NAGEL-Redaktion – Mölln ist überall.

Von Rolf Winter

Es widert mich an, wie diese Republik mit ihren jungen Neonazis umgeht. Mich widert eine Gesellschaft an, die in bauchiger Sattheit nach rechts sieht und Zeter und Mordio schreit, als wäre nicht in ihrem Schoß entstanden, was sie so lauthals beklagt. Das fraktionsübergreifende Entsetzen in Bonn, die Resolution des Kreistages von Goch an der Goche, die ökumenischen Notgebete. Widert mich an.
Denn ich war einmal da, wo heute die jungen Neonazis sind. Ich bin, wenn Sie so wollen, einer von ihnen. Ich habe einmal am rechten Rand gelebt und den Staat gehasst, der sich aber um uns nicht kümmerte. Er ließ unsere Eltern in Arbeitslosigkeit verkommen. Es interessierte ihn einen Dreck, dass wir hungerten. Er sah kalt zu, wie wir am „sozialen Rand“ vor dem Hauswirt zitterten, der eine Miete – 19 Mark 50 – einforderte, die wir nicht zahlen konnten. Es war ihm gleichgültig, ob wir obdachlos werden würden oder nicht. Er ließ uns allein, grenzte uns aus.
Das liegt sechzig Jahre zurück. Man weiß, was geschah. Wesentlich mit Hilfe derer, die nichts zu verlieren hatten, kam der Halunke an die Macht, mit dem wir dann alles verloren, vor allem unseren Anstand. Das Armengebiet rund um die Lübecker Dankwartsgrube, in der ich damals lebte, gehörte, obschon traditionell kommunistisch oder doch mindestens sozialdemokratisch, zu Hitlers Wegbereitern. Nicht, weil sie Nazi-Programme lasen und gut fanden. Auch nicht, weil sie nach langem Bedenken dem Vorkommnis aus Braunau glaubten. Sie liefen in der Lübecker Dankwartsgrube massenhaft zu den Braunen über, weil sie sich vom Staat verraten und verkauft und vergessen wussten, denn, Ihr bürgerlichen Schreier: Unter Ausgegrenzten wird nicht kühl politisch gedacht, sondern nur noch gehasst, und dieser Hass war damals schrecklich begründet, und er ist es heute ebenso.
Dankwartsgruben gibt es längst wieder. Es gibt sogar, wie uns Kommunalpolitiker besorgt wissen lassen, in den großen Städten Armutsgettos, in denen – lügt Euch nicht in die eigenen Taschen! – nicht nur Ausländer hausen. Es gibt in dieser Wohlstandsgesellschaft, und zwar beschämend massenhaft, Quartiere, in denen Hoffnungslosigkeit daheim ist, Dauerarbeitslosigkeit, Sozialhilfeexistenz und Tristesse als treuester Lebensbegleiter. Den mählichen Verfall der Würde gibt es, die Auflösung von Familien, den Verzweiflungssuff, die Leere des Tages.
In der früheren DDR, die heimgeholt zu haben Herr Dr. Kohl so stolz ist, leben Millionen, die sich von eben diesem Herrn Dr. Kohl mit verdammt guten Gründen belogen und betrogen fühlen. Wo er ihnen ein „blühendes Land“ verhieß, in dem es „niemandem schlechter und vielen besser gehen“ würde, müssen sie nun froh sein, getarnte ABM-Arbeitslose zu sein, oder sie wurden bei null Arbeitszeit auf Kurzarbeit gesetzt, oder sie müssen damit rechnen, von der kaltblütigen Marktpolitikerin Breuel abgewickelt zu werden, oder sie wurden schon abgewickelt und hocken nun in ihrer Plattenbauwohnung, die ihnen – mein Gott, wie zynisch darf man in der deutschen Politik sein? – von Herrn Waigel zum Kauf angeboten wird.
Wenn die da unten von der Absicht des Herrn Dr. Kohl und seines famosen Finanzministers hören, „Einschnitte in das soziale Netz“ vorzunehmen, weil wir ja nun in Ansehung der problembeladenen Wiedervereinigung „alle Opfer bringen“ müssten – welche politischen Gedanken werden wohl da unten gedacht?
Ich kenne diese Gedanken, denn noch einmal und mit Scham: Ich war einmal da unten und Nazikind. Meine Mutter, die sich als Putzfrau zuschanden arbeitete, hatte keinen anderen Wunsch als den, dass Hitler kommen möge, um „kurz und klein zu schlagen“, was sie nicht mehr ertrug – so sehr hasste sie den Reichskanzler von Papen, der, feiner Herr, allmorgendlich durch den Tiergarten in Berlin ritt, aber sie hasste auch die Sozis, die Liberalen und das Zentrum und die Fortschrittlichen, denn sie hasste den Staat, der aufgehört hatte, ein Fürsorger zu sein.
So wurde damals da unten empfunden, und heute ist das nicht anders, und so ist es logisch, denn jede Gesellschaft hat den sozialen Rand, den sie verdient. Wer ausgrenzt, vergisst oder vernachlässigt, zu dem kommen die Ausgegrenzten und Vergessenen und Vernachlässigten hassend und rächend zurück. Wer sich einbildet, die Dauerarbeitslosen und die von Herrn Dr. Kohl infam Betrogenen in der früheren DDR hätten bei Wahlen gefälligst wie wir zwischen CDU und SPD und FDP zu entscheiden und loyale und gesetzestreue und für Radikalisierung immune Staatsbürger zu sein, ist ein politischer Idiot.
Radikalisierung ist das legitime Kind staatlichen Versagens. Nein, um Gottes willen, nein, man darf sie nicht billigen, aber man muss ihre Herkunft begreifen. Nein, nicht eine Sekunde lang dürfen wir Nachsicht mit einem haben, der zuerst Sieg Heil schreit und dann einen Molotowcocktail in das Zimmer wirft, in dem Ausländer schlafen, aber wir haben uns zu fragen, wie er wurde, was er ist. Das ist, was mich anwidert: Dass lauter selbstgerechte Mainstream-Bürger leugnen, den Boden bereitet zu haben, auf dem Radikalisierung möglich war.
Was wir den sozialen Rand nennen, wächst, und, weiß Gott, er wächst rascher als irgend etwas in der Volkswirtschaft. Aber täuscht Euch nicht, Ihr bürgerlichen Ignoranten: Dieser soziale Rand ist Dynamit. Er ist vom Staat hausgemachte Destabilisierung. Macht Euch nichts vor, Ihr bürgerlichen Heuchler: Was da rechts brodelt – das habt Ihr angerichtet!
Denn es ist Wort für Wort wahr, was der Sozialwissenschaftler Professor Ernst-Ulrich Huster konstatiert: „Der wachsende Reichtum unserer Gesellschaft gerät in einen immer stärkeren Kontrast zur ebenfalls zunehmenden Armut.“ Dies ist spätestens seit der Zeit des versehentlichen Sozialdemokraten Helmut Schmidt ein gefühlloser, ein kalter, ein krude neo-kapitalistischer Staat geworden, ein Laisser-faire-Staat, der sich hinter der Verniedlichung „soziale Marktwirtschaft“ bloß noch tarnt. Dies ist ein Raffer-Staat geworden, ein Egoisten-Staat.
Damals, in der Dankwartsgrube in Lübeck, haben sie unsere Eltern verrotten lassen, bis sie folgerichtig nur mehr politische Verrottung im Sinn haben konnten und Vernunft nicht mehr kannten. Sie hassten und zahlten heim.
Wir sind wieder soweit. In den Dankwartsgruben von heute wird wieder gehasst. „Die da oben“ werden wieder verachtet. Die Demokratie ist wieder „Scheiße“. Herr Dr. Kohl ist Herr von Papen, und Herr Engholm ist bloß eine etwas andere Verkörperung des Herrn Dr. Kohl, und das Parlament ist wieder eine „Quasselbude“, und die staatlichen Würdenträger sind wieder „Bonzen“, und in Plattenbauwohnungen in Rostock und in Behausungen von Dauerarbeitslosen wird wieder ersehnt, „alles kurz und klein zu schlagen“.
Es kommen hassvoll-verschlüsselte Notsignale vom sozialen Rand. Es kommen Rufe der Verzweiflung, auch Gesten der Verzweiflung, es geschehen auch schreckliche Taten der Verzweiflung. Aber niemand dechiffriert diese Hilferufe.
Statt dessen fordert die Gesellschaft, Herr Dr. Kohl voran, die Gerichte und die Polizei zu hartem Vorgehen auf, und jedermann ist voll von Abscheu und Empörung.
Ich kann mir nicht helfen: Widert mich an.

Rolf Winter lebt als freier Schriftsteller in Braderup/Sylt. Der Text wurde zuerst in der Zeitschrift TEMPO 1/93 (S. 99 f.) veröffentlicht. Wir danken der TEMPO-Redaktion und Rolf Winter für die freundliche Nachdruckerlaubnis.

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