.a.O., Band 7, S. 504
(63) vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Schule
(64) Beitrag eines Referates auf der IDEC 2005 in Berlin
(65) WAZ vom 11. Januar 2007
(66) ebenda
(67) Vielleicht kann die Schule – anders als in den Ausführungen zur Diagnostik berichtet – doch von der Medizin lernen. Dem Vernehmen nach musste im alten China ein Arzt nur dann bezahlt werden, wenn die Therapie erfolgreich war – eine „Feststellung“, die sich leider inzwischen womöglich Gerücht herausgestellt hat.
(68) Die Quellen – de Shazer, von Glasersfeld und Frisch betreffend – sind dem Autor gegenwärtig nicht greifbar. Die Zusammenhänge sind beim früheren Lesen der entsprechenden Texte im Kopf „hängengeblieben“.
(69) Siehe hier auch: Jürgen Amendt: Ohne Respekt ist Toleranz wertlos – Verstoß gegen Würde und Selbstbestimmung im pädagogischen Alltag, in: Erziehung und Wissenschaft – Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 2/2006.
(70) Dass Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit den Kindern ganz hervorragende Forscherteams bilden können, wurde bereits zuvor beschrieben.

Vorstehender Beitrag wurde Ende 2007 als Beitrag für ein Fachbuch zum Thema „Zensuren“ verfasst. Wir wollen ihn den Nutzer(inne)n des ABA-Netzes nicht länger vorenthalten und stellen ihn hier zur Verfügung; dies kurz vor Schuljahresabschluss 2010. Möglicherweise hilft er beim Argumentieren, vielleicht auch als Trost für zahlreiche junge Menschen, deren Kompetenzen wieder einmal aufs Fragwürdigste in Abrede gestellt werden. Denjenigen, die mit ihren Zensuren zum Prahlen verführt werden, mag er eine Abschreckung sein. Wie stellte Johann Nestroy fest? „Die Zensur ist die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition.“

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